Text-Fast-Food

Lyrische Rück- und Innenschau

Schweigsamkeit und Trägheit im Schlechten, Vaterschaft und Unternehmertum im Guten halten mich derweil offensichtlich davon ab, Quanzland im Besonderen wie dem Schreiben im Allgemeinen Zeit zu widmen. Trotzdem finde ich, nein, nehme ich mir weiterhin die Zeit – raube sie vornehmlich meinem Schalf -, um insbesondere seriesastische und bellestristische Streifzüge zu unternehmen. Was ich dabei jedoch so alles entdecke, genieße ich nunmehr vornehmlich im Stillen.

Dennoch gibt es Ausnahmen, fühle ich mich bisweilen berufen, je und je – wie der werte verehrte Autor sich auszudrücken pflegte – aufgerufen, meine Erfahrungen mitzuteilen also hier und heute farbenfroh mit Euch zu teilen.

Die aktuelle Lektüre eines Meisterwerks von einem Meister seiner Zunft lies mich soeben auf ein lyrisches Tripel stoßen, das mich zutiefst bezaubert hat; womöglich weil ich mich davon betroffen geradezu angesprochen fühle. Ob Zufall oder Schicksal sei dahingestellt, doch die drei Gedichte und insgesamt die Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht zwingen mich zur Reflexion über meinen eigenen Werdegang, allem voran die Dekade von 20 bis 30, die ich in der pädagogischen Provinz von Philosophie, Psychologie und Politikwissenschaft verbracht habe.

Mittlerweile als Lehrer, also buchstäblicher Magister, in die nächste Stufe emporgestiegen, gereift und gealtert, entdecke ich zugleich mit Freude und Genugtuung die neuen Gestaltungsmöglichkeiten eines zwischenzeitlich ebenfalls gereiften Editors und kann nicht umhin, Euch experimentell mit den neuen Freiheiten der Formatierung zu belästigen.

Im Schwange der Mitteilungslust und mit dem Schwung mitternächtlicher Musen grüßt, Euer Satorius


Klage

Uns ist kein Sein vergönnt. Wir sind nur Strom,
Wir fließen willig allen Formen ein:
Dem Tag, der Nacht, der Höhle und dem Dom,
Wir gehn hindurch, uns treibt der Durst nach Sein.

So füllen Form um Form wir ohne Rast,
Und keine wird zur Heimat uns, zum Glück, zur Not,
Stets sind wir unterwegs, stets sind wir Gast,
Uns ruft nicht Feld noch Pflug, uns wächst kein Brot.

Wir wissen nicht, wie Gott es mit uns meint,
Er spielt mit uns, dem Ton in seiner Hand,
Der stumm und bildsam ist, nicht lacht noch weint,
Der wohl geknetet wird, doch nie gebrannt.

Einmal zu Stein erstarren! Einmal dauern!
Danach ist unsre Sehnsucht ewig rege,
Und bleibt doch ewig nur ein banges Schauern,
Und wird doch nie zur Rast auf unsrem Wege.
Entgegenkommen

Die ewig Unentwegten und Naiven
Ertragen freilich unsre Zweifel nicht.
Flach sei die Welt, erklären sie uns schlicht,
Und Faselei die Sage von den Tiefen.

Denn sollt es wirklich andre Dimensionen
Als die zwei guten, altvertrauten geben,
Wie könnte da ein Mensch noch sicher wohnen,
Wie könnte da ein Mensch noch sorglos leben?
 
Um also einen Frieden zu erreichen,
So laßt uns eine Dimension denn streichen!
 
Denn sind die Unentwegten wirklich ehrlich,
Und ist das Tiefensehen so gefährlich,
Dann ist die dritte Dimension entbehrlich.
Doch heimlich dürsten wir . . .

Anmutig, geistig, arabeskenzart
Scheint unser Leben sich wie das von Feen
In sanften Tänzen um das Nichts zu drehen,
Dem wir geopfert Sein und Gegenwart.
 
Schönheit der Träume, holde Spielerei,
So hingehaucht, so reinlich abgestimmt,
Tief unter deiner heitern Fläche glimmt
Sehnsucht nach Nacht, nach Blut, nach Barbarei.
 
Im Leeren dreht sich, ohne Zwang und Not,
Frei unser Leben, stets zum Spiel bereit,
Doch heimlich dürsten wir nach Wirklichkeit,
Nach Zeugung und Geburt, nach Leid und Tod.

