Lyrische Rück- und Innenschau

Schweigsamkeit und Trägheit im Schlechten, Vaterschaft und Unternehmertum im Guten halten mich derweil offensichtlich davon ab, Quanzland im Besonderen wie dem Schreiben im Allgemeinen Zeit zu widmen. Trotzdem finde ich, nein, nehme ich mir weiterhin die Zeit – raube sie vornehmlich meinem Schalf -, um insbesondere seriesastische und bellestristische Streifzüge zu unternehmen. Was ich dabei jedoch so alles entdecke, genieße ich nunmehr vornehmlich im Stillen.

Dennoch gibt es Ausnahmen, fühle ich mich bisweilen berufen, je und je – wie der werte verehrte Autor sich auszudrücken pflegte – aufgerufen, meine Erfahrungen mitzuteilen also hier und heute farbenfroh mit Euch zu teilen.

Die aktuelle Lektüre eines Meisterwerks von einem Meister seiner Zunft lies mich soeben auf ein lyrisches Tripel stoßen, das mich zutiefst bezaubert hat; womöglich weil ich mich davon betroffen geradezu angesprochen fühle. Ob Zufall oder Schicksal sei dahingestellt, doch die drei Gedichte und insgesamt die Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht zwingen mich zur Reflexion über meinen eigenen Werdegang, allem voran die Dekade von 20 bis 30, die ich in der pädagogischen Provinz von Philosophie, Psychologie und Politikwissenschaft verbracht habe.

Mittlerweile als Lehrer, also buchstäblicher Magister, in die nächste Stufe emporgestiegen, gereift und gealtert, entdecke ich zugleich mit Freude und Genugtuung die neuen Gestaltungsmöglichkeiten eines zwischenzeitlich ebenfalls gereiften Editors und kann nicht umhin, Euch experimentell mit den neuen Freiheiten der Formatierung zu belästigen.

Im Schwange der Mitteilungslust und mit dem Schwung mitternächtlicher Musen grüßt, Euer Satorius


Klage

Uns ist kein Sein vergönnt. Wir sind nur Strom,
Wir fließen willig allen Formen ein:
Dem Tag, der Nacht, der Höhle und dem Dom,
Wir gehn hindurch, uns treibt der Durst nach Sein.

So füllen Form um Form wir ohne Rast,
Und keine wird zur Heimat uns, zum Glück, zur Not,
Stets sind wir unterwegs, stets sind wir Gast,
Uns ruft nicht Feld noch Pflug, uns wächst kein Brot.

Wir wissen nicht, wie Gott es mit uns meint,
Er spielt mit uns, dem Ton in seiner Hand,
Der stumm und bildsam ist, nicht lacht noch weint,
Der wohl geknetet wird, doch nie gebrannt.

Einmal zu Stein erstarren! Einmal dauern!
Danach ist unsre Sehnsucht ewig rege,
Und bleibt doch ewig nur ein banges Schauern,
Und wird doch nie zur Rast auf unsrem Wege.
Entgegenkommen

Die ewig Unentwegten und Naiven
Ertragen freilich unsre Zweifel nicht.
Flach sei die Welt, erklären sie uns schlicht,
Und Faselei die Sage von den Tiefen.

Denn sollt es wirklich andre Dimensionen
Als die zwei guten, altvertrauten geben,
Wie könnte da ein Mensch noch sicher wohnen,
Wie könnte da ein Mensch noch sorglos leben?
 
Um also einen Frieden zu erreichen,
So laßt uns eine Dimension denn streichen!
 
Denn sind die Unentwegten wirklich ehrlich,
Und ist das Tiefensehen so gefährlich,
Dann ist die dritte Dimension entbehrlich.
Doch heimlich dürsten wir . . .

Anmutig, geistig, arabeskenzart
Scheint unser Leben sich wie das von Feen
In sanften Tänzen um das Nichts zu drehen,
Dem wir geopfert Sein und Gegenwart.
 
Schönheit der Träume, holde Spielerei,
So hingehaucht, so reinlich abgestimmt,
Tief unter deiner heitern Fläche glimmt
Sehnsucht nach Nacht, nach Blut, nach Barbarei.
 
Im Leeren dreht sich, ohne Zwang und Not,
Frei unser Leben, stets zum Spiel bereit,
Doch heimlich dürsten wir nach Wirklichkeit,
Nach Zeugung und Geburt, nach Leid und Tod.

Hermann Karl Hesse (1877 – 1962), Das Glasperlenspiel (1943)

Lange Stille, ein Flagge und neuerliches Flüstern

1 Jahr, drei Monate und drei Tage: Stille …

Zwischenzeitlich sind der 6. und 7. Jahrestag der Gründung Quanzlands vergangen, unbesagt und ungehört vorübergegangen. Nach fast sechs Jahren zuerst manischer, dann gesunder, sodann zunehmend verhaltener zuletzt depressiver Produktivität und Aktivität ist es still geworden in den Gassen und den Hütten, den Gärten, den (Frauen- und) Herrenhäusern sowie auf den Plätzen und Bühnen von Quanzland. Das Leben ging weiter, aber niemand hat davon berichtet, niemand davon Kenntnis genommen.

Zu sagen gibt es unermeßlich viel, hätte es seither unsagbar viele Anlässe gegeben, dennoch habe ich geschwiegen und anderes getan – warum? Nun, dafür gab und gibt es gute wie schlechte Gründe zu Hauf, die hier und jetzt auszubreiten mir müßig erscheint. Also verzichte ich darauf und komme unverzagt zur Sache: Es gibt Neuigkeiten, Quanzland hat sich eine Flagge gegeben, internationale Beziehungen geknüpft und Stellung bezogen.

Wir mögen ein unbedeutender Zwergstaat irgendwo in Europa sein; gleichwohl sind wir nicht kleinbürgerlich oder kleingeistig, denken und handeln wir global, kosmopolitisch und kunterbunt. Vielfalt und Einheit, auf den ersten Blick konträr, stumpf gedacht womöglich sogar unversöhnlich paradox, sind das Epizentrum unseres Wertsystem. Auf den zweiten, den klugen und besonnen Blick hin dürfte dieses moralische Credo jedem echten Demokraten evident sein, trotzdem ist es in all den vielen Spielarten von Demokratie auf unserer großen weiten Erde keineswegs selbstverständlicher Allgemeinplatz, schon gar nicht unumstößliches Fundament. Utopie und Ideologie zugleich, nunmehr sichtbares Zeugnis und offizielles Banner mit zugleich bescheidener Strahlkraft und unbestreitbarer Relevanz.

Was gibt es, was gilt es noch zu sagen? Große Themen, vielmehr bloße Schlagworte blitzen in meinem Geist auf, verschwinden aber ebenso rasch wieder im mentalen Zwielicht: Corona, Ampel, COP26 und einige weitere schließen sich an …

Aber es bleibt dabei, ein erstes Flüstern ist ertönt und möchte überhaupt nicht mehr sein, keinesfalls ein Brüllen, nicht ein Mal ein Raunen – lediglich mehr als Stille.

Mit neuerlichen Grüße und sich schüttelnden, kurz knackenden Fingern, Euer Satorius

Populismus, Populismus und nochmal: Populismus

In seinem Plädoyer für eine Neufassung nationaler Identitäten mit einer Orientierung am Gemeinwohl auf die Elemente einer solchen idealen Nation ohne Nationalismus befragt, antwortet der Denker, der in den 90er-Jahren vom „Ende der Geschichte“ sprach, wie bald folgend. Dass er im Übrigen von der Geschichte des 21. Jahrhunderts eines besseren belehrt wurde und weiterhin wird, ist hier ein historisch nicht unwesentliches Hintergrundgetöse.

Hören wir hier zunächst genauer hin: Denn für diese kritische Eingangsbehauptung seien als Belege kurz verwiesen auf den Trump-Effekt, das Straucheln der EU-Integration – Stichwörter hierzu: Brexit, Verfassungsvakuum, Visegrád-Komplott und neoliberaler Lobbyismus – sowie das ökonomische und ideologische (Wieder-)Erstarken des globalen Nicht-Westens, repräsentiert allen voran durch China, Indien und teilweise auch Rußland.

Vor allem aber muss Fukumyama sich der Heimsuchung durch das uralte Schreckgespenst, welches die Demokratie seit ihrer antiken Geburtsstunde im vorchristlichen Griechenland bedroht, erwehren, eines Dämons, welcher mit den Waffen moderner Informationstechnologie bewehrt zu neuer Potenz erstarkt; die Rede ist von der Diktatur der dummen, weil manipulierbaren und unvernünftig wählenden, Massen, kurzum dem Populismus. Um diese Entität nachdrücklich zu beschwören, wage ich eine schriftliche Evokation: Populismus und nochmals Populismus.

Wie also reagiert der große Vordenker des vermeintlichen historischen Globaltriumphs liberaler Demokratien auf diese alte und neue Herausforderung unserer Gemeinswesen; was stellt er ihm entgegen?


