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Lyrische Rück- und Innenschau

Schweigsamkeit und Trägheit im Schlechten, Vaterschaft und Unternehmertum im Guten halten mich derweil offensichtlich davon ab, Quanzland im Besonderen wie dem Schreiben im Allgemeinen Zeit zu widmen. Trotzdem finde ich, nein, nehme ich mir weiterhin die Zeit – raube sie vornehmlich meinem Schalf -, um insbesondere seriesastische und bellestristische Streifzüge zu unternehmen. Was ich dabei jedoch so alles entdecke, genieße ich nunmehr vornehmlich im Stillen.

Dennoch gibt es Ausnahmen, fühle ich mich bisweilen berufen, je und je – wie der werte verehrte Autor sich auszudrücken pflegte – aufgerufen, meine Erfahrungen mitzuteilen also hier und heute farbenfroh mit Euch zu teilen.

Die aktuelle Lektüre eines Meisterwerks von einem Meister seiner Zunft lies mich soeben auf ein lyrisches Tripel stoßen, das mich zutiefst bezaubert hat; womöglich weil ich mich davon betroffen geradezu angesprochen fühle. Ob Zufall oder Schicksal sei dahingestellt, doch die drei Gedichte und insgesamt die Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht zwingen mich zur Reflexion über meinen eigenen Werdegang, allem voran die Dekade von 20 bis 30, die ich in der pädagogischen Provinz von Philosophie, Psychologie und Politikwissenschaft verbracht habe.

Mittlerweile als Lehrer, also buchstäblicher Magister, in die nächste Stufe emporgestiegen, gereift und gealtert, entdecke ich zugleich mit Freude und Genugtuung die neuen Gestaltungsmöglichkeiten eines zwischenzeitlich ebenfalls gereiften Editors und kann nicht umhin, Euch experimentell mit den neuen Freiheiten der Formatierung zu belästigen.

Im Schwange der Mitteilungslust und mit dem Schwung mitternächtlicher Musen grüßt, Euer Satorius


Klage

Uns ist kein Sein vergönnt. Wir sind nur Strom,
Wir fließen willig allen Formen ein:
Dem Tag, der Nacht, der Höhle und dem Dom,
Wir gehn hindurch, uns treibt der Durst nach Sein.

So füllen Form um Form wir ohne Rast,
Und keine wird zur Heimat uns, zum Glück, zur Not,
Stets sind wir unterwegs, stets sind wir Gast,
Uns ruft nicht Feld noch Pflug, uns wächst kein Brot.

Wir wissen nicht, wie Gott es mit uns meint,
Er spielt mit uns, dem Ton in seiner Hand,
Der stumm und bildsam ist, nicht lacht noch weint,
Der wohl geknetet wird, doch nie gebrannt.

Einmal zu Stein erstarren! Einmal dauern!
Danach ist unsre Sehnsucht ewig rege,
Und bleibt doch ewig nur ein banges Schauern,
Und wird doch nie zur Rast auf unsrem Wege.
Entgegenkommen

Die ewig Unentwegten und Naiven
Ertragen freilich unsre Zweifel nicht.
Flach sei die Welt, erklären sie uns schlicht,
Und Faselei die Sage von den Tiefen.

Denn sollt es wirklich andre Dimensionen
Als die zwei guten, altvertrauten geben,
Wie könnte da ein Mensch noch sicher wohnen,
Wie könnte da ein Mensch noch sorglos leben?
 
Um also einen Frieden zu erreichen,
So laßt uns eine Dimension denn streichen!
 
Denn sind die Unentwegten wirklich ehrlich,
Und ist das Tiefensehen so gefährlich,
Dann ist die dritte Dimension entbehrlich.
Doch heimlich dürsten wir . . .

Anmutig, geistig, arabeskenzart
Scheint unser Leben sich wie das von Feen
In sanften Tänzen um das Nichts zu drehen,
Dem wir geopfert Sein und Gegenwart.
 
Schönheit der Träume, holde Spielerei,
So hingehaucht, so reinlich abgestimmt,
Tief unter deiner heitern Fläche glimmt
Sehnsucht nach Nacht, nach Blut, nach Barbarei.
 
Im Leeren dreht sich, ohne Zwang und Not,
Frei unser Leben, stets zum Spiel bereit,
Doch heimlich dürsten wir nach Wirklichkeit,
Nach Zeugung und Geburt, nach Leid und Tod.

Hermann Karl Hesse (1877 – 1962), Das Glasperlenspiel (1943)