Hermann Karl Hesse (1877 – 1962), Das Glasperlenspiel (1943)

Populismus, Populismus und nochmal: Populismus

In seinem Plädoyer für eine Neufassung nationaler Identitäten mit einer Orientierung am Gemeinwohl auf die Elemente einer solchen idealen Nation ohne Nationalismus befragt, antwortet der Denker, der in den 90er-Jahren vom „Ende der Geschichte“ sprach, wie bald folgend. Dass er im Übrigen von der Geschichte des 21. Jahrhunderts eines besseren belehrt wurde und weiterhin wird, ist hier ein historisch nicht unwesentliches Hintergrundgetöse.

Hören wir hier zunächst genauer hin: Denn für diese kritische Eingangsbehauptung seien als Belege kurz verwiesen auf den Trump-Effekt, das Straucheln der EU-Integration – Stichwörter hierzu: Brexit, Verfassungsvakuum, Visegrád-Komplott und neoliberaler Lobbyismus – sowie das ökonomische und ideologische (Wieder-)Erstarken des globalen Nicht-Westens, repräsentiert allen voran durch China, Indien und teilweise auch Rußland.

Vor allem aber muss Fukumyama sich der Heimsuchung durch das uralte Schreckgespenst, welches die Demokratie seit ihrer antiken Geburtsstunde im vorchristlichen Griechenland bedroht, erwehren, eines Dämons, welcher mit den Waffen moderner Informationstechnologie bewehrt zu neuer Potenz erstarkt; die Rede ist von der Diktatur der dummen, weil manipulierbaren und unvernünftig wählenden, Massen, kurzum dem Populismus. Um diese Entität nachdrücklich zu beschwören, wage ich eine schriftliche Evokation: Populismus und nochmals Populismus.

Wie also reagiert der große Vordenker des vermeintlichen historischen Globaltriumphs liberaler Demokratien auf diese alte und neue Herausforderung unserer Gemeinswesen; was stellt er ihm entgegen?


Man braucht eine demokratische und freiheitliche, nationale Identität. Sie muss für Menschen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund zugänglich sein, die unterschiedliche religiöse Ansichten haben, aber einen gemeinsamen Glauben an die demokratischen Institutionen. Das ist es, was ich im Deutschen als „Verfassungspatriotismus“ bezeichne; das ist also der Kern.

Aber was man braucht, ist ein starke emotionale Bindung. So wie sie die „Nation“ im 19. Jahrhundert hatte. Wir wollen nicht zu diesem blinden Patriotismus zurückkehren, der auf Rasse und Ethnizität basierte; aber wir brauchen ein gewisses Engagement, nicht nur eine intellektuelle Verpflichtung [@Satorius: „comittment“ im englischen Originaltext] sondern eine Verpflichtung der ganzen Person. Und das bedeutet, dass wir Symbole brauchen, die eine Nation zusammenhalten, gemeinsame Erfahrungen.

Und das ist der schwierige Teil dessen, was man „demokratische Nationenbildung“ nennen würde: Die Nation stark genug zu machen, dass sie diese emotionale Bindung erreicht, aber doch nicht so stark, dass sie zu Aggression und Ausgrenzung führt.

Francis Fukuyama (1957 – ), Gespräch unter dem Titel „Populismus – Ende der Demokratien?“, in: Precht – 31.03.2019, ZDF, 22:47-24:07 (Direktlink: https://www.zdf.de/gesellschaft/precht/precht-populismus–ende-der-demokratien-richard-david-precht-im-gespraech-mit-francis-fukuyama-100.html)


Exakt diese Gratwanderung erscheint mir dieser Tage und seit mindestens einer Dekade ein Balanceakt sui generis zu sein: Denn auf der einen Seite des schmalen Pfads droht er, der Populismus, also in Konsequenz brutale Polarisiserung, soziale Fragmentierung und fluchtartige Privatisierung, auf der anderen Flanke hingegen locken die utopischen Verheißungen dessen, was Fukuyama oben – mehr in negativer Abgrenzung abgeleitet, denn in positivem Entwurf kühn und kreativ entworfen – als eine neue Form des „demokratischen“ Nationalismus beschreibt.

Aber wo in dieser unserer aktuellen Lebenswelt gelingt dieses zivilisatorische Paradestück, möchte ich im Angesicht der enttäuschten Hoffnungen fragen, welche uns die großen Demokratien des sog. Westens letzthin bereitet haben. Eine bisweilen und notwendig offene Fragestellung, die ich in ihrer Komplexität und Interdisziplniarität nicht beantworten, sondern mit Nachdruck stellen möchte. Da ich nicht vom Ende irgendeiner Geschichte sprechen kann, und sei es auch nur aus rhetorischem Kalkül, bleibt also fraglich, wie wir, wie ihr mit dieser Anforderung zurechtkommt – im politischen Diskurs ebenso wie im privaten Alltag.