Man braucht eine demokratische und freiheitliche, nationale Identität. Sie muss für Menschen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund zugänglich sein, die unterschiedliche religiöse Ansichten haben, aber einen gemeinsamen Glauben an die demokratischen Institutionen. Das ist es, was ich im Deutschen als „Verfassungspatriotismus“ bezeichne; das ist also der Kern.

Aber was man braucht, ist ein starke emotionale Bindung. So wie sie die „Nation“ im 19. Jahrhundert hatte. Wir wollen nicht zu diesem blinden Patriotismus zurückkehren, der auf Rasse und Ethnizität basierte; aber wir brauchen ein gewisses Engagement, nicht nur eine intellektuelle Verpflichtung [@Satorius: „comittment“ im englischen Originaltext] sondern eine Verpflichtung der ganzen Person. Und das bedeutet, dass wir Symbole brauchen, die eine Nation zusammenhalten, gemeinsame Erfahrungen.

Und das ist der schwierige Teil dessen, was man „demokratische Nationenbildung“ nennen würde: Die Nation stark genug zu machen, dass sie diese emotionale Bindung erreicht, aber doch nicht so stark, dass sie zu Aggression und Ausgrenzung führt.

Francis Fukuyama (1957 – ), Gespräch unter dem Titel „Populismus – Ende der Demokratien?“, in: Precht – 31.03.2019, ZDF, 22:47-24:07 (Direktlink: https://www.zdf.de/gesellschaft/precht/precht-populismus–ende-der-demokratien-richard-david-precht-im-gespraech-mit-francis-fukuyama-100.html)


Exakt diese Gratwanderung erscheint mir dieser Tage und seit mindestens einer Dekade ein Balanceakt sui generis zu sein: Denn auf der einen Seite des schmalen Pfads droht er, der Populismus, also in Konsequenz brutale Polarisiserung, soziale Fragmentierung und fluchtartige Privatisierung, auf der anderen Flanke hingegen locken die utopischen Verheißungen dessen, was Fukuyama oben – mehr in negativer Abgrenzung abgeleitet, denn in positivem Entwurf kühn und kreativ entworfen – als eine neue Form des „demokratischen“ Nationalismus beschreibt.

Aber wo in dieser unserer aktuellen Lebenswelt gelingt dieses zivilisatorische Paradestück, möchte ich im Angesicht der enttäuschten Hoffnungen fragen, welche uns die großen Demokratien des sog. Westens letzthin bereitet haben. Eine bisweilen und notwendig offene Fragestellung, die ich in ihrer Komplexität und Interdisziplniarität nicht beantworten, sondern mit Nachdruck stellen möchte. Da ich nicht vom Ende irgendeiner Geschichte sprechen kann, und sei es auch nur aus rhetorischem Kalkül, bleibt also fraglich, wie wir, wie ihr mit dieser Anforderung zurechtkommt – im politischen Diskurs ebenso wie im privaten Alltag.

Wenn wir also immerhin einen der vielen Feinde des demokratischen Fortschritts (, die im Übrigen buchstäblich Legion sind: Lobbyismus, Klimawandel, Demografie, Digitalisiserung, etc.) benannt haben, dann will ich abschließend doch wenigstens noch zwei überblicksartige Quellen anbieten, durch die das besagte, titelgebende Schreckgespenst weniger ominös, weniger diffus und mysteriös und damit greifbarer wird. Denn nur das, was man beginnt zu reflektieren und zu analysieren, kann solcherart zuerst erkannt und frühestens sodann gebannt werden – wenn überhaupt.

Jeder kennt ihn, ist er doch in aller Munde, aber was genau ist Populismus, dieser spezifisch moderne, neue Populismus, der uns Demokraten weltweit heimsucht, heraus- und womöglich überfordert?

Mit nächtlich-diskursivem Gruß, Euer Satorius


  1. „Wir sind das Volk“
  2. „Die Macht der Sprache“
  3. „Das Spiel mit der Angst“
  4. „Aufmerksamkeit um jeden Preis“
  5. „Verschwörungstheorien“
  6. „Fake News“
  7. „Wirkungsvolle Inszenierung“

ZDF (1963 – ), Die sieben größten Tricks der Populisten (Direktlink: https://www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/gefahr-von-rechts-die-sieben-groessten-tricks-der-populisten-100.html)


Die sechs Merkmale des Populismus:

  1. „Das gute Wir“
  2. „Das böse andere“
  3. „Der politische Superman“
  4. „Der sprachliche Terror“
  5. „Die großen Gefühle“
  6. „Der bewusste Stilbruch“

Stefan Petzner (1981 – ), Trump to go. Eine kurze Erklärung, wie Populismus funktioniert, passim

Wider den Menschen

Patient (Sitting in a circle of a group therapy): I tell myself God has a plan for everyone. Maybe I just haven’t seen it yet.

William Delos: God? God’s fucking plan? Do you believe in Santa Claus, too?

Dr. Lang: All right, William. Do you want to share more of your thoughts with us?

Willam Delos: My thoughts? … Okay. I think … humanity is a thin layer of bacteria on a ball of mud hurtling through the void. I think if there was a god, he would’ve given up on us long ago. He gave us a paradise and we used everything up. We dug up every once of energy and burned it. We consume and excrete, use and destroy. Then we sit here on a neat pile of ashes, having squeezed anything of value out of this planet, and we ask ourselves: „Why are we here?“ You wanna know what I think your purpose is? It’s obvious. You’re here along with the rest of us, to speed the entropic death of this planet. To service the chaos. We’re maggots eating a corpse!

(Woman sobbing)

Patient: What the fuck is wrong with you?

William Delos (Chuckling first, then laughting out. Fade out …)

William Delos (Eward Allen Harris), in: Decoherence Westworld (Staffel 3, Episode 6, 6:09 – 8:00)



Spieglein, Spieglein in meiner Hand, wer ist die schlechteste Gattung im ganzen Land? Die Wespen, die Tauben, die Ratten, vielleicht die Mücken, wären hierzu wohl die meistgenannten Antworten, wenn man „100 Leute auf der Straße fragte“, wie es dereinst bei Ruckzuck immer so schön hieß. Bei der Frage nach der besten Spezies wäre im Gegenzug wohl der Mensch unangefochten auf Platz 1, gefolgt von unseren liebsten Haustiere Hund und Katz oder Kandidaten wie Bienen, Delphine oder Pferde. Nach Kriterien für diese Einstufung zu fragen, erspare ich mir und Euch mal gediegen, denn so sachlich bin ich heute einfach nicht aufgelegt.

So sind wir biblisch gesprochen doch Gottes Ebenbilder, die Krone der Schöpfung gar, und deshalb berufen, über die Schöpfung zu wachen. Zugleich sind wir aber auch übermäßig neugierig, ungehorsam, selbstgefällig und solcherart (erb-)sündig, sodass wir kurzhand aus dem Paradies verbannt und auf den Planeten gesetzt wurden. Andere Religionen sind da ebenso ambivalent und trauen uns alles im Spektrum von „heilig“ bis „verdorben“ zu. Anthropologie und Philosophie, Psychologie und Soziologie, Geschichts- und Poltikwissenschaft differenzieren die Menschheit gleichmaßen schonungslos, ob bloß empirisch oder sogar normativ. Die Bilanz bleibt wenigstens durchwachsen, fällt bisweilen tendenziell doch eher pessimistisch aus.

Und trotzdem möchte ich, wie eingangs bereits behauptet, spekulieren, mögen sich die meisten selbst recht gerne, halten unsere Gattung für gut, fortschrittlich, zivilisiert und dergleichen mehr. All diesen Menschen halte ich die obigen Quellen entgegen, fordere sie auf bar jeder Illusion und ohne Euphemismen mit sich und uns ins Gericht zu gehen. Sind wir wirklich gut im breiten Sinne dieses diffusen Wortes?

Mit selbstkritischem Gruße, Euer Satorius

Ihr könnt schauen, was ihr wollt, aber: Dark

An Freiheit des Menschen im philosophischen Sinne glaube ich keineswegs. Jeder handelt nicht nur unter äußerem Zwang, sondern auch gemäß innerer Notwendigkeit. Schopenhauers Spruch: ´Ein Mensch kann zwar tun, was er will, aber nicht wollen, was er will`, hat mich seit meiner Jugend lebendig erfüllt und ist mir beim Anblick und beim Erleiden der Härten des Lebens immer ein Trost gewesen und eine unerschöpfliche Quelle der Toleranz […]. Nach dem Sinn oder Zweck des eigenen Daseins sowie des Daseins der Geschöpfe überhaupt zu fragen, ist mir von einem objektiven Standpunkt aus stets sinnlos erschienen. Und doch hat andererseits jeder Mensch gewisse Ideale, die ihm richtunggebend sind für das Streben und für das Urteilen.

Albert Einstein (1879 – 1955), Mein Weltbild, S. 416.


