Denk-Welten

Populismus, Populismus und nochmal: Populismus

In seinem Plädoyer für eine Neufassung nationaler Identitäten mit einer Orientierung am Gemeinwohl auf die Elemente einer solchen idealen Nation ohne Nationalismus befragt, antwortet der Denker, der in den 90er-Jahren vom „Ende der Geschichte“ sprach, wie bald folgend. Dass er im Übrigen von der Geschichte des 21. Jahrhunderts eines besseren belehrt wurde und weiterhin wird, ist hier ein historisch nicht unwesentliches Hintergrundgetöse.

Hören wir hier zunächst genauer hin: Denn für diese kritische Eingangsbehauptung seien als Belege kurz verwiesen auf den Trump-Effekt, das Straucheln der EU-Integration – Stichwörter hierzu: Brexit, Verfassungsvakuum, Visegrád-Komplott und neoliberaler Lobbyismus – sowie das ökonomische und ideologische (Wieder-)Erstarken des globalen Nicht-Westens, repräsentiert allen voran durch China, Indien und teilweise auch Rußland.

Vor allem aber muss Fukumyama sich der Heimsuchung durch das uralte Schreckgespenst, welches die Demokratie seit ihrer antiken Geburtsstunde im vorchristlichen Griechenland bedroht, erwehren, eines Dämons, welcher mit den Waffen moderner Informationstechnologie bewehrt zu neuer Potenz erstarkt; die Rede ist von der Diktatur der dummen, weil manipulierbaren und unvernünftig wählenden, Massen, kurzum dem Populismus. Um diese Entität nachdrücklich zu beschwören, wage ich eine schriftliche Evokation: Populismus und nochmals Populismus.

Wie also reagiert der große Vordenker des vermeintlichen historischen Globaltriumphs liberaler Demokratien auf diese alte und neue Herausforderung unserer Gemeinswesen; was stellt er ihm entgegen?


Man braucht eine demokratische und freiheitliche, nationale Identität. Sie muss für Menschen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund zugänglich sein, die unterschiedliche religiöse Ansichten haben, aber einen gemeinsamen Glauben an die demokratischen Institutionen. Das ist es, was ich im Deutschen als „Verfassungspatriotismus“ bezeichne; das ist also der Kern.

Aber was man braucht, ist ein starke emotionale Bindung. So wie sie die „Nation“ im 19. Jahrhundert hatte. Wir wollen nicht zu diesem blinden Patriotismus zurückkehren, der auf Rasse und Ethnizität basierte; aber wir brauchen ein gewisses Engagement, nicht nur eine intellektuelle Verpflichtung [@Satorius: „comittment“ im englischen Originaltext] sondern eine Verpflichtung der ganzen Person. Und das bedeutet, dass wir Symbole brauchen, die eine Nation zusammenhalten, gemeinsame Erfahrungen.

Und das ist der schwierige Teil dessen, was man „demokratische Nationenbildung“ nennen würde: Die Nation stark genug zu machen, dass sie diese emotionale Bindung erreicht, aber doch nicht so stark, dass sie zu Aggression und Ausgrenzung führt.

Francis Fukuyama (1957 – ), Gespräch unter dem Titel „Populismus – Ende der Demokratien?“, in: Precht – 31.03.2019, ZDF, 22:47-24:07 (Direktlink: https://www.zdf.de/gesellschaft/precht/precht-populismus–ende-der-demokratien-richard-david-precht-im-gespraech-mit-francis-fukuyama-100.html)


Exakt diese Gratwanderung erscheint mir dieser Tage und seit mindestens einer Dekade ein Balanceakt sui generis zu sein: Denn auf der einen Seite des schmalen Pfads droht er, der Populismus, also in Konsequenz brutale Polarisiserung, soziale Fragmentierung und fluchtartige Privatisierung, auf der anderen Flanke hingegen locken die utopischen Verheißungen dessen, was Fukuyama oben – mehr in negativer Abgrenzung abgeleitet, denn in positivem Entwurf kühn und kreativ entworfen – als eine neue Form des „demokratischen“ Nationalismus beschreibt.

Aber wo in dieser unserer aktuellen Lebenswelt gelingt dieses zivilisatorische Paradestück, möchte ich im Angesicht der enttäuschten Hoffnungen fragen, welche uns die großen Demokratien des sog. Westens letzthin bereitet haben. Eine bisweilen und notwendig offene Fragestellung, die ich in ihrer Komplexität und Interdisziplniarität nicht beantworten, sondern mit Nachdruck stellen möchte. Da ich nicht vom Ende irgendeiner Geschichte sprechen kann, und sei es auch nur aus rhetorischem Kalkül, bleibt also fraglich, wie wir, wie ihr mit dieser Anforderung zurechtkommt – im politischen Diskurs ebenso wie im privaten Alltag.

Wenn wir also immerhin einen der vielen Feinde des demokratischen Fortschritts (, die im Übrigen buchstäblich Legion sind: Lobbyismus, Klimawandel, Demografie, Digitalisiserung, etc.) benannt haben, dann will ich abschließend doch wenigstens noch zwei überblicksartige Quellen anbieten, durch die das besagte, titelgebende Schreckgespenst weniger ominös, weniger diffus und mysteriös und damit greifbarer wird. Denn nur das, was man beginnt zu reflektieren und zu analysieren, kann solcherart zuerst erkannt und frühestens sodann gebannt werden – wenn überhaupt.

Jeder kennt ihn, ist er doch in aller Munde, aber was genau ist Populismus, dieser spezifisch moderne, neue Populismus, der uns Demokraten weltweit heimsucht, heraus- und womöglich überfordert?

Mit nächtlich-diskursivem Gruß, Euer Satorius


  1. „Wir sind das Volk“
  2. „Die Macht der Sprache“
  3. „Das Spiel mit der Angst“
  4. „Aufmerksamkeit um jeden Preis“
  5. „Verschwörungstheorien“
  6. „Fake News“
  7. „Wirkungsvolle Inszenierung“

ZDF (1963 – ), Die sieben größten Tricks der Populisten (Direktlink: https://www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/gefahr-von-rechts-die-sieben-groessten-tricks-der-populisten-100.html)


Die sechs Merkmale des Populismus:

  1. „Das gute Wir“
  2. „Das böse andere“
  3. „Der politische Superman“
  4. „Der sprachliche Terror“
  5. „Die großen Gefühle“
  6. „Der bewusste Stilbruch“

Stefan Petzner (1981 – ), Trump to go. Eine kurze Erklärung, wie Populismus funktioniert, passim

Wider den Menschen

Patient (Sitting in a circle of a group therapy): I tell myself God has a plan for everyone. Maybe I just haven’t seen it yet.

William Delos: God? God’s fucking plan? Do you believe in Santa Claus, too?

Dr. Lang: All right, William. Do you want to share more of your thoughts with us?

Willam Delos: My thoughts? … Okay. I think … humanity is a thin layer of bacteria on a ball of mud hurtling through the void. I think if there was a god, he would’ve given up on us long ago. He gave us a paradise and we used everything up. We dug up every once of energy and burned it. We consume and excrete, use and destroy. Then we sit here on a neat pile of ashes, having squeezed anything of value out of this planet, and we ask ourselves: „Why are we here?“ You wanna know what I think your purpose is? It’s obvious. You’re here along with the rest of us, to speed the entropic death of this planet. To service the chaos. We’re maggots eating a corpse!

(Woman sobbing)

Patient: What the fuck is wrong with you?

William Delos (Chuckling first, then laughting out. Fade out …)

William Delos (Eward Allen Harris), in: Decoherence Westworld (Staffel 3, Episode 6, 6:09 – 8:00)



Spieglein, Spieglein in meiner Hand, wer ist die schlechteste Gattung im ganzen Land? Die Wespen, die Tauben, die Ratten, vielleicht die Mücken, wären hierzu wohl die meistgenannten Antworten, wenn man „100 Leute auf der Straße fragte“, wie es dereinst bei Ruckzuck immer so schön hieß. Bei der Frage nach der besten Spezies wäre im Gegenzug wohl der Mensch unangefochten auf Platz 1, gefolgt von unseren liebsten Haustiere Hund und Katz oder Kandidaten wie Bienen, Delphine oder Pferde. Nach Kriterien für diese Einstufung zu fragen, erspare ich mir und Euch mal gediegen, denn so sachlich bin ich heute einfach nicht aufgelegt.

So sind wir biblisch gesprochen doch Gottes Ebenbilder, die Krone der Schöpfung gar, und deshalb berufen, über die Schöpfung zu wachen. Zugleich sind wir aber auch übermäßig neugierig, ungehorsam, selbstgefällig und solcherart (erb-)sündig, sodass wir kurzhand aus dem Paradies verbannt und auf den Planeten gesetzt wurden. Andere Religionen sind da ebenso ambivalent und trauen uns alles im Spektrum von „heilig“ bis „verdorben“ zu. Anthropologie und Philosophie, Psychologie und Soziologie, Geschichts- und Poltikwissenschaft differenzieren die Menschheit gleichmaßen schonungslos, ob bloß empirisch oder sogar normativ. Die Bilanz bleibt wenigstens durchwachsen, fällt bisweilen tendenziell doch eher pessimistisch aus.

Und trotzdem möchte ich, wie eingangs bereits behauptet, spekulieren, mögen sich die meisten selbst recht gerne, halten unsere Gattung für gut, fortschrittlich, zivilisiert und dergleichen mehr. All diesen Menschen halte ich die obigen Quellen entgegen, fordere sie auf bar jeder Illusion und ohne Euphemismen mit sich und uns ins Gericht zu gehen. Sind wir wirklich gut im breiten Sinne dieses diffusen Wortes?

Mit selbstkritischem Gruße, Euer Satorius

Unsere Demokratie

Die Räte sagen: Wir wollen mitbestimmen. Wir wollen unsere Stimme irgendwo in der Öffentlichkeit zu Gehör bringen. Da das Land zu groß ist, dass alle zusammen mitbestimmen können, brauchen wir einen öffentlichen Raum innerhalb dieses Landes. Die Zelle, in der wir unsere Stimmzettel abgeben, ist zweifellos zu klein, denn in dieser Zelle ist Platz nur für einen. Die Parteien sind dafür ganz ungeeignet; da sind wir doch nur Stimmvieh. Wenn aber auch nur zehn Leute um den Tisch sitzen, da sagt jeder seine Meinung, da hört jeder die Meinung des anderen, da kann eine vernünftige Meinungsbildung durch den Austausch von Meinungen stattfinden.

Hannah Arendt (1906 – 1975), Macht und Gewalt, S. 132f. (1970)


Soso, das sagen also die Räte über das Ideal politischen Handelns. Wenn ihre Mitglieder weder arbeiten noch herstellen müssen, dann bestimmen sie kollektiv mit, bilden sich unterdessen öffentlich und wechselseitig im freien Diskurs ihre Meinung und ermächtigen delegierend schließlich eine Regierung, die an der Spitze einer vielstufigen Pyramide die Ausführung des Volkswillens mit dem Ziel des Gemeinwohls unternimmt. So ungefähr jedenfalls verstehe ich Arendts utopischen Entwurf. Kenner nennen dieses Ideenbündel sogar eine Demokratietheorie, wobei ich als Laie, der nur Fragmente des Primärtextes kennt, eher von einer Machttheorie mit praktisch-politischen Randbemerkungen sprechen würde.

Was würden jene ominösen Räte wohl von der modernen Demokratie denken, wie wir sie heutzutage weltweit entdecken und vor Ort hautnah erleben; wie würden sie uns bezeichnen, wenn wir alle zwei bis fünf Jahre in einer kleinen Zelle respektive gemütlicher per Brief, wie ich es übrigens bevorzuge, unsere paar Kreuze machen oder komplexer Weise unsere Stimmen verteilen und bündeln? Etwa auch als bloßes Stimmvieh, das meistens ganz ungeeignete Parteien und ihre Mitglieder, also vornehmlich Berufspolitiker, als Repräsentanten erwählt und in die fernen Parlamente entsendet, sich selbst aber kaum noch um politische Bildung, ernsthafte zwischenmenschliche Meinungsbildung und lebendige Partizipation bemüht – von konkreter Gesaltung gar nicht zu sprechen?