Wenn wir also immerhin einen der vielen Feinde des demokratischen Fortschritts (, die im Übrigen buchstäblich Legion sind: Lobbyismus, Klimawandel, Demografie, Digitalisiserung, etc.) benannt haben, dann will ich abschließend doch wenigstens noch zwei überblicksartige Quellen anbieten, durch die das besagte, titelgebende Schreckgespenst weniger ominös, weniger diffus und mysteriös und damit greifbarer wird. Denn nur das, was man beginnt zu reflektieren und zu analysieren, kann solcherart zuerst erkannt und frühestens sodann gebannt werden – wenn überhaupt.

Jeder kennt ihn, ist er doch in aller Munde, aber was genau ist Populismus, dieser spezifisch moderne, neue Populismus, der uns Demokraten weltweit heimsucht, heraus- und womöglich überfordert?

Mit nächtlich-diskursivem Gruß, Euer Satorius


  1. „Wir sind das Volk“
  2. „Die Macht der Sprache“
  3. „Das Spiel mit der Angst“
  4. „Aufmerksamkeit um jeden Preis“
  5. „Verschwörungstheorien“
  6. „Fake News“
  7. „Wirkungsvolle Inszenierung“

ZDF (1963 – ), Die sieben größten Tricks der Populisten (Direktlink: https://www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/gefahr-von-rechts-die-sieben-groessten-tricks-der-populisten-100.html)


Die sechs Merkmale des Populismus:

  1. „Das gute Wir“
  2. „Das böse andere“
  3. „Der politische Superman“
  4. „Der sprachliche Terror“
  5. „Die großen Gefühle“
  6. „Der bewusste Stilbruch“

Stefan Petzner (1981 – ), Trump to go. Eine kurze Erklärung, wie Populismus funktioniert, passim

Wider den Menschen

Patient (Sitting in a circle of a group therapy): I tell myself God has a plan for everyone. Maybe I just haven’t seen it yet.

William Delos: God? God’s fucking plan? Do you believe in Santa Claus, too?

Dr. Lang: All right, William. Do you want to share more of your thoughts with us?

Willam Delos: My thoughts? … Okay. I think … humanity is a thin layer of bacteria on a ball of mud hurtling through the void. I think if there was a god, he would’ve given up on us long ago. He gave us a paradise and we used everything up. We dug up every once of energy and burned it. We consume and excrete, use and destroy. Then we sit here on a neat pile of ashes, having squeezed anything of value out of this planet, and we ask ourselves: „Why are we here?“ You wanna know what I think your purpose is? It’s obvious. You’re here along with the rest of us, to speed the entropic death of this planet. To service the chaos. We’re maggots eating a corpse!

(Woman sobbing)

Patient: What the fuck is wrong with you?

William Delos (Chuckling first, then laughting out. Fade out …)

William Delos (Eward Allen Harris), in: Decoherence Westworld (Staffel 3, Episode 6, 6:09 – 8:00)



Spieglein, Spieglein in meiner Hand, wer ist die schlechteste Gattung im ganzen Land? Die Wespen, die Tauben, die Ratten, vielleicht die Mücken, wären hierzu wohl die meistgenannten Antworten, wenn man „100 Leute auf der Straße fragte“, wie es dereinst bei Ruckzuck immer so schön hieß. Bei der Frage nach der besten Spezies wäre im Gegenzug wohl der Mensch unangefochten auf Platz 1, gefolgt von unseren liebsten Haustiere Hund und Katz oder Kandidaten wie Bienen, Delphine oder Pferde. Nach Kriterien für diese Einstufung zu fragen, erspare ich mir und Euch mal gediegen, denn so sachlich bin ich heute einfach nicht aufgelegt.

So sind wir biblisch gesprochen doch Gottes Ebenbilder, die Krone der Schöpfung gar, und deshalb berufen, über die Schöpfung zu wachen. Zugleich sind wir aber auch übermäßig neugierig, ungehorsam, selbstgefällig und solcherart (erb-)sündig, sodass wir kurzhand aus dem Paradies verbannt und auf den Planeten gesetzt wurden. Andere Religionen sind da ebenso ambivalent und trauen uns alles im Spektrum von „heilig“ bis „verdorben“ zu. Anthropologie und Philosophie, Psychologie und Soziologie, Geschichts- und Poltikwissenschaft differenzieren die Menschheit gleichmaßen schonungslos, ob bloß empirisch oder sogar normativ. Die Bilanz bleibt wenigstens durchwachsen, fällt bisweilen tendenziell doch eher pessimistisch aus.