Sanfter Trommelwirbel, ein zögerlicher Tusch und verhaltener Applaus tönen durch den digitalen Äther – Quanzlands lebt noch, ich lebe noch:

Urspünglich wollte ich Schopenhauers aphoristischen Ausspruch zur Willensfreiheit zitieren, musste dann jedoch rasch feststellen, dass dieses Zitat bloß vermeintlich von dem verehrten Philosophen stammt, sondern nachweislich eine Verdichtung Albert Einsteins ist, der darin Schopenhauers Philosophem, wenn auch treffend, zusammenfasst.

Soviel als Auftakt – aber warum komme ich überhaupt darauf und was zur Hölle, oder für die Gottlosen unter Euch: was zum Geier, war denn in letzter Zeit bei mir und mit Quanzland los? Klar ist, dass dieser Blog heftig brach lag, während ich mich zeitgleich in einem intellektuellen Ödland herumgetrieben und wenig bis keinen Text hervorgebracht habe.

Offen gestanden kann ich bisweilen nicht einmal tun, was ich will, noch gar vermag ich, zu wollen, was ich will. So weit, so abstrakt – konkret hätte ich in den letzten zwei Jahren hier gerne hunderte von Artikeln platziert und unterdessen mindestens einen Roman und obendrauf ein Dutzend kleinere Textprojekte vorangebracht und abgeschlossen. Aber das Leben hat so seine Eigendynamik(en) und der Wille – hehren Idealen, schönen Utopien und schnöden Vorsätzen zum Trotz – ist und bleibt ein diffuses, unstetes und sonderbares Wesen. Da kann man sich, kann ich mir noch so viel vorstellen, es gibt Bedingungen und Bewegungen unter, außer und über meinem kleinen Ich, die überwältigend und unterminierend sein können; wobei sich mir hierzu die geläufige Metapher vom Ich als Schiffbrüchigem, geklammert an eine winzige Planke inmitten eines endlos scheinenden Ozeans, assoziativ aufdrängt, den dort die Wogen des Meeres bisweilen stürmisch umtoben, der von der schwarzen Tiefe, unermesslich und unergründlich, bedroht wird, ständig in Angst vor dem Unbekannten unter ihm, stets in Furcht vor dem Ertrinken und Verhungern.

Gründe für meinen literarischen Verzicht, gute wie schlechte, gibt es Legion: Vaterschaft, Lust- und Disziplinlosigkeit, Selbstständigkeit, (Zerstreuungs-)Sucht, ein kürzlicher Umzug und eine unbegreiffliche und manchmal unkontrollierbare Werkangst. In der Summe blieb also wenig Zeit und Lust zum Schreiben, gab es viele Hemmnisse und Widerstände.

In einer solchen Situation verfängt der Schopenhauersche Determinismus, tendenziell fatalistisch, reflexiv natürlich optimal, macht er uns doch etwas freier von der Last der utopischen Verantwortung. Einer Verantwortung für all das, was wir irgendwie wollen, irgendwie aber auch nicht, weil wir aus welchen Gründen auch immer nicht dazu kommen, verhindert und gehemmt sind. Ich stelle mir etwas Zukünftiges, moralisch positiv und logisch auch negativ gemeint, vor, will etwas erreichen oder unterlassen, aber dann kommt es anders.

Nun aber genug vom zutiefst persönlichen Hinter- und Untergrund, zurück zur Oberfläche des vermeintlichen Schopenhauer- letztlich aber doch Einstein-Zitats und dessen seriastischen Kontext. Denn immerhin passiv-rezeptiv bleibt für mich Fiktionales, Literatur und Film bzw. vor allem Serie, gewiss zeitlebens wichtig und alltagsprägend. Kurzum, ich habe neuerlich abermals viele nahezu ausnahmslos gute Serien „gebinged“: Utopia, Game of Thrones, Altered Carbon, The Expanse, 100, Twin Peaks, Westworld, The Witcher, Lost in Space, Haus des Geldes, (Fear) The Walking Dead, Black Mirror, um die Wesentlichen und neuesten zu nennen, und eben auch und nicht zuletzt Dark, dessen dritte und zugleich letzte Staffel verheißungsvoll mit unserem einschlägigen Fehlzitat eröffnet wird.

Diese Serie, ihres Zeichens die erste deutsche Netflix-Produktion, hat mich unterdessen besonders gefesselt. Nicht nur, weil sie ein furioser Genremix aus Mystery, Science-Fiction, Horror und Drama, gewürzt mit einer wohldosierten Prise Soap-Opera, ist, sondern weil sie atmopspährisch immens dicht und zumindest bis in die dritte Staffel hinein rezeptive wie intellektuell durchaus anspruchsvoll daherkommt. Bisweilen übertrieben, krud und verworren, schauspielerisch nicht immer grandios, hatte ich dennoch immer den Gesamteindruck einer gelungenen Erzählung. Trotz aller Unwirtlichkeit und Unwirklichkeit bin ich in Winden, dem fiktionalen Ort der Geschehnisse, heimisch geworden, habe mich mit den vielen Figuren, gleich ob Protagonist, Antagonist oder Nebenfigur – eine Differenzierung zumal, die hier höchst brisant bis interessant ausfällt -, angefreundet. Folge für Folge dringt man tiefer ein in die anfangs undurchdringlich scheinende Dunkelheit, enträtselt dabei ein spannendes Mysterium, lernt eine kuriose bis groteske Stadt und ihre dementsprechenden Bewohner kennen, insbesondere die vier zentralen Familie Kahnwald, Nielsen, Tiedemann und Doppler, und verstrickt sich in einen komplexen Plot voller Wendungen, Blendungen, Tief- und Höhepunkten. Was soeben beinahe wie allglattes Marketing klingt, formuliere ich authentisch und taktisch zugleich, denn mehr zum Inhalt zu sagen, wäre töricht und unangemessen, will ich Euch hiermit doch ermuntern, die Serie so zu schauen, wie es meines Erachtens ideal ist: neugierig, naiv und nichtsahnend.

Also nur Mut, denn 26 Folgen in drei Staffeln mit einer durchschnittlichen Spielzeit von einer Stunde pro Folge bleibt greiffbar und erschlagen selbst Serienmuffel nicht durch allzu viel epische Quantität. Ich jedenfalls kann mir gut vorstellen, dass Dark nach Akte X die zweite Serie überhaupt werden könnte, die ich ein zweites Mal schauen werde. Sofern nicht mein Wille und meine Vorstellungen in Zukunft verwirklicht werden und ich stattdessen schreibe, schreibe und noch mehr schreibe. Ich jedenfalls bin gespannt darauf, denn man weiß ja nie genau worauf – komme also, was da will.

Gefangen in der Mitte zwischen Determinismus und Willensfreiheit grüßt, Euer Satorius

Mit Lyrik wider den sog. Winter

Mein literarisches Licht leuchtet weniger als leise, beinahe unhörbar und stumm ist es geworden. Quanzland ruhet sanft im tristen Winterschlaf, auch wenn der aktuelle, sogenannte Winter nicht mehr das ist, was er einstmals gewesen ist. Kühl bisweilen, ja, dann wieder lauwarm, nass und unangenehm, nie aber wirklich winterlich: kalt, starr, weiß, klar und rau.

Über den Rest der großen Welt, die wichtigen Neuigkeiten vom Tage, der Wochen und dem Quartal, allessamt abgeschmackt und lau, weniges tragisch und zumeist theatralisch, gelüstet es mich zu schweigen, dies überhaupt zu sagen, ist beinahe zu viel des Richtigen im Falschen. Also unterlasse ich nunmehr desweiteren melancholische Banalitäten und lasse Lyrik meine Stimmung nachzeichnen und aufhellen.

Schreiblahm grüßt, Euer Satorius


Hart stoßen sich die Wände in den Straßen,

Vorn Licht gezerrt, das auf das Pflaster keucht,

Und Kaffeehäuser schweben im Geleucht

Der Scheiben, hoch gefüllt mit wiehernden Grimassen.

Wir sind nach Süden krank, nach Fernen, Wind,

Nach Wäldern, fremd von ungekühlten Lüsten,

Und Wüstengürteln, die voll Sommer sind,

Nach weißen Meeren, brodelnd an besonnte Küsten.

Wir sind nach Frauen krank, nach Fleisch und Poren,

Es müßten Pantherinnen sein, gefährlich zart,

In einem wild gekochten Fieberland geboren.

Wir sind versehnt nach Reizen unbekannter Art.

Wir sind nach Dingen krank, die wir nicht kennen.

Wir sind sehr jung. Und fiebern noch nach Welt.

Wir leuchten leise. – Doch wir könnten brennen.

Wir suchen immer Wind, der uns zu Flammen schwellt.