Aus dieser utopischen, genauer direkt- und basisdemokratischen – verwirrenderweise mitunter als sozialistisch diffarmierten – Warte betrachtet, wird das Urteil über Status und Qualität der zeitgenössischen Demokratie wohl recht eindeutig negativ ausfallen müssen, von wenigen Ausnahmen wie bspw. der Schweiz mal abgesehen. Zumal die Bedingungen sich zusätzlich nochmals verschärft haben: Die Skalierung des Systems wurde mit Abermillionen Bürgern maximiert, im Angesicht kollossaler Bürokratien sowie einem unüberschaubaren Institutionengeflecht hat sich die Lage überdies kompliziert und zuletzt wurden vor dem Hintergrund eines globalisierten Kapitals die vielen (Volks-)Souveräne fragmentiert und dadurch marginalisiert.

Ist also tatsächlich etwas faul im demokratischen System, es insgesamt womöglich aus dem Fugen geraten und in uferlose wie beliebige Anonymität abgedriftet? Sind wir tatsächlich müde und desinteressiert, desillusioniert und abgelenkt?

Ich fürchte, an dieser Diagnose ist durchaus was dran! Wenn ich es mir recht überlege, so zolle auch ich nach 18 Jahren des Wählens und versuchten Politisch-Seins diesem unerfreulichen Urteil von Seiten der Arendtschen Räte prinzipiellen Respekt sowie leider sogar Sympathie und Zustimmung.

Denn was heißt es heutzutage qualitativ, wenn man „politisch“ oder sogar „politisch-aktiv“ ist, auf wen treffen diese Attribute quantitativ überhaupt zu? In nüchternen Zahlen hinzugedacht, dass eine Wahlbeteiligung von rund 70% bereits als „herausragend hoch“ kommentiert wird, sie sich aber tendenziell eher in Richtung 50% entwickelt, und, dass wenig mehr als 1% der Bevölkerungen Mitglieder einer Partei, des trotzdem weiterhin wichtigsten Akteurs im System, sind, geben diese Zahlen, so inhaltsinvariant sie zumal noch sind, nicht eben Anlass zu Zufriedenheit, Optimismus und großer Hoffnung.

Das Zoon politikon des 21. Jahrhunderts scheint nicht mehr allzu politisch zu sein, weit weniger an gemeinsamem Handeln als Basis echter Macht interessiert zu sein, als notwendig oder auch nur gut für das Funktionieren einer legitimen Demokratie sein dürfte. Herrschaft und Souveränität verlieren an Reiz, öffentlicher Diskurs scheint vielen zu zeitrauben, zu unbequem, zu anstrengend, wo doch die Regelung der eigenen Bedürfnisse und Angelegenheit, das Privatleben also, schon so viel Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, von Karriere und Kunst, Status und Prestige ganz zu schweigen. Der zentrale Wert der Freiheit wird als Freizeit uminterpretiert, nicht als Auftrag und Gelegenheit, freizügig und freiwillig seine Meinung zu bilden, sie einzubringen und auch durch Argumente andere selbstlos verändern zu lassen. Schlimmstenfalls ist das Thema Politik Anlass für große Emotionen, tiefe Gräben oder gar für Tabus – drei extreme Umgangsformen, die ich allesamt mehrfach und erquicklich selbst erlebt und erlitten habe.

Wie dem auch sei, es gibt jedenfalls viele Widerstände gegen echte Demokratie. Sogar womöglich noch weitere Angriffspunkte als die angerissenen allgemeinen Aspekte, die dann aber zugegebenermaßen hochfiktional und spekulativ überspitzt daherkommen. So bin ich per Zufall, Wochen nachdem ich diesen Artikel in seiner Rohform verfasst hatte, auf folgenden Dialog in einem Hörspiel gestoßen, das ich gerne gelegentlich verfolge:


Erikson: „Die Jugend [@Satorius: Gemeint sind damit die eigentlichen Protagonisten der Serie, die bei ihren Recherchen zum einschlägigen Thema von den zwei Verschwörern belauscht werden] hat selbst die Metapher vom Hirten und den Schafen gebraucht, die doch so treffend die Rechtfertigungsideologie beschreibt: Schafe brauchen einen Anführer, der sie beschützt und behütet; und das Volk – liebste F. – mag zwar aus Menschen bestehen, doch sie gebärden sich bekanntermaßen wie dumme Schafe.“

F.: „Es ist kein Geheimnis, dass die Menschheit zum allergrößten Teil aus Herdentieren besteht. Auf unserer Erde gibt es nur wenige wahre Anführer; der Großteil ist damit zufrieden, brav zu folgen.“

Erikson: „Es war keine einfache Aufgabe, aber die vergangenen Jahrhunderte haben zu unserer heutigen Regierungsform geführt. Um Voltaire zu paraphrasieren: Das Volk ist irrational, triebhaft und rationalen Argumenten nicht zugänglich; die Eliten hingegen …“

F.: „… ja, wir übernehmen die Verantwortung und besitzen genügend Weisheit, Zeit und Geld, um eine schützende Hand über die triebhafte Herde legen zu können. Doch wie erreicht man diesen Zustand, Erikson?“

Erikson [freundlos lachend]: „Soll das ein Test sein? Gut! Ich spiele mit: … natürlich, indem man die Demokratie soweit entleert, dass sie nur noch auf den bloßen Wahlakt beschränkt ist – eine perfekte Illusion, dass man den Hirten selbst wählen könne. Denn alle potentiellen Hirten werden natürlich von uns gestellt. Aber selbst der bloße Wahlgang scheint den meisten Schafen bereits zu aufwändig zu sein, wenn man die Wahlbeteiligung der letzten Jahre in fast allen demokratischen Staaten betrachtet.“

F.: „Doch dieser Zustand ist nicht vom Himmel gefallen: Kontinuierliches Demokratiemanagement ist das Stichwort – Brot und Spiele, wenn Sie so wollen. Opium für das Volk, wie Karl Marx bereits in seiner Religionskritik sagte. Schafe wollen abgelenkt werden, egal ob durch Religion, Konsum, Sportereignisse oder Skandale der High Society. Und sie überlassen die lästigen Aufgaben gerne denen, die sich dazu berufen fühlen oder besser geeignet scheinen.“

Erikson [lachend]: „Zum Beispiel uns …“

F.: „… zum Beispiel uns. [Gläser, die angestoßen werden, klirren, malizöses Lachen von beiden]

Catherine Fibonacci (? – ), Offenbarung 23Demokratie, Folge 86: Track 11, 1:00 – Track 12, 1:40 (2019)


Im weiteren Verlauf dieser Folge ist zudem die Rede von der Macht des kalkuliert gesäten Zweifels an demokratiefreundlicher Kritik besagter Widerstände, wie sie wohl auch die Räte laut werden ließen, gäbe es sie denn. Wie auch weiterführend davon gesprochen wird, dass Minderheiten (Muslime, Juden, Arbeitslose, Migranten, etc.) als Sündenbock diffamiert werden und so zum Ziel potentiell demokratieförderlicher Energien und Aktivitäten gemacht werden, sodass der Bürger statt positiver Selbstermächtigung und – regierung, negativ gewendet, fixiert und damit politisch abgelenkt werden.

Auch wenn es hierbei definitiv verschwörungstheoretisch und eher narrativ als deskriptiv zugeht, so bespricht diese Episode neben den zuvor besagten, weitere denkbare Stressoren unserer Demokratie, durch die insgesamt das Arendtsche Ideal einer Herrschaft für das Volk durch das Volk in Zweifel gezogen werden kann: Propaganda, negative Massenpsychologie und pessimistische Anthropologie sowie der Egoismus und Paternalismus konspirativer Eliten.

Alles in allem gibt es also eine breite Phalanx demokratiefeindlicher Antagonisten, die ich hier nur aus rhetorischen Gründen personifiziert habe, die also in Wirklichkeit vielmehr abstrakter und struktureller Natur sein dürften. Solcherart wird letztlich aus dem eingangs zitierten Ideal des freien Diskurses als Basis direkter demokratischer Meinungs- und Willenbildung eine gegenwartskritische Kontrastfolie. Ein utopischer Spiegel, in dem wir unsere politische Wirklichkeit als Verzerrung und Entfremdung von besserer Demokratie erblicken könnten, wenn wir argumentativ stark pessimistisch und einseitig negativ zu Werke gehen, wie ich das hier und heute getan habe.

Denn klar ist ebenso, dass es die dialektisch entgegengesetzte, andere Position gibt: Demokratie ist bekanntlich die schlechteste aller Staatformen, mit Ausnahme aller anderen, um abschließend den weisen Winston Churchill zu paraphrasieren. Denn sie ist immer ein historischer Prozess, hat als solcher ihre Höhen und Tiefen, vermag sich aber gerade deshalb im Gegensatz zu kollektivistischen, autokratischen oder gar faschistoiden Herrschaftsformen zu wandeln, anzupassen und zu reifen. Es obliegt jeder neuen Generation von Bürgern, ihre jeeigen Demokratie neu zu beleben und somit hängt ihre Qualität stets neu davon ab, ob und wie weit ihre Mitglieder bereit und willens sind, zu diskutieren, zu partizipieren und sich schließlich mehr direkt oder minder repräsentativ selbst zu regierieren.

Was ihr wollt und könnt, nein, was wir wollen und können bestimmt unseren Status irgendwo im politischen Kontinuum zwischen Ratsmitglied und Stimmvieh. Diese Freiheit besitzen wir, diese bürgerliche Pflicht ist uns aufgeben – machen wir also besser das Beste daraus: Unsere Demokratie bleibt unsere Wahl, wird unsere Zukunft!

Mit demokratischem Gruß, Euer Satorius

Don Qu. und die Zauberer

Während ein neues Jahrzehnt angebrochen ist, die Welt sich weiter im Kreise dreht – ich wage nicht zu sagen, ob das Rad der Zeit dabei bergauf oder bergab rollt, uns dem Abgrund näher bringt oder dem Gipfel – blicke ich ein wenig reumütig, ein wenig gleichgültig zurück auf eine Schaffenspause von knapp zwei Monaten. Immerhin, so scheint es aufgrund digitaler Stille, habe ich dadurch wenigstens keinen neugierigen Leser enttäuscht und in Ungeduld ob der angekündigten Fortsetzung der Wochenendlektüren gestürzt – wenn doch: ein motivierender Kommentar ist jederzeit erlaubt. Aber letztlich gilt ungebrochen, dass ich für das Schreiben selbst schreibe und mein Werk vertrauensvoll dem Äther übereigne.

Unterdessen bin ich auf den Fährten großer Literaten unterwegs gewesen und folge ihnen weiterhin; wenn ich auch zunehmend dem Hörbuch verfalle, das sich so viel bequemer in den Alltag integrieren lässt: Zu spülen beispielsweise und währenddem Weltliteratur zu genießen, macht aus einer schnöden Sisyphusarbeit eine erträgliche und einträgliche Zeit. Nach Charles Dickens Geschichte aus zwei Städten, die trotz aller anerkannten Meisterschafft hier in Quanzland wohl keinen Niederschlag mehr haben wird, bin ich nunmehr beim berühmtesten Narren der Literaturgeschichte gelandet: Don Qu. dem wahnwitzigen Hidalgo.

In seiner kritischen Parodie auf die Fantastik von Minne und Rittergeschichten antizipiert Cervantes am Beginn der Moderne durch die Figuren des Don Qujiote (respektive Quixote) und des Sancho Pansa weit mehr als die ambivalente Konkretisierung von wahnhafter Schizophrenie/striktem Idealismus bei Ersterem und tumber Habgier/offenherziger Treue bei Zweitem. Jahrhunderte vor dem Entstehen von Psychatrie und Differenzphilosophie entwirft er in einer literarischen Metaphorik ein originelles Modell menschlicher Subjektivität, das nicht nur zum Schreien komisch sondern auch zum Staunen weise daherkommt. Quasi nebenher dekonstruiert er Formen, Formate und Fabeln menschlicher Welt- und Selbstvergewisserung und er tut das in einer genialen Leichtigkeit und Vieldeutigkeit, die ihresgleichen sucht.

Genug gelobt und (an-)gedeutet, lest selbst und wundert Euch über das illustere Zwiegespräch zwischen Herr und Diener, die bisweilen die Rollen tauschen und dabei beide auf ihre eigene Art prototypisch vor Augen führen, was Ideologie und Idealismus, Wunsch und Wahn zu bewirken, ja, zu bezaubern im Stande sind.

