Albrecht Dürer (1471 – 1528), Melancholia I (1514; Kupferstich)
Wer hat es nicht, das nostalgisch besetzte Heimatgericht. Meistens hat es die Oma sogar noch besser als die Mutter gemacht, man hatte Vorfreude sobald man davon wusste und war es dann soweit, gab es kein Halten mehr: pure kindliche Gaumenfreude!
In meinem Fall hatte diese Stellung im Persönlichkeitsinventar eindeutig ein einziges Gericht inne: der Bloatz (Direktlink). Leib-und-Magen-Gericht einerseits, Familienidyll und Dorfidentität anderseits, alles das in einem war er, der gute alte Bloatz. Zumal es ihn mindestens ein Mal, selten mehr als zwei oder drei Mal im Jahr gegeben hatte. Die weiteren Chancen auf Bloatz-Genuss hingen von Glück und Zufall ab, womit die Vorfreude auf die seltenen Gelegenheiten um so größer war. Der eine garantierte Anlass war und ist – wer kennt es nicht – das eine große Heimatfest, namentlich bei mir das Dorffest.
Das Besondere hieran ist die Tatsache, dass der Bloatz dabei im Zentrum steht. Er wird von den erfahrensten Köchinnen zubereitet und im eigens für diesen Zweck errichteten Backhaus in einem Steinbackofen zubereitet. Dieser Ofen wird – man bemerke die traditionelle Rollenverteilung – von den Männern des Dorfes mit Reisig befeuert, ein Vorgang, der sich über zwei Tage hinzieht und viel Rauch und Schweiß mit sich bringt.
Die Luft wird erfüllt von strengem, aber dennoch reizvollem Reisigrauch, dicht und von Schwarz über Grau bis Weiß gefärbt, je nach Trocknung und Art des Anfeuerns. So wachte ich jedes Jahr mit diesem Geruch in der Nase auf und wusste glücklich was kommen würde: drei Tage Bloatz- und Dorffest. Neben Bloatz bedeutete das eine ganze Batterie an Freuden: Alle Freunde zu Besuch, Disco, Festgeld für (Kinder-)Bespaßung und Sinnenrausch, Pommes und Bratwurst und Solidarität. Alle zusammen sorgten wir für ein gemeinsames Fest, für uns selbst und für Gäste aus der näheren und weiteren Umgebung.
So war das damals. Und ist heute noch, allerdings in stark reduziertem Format, vor allem aber gänzlich entzaubert. So wundern die ständigen Tempuswechsel auch nicht, denn das heutige Dorffest liegt in weiter Ferne und vermag mich nicht mehr in die Heimat zu locken. Aber eines bleibt erhalten, der Bloatz. Auch ohne Reisigrauch und Backhaus gibt er noch ein verdammt leckeres Gericht ab. Das Rezept ist zwar sehr aufwendig, aber es lohnt sich.
Wie schon Marx wusste, entsteht der wahre Wert immer aus menschlicher Arbeit. Eine tiefe Einsicht in die (Meta-)Physik der Ökonomie, die im Kochen ihr treffendes Analog findet. Ebenso wie Marx, bin ich zwar kein Marxist, spiele aber gerne mit verschiedensten Theoremen und Paradigmen. Es hat mich dabei sehr erstaunt, wie anschlussfähig viele marxistische Begriffe sind, sogar auf die Sphäre des Kochens lassen sie sich anwenden: Entfremdung, Wertsteigerung, Stoffwechsel und Gebrauchswert sowie Dergleichen mehr.
Bevor es nostalgisch oder intellektuell noch weiter ausufert, geschwind zurück und vor zum eigentlichen Anlass: Das Rezept ist über Jahre mit viel Beratung entstanden und damit wohl ein erster wirklich klassisch zu nennender Beitrag in der Kulinarik. Hier meine lang elaborierte und leicht interpretiere Variante des Nieder-Stöller Bloatz.
Mit besonderen Grüßen in die Heimat, Euer Satorius
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