Ernst Wilhelm Lotz (1890 – 1914), Hart stoßen sich die Wände in den Straßen (1913)

Unsere Demokratie

Die Räte sagen: Wir wollen mitbestimmen. Wir wollen unsere Stimme irgendwo in der Öffentlichkeit zu Gehör bringen. Da das Land zu groß ist, dass alle zusammen mitbestimmen können, brauchen wir einen öffentlichen Raum innerhalb dieses Landes. Die Zelle, in der wir unsere Stimmzettel abgeben, ist zweifellos zu klein, denn in dieser Zelle ist Platz nur für einen. Die Parteien sind dafür ganz ungeeignet; da sind wir doch nur Stimmvieh. Wenn aber auch nur zehn Leute um den Tisch sitzen, da sagt jeder seine Meinung, da hört jeder die Meinung des anderen, da kann eine vernünftige Meinungsbildung durch den Austausch von Meinungen stattfinden.

Hannah Arendt (1906 – 1975), Macht und Gewalt, S. 132f. (1970)


Soso, das sagen also die Räte über das Ideal politischen Handelns. Wenn ihre Mitglieder weder arbeiten noch herstellen müssen, dann bestimmen sie kollektiv mit, bilden sich unterdessen öffentlich und wechselseitig im freien Diskurs ihre Meinung und ermächtigen delegierend schließlich eine Regierung, die an der Spitze einer vielstufigen Pyramide die Ausführung des Volkswillens mit dem Ziel des Gemeinwohls unternimmt. So ungefähr jedenfalls verstehe ich Arendts utopischen Entwurf. Kenner nennen dieses Ideenbündel sogar eine Demokratietheorie, wobei ich als Laie, der nur Fragmente des Primärtextes kennt, eher von einer Machttheorie mit praktisch-politischen Randbemerkungen sprechen würde.

Was würden jene ominösen Räte wohl von der modernen Demokratie denken, wie wir sie heutzutage weltweit entdecken und vor Ort hautnah erleben; wie würden sie uns bezeichnen, wenn wir alle zwei bis fünf Jahre in einer kleinen Zelle respektive gemütlicher per Brief, wie ich es übrigens bevorzuge, unsere paar Kreuze machen oder komplexer Weise unsere Stimmen verteilen und bündeln? Etwa auch als bloßes Stimmvieh, das meistens ganz ungeeignete Parteien und ihre Mitglieder, also vornehmlich Berufspolitiker, als Repräsentanten erwählt und in die fernen Parlamente entsendet, sich selbst aber kaum noch um politische Bildung, ernsthafte zwischenmenschliche Meinungsbildung und lebendige Partizipation bemüht – von konkreter Gesaltung gar nicht zu sprechen?

Aus dieser utopischen, genauer direkt- und basisdemokratischen – verwirrenderweise mitunter als sozialistisch diffarmierten – Warte betrachtet, wird das Urteil über Status und Qualität der zeitgenössischen Demokratie wohl recht eindeutig negativ ausfallen müssen, von wenigen Ausnahmen wie bspw. der Schweiz mal abgesehen. Zumal die Bedingungen sich zusätzlich nochmals verschärft haben: Die Skalierung des Systems wurde mit Abermillionen Bürgern maximiert, im Angesicht kollossaler Bürokratien sowie einem unüberschaubaren Institutionengeflecht hat sich die Lage überdies kompliziert und zuletzt wurden vor dem Hintergrund eines globalisierten Kapitals die vielen (Volks-)Souveräne fragmentiert und dadurch marginalisiert.

Ist also tatsächlich etwas faul im demokratischen System, es insgesamt womöglich aus dem Fugen geraten und in uferlose wie beliebige Anonymität abgedriftet? Sind wir tatsächlich müde und desinteressiert, desillusioniert und abgelenkt?

Ich fürchte, an dieser Diagnose ist durchaus was dran! Wenn ich es mir recht überlege, so zolle auch ich nach 18 Jahren des Wählens und versuchten Politisch-Seins diesem unerfreulichen Urteil von Seiten der Arendtschen Räte prinzipiellen Respekt sowie leider sogar Sympathie und Zustimmung.

Denn was heißt es heutzutage qualitativ, wenn man „politisch“ oder sogar „politisch-aktiv“ ist, auf wen treffen diese Attribute quantitativ überhaupt zu? In nüchternen Zahlen hinzugedacht, dass eine Wahlbeteiligung von rund 70% bereits als „herausragend hoch“ kommentiert wird, sie sich aber tendenziell eher in Richtung 50% entwickelt, und, dass wenig mehr als 1% der Bevölkerungen Mitglieder einer Partei, des trotzdem weiterhin wichtigsten Akteurs im System, sind, geben diese Zahlen, so inhaltsinvariant sie zumal noch sind, nicht eben Anlass zu Zufriedenheit, Optimismus und großer Hoffnung.

Das Zoon politikon des 21. Jahrhunderts scheint nicht mehr allzu politisch zu sein, weit weniger an gemeinsamem Handeln als Basis echter Macht interessiert zu sein, als notwendig oder auch nur gut für das Funktionieren einer legitimen Demokratie sein dürfte. Herrschaft und Souveränität verlieren an Reiz, öffentlicher Diskurs scheint vielen zu zeitrauben, zu unbequem, zu anstrengend, wo doch die Regelung der eigenen Bedürfnisse und Angelegenheit, das Privatleben also, schon so viel Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, von Karriere und Kunst, Status und Prestige ganz zu schweigen. Der zentrale Wert der Freiheit wird als Freizeit uminterpretiert, nicht als Auftrag und Gelegenheit, freizügig und freiwillig seine Meinung zu bilden, sie einzubringen und auch durch Argumente andere selbstlos verändern zu lassen. Schlimmstenfalls ist das Thema Politik Anlass für große Emotionen, tiefe Gräben oder gar für Tabus – drei extreme Umgangsformen, die ich allesamt mehrfach und erquicklich selbst erlebt und erlitten habe.

Wie dem auch sei, es gibt jedenfalls viele Widerstände gegen echte Demokratie. Sogar womöglich noch weitere Angriffspunkte als die angerissenen allgemeinen Aspekte, die dann aber zugegebenermaßen hochfiktional und spekulativ überspitzt daherkommen. So bin ich per Zufall, Wochen nachdem ich diesen Artikel in seiner Rohform verfasst hatte, auf folgenden Dialog in einem Hörspiel gestoßen, das ich gerne gelegentlich verfolge:


Erikson: „Die Jugend [@Satorius: Gemeint sind damit die eigentlichen Protagonisten der Serie, die bei ihren Recherchen zum einschlägigen Thema von den zwei Verschwörern belauscht werden] hat selbst die Metapher vom Hirten und den Schafen gebraucht, die doch so treffend die Rechtfertigungsideologie beschreibt: Schafe brauchen einen Anführer, der sie beschützt und behütet; und das Volk – liebste F. – mag zwar aus Menschen bestehen, doch sie gebärden sich bekanntermaßen wie dumme Schafe.“

F.: „Es ist kein Geheimnis, dass die Menschheit zum allergrößten Teil aus Herdentieren besteht. Auf unserer Erde gibt es nur wenige wahre Anführer; der Großteil ist damit zufrieden, brav zu folgen.“

Erikson: „Es war keine einfache Aufgabe, aber die vergangenen Jahrhunderte haben zu unserer heutigen Regierungsform geführt. Um Voltaire zu paraphrasieren: Das Volk ist irrational, triebhaft und rationalen Argumenten nicht zugänglich; die Eliten hingegen …“

F.: „… ja, wir übernehmen die Verantwortung und besitzen genügend Weisheit, Zeit und Geld, um eine schützende Hand über die triebhafte Herde legen zu können. Doch wie erreicht man diesen Zustand, Erikson?“

Erikson [freundlos lachend]: „Soll das ein Test sein? Gut! Ich spiele mit: … natürlich, indem man die Demokratie soweit entleert, dass sie nur noch auf den bloßen Wahlakt beschränkt ist – eine perfekte Illusion, dass man den Hirten selbst wählen könne. Denn alle potentiellen Hirten werden natürlich von uns gestellt. Aber selbst der bloße Wahlgang scheint den meisten Schafen bereits zu aufwändig zu sein, wenn man die Wahlbeteiligung der letzten Jahre in fast allen demokratischen Staaten betrachtet.“

F.: „Doch dieser Zustand ist nicht vom Himmel gefallen: Kontinuierliches Demokratiemanagement ist das Stichwort – Brot und Spiele, wenn Sie so wollen. Opium für das Volk, wie Karl Marx bereits in seiner Religionskritik sagte. Schafe wollen abgelenkt werden, egal ob durch Religion, Konsum, Sportereignisse oder Skandale der High Society. Und sie überlassen die lästigen Aufgaben gerne denen, die sich dazu berufen fühlen oder besser geeignet scheinen.“

Erikson [lachend]: „Zum Beispiel uns …“

F.: „… zum Beispiel uns. [Gläser, die angestoßen werden, klirren, malizöses Lachen von beiden]

Catherine Fibonacci (? – ), Offenbarung 23Demokratie, Folge 86: Track 11, 1:00 – Track 12, 1:40 (2019)


Im weiteren Verlauf dieser Folge ist zudem die Rede von der Macht des kalkuliert gesäten Zweifels an demokratiefreundlicher Kritik besagter Widerstände, wie sie wohl auch die Räte laut werden ließen, gäbe es sie denn. Wie auch weiterführend davon gesprochen wird, dass Minderheiten (Muslime, Juden, Arbeitslose, Migranten, etc.) als Sündenbock diffamiert werden und so zum Ziel potentiell demokratieförderlicher Energien und Aktivitäten gemacht werden, sodass der Bürger statt positiver Selbstermächtigung und – regierung, negativ gewendet, fixiert und damit politisch abgelenkt werden.