Euer alltagsabsorbierter Gelegenheitsblogger, Satorius


Aber sage mir, Sancho, verwahrst du auch den Helm Mambrins sorgfältig? Ich sah, wie du ihn vom Boden aufhobst, als ihn jener Undankbare zerschmettern wollte und es ihm nicht gelang, woraus man eben die Trefflichkeit seines Metalls ermessen kann.«
Auf dieses antwortete Sancho: »Bei Gott, Herr Ritter von der traurigen Gestalt, alles kann ich nicht ausstehen und in Geduld anhören, was Ihr sagt, und dadurch komme ich manchmal auf den Gedanken, daß alles, was Ihr mir von Ritterschaft vorsprecht und von Königreiche und Kaisertümer gewinnen und Inseln verschenken, und andre Gnaden und Herrlichkeiten auszuteilen, wie es die irrenden Ritter in der Art haben sollen, daß alles das nur Windbeutelei und Lügen sind und alles nur Luftklöße oder Luftschlösser, wie es heißen mag; denn wenn ich Euch sagen höre, daß ein Barbierbecken ein Helm Mambrins sei, und daß Ihr länger als vier Tage in diesem Irrtum beharrt, was soll ich wohl anders denken, als daß dem, der so etwas glaubt und behauptet, im Kopfe etwas losgegangen ist? Das Becken, das voller Beulen ist, habe ich im Beutel hier, bei mir zu Hause will ich’s mir zurechtmachen lassen und mich darin barbieren, wenn Gott mir so gnädig ist, daß ich noch einmal meine Frau und Kinder wiedersehe.«
»Wahrlich, Sancho, bei demselben Gotte, bei dem du vorher geschworen hast«, antwortete Don Quixote, »du hast den allerdümmsten Verstand, den nur jemals noch ein Stallmeister in der ganzen Welt hat oder gehabt hat. Wie ist es möglich, daß du, der du schon so lange in meiner Gesellschaft bist, nicht einsiehst, wie alles, was die irrenden Ritter angeht, nur wie Hirngespinst, Narrheit und Unsinn aussieht und alles verkehrt und wunderlich scheint? Nicht deswegen, weil es sich also befindet, sondern weil immer ein ganzes Regiment von Zauberern hinter uns herläuft, die alle unsere Dinge verändern und verwandeln und sie nach ihrem Gefallen auswechseln, je nachdem sie uns beschützen oder verfolgen, und so scheint, was dir wie ein Barbierbecken aussieht, mir der Helm Mambrins, und ein anderer wird es wieder für etwas anderes ansehen; auch war es eine herrliche Vorsicht des Weisen, der auf meiner Seite ist, es so einzurichten, daß allen das ein Bartbecken scheint, was doch wahrhaftig und in der Tat der Helm Mambrins ist, denn da er von so unermeßlichem Werte ist, würde mich die ganze Welt verfolgen, um ihn nur zu besitzen; da sie ihn aber nur für ein Barbierbecken ansehen, kümmern sie sich nicht sonderlich darum, wie es sich auch bei jenem auswies, der ihn zerbrechen wollte und ihn dann mit Verachtung auf dem Boden liegenließ, wo er ihn wahrlich nicht um alle Welt gelassen hätte, wenn er seine Preislichkeit gekannt. Hebe ihn gut auf, Freund Sancho, denn jetzt brauche ich ihn nicht, sondern ich will im Gegenteile alle diese Waffenstücke ablegen, damit ich so nackt sei, wie ich von Mutterleibe kam, wenn es mir einfällt, in meiner Buße mehr dem Roland als dem Amadis nachzuahmen.«

Miguel de Cervantes Saavedra (1547 – 1616), Leben und Taten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von la Mancha, S. 329f. (1605/15, 1852/53 übersetzt von Ludwig Tieck)

Gebote über Gebote, Hauptsache es sind deren zehn

Im stillen Gedenken an die heute vor 30 Jahren kollabierte DDR, zugleich in ambivalenter Haltung gegenüber dem seinerzeit verschiedenen und seither verschollenen europäischen Sozialismus sowie im Sinnieren über Gebote, Verbote und Regeln überhaupt, präsentiere ich Euch heute im Folgenden ein Kabinett an Dekalogen.

Ich hoffe, dass für jeden Geschmack und jede Ideologie etwas dabei ist, und bin ansonsten offen für weitere Alternativen. Wäre ich im Übrigen nicht redlich müde, würde ich mich womöglich selbst an einem Quanzland-Dekalog versuchen. So aber erspare ich mir das und erhole mich stattdessen.

Mit spätnächtlichem Gruß an alle orientierungswilligen Dekalogiker, Euer Satorius


Sozialistischer Dekalog

  1. Du sollst Dich stets für die internationale Solidarität der Arbeiterklasse und aller Werktätigen sowie für die unverbrüchliche Verbundenheit aller sozialistischen Länder einsetzen.
  2. Du sollst Dein Vaterland lieben und stets bereit sein, Deine ganze Kraft und Fähigkeit für die Verteidigung der Arbeiter-und-Bauern-Macht einzusetzen.
  3. Du sollst helfen, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu beseitigen.
  4. Du sollst gute Taten für den Sozialismus vollbringen, denn der Sozialismus führt zu einem besseren Leben für alle Werktätigen.
  5. Du sollst beim Aufbau des Sozialismus im Geiste der gegenseitigen Hilfe und der kameradschaftlichen Zusammenarbeit handeln, das Kollektiv achten und seine Kritik beherzigen.
  6. Du sollst das Volkseigentum schützen und mehren.
  7. Du sollst stets nach Verbesserung Deiner Leistung streben, sparsam sein und die sozialistische Arbeitsdisziplin festigen.
  8. Du sollst Deine Kinder im Geiste des Friedens und des Sozialismus zu allseitig gebildeten, charakterfesten und körperlich gestählten Menschen erziehen.
  9. Du sollst sauber und anständig leben und Deine Familie achten.
  10. Du sollst Solidarität mit den um nationale Befreiung kämpfenden und den ihre nationale Unabhängigkeit verteidigenden Völkern üben.

Walter Ulbricht (1893 – 1973), Die zehn Gebote der sozialistischen Moral (10. – 16. Juli 1958, V. Parteitag der SED)


Mysteriöser Dekalog

  1. Halte die Menschheit unter 500.000.000 in fortwährendem Gleichgewicht mit der Natur
  2. Lenke die Fortpflanzung weise – um Tauglichkeit und Vielfalt zu verbessern
  3. Vereine die Menschheit mit einer neuen, lebenden Sprache
  4. Beherrsche Leidenschaft – Glauben – Tradition und alles Sonstige mit gemäßigter Vernunft
  5. Schütze die Menschen und Nationen durch gerechte Gesetze und gerechte Gerichte
  6. Lass alle Nationen ihre eigenen Angelegenheiten selbst/intern regeln und internationale Streitfälle vor einem Weltgericht beilegen
  7. Vermeide belanglose Gesetze und unnütze Beamte
  8. Schaffe ein Gleichgewicht zwischen den persönlichen Rechten und den gesellschaftlichen/sozialen Pflichten
  9. Würdige Wahrheit – Schönheit – Liebe – im Streben nach Harmonie mit dem Unendlichen
  10. Sei kein Krebsgeschwür für diese Erde – lass der Natur Raum – lass der Natur Raum

R. C. Christian (? – ?), Inschrift der Georgia Guidestones (1980)


Liberaler Dekalog

  1. Fühle dich keiner Sache völlig gewiss!
  2. Trachte nicht danach, Fakten zu verheimlichen, denn eines Tages kommen die Fakten bestimmt ans Licht!
  3. Versuche niemals, jemanden vom selbstständigen Denken abzuhalten, denn es wird dir gelingen.
  4. Wenn dir jemand widerspricht, und sei es dein Ehepartner oder dein Kind, bemühe dich, ihm mit Argumenten zu begegnen und nicht mit der Autorität, denn ein Sieg der Autorität ist unrealistisch und illusionär.
  5. Habe keinen Respekt vor der Autorität anderer, denn es gibt in jedem Fall auch Autoritäten, die gegenteiliger Ansicht sind!
  6. Unterdrücke nie mit Gewalt Überzeugungen, die du für verderblich hältst, sonst unterdrücken diese Überzeugungen dich!
  7. Fürchte dich nicht davor, exzentrische Meinungen zu vertreten; jede heutige Meinung war einmal exzentrisch.
  8. Freue dich mehr über intelligenten Widerspruch als über passive Zustimmung; denn wenn die Intelligenz so viel wert ist, wie sie dir wert sein sollte, dann liegt im Widerspruche eine tiefere Zustimmung.
  9. Halte dich an die Wahrheit auch dann, wenn sie nicht ins Konzept passt! Denn es passt noch viel weniger ins Konzept, wenn du versuchst, sie zu verbergen.
  10. Neide nicht denjenigen das Glück, die in einem Narrenparadiese leben; denn nur ein Narr kann das für ein Glück halten!

Betrand Russell (1872 – 1970), Die beste Antwort auf Fanatismus: Liberalismus (1951, New York Times)


Humanistischer Dekalog

  1. Proklamiert die naturgegebene Menschenwürde und den inhärenten Wert eines jeden Menschen.
  2. Respektiert Leben und Eigentum anderer.
  3. Seid tolerant und vorurteilsfrei gegenüber der Wahlfreiheit und den Lebensstilen anderer.
  4. Teilt mit denen, die weniger Glück haben als ihr, und bietet gegenseitige Unterstützung für die, die Hilfe brauchen.
  5. Beruft euch weder auf Lügen noch auf spirituelle Lehrmeinungen noch auf weltliche Macht, die auf Dominanz und Ausbeutung anderer ausgerichtet ist.
  6. Vertraut auf eure Vernunft, auf die Logik und die Wissenschaft, um das Universum zu verstehen und zur Lösung der Probleme des Lebens.
  7. Schützt und verbessert den natürlichen Raum der Erde – Land, Boden, Wasser, Luft und All –, und zwar als das gemeinsame Erbe der Menschheit.
  8. Überwindet eure Meinungsverschiedenheiten und Konflikte, ohne Gewalt auszuüben oder Kriege zu führen.
  9. Regelt öffentliche Angelegenheiten auf der Basis von individueller Freiheit und Verantwortung, mittels einer politischen und wirtschaftlichen Demokratie.
  10. Entwickelt eure Intelligenz und eure Talente durch Bildung und Fleiß.

Rodrigue Tremblay (1939 – ), The Code for Global Ethics, S. 7 (2010)