Und trotzdem möchte ich, wie eingangs bereits behauptet, spekulieren, mögen sich die meisten selbst recht gerne, halten unsere Gattung für gut, fortschrittlich, zivilisiert und dergleichen mehr. All diesen Menschen halte ich die obigen Quellen entgegen, fordere sie auf bar jeder Illusion und ohne Euphemismen mit sich und uns ins Gericht zu gehen. Sind wir wirklich gut im breiten Sinne dieses diffusen Wortes?

Mit selbstkritischem Gruße, Euer Satorius

Ihr könnt schauen, was ihr wollt, aber: Dark

An Freiheit des Menschen im philosophischen Sinne glaube ich keineswegs. Jeder handelt nicht nur unter äußerem Zwang, sondern auch gemäß innerer Notwendigkeit. Schopenhauers Spruch: ´Ein Mensch kann zwar tun, was er will, aber nicht wollen, was er will`, hat mich seit meiner Jugend lebendig erfüllt und ist mir beim Anblick und beim Erleiden der Härten des Lebens immer ein Trost gewesen und eine unerschöpfliche Quelle der Toleranz […]. Nach dem Sinn oder Zweck des eigenen Daseins sowie des Daseins der Geschöpfe überhaupt zu fragen, ist mir von einem objektiven Standpunkt aus stets sinnlos erschienen. Und doch hat andererseits jeder Mensch gewisse Ideale, die ihm richtunggebend sind für das Streben und für das Urteilen.

Albert Einstein (1879 – 1955), Mein Weltbild, S. 416.


Sanfter Trommelwirbel, ein zögerlicher Tusch und verhaltener Applaus tönen durch den digitalen Äther – Quanzlands lebt noch, ich lebe noch:

Urspünglich wollte ich Schopenhauers aphoristischen Ausspruch zur Willensfreiheit zitieren, musste dann jedoch rasch feststellen, dass dieses Zitat bloß vermeintlich von dem verehrten Philosophen stammt, sondern nachweislich eine Verdichtung Albert Einsteins ist, der darin Schopenhauers Philosophem, wenn auch treffend, zusammenfasst.

Soviel als Auftakt – aber warum komme ich überhaupt darauf und was zur Hölle, oder für die Gottlosen unter Euch: was zum Geier, war denn in letzter Zeit bei mir und mit Quanzland los? Klar ist, dass dieser Blog heftig brach lag, während ich mich zeitgleich in einem intellektuellen Ödland herumgetrieben und wenig bis keinen Text hervorgebracht habe.

Offen gestanden kann ich bisweilen nicht einmal tun, was ich will, noch gar vermag ich, zu wollen, was ich will. So weit, so abstrakt – konkret hätte ich in den letzten zwei Jahren hier gerne hunderte von Artikeln platziert und unterdessen mindestens einen Roman und obendrauf ein Dutzend kleinere Textprojekte vorangebracht und abgeschlossen. Aber das Leben hat so seine Eigendynamik(en) und der Wille – hehren Idealen, schönen Utopien und schnöden Vorsätzen zum Trotz – ist und bleibt ein diffuses, unstetes und sonderbares Wesen. Da kann man sich, kann ich mir noch so viel vorstellen, es gibt Bedingungen und Bewegungen unter, außer und über meinem kleinen Ich, die überwältigend und unterminierend sein können; wobei sich mir hierzu die geläufige Metapher vom Ich als Schiffbrüchigem, geklammert an eine winzige Planke inmitten eines endlos scheinenden Ozeans, assoziativ aufdrängt, den dort die Wogen des Meeres bisweilen stürmisch umtoben, der von der schwarzen Tiefe, unermesslich und unergründlich, bedroht wird, ständig in Angst vor dem Unbekannten unter ihm, stets in Furcht vor dem Ertrinken und Verhungern.

Gründe für meinen literarischen Verzicht, gute wie schlechte, gibt es Legion: Vaterschaft, Lust- und Disziplinlosigkeit, Selbstständigkeit, (Zerstreuungs-)Sucht, ein kürzlicher Umzug und eine unbegreiffliche und manchmal unkontrollierbare Werkangst. In der Summe blieb also wenig Zeit und Lust zum Schreiben, gab es viele Hemmnisse und Widerstände.

In einer solchen Situation verfängt der Schopenhauersche Determinismus, tendenziell fatalistisch, reflexiv natürlich optimal, macht er uns doch etwas freier von der Last der utopischen Verantwortung. Einer Verantwortung für all das, was wir irgendwie wollen, irgendwie aber auch nicht, weil wir aus welchen Gründen auch immer nicht dazu kommen, verhindert und gehemmt sind. Ich stelle mir etwas Zukünftiges, moralisch positiv und logisch auch negativ gemeint, vor, will etwas erreichen oder unterlassen, aber dann kommt es anders.