Auch wenn es hierbei definitiv verschwörungstheoretisch und eher narrativ als deskriptiv zugeht, so bespricht diese Episode neben den zuvor besagten, weitere denkbare Stressoren unserer Demokratie, durch die insgesamt das Arendtsche Ideal einer Herrschaft für das Volk durch das Volk in Zweifel gezogen werden kann: Propaganda, negative Massenpsychologie und pessimistische Anthropologie sowie der Egoismus und Paternalismus konspirativer Eliten.

Alles in allem gibt es also eine breite Phalanx demokratiefeindlicher Antagonisten, die ich hier nur aus rhetorischen Gründen personifiziert habe, die also in Wirklichkeit vielmehr abstrakter und struktureller Natur sein dürften. Solcherart wird letztlich aus dem eingangs zitierten Ideal des freien Diskurses als Basis direkter demokratischer Meinungs- und Willenbildung eine gegenwartskritische Kontrastfolie. Ein utopischer Spiegel, in dem wir unsere politische Wirklichkeit als Verzerrung und Entfremdung von besserer Demokratie erblicken könnten, wenn wir argumentativ stark pessimistisch und einseitig negativ zu Werke gehen, wie ich das hier und heute getan habe.

Denn klar ist ebenso, dass es die dialektisch entgegengesetzte, andere Position gibt: Demokratie ist bekanntlich die schlechteste aller Staatformen, mit Ausnahme aller anderen, um abschließend den weisen Winston Churchill zu paraphrasieren. Denn sie ist immer ein historischer Prozess, hat als solcher ihre Höhen und Tiefen, vermag sich aber gerade deshalb im Gegensatz zu kollektivistischen, autokratischen oder gar faschistoiden Herrschaftsformen zu wandeln, anzupassen und zu reifen. Es obliegt jeder neuen Generation von Bürgern, ihre jeeigen Demokratie neu zu beleben und somit hängt ihre Qualität stets neu davon ab, ob und wie weit ihre Mitglieder bereit und willens sind, zu diskutieren, zu partizipieren und sich schließlich mehr direkt oder minder repräsentativ selbst zu regierieren.

Was ihr wollt und könnt, nein, was wir wollen und können bestimmt unseren Status irgendwo im politischen Kontinuum zwischen Ratsmitglied und Stimmvieh. Diese Freiheit besitzen wir, diese bürgerliche Pflicht ist uns aufgeben – machen wir also besser das Beste daraus: Unsere Demokratie bleibt unsere Wahl, wird unsere Zukunft!

Mit demokratischem Gruß, Euer Satorius

Don Qu. und die Zauberer

Während ein neues Jahrzehnt angebrochen ist, die Welt sich weiter im Kreise dreht – ich wage nicht zu sagen, ob das Rad der Zeit dabei bergauf oder bergab rollt, uns dem Abgrund näher bringt oder dem Gipfel – blicke ich ein wenig reumütig, ein wenig gleichgültig zurück auf eine Schaffenspause von knapp zwei Monaten. Immerhin, so scheint es aufgrund digitaler Stille, habe ich dadurch wenigstens keinen neugierigen Leser enttäuscht und in Ungeduld ob der angekündigten Fortsetzung der Wochenendlektüren gestürzt – wenn doch: ein motivierender Kommentar ist jederzeit erlaubt. Aber letztlich gilt ungebrochen, dass ich für das Schreiben selbst schreibe und mein Werk vertrauensvoll dem Äther übereigne.

Unterdessen bin ich auf den Fährten großer Literaten unterwegs gewesen und folge ihnen weiterhin; wenn ich auch zunehmend dem Hörbuch verfalle, das sich so viel bequemer in den Alltag integrieren lässt: Zu spülen beispielsweise und währenddem Weltliteratur zu genießen, macht aus einer schnöden Sisyphusarbeit eine erträgliche und einträgliche Zeit. Nach Charles Dickens Geschichte aus zwei Städten, die trotz aller anerkannten Meisterschafft hier in Quanzland wohl keinen Niederschlag mehr haben wird, bin ich nunmehr beim berühmtesten Narren der Literaturgeschichte gelandet: Don Qu. dem wahnwitzigen Hidalgo.

In seiner kritischen Parodie auf die Fantastik von Minne und Rittergeschichten antizipiert Cervantes am Beginn der Moderne durch die Figuren des Don Qujiote (respektive Quixote) und des Sancho Pansa weit mehr als die ambivalente Konkretisierung von wahnhafter Schizophrenie/striktem Idealismus bei Ersterem und tumber Habgier/offenherziger Treue bei Zweitem. Jahrhunderte vor dem Entstehen von Psychatrie und Differenzphilosophie entwirft er in einer literarischen Metaphorik ein originelles Modell menschlicher Subjektivität, das nicht nur zum Schreien komisch sondern auch zum Staunen weise daherkommt. Quasi nebenher dekonstruiert er Formen, Formate und Fabeln menschlicher Welt- und Selbstvergewisserung und er tut das in einer genialen Leichtigkeit und Vieldeutigkeit, die ihresgleichen sucht.

Genug gelobt und (an-)gedeutet, lest selbst und wundert Euch über das illustere Zwiegespräch zwischen Herr und Diener, die bisweilen die Rollen tauschen und dabei beide auf ihre eigene Art prototypisch vor Augen führen, was Ideologie und Idealismus, Wunsch und Wahn zu bewirken, ja, zu bezaubern im Stande sind.

Euer alltagsabsorbierter Gelegenheitsblogger, Satorius


Aber sage mir, Sancho, verwahrst du auch den Helm Mambrins sorgfältig? Ich sah, wie du ihn vom Boden aufhobst, als ihn jener Undankbare zerschmettern wollte und es ihm nicht gelang, woraus man eben die Trefflichkeit seines Metalls ermessen kann.«
Auf dieses antwortete Sancho: »Bei Gott, Herr Ritter von der traurigen Gestalt, alles kann ich nicht ausstehen und in Geduld anhören, was Ihr sagt, und dadurch komme ich manchmal auf den Gedanken, daß alles, was Ihr mir von Ritterschaft vorsprecht und von Königreiche und Kaisertümer gewinnen und Inseln verschenken, und andre Gnaden und Herrlichkeiten auszuteilen, wie es die irrenden Ritter in der Art haben sollen, daß alles das nur Windbeutelei und Lügen sind und alles nur Luftklöße oder Luftschlösser, wie es heißen mag; denn wenn ich Euch sagen höre, daß ein Barbierbecken ein Helm Mambrins sei, und daß Ihr länger als vier Tage in diesem Irrtum beharrt, was soll ich wohl anders denken, als daß dem, der so etwas glaubt und behauptet, im Kopfe etwas losgegangen ist? Das Becken, das voller Beulen ist, habe ich im Beutel hier, bei mir zu Hause will ich’s mir zurechtmachen lassen und mich darin barbieren, wenn Gott mir so gnädig ist, daß ich noch einmal meine Frau und Kinder wiedersehe.«
»Wahrlich, Sancho, bei demselben Gotte, bei dem du vorher geschworen hast«, antwortete Don Quixote, »du hast den allerdümmsten Verstand, den nur jemals noch ein Stallmeister in der ganzen Welt hat oder gehabt hat. Wie ist es möglich, daß du, der du schon so lange in meiner Gesellschaft bist, nicht einsiehst, wie alles, was die irrenden Ritter angeht, nur wie Hirngespinst, Narrheit und Unsinn aussieht und alles verkehrt und wunderlich scheint? Nicht deswegen, weil es sich also befindet, sondern weil immer ein ganzes Regiment von Zauberern hinter uns herläuft, die alle unsere Dinge verändern und verwandeln und sie nach ihrem Gefallen auswechseln, je nachdem sie uns beschützen oder verfolgen, und so scheint, was dir wie ein Barbierbecken aussieht, mir der Helm Mambrins, und ein anderer wird es wieder für etwas anderes ansehen; auch war es eine herrliche Vorsicht des Weisen, der auf meiner Seite ist, es so einzurichten, daß allen das ein Bartbecken scheint, was doch wahrhaftig und in der Tat der Helm Mambrins ist, denn da er von so unermeßlichem Werte ist, würde mich die ganze Welt verfolgen, um ihn nur zu besitzen; da sie ihn aber nur für ein Barbierbecken ansehen, kümmern sie sich nicht sonderlich darum, wie es sich auch bei jenem auswies, der ihn zerbrechen wollte und ihn dann mit Verachtung auf dem Boden liegenließ, wo er ihn wahrlich nicht um alle Welt gelassen hätte, wenn er seine Preislichkeit gekannt. Hebe ihn gut auf, Freund Sancho, denn jetzt brauche ich ihn nicht, sondern ich will im Gegenteile alle diese Waffenstücke ablegen, damit ich so nackt sei, wie ich von Mutterleibe kam, wenn es mir einfällt, in meiner Buße mehr dem Roland als dem Amadis nachzuahmen.«