Evolutionär-humanistischer Dekalog

  1. Diene weder fremden noch heimischen „Göttern“ (die bei genauerer Betrachtung nichts weiter als naive Primatenhirn-Konstruktionen sind), sondern dem großen Ideal der Ethik, das Leid in der Welt zu mindern! Diejenigen, die behaupteten, besonders nah ihrem „Gott“ zu sein, waren meist jene, die dem Wohl und Wehe der realen Menschen besonders fernstanden. Beteilige dich nicht an diesem Trauerspiel! Wer Wissenschaft, Philosophie und Kunst besitzt, braucht keine Religion!
  2. Verhalte dich fair gegenüber deinem Nächsten und deinem Fernsten! Du wirst nicht alle Menschen lieben können, aber du solltest respektieren, dass jeder Mensch – auch der von dir ungeliebte! – das Recht hat, seine individuellen Vorstellungen von „gutem Leben (und Sterben) im Diesseits“ zu verwirklichen, sofern er dadurch nicht gegen die gleichberechtigten Interessen Anderer verstößt.
  3. Habe keine Angst vor Autoritäten, sondern den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Bedenke, dass die Stärke eines Arguments völlig unabhängig davon ist, wer es äußert. Entscheidend für den Wahrheitswert einer Aussage ist allein, ob sie logisch widerspruchsfrei ist und unseren realen Erfahrungen in der Welt entspricht. Wenn heute noch jemand mit „Gott an seiner Seite“ argumentiert, sollte das keine Ehrfurcht, sondern Lachsalven auslösen.
  4. Du sollst nicht lügen, betrügen, stehlen, töten – es sei denn, es gibt im Notfall keine anderen Möglichkeiten, die Ideale der Humanität durchzusetzen! Wer in der Nazidiktatur nicht log, sondern der Gestapo treuherzig den Aufenthaltsort jüdischer Familien verriet, verhielt sich im höchsten Maße unethisch – im Gegensatz zu jenen, die Hitler durch Attentate beseitigen wollten, um Millionen von Menschenleben zu retten. Ethisches Handeln bedeutet keineswegs, blind irgendwelchen moralischen Geboten oder Verboten zu folgen, sondern in der jeweiligen Situation abzuwägen, mit welchen positiven und negativen Konsequenzen eine Entscheidung verbunden wäre.
  5. Befreie dich von der Unart des Moralisierens! Es gibt in der Welt nicht „das Gute“ und „das Böse“, sondern bloß Menschen mit unterschiedlichen Interessen, Bedürfnissen und Lernerfahrungen. Trage dazu bei, dass die katastrophalen Bedingungen aufgehoben werden, unter denen Menschen heute verkümmern, und du wirst erstaunt sein, von welch freundlicher, kreativer und liebenswerter Seite sich die vermeintliche „Bestie“ Homo sapiens zeigen kann.
  6. Immunisiere dich nicht gegen Kritik! Ehrliche Kritik ist ein Geschenk, das du nicht abweisen solltest. Durch solche Kritik hast du nicht mehr zu verlieren als deine Irrtümer, von denen du dich besser heute als morgen verabschiedest. Habe Mitleid mit jenen Kritikunfähigen, die sich aus tiefer Angst heraus als „unfehlbar“ und ihre Dogmen als „heilig“ (unantastbar) darstellen müssen. Sie sollten in einer modernen Gesellschaft nicht mehr ernstgenommen werden.
  7. Sei dir deiner Sache nicht allzu sicher! Was uns heute als richtig erscheint, kann schon morgen überholt sein! Zweifle aber auch am Zweifel! Selbst wenn unser Wissen stets begrenzt und vorläufig ist, solltest du entschieden für das eintreten, von dem du überzeugt bist. Sei dabei aber jederzeit offen für bessere Argumente, denn nur so wird es dir gelingen, den schmalen Grat jenseits von Dogmatismus und Beliebigkeit zu meistern.
  8. Überwinde die Neigung zur Traditionsblindheit, indem du dich gründlich nach allen Seiten hin informierst, bevor du eine Entscheidung triffst! Du verfügst als Mensch über ein außerordentlich lernfähiges Gehirn, lass es nicht verkümmern! Achte darauf, dass du in Fragen der Ethik und der Weltanschauung die gleichen rationalen Prinzipien anwendest, die du beherrschen musst, um ein Handy oder einen Computer bedienen zu können. Eine Menschheit, die das Atom spaltet und über Satelliten kommuniziert, muss die dafür notwendige Reife besitzen.
  9. Genieße dein Leben, denn dir ist höchstwahrscheinlich nur dieses eine gegeben! Sei dir deiner und unser aller Endlichkeit bewusst, verdränge sie nicht, sondern „nutze den Tag“ (Carpe diem)! Gerade die Endlichkeit des individuellen Lebens macht es so ungeheuer kostbar! Lass dir von niemandem einreden, es sei eine Schande, glücklich zu sein! Im Gegenteil: Indem du die Freiheiten genießt, die du heute besitzt, ehrst du jene, die in der Vergangenheit im Kampf für diese Freiheiten ihr Leben gelassen haben!
  10. Stelle dein Leben in den Dienst einer „größeren Sache“, werde Teil der Tradition derer, die die Welt zu einem besseren, lebenswerteren Ort machen woll(t)en! Eine solche Haltung ist nicht nur ethisch vernünftig, sondern auch das beste Rezept für eine sinnerfüllte Existenz. Es scheint so, dass Altruisten die cleveren Egoisten sind, da die größte Erfüllung unseres Eigennutzes in seiner Ausdehnung auf Andere liegt. Wenn du dich selber als Kraft im „Wärmestrom der menschlichen Geschichte“ verorten kannst, wird dich das glücklicher machen, als es jeder erdenkliche Besitz könnte. Du wirst intuitiv spüren, dass du nicht umsonst lebst und auch nicht umsonst gelebt haben wirst!

Michael Schmidt-Salomon (1967 – ), Manifest des Evolutionären Humanismus, S. 156-159 (2005)


Christlicher Dekalog

  1. Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.
  2. Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes,
    nicht missbrauchen.
  3. Du sollst den Feiertag heiligen.
  4. Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.
  5. Du sollst nicht töten.
  6. Du sollst nicht ehebrechen.
  7. Du sollst nicht stehlen.
  8. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
  9. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus.
  10. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was dein Nächster hat.

GOTT, Martin Luther (Hrsg.) et al. (Nicht zuverlässig datierbar), Die Zehn Gebote. In: Die Bibel – Das Alte Testament, 2. Mose, 20 & 5. Mose, 5 (68 – 96 n. Chr.)

Von der Stoa das Leben lernen oder es fahren lassen

Was immer irgend jemand gut formuliert hat, ist mein Eigentum. Auch folgendes Wort stammt von Epikur: „Wenn du nach der Natur lebst, wirst du niemals arm sein: wenn nach Wunschvorstellungen, wirst du niemals reich sein.“ Wenig fordert die Natur, die Wunschvorstellung Unermeßliches. Gehäuft werde auf dich, was immer viele Reiche besessen hatten; über eines Privatvermögens Maß hinaus bringe dich das Schicksal, mit Gold bedecke es dich, in Purpur kleide es dich, zu einem Maß an Genuß und Reichtum bringe es dich, daß du die Erde mit Marmor verbirgst, nicht nur Reichtum zu besitzen dir erlaubt ist, sondern auch, auf ihn zu treten; hinzu mögen kommen Plastiken und Gemälde und was immer irgendeine Kunstfertigekeit an Luxus hervorgrebacht hat: Größeres zu wünschen wirst du davon lernen. Naturgegebene Bedürfnisse sind begrenzt; aus trügerischem Wunschdenken entstehende wissen nicht, wo sie aufhören sollen: keine Grenze nämlich gibt es für Trügerisches. Wer einen Weg geht, für den gibt es etwas Letztes: Irrtum ist unermeßlich. Zieh dich also zurück von Nichtigem, und wenn du wissen willst, ob, was du wünschst, naturgegebener oder blinder Sehnsucht entstamme, überlege, ob es irgendwo haltmachen kann: wenn du weit gegangen bist und immer noch etwas Weiteres übrig bleibt, so wisse, das ist nicht naturgegeben.

Lucius Annaeus Seneca (1 – 65), Briefe über Ethik, 16, 7-9 (S. 127f., Philosophische Schriften – Band 3, übersetzt von Manfred Rosenbach)


Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf der Erde. […] Gefährde nicht die Bedingungen für den indefiniten Fortbestand der Menschheit.

Hans Jonas (1903 – 1993), Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, S. 36 (1979)


Während ein ernstzunehmender Bruchteil der deutschen und auch der globalen Jungend anfängt, für ihre naturgegebenen Bedürfnisse in einer prognostisch-düsteren Zukunft einzustehen; nachdem Hans Jonas, wissend um die Dialektik der Aufklärung, Kants ehrwürdigen, aber zu individualistischen Imperativ notwendig erweitert hatte; wo bereits seit 1972 die trügerische Wunschvorstellung vom grenzenlosen Wachstum der Weltwirtschaft attestiert worden ist; hatten zwei Millenien zuvor die Weisen der klassischen Antike, sowohl der griechischen wie der römischen Kultur als auch der stoischen und epikureeischen Philosophie, klar erkannt und benannt, dass sehnsüchtig erstrebter und arglos angehäufter Reichtum widernatürlich ist. Von anderen Kulturen und ihren gleichtönenden Stimmen schweige ich der Prägnanz und der Redlichkeit zuliebe, denn hier herrschen Halbwissen und Vagheit.

Die Reichen und Mächtigen (es mag auch hier Ausnahmen geben, aber die diskriminiere ich kurzerhand) jedenfalls und jedoch waren seither entweder blind, taub, lahm und dumm oder schlicht unsittlich und dabei gemeingefährlich egoistisch bis schreiend generationenungerecht. Ihresgleichen, die gesellschaftlich relevanten Institutionen, aber auch der Pöbel aller Länder haben nicht nur die altvorderen Belehrungen ignoriert, sondern sind auf dem ziel- und uferlosen Weg des ewigen Wachstums und der unablässigen Ausbeutung stur weiter einem fatalen Trugbild nachgeeilt. Generation um Generation lebten den stupiden Alptraum einer ökonomischen, politischen und sozialen Dystopie, verfielen solcherart mehr und mehr einer fatalen Hybris, die in ihrer moralischen wie rationalen Verwerflichkeit irgendwo zwischen Prometheus und Narzissus changiert. Also sogar der vorphilosophische Mythos hatte sie, hatte uns eindeutig und lebensnah gewarnt und nachdrücklich zum Umdenken ermahnt.

Aber nein, wir wollten nicht hören; und so stehen wir heute im Angesicht der politisch wiedererwachenden Jugend bestenfalls kleinlaut, schlimmstenfalls leugnend da und müssen schahmvoll anerkennen: Wir haben uns versündigt, haben Mutter Natur geschändet und die Erde verwüstet.

Und was macht man dieser Tage in Deutschland, dem Land der Dichter und Denker, Förster und Erfinder, dort, wo vermeintlichen die ökologische Avantgarde zuhause ist, dort, wo Idee und Begriff der Nachhaltigkeit geprägt und gepflegt wurde: Man zaudert und hardert! Man fürchtet um Arbeitsplätze und Wettbewerbsvorteile, scheut den Unmut der Wähler und die Unzufriedenheit der Dekandenten. Man feiert rhetorisch tumb ein sogenanntes Klimapaket als „Durchbruch“, das nach pessimistischen oder realistischen Schätzungen – ich vermag das, Stichwort: Redlichkeit, nicht zu qualifizieren – läppische 50% der vertraglich vereinbarten und hart erkämpften CO²-Einsparziele gemäß Pariser Klimaschutzabkommen erzielen könnte. Unterdessen hofft man blind auf Innovationen, die uns dereinst womöglich retten könnten. Von Selbstvertrauen und Courage keine Spur, von Veränderung und Konsequenz keine Rede, der Rest ist Schweigen und Einerlei …

„Verzicht“ und „Verbot“, sogar „Mäßigung“ werden im öffentlichen Diskurs größtenteils wie Todsünden behandelt und verteufelt, „Konsum“ und „Wachstum“, „Freiheit“ und „Markt“ hingegen als Tugenden gefeiert und geadelt. In diesem Kontext noch ernsthaft von naturgegebenen Bedürfnissen zu reden und solche zu kritisieren, die trügerische Wunschvorstellungen konservierend, die Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden gefährden, ist mir ehrlicherweise das Tippen nicht weiter wert. So evident, so grotesk, so irrig und fatal ist die Lage, wenn man nur noch abschließend hinzudenkt, dass Deutschland, dass Europa nur ein kleines Zahnrad im Getriebe der Weltverschrottungsmaschinerie ist.

Warum für die Zukunft demonstrieren, warum stoisch, weise und klug handlen, ich habe eine viel bessere, eine durch und durch tröstliche Idee: Lasst uns doch einfach alle mit unseren SUV’s kurz beim Drive-In haltmachen, fünf Burger kaufend und zwei bis drei wegwerfend, bevor wir auf der AIDA einchecken, wo uns achselzuckend einfällt, dass wir zuhause in der Villa Licht, TV, Rechner und Heizung an- und die Fenster aufgelassen haben, was wir aber nach Sauna und Whirlpool, beim üppigen Abendbankett unter’m Wärmepilz an Deck sitzend und schlemmend, mit dem Cocktail-to-go im Plastikglas in der Hand schon wieder vergessen haben.

Ein Hoch auf die Jugend, möge ihnen späterhin der zivilisatorische Abgrund nicht zu unbehaglich werden, Euer entnervter Satorius

P.S.: Nicht, dass ich deratig Utopisches zu unseren Lebzeiten noch erwarten würde, aber wie wäre es hiermit – klar, kritisch, jedoch unkonkret!

Sommerliche Abgründe

Der Konflikt zwischen der gesellschaftlichen immanenten und der universalen Ethik wurde zwar im Laufe der Menschheitsentwicklung schwächer, aber es bleibt doch so lange ein Konflikt zwischen diesen beiden ethischen Formen bestehen, wie es der Menschheit nicht gelingt, eine Gesellschaft aufzubauen, in der die Interessen der „Gesellschaft“ mit den Interessen aller ihrer Glieder identisch geworden sind.