Nun aber genug vom zutiefst persönlichen Hinter- und Untergrund, zurück zur Oberfläche des vermeintlichen Schopenhauer- letztlich aber doch Einstein-Zitats und dessen seriastischen Kontext. Denn immerhin passiv-rezeptiv bleibt für mich Fiktionales, Literatur und Film bzw. vor allem Serie, gewiss zeitlebens wichtig und alltagsprägend. Kurzum, ich habe neuerlich abermals viele nahezu ausnahmslos gute Serien „gebinged“: Utopia, Game of Thrones, Altered Carbon, The Expanse, 100, Twin Peaks, Westworld, The Witcher, Lost in Space, Haus des Geldes, (Fear) The Walking Dead, Black Mirror, um die Wesentlichen und neuesten zu nennen, und eben auch und nicht zuletzt Dark, dessen dritte und zugleich letzte Staffel verheißungsvoll mit unserem einschlägigen Fehlzitat eröffnet wird.

Diese Serie, ihres Zeichens die erste deutsche Netflix-Produktion, hat mich unterdessen besonders gefesselt. Nicht nur, weil sie ein furioser Genremix aus Mystery, Science-Fiction, Horror und Drama, gewürzt mit einer wohldosierten Prise Soap-Opera, ist, sondern weil sie atmopspährisch immens dicht und zumindest bis in die dritte Staffel hinein rezeptive wie intellektuell durchaus anspruchsvoll daherkommt. Bisweilen übertrieben, krud und verworren, schauspielerisch nicht immer grandios, hatte ich dennoch immer den Gesamteindruck einer gelungenen Erzählung. Trotz aller Unwirtlichkeit und Unwirklichkeit bin ich in Winden, dem fiktionalen Ort der Geschehnisse, heimisch geworden, habe mich mit den vielen Figuren, gleich ob Protagonist, Antagonist oder Nebenfigur – eine Differenzierung zumal, die hier höchst brisant bis interessant ausfällt -, angefreundet. Folge für Folge dringt man tiefer ein in die anfangs undurchdringlich scheinende Dunkelheit, enträtselt dabei ein spannendes Mysterium, lernt eine kuriose bis groteske Stadt und ihre dementsprechenden Bewohner kennen, insbesondere die vier zentralen Familie Kahnwald, Nielsen, Tiedemann und Doppler, und verstrickt sich in einen komplexen Plot voller Wendungen, Blendungen, Tief- und Höhepunkten. Was soeben beinahe wie allglattes Marketing klingt, formuliere ich authentisch und taktisch zugleich, denn mehr zum Inhalt zu sagen, wäre töricht und unangemessen, will ich Euch hiermit doch ermuntern, die Serie so zu schauen, wie es meines Erachtens ideal ist: neugierig, naiv und nichtsahnend.

Also nur Mut, denn 26 Folgen in drei Staffeln mit einer durchschnittlichen Spielzeit von einer Stunde pro Folge bleibt greiffbar und erschlagen selbst Serienmuffel nicht durch allzu viel epische Quantität. Ich jedenfalls kann mir gut vorstellen, dass Dark nach Akte X die zweite Serie überhaupt werden könnte, die ich ein zweites Mal schauen werde. Sofern nicht mein Wille und meine Vorstellungen in Zukunft verwirklicht werden und ich stattdessen schreibe, schreibe und noch mehr schreibe. Ich jedenfalls bin gespannt darauf, denn man weiß ja nie genau worauf – komme also, was da will.

Gefangen in der Mitte zwischen Determinismus und Willensfreiheit grüßt, Euer Satorius

Mit Lyrik wider den sog. Winter

Mein literarisches Licht leuchtet weniger als leise, beinahe unhörbar und stumm ist es geworden. Quanzland ruhet sanft im tristen Winterschlaf, auch wenn der aktuelle, sogenannte Winter nicht mehr das ist, was er einstmals gewesen ist. Kühl bisweilen, ja, dann wieder lauwarm, nass und unangenehm, nie aber wirklich winterlich: kalt, starr, weiß, klar und rau.

Über den Rest der großen Welt, die wichtigen Neuigkeiten vom Tage, der Wochen und dem Quartal, allessamt abgeschmackt und lau, weniges tragisch und zumeist theatralisch, gelüstet es mich zu schweigen, dies überhaupt zu sagen, ist beinahe zu viel des Richtigen im Falschen. Also unterlasse ich nunmehr desweiteren melancholische Banalitäten und lasse Lyrik meine Stimmung nachzeichnen und aufhellen.