Miguel de Cervantes Saavedra (1547 – 1616), Leben und Taten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von la Mancha, S. 329f. (1605/15, 1852/53 übersetzt von Ludwig Tieck)

Wochenendlektüren Nr.10 – YY1: S.11-14/~35 [Version 1.2]

Wieder ist eine Woche ins (Quanz-)Land gegangen und ich habe eine neue Portion TSF für die Originale zubereitet. Nachdem ich letzte Woche der Marotte gefrönt habe, meinen eigenen Texten einen interpretatorischen Beipackzettel hinzuzufügen, unterlasse ich das dieses Mal und komme ohne viel Brimborium zum eigentlichen Anlass dieses Artikels: Die nächsten drei Seiten des ersten Kapitels bringen heute gegen Ende den ersten Neuauftritt von Yang mit sich, der nunmehr stilistisch selbstständiger und damit von Yin unterscheidbarer, nämlich bewusstseinsstromlinienförmig umgeschrieben dargestellt wird.

Mit allerbesten Wünschen fürs Lesen und fürs Restwochenende, Euer Satorius


1. Zugang YY – Gor(e)

Trotzdem gibt es einen mehr als kosmetischen Unterschied zwischen den beiden Gruppen: Als Beute haben sie von Anfang an gewusst, was hier gespielt wird, und mussten den letzten Marsch quer durch die tödliche Wildnis schon in der Gewissheit zurücklegen, Eigentum geworden zu sein. Denn sie waren selbstverständlich zuvor schon mit einfachen Implantaten ausgestattet worden und standen seither unter Kontrolle. Mitten durch den Albtraum der Todeszone ging es dann für die neuen Sklaven, hin zu ihren neuen Herren. Die hiesigen Rituale sind nicht nur in dieser Hinsicht ausgewiesen unmenschlich, aber so sieht es die Initiation in Gor Thaunus für Beutemenschen eben vor. Sein Asyl in dieser Stadt und den damit verbundenen Schutz muss man sich zuerst symbolisch verdienen, durch Bereitschaft zum Leiden. Auf diesem ersten Weg im neuen Lebensabschnitt sieht man die rettende Zuflucht beinahe die ganze Strecke über schon in der Ferne liegen, lichterloh strahlen und locken mit ihrem fatal falschen Leuchtturm, dem Thallum Gor. Trotz allem, was zuvor schon passiert sein mochte, sehnt man die Ankunft herbei. Am Ende des Marsches, wenn alles gut gegangen und man es hoffentlich soeben noch im Hellen hierher geschafft hat, ist man regelrecht froh, in seinem zukünftigen Gefängnis angekommen zu sein – pervers, aber wahr. Am Anfang steht der Überfall, mitsamt Gefangennahme und Enteignung, dann die Drohung, mittellos, ohne Waffen und Nahrung, in der Todeszone krepieren zu müssen, nach einer wirkungsvoll langen Bedenkpause zuletzt das ach so großzügige Angebot, kaum eine Wahl zu nennen, und dann der schmerzhafte Eingriff, mit dem die technische Versklavung beginnt: Sicherheit auf Kosten aller Freiheit, unfreies Leben statt sicherem Tod. So ungefähr läuft eine Versklavung in Gor ab, eine ziemlich bittere Angelegenheit. Und nicht nur das, dieses Elend ist nur der einschneidende erste Level eines widerwärtigen Spiels, ist nur der Beginn eines andauerenden Parcours an Überwachung, Disziplinierung, Gehirnwäsche, gelegentlicher Quälerei und alltäglicher Schinderei.

Einzig in dieser Hinsicht geht es also den zunächst noch freiwilligen Flüchtlingen besser, gleich ob sie aus purer Hoffnung oder schierer Verzweiflung Zuflucht hinter den mächtigen Mauern dieser Siedlung suchen: Für sie beginnt das Grauen hier drin nach dem Terror dort draußen etwas später, insgesamt etwas schleichender und angeblich auch nicht immer zwangsläufig. Denn gerüchtehalber kann man, sofern vorhanden, durch Besitz oder Talent bei der Einreise Vorteile für sich sichern, angeblich sogar als Freier in der Berggasse loslegen. Das klingt für mich glaubhaft, denn Gleichheit ist hier nur ein Fremdwort unter vielen anderen vergessenen Idealen, die ich allesamt dank meiner knapp vier Jahre Lebenszeit in wohlbehüteter Freiheit kennengelernt hatte. Hier in Gor Thaunus, als enteignete Sklavin, wird mir dieses Wissen tagtäglich zum Fluch – ich weiß wie es war und wie es sein könnte.

Uns war es schlechter ergangen, denn Yang und ich haben leider die Tortur der Initiation und der ersten Wochen hinter uns gebracht, vielmehr bringen müssen. Wir waren damals vor gut zwei Jahren nicht als Flüchtende hierher gekommen, sondern als Geraubte. Also mussten wir den Ritus der vier Himmel durchmachen, nachdem wie zuvor schon ein Mal durch die Wildnis marschieren mussten. Für diese Fortsetzung der Initiation waren wir nach der Ankunft noch vier weitere Male in der Todeszone ausgesetzt. Daraufhin mussten wir, Gor und den zentralen Turm ständig als einzige verlässliche Orientierung am Horizont, in einem Tagesmarsch unseren Weg zurückfinden. Während dieser schlimmen Tage sind wir zu anderen Menschen geworden, zu gebrochenen, willenlosen Opfern. Beim ersten Mal war es schon hart genug, aber mit jedem weiteren Mal wurde es schlimmer, denn man wusste nun, was einem alles dort draußen drohte, hatte das Leid gesehen und mehrfach gespürt. Kaum eine der Gewaltmärsche durch die Todeszone geht ohne Tote und Verletzte unter uns Sklaven ab. Die dauernde Todesangst sorgt, zumal man ohne Nahrung und Wasser ausgesetzt wird, für unangenehmeste Grenzerfahrungen. Danach weiß man kaum noch, wer man vorher gewesen ist. Genau darum geht es ihnen, diesen Bastarden dort oben in ihren schicken Villen. Je ein Mal aus jeder Himmelsrichtung haben sich die neuen Sklaven in ihrer ersten Woche zurück zum Lager ihrer Meister durchzukämpfen. Besser denke ich nicht weiter darüber nach, es sind schreckliche Erfahrungen gewesen, die ich am liebsten vergessen würde. Das Geschehen der letzten Minuten nötigt mir jedoch die Erinnerung an meine eigene Vergangenheit, meine damalige Rolle in der gleichen grausigen Inszenierung auf. All das liegt zwar lange hinter mir, aber – leider, denn ich kann daran so Garnichts ändern – noch vier weitere Male vor den armen Teufeln dort drüben.

Mitleid steigt in mir auf, verdrängt jeden Vorbehalt und jede Vorsicht. Ich beschließe impulsiv, doch noch einen zweiten Versuch zu wagen, rufe noch lauter als eben schon: „Hey, ihr vier! Keine Angst – kommt einfach zu uns rüber, wann ihr könnt und wenn ihr wollt. Wir rennen sicher nicht weg und freuen uns über Besuch!“

Das ist schlagfertig gewesen, denke ich stolz: Nett, gleichzeitig ehrlich und witzig, aber mehr als das kann und will ich nicht riskieren – jedenfalls nicht in meiner heutigen Stimmung und dieser Situation. Nach einem scheußlichen Tag voller Strapazen und offener Demütigung während einer zermürbenden Arbeitsschicht von regelmäßig 12 Stunden, geht nur noch wenig. Von vier bis vier geht meine aktuelle Schicht, derzeit am Tag bald aber wieder mit Beginn in der Nacht. Mein kompletter Rücken schmerzte so sehr, dass fast jeder Muskel dort verhärtet sein dürfte. Die meisten Gelenke und besonders die beiden Knie tun mir ebenfalls weh. Auch Kopfschmerzen mischen sich unter die restlichen Leiden, fallen jedoch als normaler Dauerzustand kaum ins Gewicht. Das alles ist kein Wunder, so schwer wie wir Sklaven gefordert werden, ohne dass dabei unsere Gesundheit eine große Rolle spielt – Hauptsache: Man arbeitet. Dadurch werden mir sogar die relativ leichten Aufgaben meines Arbeitsdienstes zur Belastungsprobe. Wenn ich mir im Vergleich dazu vorstellte, wie es in den Minen und Manufakturen zur Sache geht, darf ich mich wirklich nicht beklagen. Was Yang und andere Industriesklaven mir manchmal darüber berichteten, ist widerlich und unmenschlich. Das Gefährlichste, was mir passieren kann, ist eine geile Mira oder eine übellaunige Annabelle, von etwas Muskelschmerzen nach harter Hausarbeit mal abgesehen.