Erich Fromm (1921 – 1993), Psychoanalyse und Ethik, S. 263 (1954)


Wenn denn alle Glieder überhaupt wüssten, was ihre wesentlichen Interessen und, mehr noch, ihre wahrhaften Bedürfnisse sind. Wer kann von sich behaupten, jene ominöse universale Ethik zu kennen und sich von ihr konsequent leiten zu lassen? Zumal, worin differenzieren sich „universell“ und „universal“? Vermutlich ein Bastard aus Hybris, Hypostase und Hysterie wie Platons höchste Idee des Guten, Kants Sittengesetz, ein beliebiger guter Gott oder bspw. die FDGO in unserer BRD. Ich jedenfalls bin da als Agnostiker bequemerweise intellektuell fein raus …

… allerdings mit dem diabolischen Lächeln des Moralisten wieder drin bei einer augenfällig rhetorisch überspitzten Gegenwartskritik im Geiste von Fromm, Jonas und Greta. So klage ich an und frage mit hallender Donnerstimme mein altes – immerhin in dieser Hinsicht beinahe alter – Ego: Muss ich mit dem Auto jederzeit überall hinfahren; brauche ich ein, zwei oder gar drei Flugreisen zum beliebigen Urlaubsort der Mittelstrecke – ach was, gönnen wir uns mal was -, die Kreuzfahrt als zweimonatige Weltreise; sind 150m² für drei Personen bei meinem sozialen Status noch angemessen; betreibe ich dutzende spannende, teure und aufwendige Hobbies und kaufe ich mir täglich dies oder das, gönne mir montalich jenes oder welches, was eben gerade meine ablenkbare Lust bindet, Begehren auf Eigentum weckt, mehr und mehr, obwohl ich jetzt bereits in Produkten und Waren versinke; verbrauche ich insgesamt meine Konsumgüter im Nu und werfe sie als Müll zusammen mit den etlichen schnelllebigen Gebrauchsgütern mit offer wie arglistiger, eingebauter Obsolenz oder minderwertiger Qualität zum billigen Preis achtlos weg; sollte ich zudem tatsächlich Tonnen an Tieren verwursten und vertilgen, Zucker, Palmöl, Soja und Weizen wegen die Wälder (brand-)roden und monokultivieren; ist es zuletzt wirklich unumgänglich pro Tag und Person Dutzende Kilowatt an überwiegend brauner Energie in Geräte und Maschien, Akkus und Bildschirme zu stecken, damit Bewegung, Information, Wärme und Licht uns überall hin begleiten?

(Geschellschaftlich immanenter) Chor: „Ja, Mann – genau dafür arbeite ich, Tag ein, Tag aus! Das ist mein Geburtsrecht und unsere normale Wirklichkeit, denn wir sind die Erste Welt! Wer gewinnt, nimmt sich seinen Gewinn – voll Stolz und mit gutem Recht… „

In Fromms hochgeschätzten Worten sowie meinerseits grob, ganz und willkürlich in den Blick genommen, ist die historische Realität, auf die obiges Fragengewimmel abzielt, wohl sowas wie die pessimistische Schattenseite unserer gesellschaftlichen immanenten Ethik in puncto globler Ökonomie und Ökologie. Wir versagen als Kosmumente ebenso wie als Weltgemeinschaft und damit als Haushälter der Erde in zunehmendem und frappierendem Maße, möchte man meinen.

(Geschellschaftlich immanenter) Chor: „Wären da nicht dieser verfluchte Klimawandel, das Artensterben, die Verwüstung, Überfischung, Vermüllung, all diese zufälligen Naturkatastrophen, wir könnten einfach so weiter machen wie die 666 (3000 Jahrhunderte Menschheitsgeschichte geteilt durch ~ 4,5 Generationen pro Jahrhundert) Generationen des Homo Sapiens vor uns. Aber nein, Schluss aus, wir nicht mehr, wir sollen verzichten, sparen und zurückstecken. Dabei sind wir doch so prächtig gewachsen, haben so viel Fortschritt gestiftet, Gerechtigkeit und Geist in die Welt gebracht, expandiert, kolonisiert und zivilisiert, uns seit der Renaissance und spätestens mit der Aufklärung scheinbar unaufhaltsam in Richtung universaler Ethik voranentwicklet – und jetzt, all die schöne Zivilisation soll nun schlecht sein, faul und madig in ihrem Kern, stehend auf tönernen Füßen und gebaut auf Sand? Pah! – wir sind Gottest Kinder und haben uns die Erde Untertan gemacht – Basta!“

Ihr vernehmt es ungeschönt: Mein Sommerloch war tief und mein Aufenthalt dort lang, ein asketischer Abgrund aus Verzicht, Grübelei und ökologisch-harmloser Zerstreuung liegt gähnend und klaffend hinter mir. Was sieht mein entsandeter Kopf: Der Amazonas brennt, Millionen Menschen flüchten, unterdessen beuten Populisten, Diktatoren und Oligarchen die Bevölkerung und die Umwelt weiterhin hemmungslos aus und spalten die Menscheit millionenfach, beim Handel tobt offener Krieg“, Europa ist längst keine Utopie mehr, sondern droht Geschichte zu werden.

Wenn ich solcherart böswillig die schlechten Nachrichten über das Weltgeschehen zusammenschreibe, und wirklich nur dann, höre ich bisweilen, aber ganz selten den (Gesellschaftlichen immanenten) Chor leise summen. Ansonsten bietet das Kleinod der privaten, zumeist heilen Spähre ein Antidot gegen als das bittere Gift das die (nachrichten)-mediale Kanäle pessimistisch-permanent vermitteln.

Trotzdem und deshalb harre ich aus, bleib auf dem Posten und glaube unbeirrt, dass individuelles Handeln und dessen utopische Veränderung eine notwendige Bedingung für analoge globale Veränderung ist; auch wenn das Individuum wie ich lediglich ökonomischen und ökologischen Idealen nacheifert und somit keine hinreichende Bedingung für besagte Veränderung darstellt. Denn es bedarf ebenso notwendig der politischen Aktion, ob als Reform oder Revolution – jedoch nicht durch mich: Ich diskutiere, informiere und multipliziere meine tagespolitischen Präferenzen und gehe schlussendlich wählen. Genug der Politik.

Der Rest ist politische Ökonomie, hätte Marx freudestrahlend attestiert, wenn auch in meinem Einzelfall betrachtet quantitativ und womöglich gar qualitativ unbedeutend. Dazwischen also übe ich diese sanfte Macht aus, bin frei und verantwortlich in meinem ökonomischen Handeln. Zeige mein Ethos durch meinen Konsum und meinen Lebenstil: Ich fahre weiterhin Fahrrad; essen so wenig Fleisch, wie es für einen dörflich durchsozialisierten Fleischfresser eben geht; bleibe mit meinen sieben Sachen zuhause, reise in der Region und höchstens europäisch, wo es zwar prinzipiell schön ist, aber das Wetter häufig beschissen; und finde somit höchstoffiziell und abschließend wohlbehalten und nur mäßig sonnengegerbt zurück nach Quanzland.

Mache mich gedanklich frei und lege die Füße hoch, beanspruchen hier doch weder gesellschaftliche immanente noch universale Ethik Geltung und Gewissen. Bestenfalls interessieren sie, schlimmstenfalls werden sie persifliert oder ignoriert. Aber draußen in der wirklichen Welt gelten andere Gesetze, vorortet jenseits und dieseits jedweder Ethik. Basale Tatsachen des Plausibilitätskalibers von: Wer im Sommer über seine Verhältnisse lebt, der hat im Winter nicht genug Vorräte zum Überleben; wer sein Haus vernachlässigt oder gar in Brand setzt, der wird obdach- und heimatlos; alles hat ein Ende, nur die Wurst hat Zwei.

Mit samstäglich Grüßen, insbesondere an alle gefallenen Idealisten und bösen Gutmenschen, Euer Satorius

Überall Utopisches

Ich weile weiterhin auf meiner Version des Mannschen Zauberbergs, Zeit spielt hier oben keine Rolle und mein Denken schweift schreibend weiter. Es landet nach einigen Sprüngen, Haken und einer gewagten Pirouette abermals bei meinem intellektuellen Steckpferd, dem sogenannten Utopischen.

Genauer gesprochen handelt es sich bei den folgenden beiden TFF’s um zwei unterschiedlich Formen des Umgangs mit diesem öminösen Utopischen, nämlich wiederum um sogenannte Utopik. Einmal fiktional im literarischen Gewand und einmal eher faktisch als philosophische Debatte. Beides sichtet und fabuliert, beides modelliert und analysiert den Zustand des utopischen Denkens. Mithin tangiert es notwendig das erwähnte Utopsiche, also die ontologisch-brisante Sphäre des Noch-Nicht-Seinenden und ihre diversen Objekte, die im Subjekt als Traum oder Utopie erscheinen und objektiv unbestritten wirkmächtige Faktoren innerhalb des Weltgeschehens waren, sind und sein werden.

Was also sagen die Zeugnisse und die Zeugen über das so zwielichtige, so schillernde Thema, das mich seit Studientagen begleitet und vermutlich lebenslang faszinieren wird? Lassen wir sie für sich selbst sprechen und protokollieren unterdessen eilfertig für uns ihre Aussagen zu Visionen, Zukunftsphantasien, ja allgemein zum Utopischen:


Juli Zeh: […] Ist es quasi so, dass uns die Visionen ausgegangen sind? Oder …

Richard David Precht [kurz unterbrechend]: Fallen ihnen welche ein?

Juli Zeh [nachfragend]: … die man noch haben könnte?

Richard David Precht [präzisierend]: Sagen Sie mal gesellschaftliche Visionen, die Sie im Raum stehen sehen, an die Menschen glauben, bei ’ner guten Zukunft …

Juli Zeh [kurz unterbrechend]: Könnten? Oder tatsächlich, …

Richard David Precht [letztlich präzisierend]: Die da sind …

Juli Zeh [nochmals einhankend]: … aktiv glauben?

Richard David Precht: Naja, die viele Menschen haben vielleicht. Wo Sie sagen: In zwanzig Jahren wird es auf der Erde besser sein, weil es wird das und das Gute passieren.

Juli Zeh: Na, da müssen ‚mer wohl alle passen, oder? Also es gibt momentan keine Vision, die wirklich von mehr als vielleicht drei, vier Leuten geteilt wird und die sich auf was Positives richtet. Da fällt mir nichts ein, also vielleicht ein Gegenmodell zum Kapitalismus, aber das ist nichts, wo wir flächendeckend dran glauben. Also da kann man drüber nachdenken, da kann man vielleicht was entwickeln und mal ein Buch drüber schreiben und so weiter. Das schon, aber wir reden ja jetzt über was, was die Massen elektrisiert, wo Leute sagen: „Dafür gehe ich auf die Straße! Dafür stehe ich ein; meine Lebenskraft, meine Zeit geht in dieses Projekt, weil das überzeugt mich.“

Richard David Precht [nickend und kopfschüttelnd]: Das sehe ich auch nicht! Ich sehe zwei Visionen, die von Minderheiten verfochten werden. Die eine Vision ist, dass das biologisch so unvollkommene, stinkende, Energie verbrauchende Experiment „Mensch“ zu Ende geht. Das wird im Silicon Valley erträumt. Von Leuten wie Ray Kurzweil, der eine eigene Uni gegründet hat – der Transhumanismus, der sagt: Wir werden irgendwann unsterblich werden; wir werden mit Maschinen verschmelzen; wir werden irgendwann eben keine biologische Grundlage mehr haben, sondern wir werden einen Informationsspeichersystem werden; wir werden uns in einer Cloud verewigen und das wird ganz großartig! … das hat übrigens den großen Vorteil: Dann stört auch der Klimawandel nicht. Wenn wir kein biologischer Organismus mehr sind, sondern die Menschheit dann ihre biologisch Hüller verliert, dann kann der Planet eigentlich ruhig den Bach runter gehen. Das ist die eine Vision. Das ist ja eine klare Zukunfts …

Juli Zeh [kurz einstreuend]: Man braucht den Planeten ja gar nicht dazu. Das kannst’e ja im Weltraum stattfinden lassen. Wenn alles nur noch Kommunikation ist. Du brauchst nur ne Energiequelle …

Richard David Precht [wieder übernehmend und fortführend]: Klare, klare Zukunftsvision. Wir verlassen die menschliche Hülle. Das ist die eine Vision. Die wird ganz, ganz stark von mehreren wichtigen Exponenten im Silicon Valley vertreten. Und dann gibt es noch diejenigen, die sagen: Wir müssen endlich aus dem Kapitalismus raus. Weil, dann müssen wir nicht mehr wachsen, dann müssen wir nicht mehr, mehr Energie verbrauchen und so weiter, ein anderes Verteilungssystem … – die wird allerdings auch nur von einer kleinen Minderheit verfochten. Und ich gebe ihnen sofort Recht. Für die große, breite Menge gibt es im Augenblick keine positive Vorstellung von morgen und übermorgen.

Richard David Precht (1964 – ) & Juli Zeh aka Julia Barbara Finck (1974 – ), Gespräch unter dem Titel „Mehr Fortschritt, mehr Wohlstand, mehr Glück?“, in: Precht – 6:23-8:43 [28.04.2019, ZDF; Direktlink: ZDF]


[Die Geräusche eines anfahrenden Zuges im Hintergrund, leiser werdend] Die größte Angst ist, vom fahrenden Zug zu fallen; hinter ander’n Ländern zurückzubleiben; dass wir von China überrollt werden können, das ist die Panik! Deswegen wird alles Überflüssige abgeschafft. Er glaubt nicht, dass Kunstunterricht in zehn Jahren noch existieren wird. Utopien, für Gesellschaft und Schule – Wer sind wir? Was brauchen wir? Was wollen wir ändern, was erhalten? -, das können die von ihnen Ausgebildeten nicht mehr leisten; das kann die nächste Generation nicht – unmöglich! Die sind nur kanalisiert auf das, was sie ihnen vorgebetet haben. Aktives Gestalten findet nicht mehr statt – können die einfach nicht!