Schreiblahm grüßt, Euer Satorius


Hart stoßen sich die Wände in den Straßen,

Vorn Licht gezerrt, das auf das Pflaster keucht,

Und Kaffeehäuser schweben im Geleucht

Der Scheiben, hoch gefüllt mit wiehernden Grimassen.

Wir sind nach Süden krank, nach Fernen, Wind,

Nach Wäldern, fremd von ungekühlten Lüsten,

Und Wüstengürteln, die voll Sommer sind,

Nach weißen Meeren, brodelnd an besonnte Küsten.

Wir sind nach Frauen krank, nach Fleisch und Poren,

Es müßten Pantherinnen sein, gefährlich zart,

In einem wild gekochten Fieberland geboren.

Wir sind versehnt nach Reizen unbekannter Art.

Wir sind nach Dingen krank, die wir nicht kennen.

Wir sind sehr jung. Und fiebern noch nach Welt.

Wir leuchten leise. – Doch wir könnten brennen.

Wir suchen immer Wind, der uns zu Flammen schwellt.

Ernst Wilhelm Lotz (1890 – 1914), Hart stoßen sich die Wände in den Straßen (1913)

Unsere Demokratie

Die Räte sagen: Wir wollen mitbestimmen. Wir wollen unsere Stimme irgendwo in der Öffentlichkeit zu Gehör bringen. Da das Land zu groß ist, dass alle zusammen mitbestimmen können, brauchen wir einen öffentlichen Raum innerhalb dieses Landes. Die Zelle, in der wir unsere Stimmzettel abgeben, ist zweifellos zu klein, denn in dieser Zelle ist Platz nur für einen. Die Parteien sind dafür ganz ungeeignet; da sind wir doch nur Stimmvieh. Wenn aber auch nur zehn Leute um den Tisch sitzen, da sagt jeder seine Meinung, da hört jeder die Meinung des anderen, da kann eine vernünftige Meinungsbildung durch den Austausch von Meinungen stattfinden.

Hannah Arendt (1906 – 1975), Macht und Gewalt, S. 132f. (1970)


Soso, das sagen also die Räte über das Ideal politischen Handelns. Wenn ihre Mitglieder weder arbeiten noch herstellen müssen, dann bestimmen sie kollektiv mit, bilden sich unterdessen öffentlich und wechselseitig im freien Diskurs ihre Meinung und ermächtigen delegierend schließlich eine Regierung, die an der Spitze einer vielstufigen Pyramide die Ausführung des Volkswillens mit dem Ziel des Gemeinwohls unternimmt. So ungefähr jedenfalls verstehe ich Arendts utopischen Entwurf. Kenner nennen dieses Ideenbündel sogar eine Demokratietheorie, wobei ich als Laie, der nur Fragmente des Primärtextes kennt, eher von einer Machttheorie mit praktisch-politischen Randbemerkungen sprechen würde.

Was würden jene ominösen Räte wohl von der modernen Demokratie denken, wie wir sie heutzutage weltweit entdecken und vor Ort hautnah erleben; wie würden sie uns bezeichnen, wenn wir alle zwei bis fünf Jahre in einer kleinen Zelle respektive gemütlicher per Brief, wie ich es übrigens bevorzuge, unsere paar Kreuze machen oder komplexer Weise unsere Stimmen verteilen und bündeln? Etwa auch als bloßes Stimmvieh, das meistens ganz ungeeignete Parteien und ihre Mitglieder, also vornehmlich Berufspolitiker, als Repräsentanten erwählt und in die fernen Parlamente entsendet, sich selbst aber kaum noch um politische Bildung, ernsthafte zwischenmenschliche Meinungsbildung und lebendige Partizipation bemüht – von konkreter Gesaltung gar nicht zu sprechen?

Aus dieser utopischen, genauer direkt- und basisdemokratischen – verwirrenderweise mitunter als sozialistisch diffarmierten – Warte betrachtet, wird das Urteil über Status und Qualität der zeitgenössischen Demokratie wohl recht eindeutig negativ ausfallen müssen, von wenigen Ausnahmen wie bspw. der Schweiz mal abgesehen. Zumal die Bedingungen sich zusätzlich nochmals verschärft haben: Die Skalierung des Systems wurde mit Abermillionen Bürgern maximiert, im Angesicht kollossaler Bürokratien sowie einem unüberschaubaren Institutionengeflecht hat sich die Lage überdies kompliziert und zuletzt wurden vor dem Hintergrund eines globalisierten Kapitals die vielen (Volks-)Souveräne fragmentiert und dadurch marginalisiert.