Weiterhin geschieht da draußen nichts, immer noch keine Reaktion auf meine doppelte Ansprache. Aber auch dieses Mal erfolgt keine Strafe, kein Schmerz durchzuckt mich, keine Warnung verkündet die Konsequenzen meiner Regelüberschreitung. Wahrscheinlich sind die vier Asylanten heftig traumatisiert und brauchen ihre Zeit, um wieder klarzukommen. Langeweile, Verdruss und neue Abneigung durchströmen mich, trotz aller aufgebotenen Empathie.

Egal jetzt, scheiß drauf – ich muss einfach noch etwas länger abwarten, nur Geduld. Nur noch einige Atemzüge, denn mein Bruder regt sich, erwacht aus seiner stundenlangen Starre. So hat er schon dagelegen, als ich vorhin zurückgekommen bin, kaum zugänglich und reichlich wortkarg – ganz so, als wäre er drauf, alleine und ohne mich. Egal auch das, ich kann mich nun einfach zurücklehnen, entspannen und gespannt zusehen, was passieren wir. Mal ehrlich, ich habe es ernsthaft versucht, mit hohem Einsatz jedoch ohne Erfolg. Abwarten also und schwesterlich auf den Halbstarken aufpassen, mehr brauch ich von hier an nicht mehr zu tun. Gleich wird es passieren, das spüre ich mit unerklärlicher Gewissheit.

Schon schlägt er seine dunkelbraunen Augen auf, lächelt kurz mit ihnen, indem er synchron seinen linken Mundwinkel hebt, und zwinkert mir vertraut zu. Wortlos steht er auf, streckt sich und geht rüber zum Portal unserer Wohnkuppel, das nur deshalb durchsichtiger ist als die Wand, da es eine bloße Lücke ist – offen, nichtig.

„Ey, ihr Asylanten! Hey – hier drüben, wir sprechen mit euch! Seid ihr schockgefroren, angewurzelt, taubstumm oder ist sonst was Abartiges los mit euch?“

Näher ran, so bringt das doch nichts. Neugierde und Lust treiben mich weiter, auf in den abendlichen Spaß: „Mein süßes Schwesterherz und ich sind zwei krass unterschiedliche Typen, nicht wahr? Aber so dicke, dass wir wirklich fast eins sind, da hat die Kleine schon recht.“

Genug gedöst und nur zugehört, wie Yin sich abmüht, jetzt ist echte Aktion angesagt. Mehr als eine Stunde auf’m Trip und das Soma flasht mich kaum noch, hoffentlich checkt Schwesterchen das nicht. Bob hatte nur eine Dosis, Egoismus voran. Egal, was sie nicht weiß … und jetzt gibt’s ja ein Alternativprogramm: Voll daneben, das Frischfleisch, und total durch mit seiner Umwelt. Eine geile Aufgabe für mich, diese Typen werde ich mal hart aufklären. Scheiß auf die Regeln – Gesetze der sogenannten Herren, pah! – und scheiß drauf, ob die da drüben unsere Sprache sprechen, hier in Gor ist Anpassung gegen den eigenen Willen absolute Devise – also ungeschönt und echt …

„So wie ihr ausseht, checkt ihr gerade zwar eh überhaupt nichts, aber selbst wenn – dann kratzt mich das nicht, ich mach einfach mal munter weiter im Text. Ich helf euch ein wenig auf die Sprünge, vielleicht hilft‘s euch am Ende sogar.“ Lässig an die Wand gelehnt, noch nicht im Schlamm, nicht im Regen, mitten im Eingang, jetzt Ausgang.

„Eins ist von nun an anders und das müsst ihr euch von Anfang an einspeichern: Ihr, wir sind keine Menschen unter Menschen. Wir sind Sklaven unter Herren, unfrei, abhängig, kaum mehr als räudige Streuner. Einen Dreck wert, nicht total wertlos, aber nur eben so viel wie unsere Arbeitskraft. Also integriert das, besser schnell, und fügt euch. Kuscht und buckelt!“

Härter, mehr davon – die werd‘ ich schon weichkochen und wieder zum Leben erwecken. Selbst wenn sie kein Deutsch sprechen, muss meine starke Ansage irgendwie bei ihnen ankommen, sie aufrütteln … wenigstens ein Zwinkern, ein kleines Zucken – kommt schon!

Gebote über Gebote, Hauptsache es sind deren zehn

Im stillen Gedenken an die heute vor 30 Jahren kollabierte DDR, zugleich in ambivalenter Haltung gegenüber dem seinerzeit verschiedenen und seither verschollenen europäischen Sozialismus sowie im Sinnieren über Gebote, Verbote und Regeln überhaupt, präsentiere ich Euch heute im Folgenden ein Kabinett an Dekalogen.

Ich hoffe, dass für jeden Geschmack und jede Ideologie etwas dabei ist, und bin ansonsten offen für weitere Alternativen. Wäre ich im Übrigen nicht redlich müde, würde ich mich womöglich selbst an einem Quanzland-Dekalog versuchen. So aber erspare ich mir das und erhole mich stattdessen.

Mit spätnächtlichem Gruß an alle orientierungswilligen Dekalogiker, Euer Satorius


Sozialistischer Dekalog

  1. Du sollst Dich stets für die internationale Solidarität der Arbeiterklasse und aller Werktätigen sowie für die unverbrüchliche Verbundenheit aller sozialistischen Länder einsetzen.
  2. Du sollst Dein Vaterland lieben und stets bereit sein, Deine ganze Kraft und Fähigkeit für die Verteidigung der Arbeiter-und-Bauern-Macht einzusetzen.
  3. Du sollst helfen, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu beseitigen.
  4. Du sollst gute Taten für den Sozialismus vollbringen, denn der Sozialismus führt zu einem besseren Leben für alle Werktätigen.
  5. Du sollst beim Aufbau des Sozialismus im Geiste der gegenseitigen Hilfe und der kameradschaftlichen Zusammenarbeit handeln, das Kollektiv achten und seine Kritik beherzigen.
  6. Du sollst das Volkseigentum schützen und mehren.
  7. Du sollst stets nach Verbesserung Deiner Leistung streben, sparsam sein und die sozialistische Arbeitsdisziplin festigen.
  8. Du sollst Deine Kinder im Geiste des Friedens und des Sozialismus zu allseitig gebildeten, charakterfesten und körperlich gestählten Menschen erziehen.
  9. Du sollst sauber und anständig leben und Deine Familie achten.
  10. Du sollst Solidarität mit den um nationale Befreiung kämpfenden und den ihre nationale Unabhängigkeit verteidigenden Völkern üben.

Walter Ulbricht (1893 – 1973), Die zehn Gebote der sozialistischen Moral (10. – 16. Juli 1958, V. Parteitag der SED)


Mysteriöser Dekalog

  1. Halte die Menschheit unter 500.000.000 in fortwährendem Gleichgewicht mit der Natur
  2. Lenke die Fortpflanzung weise – um Tauglichkeit und Vielfalt zu verbessern
  3. Vereine die Menschheit mit einer neuen, lebenden Sprache
  4. Beherrsche Leidenschaft – Glauben – Tradition und alles Sonstige mit gemäßigter Vernunft
  5. Schütze die Menschen und Nationen durch gerechte Gesetze und gerechte Gerichte
  6. Lass alle Nationen ihre eigenen Angelegenheiten selbst/intern regeln und internationale Streitfälle vor einem Weltgericht beilegen
  7. Vermeide belanglose Gesetze und unnütze Beamte
  8. Schaffe ein Gleichgewicht zwischen den persönlichen Rechten und den gesellschaftlichen/sozialen Pflichten
  9. Würdige Wahrheit – Schönheit – Liebe – im Streben nach Harmonie mit dem Unendlichen
  10. Sei kein Krebsgeschwür für diese Erde – lass der Natur Raum – lass der Natur Raum

R. C. Christian (? – ?), Inschrift der Georgia Guidestones (1980)


Liberaler Dekalog

  1. Fühle dich keiner Sache völlig gewiss!
  2. Trachte nicht danach, Fakten zu verheimlichen, denn eines Tages kommen die Fakten bestimmt ans Licht!
  3. Versuche niemals, jemanden vom selbstständigen Denken abzuhalten, denn es wird dir gelingen.
  4. Wenn dir jemand widerspricht, und sei es dein Ehepartner oder dein Kind, bemühe dich, ihm mit Argumenten zu begegnen und nicht mit der Autorität, denn ein Sieg der Autorität ist unrealistisch und illusionär.
  5. Habe keinen Respekt vor der Autorität anderer, denn es gibt in jedem Fall auch Autoritäten, die gegenteiliger Ansicht sind!
  6. Unterdrücke nie mit Gewalt Überzeugungen, die du für verderblich hältst, sonst unterdrücken diese Überzeugungen dich!
  7. Fürchte dich nicht davor, exzentrische Meinungen zu vertreten; jede heutige Meinung war einmal exzentrisch.
  8. Freue dich mehr über intelligenten Widerspruch als über passive Zustimmung; denn wenn die Intelligenz so viel wert ist, wie sie dir wert sein sollte, dann liegt im Widerspruche eine tiefere Zustimmung.
  9. Halte dich an die Wahrheit auch dann, wenn sie nicht ins Konzept passt! Denn es passt noch viel weniger ins Konzept, wenn du versuchst, sie zu verbergen.
  10. Neide nicht denjenigen das Glück, die in einem Narrenparadiese leben; denn nur ein Narr kann das für ein Glück halten!