Inga Helfrich (1966 – ), Ich Wir Ihr Sie – 37:41-38:20 [Direktlink: BR-Podcast]


Ein populärer TV-Philosoph und eine renommierte Schriftstellerin im Dialog, eine zufällige Figur aus einem zufällig zum einschlägigen Thema passenden Hörspiel kommen einhellig zum analogen, negativen Urteil: Schlechte Gegenwart für gute Geschichten über die Zukunft.

Damit sprechen sie ein Gefühl aus, das mich immer wieder aufs Neue heimsucht und Jahr um Jahr umtreibt: Utopisches, Utopien und zeitgenössische Utopielosigkeit, Dystopietendenz zuletzt. Was je nach Utopieverständnis schnell in einen schlimmen (sozial-)psychologischen Verdachtsmoment münden kann: (historisch-zivilisatorische) Hoffnungslosigkeit?

Ohne Attribut: Nein, mir geht’s gut! – mit: Eventuell, vermutlich leider sogar, Ja!

Für mich ist also das Attribut „historisch-zivilisatorisch“ im Kontext des Utopischen entscheidend, denn an kleinen, individuellen Utopien mangelt es – auch ich bekenne mich: schuldig! – ebenso wenig wie an kleinen, kollektiven Utopien, die „von vielleicht drei, vier Leuten geteilt“ werden. Diese kleinen Visionen können glücken und individuell verzücken, aber das war’s dann auch schon wieder. Kollektiv und vor allem „historisch-zivilisatorisch“, sind sie kaum als Parameter quantifizierbar, kaum als Fußnote qualifizierbar.

Mit dem hehren Attribut sieht die Sache unklarer, womöglich sogar düster aus: Was global, national, regional (, bisweilen sogar: inner-individuell) als Pluralität und Wettbewerb von Ideen und Argumenten positiv betrachtet werden kann, kann ebenso als Zerstrittenheit und Konkurrenz gewendet werden. Im Ergebnis landen wir schlimmstenfalls beim Hobbschen Universalkrieg einer logisch endlichen, praktisch aber unendlichen Anzahl von Einzelinteressen oder, im Kontext gesprochen, Einzelutopien, die im epischen Kampf um die Seelen und Bewusstseine der Menschen liegen. Ohne Sieger in diesem ewigen Wettstreit – und jetzt wird es eigentlich problematisch – lässt sich keine demokratisch legitime Politik denken und auch keine Gruppe bis hin zur Menschheit als funktionale Gemeinschaft vorstellen.

Politik, Utopisches und Utopie sind somit aufs Fatalste verbunden und bedürfen einander, neben anderen Quellen, wechselseitig. Nach unzähligen angeblichen Enden der Geschichte sind wir im 21. Jahrhundert in einer globalen Heteronomie sonders gleichen gelandet. Alle wollen leben und die meisten mehr oder weniger Geld verdienen, aber damit endet die Gleichheit auch schon längst. Ob in der Familie, der Nachbarschaft, der Stadt oder dem Land, auf der Welt allemal, es herrschen der Unterschied, die Vielfalt, das Andere. Globalisierung und Normierung sind real, aber ein Kampf gegen Windmühlen. Jeder für sich und für die seinen das Beste, und damit zum Besten aller – so ungefähr lautet das moderne, letztlich heraklitsche Credo vom Krieg als Vater der Geschichte nunmehr in unheiliger Allianz mit neoliberalem Konsum- und Finanzkaptilaismus, der nebenher mal so eben die Lebengrundlage auf Erden dahinrafft – tragischerweise nicht nur diejenige vieler Tiere und Pflanzen, sondern sogar diejenige der eigenen Gattung. Die homo oeconomicus marginalisiert den homo sapiens und bedroht solcherart sich selbst, seine eigene Zivilisation steht auf dem Spiel.

Glücklicherweise zugegeben, es gibt Solidarität, Freundschaft, Kooperation, Verständnis, Kompromisse, Gastfreundschaft und so vieles Schönes, Gutes und Wahres mehr; wo aber ist die auf humanem Weg siegreiche „historisch-zivilisatorische“ Utopie, die Hoffnung gibt und wirksam wirksame Politik inspiriert, möchte man abschließend fragen? Denn sonst bleibt das Urteil aller, zugegeben einseitig und buchstäblich beliebig ausgewählten Akteure salopp gesagt: „Wat, äschte und geräschte Udophie? Sowas Quersches gibbet bei uns net!“

Mit diesem mundartlich-komischen Auswurf möchte eine ewige Kontroverse harsch aber kontrolliert beenden, denn, wenn man einmal ambitioniert anfängt, sieht man überall Utopisches; ebenso leicht übrigens – liebe Verschwörungstheoretiker und -fans – wie man überall die „23“ findet oder Indizien entdeckt, das „SIE“ am Werk waren. Will abschließend, maximal verkürzt sagen: Utopisches und Utopien gegenüber kruden, negativen wie positiven Scheinerzählungen aka Verschwörungsteheorie, Fake-News etc. sind aller Liberalität in Sachen Begriffsontologie zum Trotz wie Äpfel und Bitumen – grundverschieden, die eine definitiv gesund, die anderen sogar giftig!

In Abwehr und Neugier wie froher Erwartung kleiner, mittlerer und großer Utopien, Euer Satorius

Wann kommen die Systemupdates: (Techno-)Politik 2.0?

Welche Wirkung werden die technologischen Neuerungen, die seit Anfang der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts den Alltag und die Köpfe der Menschen fundamental verändern, auf die Gesellschaft im Allgmeinen und die Politk im Besonderen haben?

Kompakter und klarer könnte eine Frage kaum ausfallen; spannender und aktueller kaum sein. Klar, jeder hat hierzu sofort einige Intuitionen, eigene Erfahrung und etliche Meinungen. Stellt man diese Frage jedoch ernstlich, eventuell gar unter wissenschaftlichem Anspruch, sei er nun philosophisch, psychologisch, soziologisch akzentueirt oder sonst wie interdiszilpinär gemischt gemeint, wird es herausfordernd bis heikel. Das Leben selbst transmutiert, eine einmalige und neue Entwicklung ist im Gange unter den Oberflächen und hinter den Vorhängen von politischer Korrektheit und Normalität.

Klar ist, wenn auch vieles im Laufe der Geschichte(n) wiederkehrt, so gibt es doch echte Progression und Innovation: Vom „Scherbengericht“ der Griechen bis zu heraufdämmernden neuen Formen wie „Digitaler Demokratie“ und „Techno-Kollektivismus“ ist es ein kultur-historisch weiter Weg.

Wenn also „Re-Nationalisierung“, „Neu-Populisimus“, „Ent-Politisierung“ und „Liberalisierung“ nicht überhand nehmen, könnten wir an der Schwelle zu einem Zeitalter echter politischer Metamorphosen stehen: Block-Chain, Web 2.0, Cyborgisierung und Digitalisierung insgesamt haben auch politisch ein revolutionäres Potential, soviel ist wohl unstrittig; strittig hingegen ist, wann sich dieses Potential bahnbricht, wo und wie es sich historisch somit realsiert und manifestiert.

Europa und China sind hier zwei Kandidaten, bei denen Neuerungen in der einen oder anderen politischen Richtung denkbar oder bereits absehbar sind; Schwellen- und Entwicklungsländer bieten neuen Formen und Strukturen von Herrschaft und Markt einen Entwicklungsraum, wenn es auch weltweit an Versuchen der zwanghaften Konservierung und reaktiven Regulierung nicht mangelt.

Das Neue kommt notwendig auf uns zu, die Frage ist hierbei nicht das generelle „ob“, sondern das konkrete „wer, wann, wo und wie“ dieser Wandel stattfinden wird. Ich jedenfalls glaube und hoffe gleichermaßen, dass aus dem Schosse des 21. Jahrhunderts echte politische Innovationen hervorgehen, welche die seit Aristoteles so zyklisch erscheinende Welt der politischen Systeme aufbrechen und erneuern. Dass hierbei gerechtere wie ungerechtere Formen von Politik, Regierung und Öffentlichkeit entstehen werden, ist ebenso logisch wahr, wie es inhaltlich banal ist.

Bei aller prognostischen Offenheit hinsichtlich Weg und Wesen bleibt zuletzt, kurz die Gründe für die steile Behauptung darzulegen, es gebe notwendig aus- und anstehende Updates, also nicht bloßes Wiederkehren des abstrakt immer wieder Gleichen unter historisch konkret unterschiedlichem Gewand: Die zivilisatorischen Herausforderungen sind derart extrem, global und komplex, dass die alten Formen von Wirtschaft und Politik (ich muss hier glücklicherweise keine Klärung dieses [Miss-]Verhältnisses vornehmen) sie nicht (mehr) zu lösen vermögen; die Quantität und Qualität der Mittel zum politischen Zweck erweitert sich exponentiell; die Grenzerfahrung wird zum generellen Narrativ der Menschheit und fordert Umorientierung; Information, Vernetzung und Globalisierung haben stark integriert und wenn nicht harmonisiert, jedenfalls standardisiert.

Man darf also m.E. gespannt sein auf neue Impulse und Konzepte, insbesondere bin ich gespannt darauf, wer die Avantgard sein wird, die angeblich per selbstregulatorischem System flexible und lernfähige, jedoch auch konservative bis ineffiziente Demokratietradition oder die nicht minder ambivalenten Formen von Kollektivismus und Marktliberalismus…

… kritisch bis neugierig, offen bis sorgenvoll der globalen Zukunft zugewandt, harrend der Updates auf „Politik 2.0“, Euer Satorius


Ja, es ist das aktuelle große politische Problem. Die neuen Technologien haben die Möglichkeiten ins Unermessliche schießen lassen. Was macht man nun, da die Vielfalt ihre Zügel ablegt? Letztlich hat sie das nicht ganz getan, insofern Google die Rolle der Regierungen übernommen hat. Google hält die Vielfalt im Zaum, doch wie lange noch? Bereits Titus Livius stellte sich diese Frage: Was würde die Menge machen, wenn es nicht zu einem bestimmten Moment einen König, einen Kaiser, einen Tribun gäbe, der sie in Schach hält? Ein Fixpunkt ist wie ein Konzept in der Philosophie – die fluktuierende Vielfalt wird von ihm geschluckt. Das kann man sich auch als eine architektonische Form vorstellen: Von ägyptischen Pyramiden bis zum Eiffelturm gibt es einen Fixpunkt und ein breites Fundament, das den Raum absorbiert. Heute haben die neuen Technologien diese Struktur gesprengt. Man ist mit der Vielfalt als solcher konfrontiert. Jeder besitzt mehr globale Hinweise über den Zustand der Welt als Augustus, Napoleon oder sogar Mitterand. Die Entscheidungsgrundlage ist heute bei jedem – bei Milliarden – reicher als durch alle Fixpunkte der Vergangenheit.

Philosophie Magazin: Und dennoch hat man den Eindruck, dass alles schwimmt …

Das ist heute das große Problem: Kann man wirklich auf Fixpunkte verzichten? Leibniz meint, wir brauchen einen Fixpunkt, nämlich Gott, um kommunizieren zu können. Ich spreche in diesem Moment nicht mit ihnen: Sie anworten mir nur, weil Sie mit Gott sprechen und Gott mir ihre Antwort übermittelt. Es erscheint absurd, den Umweg über ein drittes Glied gehen zu müssen, doch sobald es mehr als drei Gesprächspartner gibt, ist es ökonomischer, über einen Fixpunkt zu gehen, der jedem die Informationen übermittelt, als sie individuell von jedem zu jedem übermitteln zu müssen. Heute hat das Netz den Platz Gottes eingenommen. Wird sich die reine Vielfalt regieren lassen, ohne dass neue Formen der Überwachung aufkommen? Vielleicht bildet sich ja gerade eine neue Demokratie heraus? Das ist die Frage.

Michel Serres (1930 – ), Gespräch unter dem Titel „Ich denke mit den Füßen“, in: Philosophie Magazin Nr. 05/2016 (August/September), S. 73.