Ist also tatsächlich etwas faul im demokratischen System, es insgesamt womöglich aus dem Fugen geraten und in uferlose wie beliebige Anonymität abgedriftet? Sind wir tatsächlich müde und desinteressiert, desillusioniert und abgelenkt?

Ich fürchte, an dieser Diagnose ist durchaus was dran! Wenn ich es mir recht überlege, so zolle auch ich nach 18 Jahren des Wählens und versuchten Politisch-Seins diesem unerfreulichen Urteil von Seiten der Arendtschen Räte prinzipiellen Respekt sowie leider sogar Sympathie und Zustimmung.

Denn was heißt es heutzutage qualitativ, wenn man „politisch“ oder sogar „politisch-aktiv“ ist, auf wen treffen diese Attribute quantitativ überhaupt zu? In nüchternen Zahlen hinzugedacht, dass eine Wahlbeteiligung von rund 70% bereits als „herausragend hoch“ kommentiert wird, sie sich aber tendenziell eher in Richtung 50% entwickelt, und, dass wenig mehr als 1% der Bevölkerungen Mitglieder einer Partei, des trotzdem weiterhin wichtigsten Akteurs im System, sind, geben diese Zahlen, so inhaltsinvariant sie zumal noch sind, nicht eben Anlass zu Zufriedenheit, Optimismus und großer Hoffnung.

Das Zoon politikon des 21. Jahrhunderts scheint nicht mehr allzu politisch zu sein, weit weniger an gemeinsamem Handeln als Basis echter Macht interessiert zu sein, als notwendig oder auch nur gut für das Funktionieren einer legitimen Demokratie sein dürfte. Herrschaft und Souveränität verlieren an Reiz, öffentlicher Diskurs scheint vielen zu zeitrauben, zu unbequem, zu anstrengend, wo doch die Regelung der eigenen Bedürfnisse und Angelegenheit, das Privatleben also, schon so viel Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, von Karriere und Kunst, Status und Prestige ganz zu schweigen. Der zentrale Wert der Freiheit wird als Freizeit uminterpretiert, nicht als Auftrag und Gelegenheit, freizügig und freiwillig seine Meinung zu bilden, sie einzubringen und auch durch Argumente andere selbstlos verändern zu lassen. Schlimmstenfalls ist das Thema Politik Anlass für große Emotionen, tiefe Gräben oder gar für Tabus – drei extreme Umgangsformen, die ich allesamt mehrfach und erquicklich selbst erlebt und erlitten habe.

Wie dem auch sei, es gibt jedenfalls viele Widerstände gegen echte Demokratie. Sogar womöglich noch weitere Angriffspunkte als die angerissenen allgemeinen Aspekte, die dann aber zugegebenermaßen hochfiktional und spekulativ überspitzt daherkommen. So bin ich per Zufall, Wochen nachdem ich diesen Artikel in seiner Rohform verfasst hatte, auf folgenden Dialog in einem Hörspiel gestoßen, das ich gerne gelegentlich verfolge:


Erikson: „Die Jugend [@Satorius: Gemeint sind damit die eigentlichen Protagonisten der Serie, die bei ihren Recherchen zum einschlägigen Thema von den zwei Verschwörern belauscht werden] hat selbst die Metapher vom Hirten und den Schafen gebraucht, die doch so treffend die Rechtfertigungsideologie beschreibt: Schafe brauchen einen Anführer, der sie beschützt und behütet; und das Volk – liebste F. – mag zwar aus Menschen bestehen, doch sie gebärden sich bekanntermaßen wie dumme Schafe.“

F.: „Es ist kein Geheimnis, dass die Menschheit zum allergrößten Teil aus Herdentieren besteht. Auf unserer Erde gibt es nur wenige wahre Anführer; der Großteil ist damit zufrieden, brav zu folgen.“

Erikson: „Es war keine einfache Aufgabe, aber die vergangenen Jahrhunderte haben zu unserer heutigen Regierungsform geführt. Um Voltaire zu paraphrasieren: Das Volk ist irrational, triebhaft und rationalen Argumenten nicht zugänglich; die Eliten hingegen …“

F.: „… ja, wir übernehmen die Verantwortung und besitzen genügend Weisheit, Zeit und Geld, um eine schützende Hand über die triebhafte Herde legen zu können. Doch wie erreicht man diesen Zustand, Erikson?“

Erikson [freundlos lachend]: „Soll das ein Test sein? Gut! Ich spiele mit: … natürlich, indem man die Demokratie soweit entleert, dass sie nur noch auf den bloßen Wahlakt beschränkt ist – eine perfekte Illusion, dass man den Hirten selbst wählen könne. Denn alle potentiellen Hirten werden natürlich von uns gestellt. Aber selbst der bloße Wahlgang scheint den meisten Schafen bereits zu aufwändig zu sein, wenn man die Wahlbeteiligung der letzten Jahre in fast allen demokratischen Staaten betrachtet.“