Betrand Russell (1872 – 1970), Die beste Antwort auf Fanatismus: Liberalismus (1951, New York Times)


Humanistischer Dekalog

  1. Proklamiert die naturgegebene Menschenwürde und den inhärenten Wert eines jeden Menschen.
  2. Respektiert Leben und Eigentum anderer.
  3. Seid tolerant und vorurteilsfrei gegenüber der Wahlfreiheit und den Lebensstilen anderer.
  4. Teilt mit denen, die weniger Glück haben als ihr, und bietet gegenseitige Unterstützung für die, die Hilfe brauchen.
  5. Beruft euch weder auf Lügen noch auf spirituelle Lehrmeinungen noch auf weltliche Macht, die auf Dominanz und Ausbeutung anderer ausgerichtet ist.
  6. Vertraut auf eure Vernunft, auf die Logik und die Wissenschaft, um das Universum zu verstehen und zur Lösung der Probleme des Lebens.
  7. Schützt und verbessert den natürlichen Raum der Erde – Land, Boden, Wasser, Luft und All –, und zwar als das gemeinsame Erbe der Menschheit.
  8. Überwindet eure Meinungsverschiedenheiten und Konflikte, ohne Gewalt auszuüben oder Kriege zu führen.
  9. Regelt öffentliche Angelegenheiten auf der Basis von individueller Freiheit und Verantwortung, mittels einer politischen und wirtschaftlichen Demokratie.
  10. Entwickelt eure Intelligenz und eure Talente durch Bildung und Fleiß.

Rodrigue Tremblay (1939 – ), The Code for Global Ethics, S. 7 (2010)


Evolutionär-humanistischer Dekalog

  1. Diene weder fremden noch heimischen „Göttern“ (die bei genauerer Betrachtung nichts weiter als naive Primatenhirn-Konstruktionen sind), sondern dem großen Ideal der Ethik, das Leid in der Welt zu mindern! Diejenigen, die behaupteten, besonders nah ihrem „Gott“ zu sein, waren meist jene, die dem Wohl und Wehe der realen Menschen besonders fernstanden. Beteilige dich nicht an diesem Trauerspiel! Wer Wissenschaft, Philosophie und Kunst besitzt, braucht keine Religion!
  2. Verhalte dich fair gegenüber deinem Nächsten und deinem Fernsten! Du wirst nicht alle Menschen lieben können, aber du solltest respektieren, dass jeder Mensch – auch der von dir ungeliebte! – das Recht hat, seine individuellen Vorstellungen von „gutem Leben (und Sterben) im Diesseits“ zu verwirklichen, sofern er dadurch nicht gegen die gleichberechtigten Interessen Anderer verstößt.
  3. Habe keine Angst vor Autoritäten, sondern den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Bedenke, dass die Stärke eines Arguments völlig unabhängig davon ist, wer es äußert. Entscheidend für den Wahrheitswert einer Aussage ist allein, ob sie logisch widerspruchsfrei ist und unseren realen Erfahrungen in der Welt entspricht. Wenn heute noch jemand mit „Gott an seiner Seite“ argumentiert, sollte das keine Ehrfurcht, sondern Lachsalven auslösen.
  4. Du sollst nicht lügen, betrügen, stehlen, töten – es sei denn, es gibt im Notfall keine anderen Möglichkeiten, die Ideale der Humanität durchzusetzen! Wer in der Nazidiktatur nicht log, sondern der Gestapo treuherzig den Aufenthaltsort jüdischer Familien verriet, verhielt sich im höchsten Maße unethisch – im Gegensatz zu jenen, die Hitler durch Attentate beseitigen wollten, um Millionen von Menschenleben zu retten. Ethisches Handeln bedeutet keineswegs, blind irgendwelchen moralischen Geboten oder Verboten zu folgen, sondern in der jeweiligen Situation abzuwägen, mit welchen positiven und negativen Konsequenzen eine Entscheidung verbunden wäre.
  5. Befreie dich von der Unart des Moralisierens! Es gibt in der Welt nicht „das Gute“ und „das Böse“, sondern bloß Menschen mit unterschiedlichen Interessen, Bedürfnissen und Lernerfahrungen. Trage dazu bei, dass die katastrophalen Bedingungen aufgehoben werden, unter denen Menschen heute verkümmern, und du wirst erstaunt sein, von welch freundlicher, kreativer und liebenswerter Seite sich die vermeintliche „Bestie“ Homo sapiens zeigen kann.
  6. Immunisiere dich nicht gegen Kritik! Ehrliche Kritik ist ein Geschenk, das du nicht abweisen solltest. Durch solche Kritik hast du nicht mehr zu verlieren als deine Irrtümer, von denen du dich besser heute als morgen verabschiedest. Habe Mitleid mit jenen Kritikunfähigen, die sich aus tiefer Angst heraus als „unfehlbar“ und ihre Dogmen als „heilig“ (unantastbar) darstellen müssen. Sie sollten in einer modernen Gesellschaft nicht mehr ernstgenommen werden.
  7. Sei dir deiner Sache nicht allzu sicher! Was uns heute als richtig erscheint, kann schon morgen überholt sein! Zweifle aber auch am Zweifel! Selbst wenn unser Wissen stets begrenzt und vorläufig ist, solltest du entschieden für das eintreten, von dem du überzeugt bist. Sei dabei aber jederzeit offen für bessere Argumente, denn nur so wird es dir gelingen, den schmalen Grat jenseits von Dogmatismus und Beliebigkeit zu meistern.
  8. Überwinde die Neigung zur Traditionsblindheit, indem du dich gründlich nach allen Seiten hin informierst, bevor du eine Entscheidung triffst! Du verfügst als Mensch über ein außerordentlich lernfähiges Gehirn, lass es nicht verkümmern! Achte darauf, dass du in Fragen der Ethik und der Weltanschauung die gleichen rationalen Prinzipien anwendest, die du beherrschen musst, um ein Handy oder einen Computer bedienen zu können. Eine Menschheit, die das Atom spaltet und über Satelliten kommuniziert, muss die dafür notwendige Reife besitzen.
  9. Genieße dein Leben, denn dir ist höchstwahrscheinlich nur dieses eine gegeben! Sei dir deiner und unser aller Endlichkeit bewusst, verdränge sie nicht, sondern „nutze den Tag“ (Carpe diem)! Gerade die Endlichkeit des individuellen Lebens macht es so ungeheuer kostbar! Lass dir von niemandem einreden, es sei eine Schande, glücklich zu sein! Im Gegenteil: Indem du die Freiheiten genießt, die du heute besitzt, ehrst du jene, die in der Vergangenheit im Kampf für diese Freiheiten ihr Leben gelassen haben!
  10. Stelle dein Leben in den Dienst einer „größeren Sache“, werde Teil der Tradition derer, die die Welt zu einem besseren, lebenswerteren Ort machen woll(t)en! Eine solche Haltung ist nicht nur ethisch vernünftig, sondern auch das beste Rezept für eine sinnerfüllte Existenz. Es scheint so, dass Altruisten die cleveren Egoisten sind, da die größte Erfüllung unseres Eigennutzes in seiner Ausdehnung auf Andere liegt. Wenn du dich selber als Kraft im „Wärmestrom der menschlichen Geschichte“ verorten kannst, wird dich das glücklicher machen, als es jeder erdenkliche Besitz könnte. Du wirst intuitiv spüren, dass du nicht umsonst lebst und auch nicht umsonst gelebt haben wirst!

Michael Schmidt-Salomon (1967 – ), Manifest des Evolutionären Humanismus, S. 156-159 (2005)


Christlicher Dekalog

  1. Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.
  2. Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes,
    nicht missbrauchen.
  3. Du sollst den Feiertag heiligen.
  4. Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.
  5. Du sollst nicht töten.
  6. Du sollst nicht ehebrechen.
  7. Du sollst nicht stehlen.
  8. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
  9. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus.
  10. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was dein Nächster hat.

GOTT, Martin Luther (Hrsg.) et al. (Nicht zuverlässig datierbar), Die Zehn Gebote. In: Die Bibel – Das Alte Testament, 2. Mose, 20 & 5. Mose, 5 (68 – 96 n. Chr.)