DS-GVO/Fakt gegen QualityLand/Fiktion – 1:0

Faktische Fiktionen und fiktionale Fakten – Gesetze und Geschichten, temporale und kausale Wirrungen: Wie hätte es gewesen sein können, bevor die Welt geendet sein würde, womit sie sich – genug der temporalen Konsequenz – endgültig zwischen Tragödie oder Komödie entscheiden müsste? Aus und vorbei, der Vorhang fällt! Zivilisatorisch eingefärbt landen wir sogleich beim klassischen Gegensatzpaar von Utopie und Dystopie. Synthetisch nunmehr beides vermischend enden wir im konfusen Komplex aus fiktional entwerfender Literatur und faktisch wirksamer Politik, die so abstrakt und kontrastierend betrachtet, einer rationalen wie zugleich regulatorischen Verschränkung von Fakt und Fiktion gleichkommt. Getreu der lateinischen Wurzeln und sprachpragmatischen angepasst, verstehe ich unter „Fakt“ (Ignorierend die schöpferischen und damit eben künstlichen bis künstlerischen Aspekte, wie auch die kulturell bis intersubjektiv und historisch variablen Anteile) eine feststehende Tatsache im Indikativ und unter „Fiktion“ (Ganz davon zu schweigend, dass Geschichte, Politik, Wirtschaft, Lebensvollzug insgesamt womöglich, ziemlich wirklich sind) eine gestaltete Vorstellung im Konjunktiv – „ist und war so“ trifft auf „hätte, wäre, sei, könnte, sollte, dürfte gewesen sein“.

Möglichkeit und Wirklichkeit prallen in diesen Begriffen, wenn man es darauf anlegt, ambivalent und brisant aufeinander. Ein Phänomen, das unter anderen Vorzeichen kürzlich zur zeitgenössisch beliebten Sportart avanciert, weshalb ich mich hier zu Anfang gleich und gänzlich von der infantilen Debatte um rund um Fake!-News?! distanzieren möchte, mir geht es um etwas anderes, etwas konstruktiveres: Konkret trifft mit und in diesem Artikel der durchweg dystopische, durchaus tragisch-komische Entwurf in Romanform, geschrieben von Marc-Uwe Kling, der wortwitzig bis gegenwartskritisch eine Zukunft Deutschtlands als QualityLand porträtiert, also nicht zufällig auf die durchaus alltagswirksame, geradezu aufdringliche EU-Gesetzgebung namens DSGVO = Datenschutzgrundverordnung.

Wodurch die beiden so unterschiedlichen Textformen wesentlich verbunden werden, wird durch den Anfagnsimpuls, einen Passus aus besagtem Roman, zuerst eindrucksvoll veranschaulicht und damit als Thema maximal konkretisiert: Daten und digitales Leben sowie vor allem die Frage nach der persönlichen Kontrolle über beides. Genau diesen Bereich will der zweite Schreibanlass im Rahmen einer europäischen Gesetzgebung nun endlich umfassend regulieren: Datenschutz respektive Datenautonomie.

Nur ein intimier Kenner von Fakten und Fiktionen könnte ohne dieses Vorwort dem Titel dieses Artikels Sinn entlehnen: Was hat ein in die Kritik geratenes, leider nie so recht vollendetes Staatenkonglomerat wie die EU mit einem Roman zu schaffen, gar zu streiten? Gehört nicht überhaupt die Politik ins Reich der Fakten, wohingegen die Literatur klar dem Dunstkreis der Fiktion angehört? Auf den ersten Blick mag das so erscheinen: fragwürdig, konfus; auf den zweiten Gedanken hin wird die innige Verbundenheit beider Begriffe offenbar: Fakten erzwingen neue Fiktionen, Fiktionen formen neue Fakten, ad infinitum.

Derart miteinander vermittelt sind Fakt und Fiktion rasch abstrakt versöhnt und innig verbunden, kommen wir damit nun langsam wieder zurück zum betitelten Wettstreit, dem konkreten Kontext und vor allem dem Gegenstand des Disputs: Eine EU-Gesetzgebung tritt proaktiv gegen eine (nicht nur legislative) BRD-Dystopie an. Bei dieser witzigen, aber wahnsinnig zugespitzten Zukunftfantasie geht es vor allem um den gemeinsamen Gegenstand: Daten und nochmals: Daten.

Gold der Moderne nennen sie manche unserer Zeitgenossen vollmundig; ich nenne sie einfach nur Spuren im Speicher. Dasjenige, was wir hinterlassen, auf unseren digitalen (seltener, aber im überwachten Post-Terror-Westen nicht zu vergessen auch: analogen) Wegen, Umwegen und Abwegen. Individuelle Informationen überall, persönliche Daten zuhauf und diese sind jedenfalls in der anonymen Summe und allenfalls auch individuell einiges wert in einer Welt, wo Werbung  und Wissen, Kommunikation und Isolation, reales und digitales Leben als zuvor klare Gegensätze pragmatisch wie wohl auch ontologisch zunehmend verwischen. Wobei hiermit gleichsam die Begriffe der altvorderen Philosophie an ihre Grenzen kommen.

An den neuen Phänomenen, die munter aus der Weltgeschichte auftauchen, sollt ihr Euch messen, sie erklären, ihr lieben Wissensschaffner und -schaftler, womit der Haufen an mehr oder minder zuständigen Wissenschaften (Philosophie, Psychologie, Soziologie, Kultur- und Medienwissenschaft, Informatik, Ökonomie, etc. pp.) gemeint und zur Erkundung, Beoabachtung, Messung, Modellierung sowie schließlich der Bildung und Integration neuer Theorie aufgefordert sein soll. Ob das unterdessen auf interdisziplinärem Weg oder in Konkurrenz zueinander geschieht, mag ich nicht oraklen. Klar ist hingegen jedenfalls, dass eine adäquate und umfassende Aufarbeitung der zivilisatorischen Geschehnisse seit Erfindung der zuletzt vernetzten (Heim-)Computer im Laufe des 20. und noch verstärkt im 21. Jahrhundert noch aussteht. Auch wenn ich ehrlicherweise schon lange in keiner universitären Bibliothek war und ebenso einen Rechereche-Marathon in der einschlägigen Richtung gescheut habe, entdecke ich bisweilen auf meinen Streifzügen durch die Medienlandschaft zumeist nur partikulare und spezifische Fragen nach Einfluss und Modus von (Informations-)Technik. Heim- und Körpertechnologien prägen den modernen Menschen, zunehmend autonomer verändern Algorithmen die Gesellschaft und schreiben die Geschichte der Menschheit weiter, neu und hoffentlich nicht um

Die Cyborgisierung findet definitiv und unlegbar statt; sie rücken uns auf den Leib, kommen immer näher und werden unsere intimsten Weggefährten, all die tollen Maschinen, Rechner, Geräte und smarten Devices: Das Smartphone ist da, wo sonst nur Eros die Regeln schreibt, in der Hand, am Hintern, nahe am Mund. Die Medizintechnologie, die Alchemie der Pharmakologen und allerlei exotische Abartigkeiten (Mikroplastik, Hormone, Phthalate, etc.) tummeln sich, zumal als uneingeladene Gäste in unserem Organismus. Die hoffentlich meisten Technologien erhalten und erleichtern, verbessern und verlängern unser Leben, manche Innovationen hingegen bewirken Gegenteiliges. Unser Dasein ist unterdessen auf nahezu allen Ebenen des Alltags wenigstens semi-artifiziell geworden. Kulturell und damit künstlich bis technisch werden wir modernen Menschen schon von Kindesbeinen an aufgezogen, wenn selbst schon das ungeborene Kind bereits durch Medizintechnologie in vielfältigster Form bearbeitet, gemessen, diagnostiziert und therapiert oder gar erzeugt wird; aber das ist nur eine mögliche Assoziation als kurzer Spontan-Beleg für diese an sich triviale Behauptung, die wohl vielmehr eine allgemein akzeptierte Beschreibung unserer Lebenswelt sein dürfte

Breiter und etwas tiefer gedacht sind die Wunder und Abgründe der Informationstechnologie in unserem heutigen Alltag nur die Spitzen vieler verborgener, historischer Eisberge, bloß ein neues Kapitel im Buch der menschlichen Zivilisationsgeschichte, nunmehr gespickt mit perfekt animierten Bildern und effektvoll dargestellt mit den subtilsten sowie den krassesten Mitteln. Gleichwohl bleibt die Kulturgeschichte der Technisierung von Leib, Gesellschaft und Alltag, die Umgestaltung der Natur durch die Kultur eine Konstante in der menschlichen Zivilisation. Wobei wir trotzdem von einer qualitativen Konstante sprechen, die aber quantitativ historisch keineswegs immer konstant geblieben ist. Es gab Stillstand und Rückschrittee, aber heute geht es stetig voran, bergauf und dabei ereignet sich alles immer schneller: Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft, Politik beschleunigen, multiplizieren, potenzieren sich. Eine an sich unendliche Welt wird nochmals komplizierter und nicht nur in diesem anthropologisch-epochalen Kontext hängen, hinken Wissenschaftler, Manager, Politiker somit epistemisch wie praktisch, tragisch und unentrinnbar zugleich, dem Sprint der globalisierten Zivilisation hinterher.

Der Künstler hingegen freut sich über diesen Zustand der Überforderung, kommt somit doch der Literatur mit ihren fantastischen Möglichkeiten der Spekulation und Illustration eine Abart von Mitverantwortung dafür zu, zu zeigen, was sein kann, zu verwerfen, was nicht sein soll, zu entwerfen wie es besser, gerechter, schöner sein könnte. Je schneller und heftiger die Zukunft die Gegenwart mit Möglichkeiten bombardiert, desto eher versagen die Mittel und Medien der Vergangenheit von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft.

Das Tagteam macht’s m.E.! Denn im besten Fall vermählen sich Fakt und Fiktion dergestalt, dass viele ausgefeilte Fiktionen späterhin neue Fakten hervorbringen. Denn nur so handelt der Mensch perspektivisch, planvoll und samit politisch, indem er Faktisches beschreibt und modelliert, um daraufhin zu verändern, zu prognostizieren und zu projizieren, zu fantasieren und zu selbsterfüllend zu fabrizieren, sich die (zukünftige) Welt – wie Marx in der Folge Hegels, betonte – durch Arbeit anzueigenen.

Abstraktionsgefahr – STOP! Um also abrupt anzuhalten und da aufzuhören, wo es unschön untief wird, somit einen viel zu komplexe Diskurs gnädig wieder ruhen zu lassen und ihn damit nur insoweit für Euch anzudenken, Euch nur soweit anzuregen wie gerade nötig, komme ich zum Anfang und damit dem Gegenstand des Artikels zurück: Den Effekten und Verwerfungen der allerneusten Heraus- und vielleicht Überforderung des Menschengeschlechts durch seine ungezügelte Technikfreude: Die polternden, allzu neugierigen Geister, die wir gerufen haben und nun nicht mehr gebannt bekommen. Zuallererst denke ich hierbei selbstredend an Facebook, Google, Amazon, Paypal; aber auch DB, Post, AOK, BRD sind nicht ohne; letztlich sind REWE, McDonalds, Aral und selbstverständlich Payback gemeint. Überall werden Daten gesammelt und manipuliert, wobei sich wohl nur die wenigsten von uns sich fürsorglich um ihre diesbezüglichen Daten kümmern, wer verwischt schon seine Spuren gründlich genug, um nicht tagtäglich einem nicht nur hellen, sondern gleichsam grellen Licht in der Infomationsmatrix der Datenströme zu gleichen.

Genau deshalb, zum Schutz der tumben Europäer vor sich selbst und ihren Unternehmen des Vertrauens, hat die auch dafür vielgescholtene EU einen Meilenstein geworfen und reagiert mit politischen Fakten, geschaffen und manifestiert durch die DSGVO, auf all die kritischen Fragen nach dem Datenschutz, wie sie beispielsweise besagte literarische Fiktion namens QualityLand in der Breite, unterhaltsam bis anschaulich stellt. Ob die tatsächlichen Motive der Gesetzgeber tiefer und weiter gehen, zumal die ubiquitäre Videoüberwachung keineswegs direkt davon betroffen zu sein scheint, lasse ich hier ebenso offen, wie ein ausführliches ästhetisches Urteil über die literarische Fiktion, auf die alszweites sogleich die legislativen Fakten folgen.

Ich jedenfalls habe viel gelacht über die Erzählung und fühle mich zunächst sympathisch angesprochen durch die oberflächlich so gut-gemeinte Stoßrichtung des Gesetzestextes. Alles weitere wird uns die Geschichte in Form von Fakten und Fiktionen zukünftig erweisen – Spannung, Spannung, (Kinder-)Überraschung also! Derzeit steht es erstmal 1:0 für den Datenschutz unseres Datenschatzes.

Zukunftszugewandt grüßt Euch, Euer faktisch fiktionenverliebter Satorius


»Herr Arbeitsloser«, sagt Julia Nonne und versucht die Kontrolle über ihre Sendung zurückzugewinnen. »Sie behaupten, Ihr Profil sei falsch. Aber wie kann das sein?«

»Maschinen machen keine Fehler«, sagt Zeppola.

»Ihre Algorithmen«, beginnt Peter, »präsentieren uns Inhalte, basierend auf unseren Interessen.«

»Ja«, sagt der Pressesprecher von TheShop. »Es ist wirklich toll.«

»Was aber, wenn diese angeblichen Interessen gar nicht meine Interessen sind?«

»Natürlich sind das Ihre Interessen«, sagt Charles. »Ihre Interessen wurden durch zuvor aufgerufene Inhalte ermittelt.«

»Zuvor aufgerufene Inhalte, die ich nur deshalb aufgerufen habe, weil sie mir als zu meinen angeblichen Interessen passend vorgeschlagen worden waren.«

»Ja, aber diese Interessen sind doch durch zuvor von Ihnen aufgerufene Inhalte ermittelt worden«, sagt Charles.

»Inhalte, die ich nur deshalb aufgerufen habe, weil …« Peter bricht ab. »Sie nehmen mir die Möglichkeit, mich zu verändern, weil meine Vergangenheit festschreibt, was mir in Zukunft zur Verfügung steht!«

»Ich bin Level 9«, sagt Peter.

»Das tut mir leid für Sie.«

»Ein Nutzloser …«, sagt Charles.

»Ganz genau! Ein Nutzloser, dem nur der Weg eines Nutzlosen angeboten wird. Meine Möglichkeiten gleichen einem Fächer, den sie mit jedem meiner Klicks immer weiter zuklappen, bis ich nur noch in eine Richtung gehen kann. Sie rauben meiner Persönlichkeit alle Ecken und Kanten! Sie nehmen meinem Lebensweg die Abzweigungen!«

»Das haben Sie aber schön auswendig gelernt«, sagt Erik Dentist.

»81,92 Prozent unserer Nutzer treffen ungern große Entscheidungen«, hört man Zeppolas Stimme.

»Aber dass man etwas nur ungern tut«, ruft Peter, »heißt doch nicht, dass man darauf verzichten kann! Ihre Algorithmen schaffen um jeden von uns eine Blase, und in diese Blase pumpen Sie immer mehr vom Gleichen. Sehen Sie darin wirklich kein Problem?«

»Nicht, wenn jeder dadurch bekommt, was er möchte«, sagt Patricia.

»Aber vielleicht möchte ich lieber etwas anderes.«

»Niemand zwingt Sie, unsere Angebote zu nutzen oder sich an unsere Vorschläge zu halten«, sagt Erik.

Peter muss lächeln. »Niemand«, murmelt er. »Genau. Niemand zwingt mich. Ist das nicht so, Zeppola? Niemand zwingt mich.«

Zeppola antwortet nicht. Und Niemand [@Satorius: Sein sog. persönlicher Assistent, eine Art digitaler Freund und Helfer] bleibt stumm.

Peter steht auf. Und plötzlich ist es nicht mehr Kikis Plan, dass er hier ist. Es sind nicht mehr die Gedanken des Alten, die er ausspricht. Es ist sein Plan. Es sind seine Gedanken.

»Schon immer«, sagt er, »haben Menschen dadurch gelernt, und nur dadurch, dass sie mit anderen Meinungen, anderen Ideen, anderen Weltbildern in Kontakt kamen.«

»Worauf wollen Sie hinaus?«, fragt Julia.

»Etwas lernen kann man nur, wenn man auf etwas stößt, was man noch nicht kennt. Das müsste doch selbstverständlich sein! Und jetzt kommen Sie und sagen mir, es ist kein Problem, wenn Menschen nur noch mit ihrer eigenen Meinung bombardiert werden?« Peter wendet sich zum Studiopublikum. »Alles, was jeder von uns hört, ist nur noch ein Echo dessen, was er in die Welt hinausgerufen hat.«

»Schon vor dem Internet«, sagt Erik, »haben die Menschen Medien bevorzugt, die ihre eigene Meinung widerspiegelten.«

»Ja, aber da wussten die Menschen immerhin noch, dass ihnen die Welt durch eine bestimmte Brille präsentiert wurde. Sie aber geben Objektivität vor, wo gar keine ist!«

»Unsere Modelle sind objektiv«, hört man Zeppola sagen. »Kein Mensch macht sich an unseren Zahlen zu schaffen.«

»Pah«, sagt Peter. »Modelle sind auch nur Meinungen, die sich als Mathematik verkleidet haben!«

»Ich verstehe sein Problem einfach nicht«, sagt Patricia. »Wir machen doch nichts Falsches. Wir bringen Körperbewusste mit Körperbewussten zusammen, Gläubige mit Gläubigen, Workaholics mit Workaholics …«

»Und Rassisten mit Rassisten!«, ruft Peter.

»Ja und? Auch Rassisten brauchen Liebe! Wahrscheinlich brauchen sogar gerade Rassisten Liebe.«

»Wow. Mir wird ganz warm ums Herz. Zum Glück gibt es Ihre Unternehmen. Sonst wäre es für Rassisten sicherlich viel schwieriger, sich zu befreunden und zu vernetzen.«

»Jeder braucht Freunde«, sagt Patricia.

»Und Ihre Algorithmen tragen netterweise sogar noch dafür Sorge, dass das Weltbild dieser Rassisten nicht mehr in Frage gestellt wird! Vielmehr wird es konstant bestätigt. Zum Beispiel durch zu rassistischen Interessen passender Nachrichtenselektion.«

»Wir sind kein Medienunternehmen«, wirft Erik ein. »Für die Nachrichten können Sie uns nicht verantwortlich machen!«

»Durch Empfehlungen für patriotische Musik oder Filme«, fährt Peter fort. »Sogar durch Produktvorschläge! Kunden, die diesen Baseballschläger gekauft haben, kauften auch diesen Brandbeschleuniger! Ihre Personalisierungs-Algorithmen verpassen jedem eine Gehirnwäsche durch eine ungesunde Dosis seiner eigenen Meinung!«

»Das ist Ihre Meinung«, sagt Patricia.

»Zudem glauben die Bewohner dieser Meinungsinseln irrigerweise, dass ihre Meinung der Meinung der Mehrheit entspricht, weil ja alle, die sie kennen, so denken! Also ist es auch okay, Hasskommentare zu schreiben, weil ja alle, die sie kennen, Hasskommentare schreiben. Und es ist okay, Ausländer zu verprügeln, weil alle, die sie kennen, davon reden, Ausländer verprügeln zu wollen.«

Patricia Teamleiterin lacht. »Das ist jetzt aber alles sehr hypothetisch.«

»Hypothetisch?«, fragt Peter. »In Ihrer Filterblase geht es anscheinend nur um Einhörner, Regenbögen und Katzenfotos!«

»Was haben Sie denn gegen Katzenfotos?«, fragt Patricia pikiert. Auch Teile des Publikums sind empört.

»Was verlangen Sie eigentlich?«, fragt Erik. »Haben Sie eine Idee, was passieren würde, wenn wir die Algorithmen abschalten? Das totale Chaos wäre die Folge. Es gibt so viel Content. Kein Mensch ist fähig, diese Masse zu überschauen.«

»Ich verlange nicht, dass Sie alles abschalten«, sagt Peter. »Aber Sie sollten uns Kontrollmöglichkeiten geben! Ich will, dass ich die Algorithmen steuere, und nicht, dass die Algorithmen mich steuern! Ich will mein Profil einsehen können, und ich will es korrigieren können. Ich will nachvollziehen können, was mir warum vorgeschlagen oder vorenthalten wird.«

»Das ist unmöglich«, sagt Zeppola. »Der Aufbau unserer Algorithmen ist ein Geschäftsgeheimnis.«

»Na klar, wie praktisch.«

»Unsere Produkte …«, beginnt Erik.

»Ich!«, ruft Peter aufgebracht. »Ich bin Ihr Produkt!«

»Sie – sind unser Kunde«, sagt Erik.

»Nein«, sagt Peter. »Ihre Kunden sind die Konzerne, die Versicherungen, die Parteien, die Lobbygruppen, an die Sie meine Aufmerksamkeit und meine Daten verscherbeln. Ich bin nicht Ihr Kunde. Ich bin nur das Produkt, mit dessen Verkauf Sie Ihr Geld verdienen! Es wäre ja alles nur halb so schlimm, wenn ich tatsächlich Ihr Kunde sein dürfte. Es wird Zeit, dass Sie sich eingestehen, dass Ihre Jagd nach immer noch mehr Werbeeinnahmen längst das ganze Netz vergiftet hat! Ihre Art von gratis kommt uns alle teuer zu stehen!«

»Ich bin mir sicher«, sagt Patricia, »dass die meisten Menschen froh darüber sind, unsere Services kostenlos …«

»Ich will mein Profil löschen können, wenn es mir beliebt!«, wirft Peter ein. »Das ist mein Leben. Meine Daten! Sie haben kein Recht daran.«

»Das ist nicht korrekt«, sagt Zeppola. »Die Verordnung 65 536 – mit absoluter Mehrheit vom Parlament bestätigt – gibt uns sehr wohl das Recht an deinen Daten. Schließlich haben wir sie gesammelt. Nicht du.«

»Das ist doch alles Quatsch hier«, ruft Charles Designer. »Der Typ hat ja noch nicht mal einen Beweis vorgelegt, dass sein Profil tatsächlich nicht stimmt!«

Peter holt einen rosafarbenen Vibrator in Delfinform aus seinem Rucksack und knallt ihn auf den Tisch.

Marc-Uwe Kling (1982 – ), QualityLand (2017; Die Beschwerde)


Datenschutz-Prinzipien der DSGVO

  1. Verarbeitung „nach Treu und Glauben“
    Anders formuliert: Handeln Sie nach gesundem Menschenverstand. Jemand anderes sollte nachvollziehen können, warum Sie unter den gegebenen Umständen so gehandelt haben. Fragen Sie sich, ob jemand anderes ihr Handeln als zuverlässig, aufrichtig und rücksichtsvoll beschreiben würde.
  2. Transparenz
    Handeln Sie nicht heimlich und ohne Wissen derjenigen, deren Daten Sie verarbeiten. Ihre Datenschutzerklärung muss klar darlegen, wie und zu welchem Zweck Ihr Unternehmen Daten verarbeitet.
  3. Zweckbindung
    Sie dürfen personenbezogene Daten nur für klar und eindeutig festgelegte, legitime Zwecke erheben – das heißt nicht „auf Vorrat“, frei nach dem Motto „falls wir sie irgendwann mal brauchen“.
  4. Datenminimierung
    Grundsätzlich sollten Sie möglichst wenig personenbezogene Daten sammeln, also nur genau in dem Umfang, der notwendig ist, um sie zweckgemäß zu verarbeiten.
  5. Richtigkeit
    Personenbezogene Daten sollten sachlich richtig und ggf. aktuell sein. Wenn Sie wissen, dass bestimmte personenbezogene Daten falsch oder nicht mehr aktuell sind, sind Sie verpflichtet, diese unverzüglich zu korrigieren oder zu löschen.
  6. Speicherbegrenzung
    Personenbezogene Daten müssen so gespeichert werden, dass die betroffene Person nur solange mittels dieser Daten identifiziert werden kann, wie nötig. Das heißt, nur solange diese Daten wirklich gebraucht werden.
  7. Integrität und Vertraulichkeit
    Personenbezogene Daten müssen sicher gespeichert werden. Das bedeutet zum Beispiel, dass nur diejenigen Zugriff auf sie erhalten, die diesen Zugriff wirklich benötigen. Darüber hinaus muss sichergestellt sein, dass keine Daten verloren gehen oder aus Versehen weitergegeben werden. Ihr Unternehmen ist in der Pflicht, geeignete Vorkehrungen zu treffen, um dies zu verhindern.
  8. Rechenschaftspflicht
    Ihr Unternehmen ist nicht bloß zur Einhaltung dieser Grundsätze verpflichtet. Sie müssen auch jederzeit gegenüber Kunden, Behörden und Mitarbeitern nachweisen können, dass Sie diese Grundsätze einhalten.

Die Europäische Union (1951 – ), VERORDNUNG (EU) 2016/679 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung; Direktlink zum offiziellen Dokument)