F.: „Doch dieser Zustand ist nicht vom Himmel gefallen: Kontinuierliches Demokratiemanagement ist das Stichwort – Brot und Spiele, wenn Sie so wollen. Opium für das Volk, wie Karl Marx bereits in seiner Religionskritik sagte. Schafe wollen abgelenkt werden, egal ob durch Religion, Konsum, Sportereignisse oder Skandale der High Society. Und sie überlassen die lästigen Aufgaben gerne denen, die sich dazu berufen fühlen oder besser geeignet scheinen.“

Erikson [lachend]: „Zum Beispiel uns …“

F.: „… zum Beispiel uns. [Gläser, die angestoßen werden, klirren, malizöses Lachen von beiden]

Catherine Fibonacci (? – ), Offenbarung 23Demokratie, Folge 86: Track 11, 1:00 – Track 12, 1:40 (2019)


Im weiteren Verlauf dieser Folge ist zudem die Rede von der Macht des kalkuliert gesäten Zweifels an demokratiefreundlicher Kritik besagter Widerstände, wie sie wohl auch die Räte laut werden ließen, gäbe es sie denn. Wie auch weiterführend davon gesprochen wird, dass Minderheiten (Muslime, Juden, Arbeitslose, Migranten, etc.) als Sündenbock diffamiert werden und so zum Ziel potentiell demokratieförderlicher Energien und Aktivitäten gemacht werden, sodass der Bürger statt positiver Selbstermächtigung und – regierung, negativ gewendet, fixiert und damit politisch abgelenkt werden.

Auch wenn es hierbei definitiv verschwörungstheoretisch und eher narrativ als deskriptiv zugeht, so bespricht diese Episode neben den zuvor besagten, weitere denkbare Stressoren unserer Demokratie, durch die insgesamt das Arendtsche Ideal einer Herrschaft für das Volk durch das Volk in Zweifel gezogen werden kann: Propaganda, negative Massenpsychologie und pessimistische Anthropologie sowie der Egoismus und Paternalismus konspirativer Eliten.

Alles in allem gibt es also eine breite Phalanx demokratiefeindlicher Antagonisten, die ich hier nur aus rhetorischen Gründen personifiziert habe, die also in Wirklichkeit vielmehr abstrakter und struktureller Natur sein dürften. Solcherart wird letztlich aus dem eingangs zitierten Ideal des freien Diskurses als Basis direkter demokratischer Meinungs- und Willenbildung eine gegenwartskritische Kontrastfolie. Ein utopischer Spiegel, in dem wir unsere politische Wirklichkeit als Verzerrung und Entfremdung von besserer Demokratie erblicken könnten, wenn wir argumentativ stark pessimistisch und einseitig negativ zu Werke gehen, wie ich das hier und heute getan habe.

Denn klar ist ebenso, dass es die dialektisch entgegengesetzte, andere Position gibt: Demokratie ist bekanntlich die schlechteste aller Staatformen, mit Ausnahme aller anderen, um abschließend den weisen Winston Churchill zu paraphrasieren. Denn sie ist immer ein historischer Prozess, hat als solcher ihre Höhen und Tiefen, vermag sich aber gerade deshalb im Gegensatz zu kollektivistischen, autokratischen oder gar faschistoiden Herrschaftsformen zu wandeln, anzupassen und zu reifen. Es obliegt jeder neuen Generation von Bürgern, ihre jeeigen Demokratie neu zu beleben und somit hängt ihre Qualität stets neu davon ab, ob und wie weit ihre Mitglieder bereit und willens sind, zu diskutieren, zu partizipieren und sich schließlich mehr direkt oder minder repräsentativ selbst zu regierieren.

Was ihr wollt und könnt, nein, was wir wollen und können bestimmt unseren Status irgendwo im politischen Kontinuum zwischen Ratsmitglied und Stimmvieh. Diese Freiheit besitzen wir, diese bürgerliche Pflicht ist uns aufgeben – machen wir also besser das Beste daraus: Unsere Demokratie bleibt unsere Wahl, wird unsere Zukunft!

Mit demokratischem Gruß, Euer Satorius

Don Qu. und die Zauberer

Während ein neues Jahrzehnt angebrochen ist, die Welt sich weiter im Kreise dreht – ich wage nicht zu sagen, ob das Rad der Zeit dabei bergauf oder bergab rollt, uns dem Abgrund näher bringt oder dem Gipfel – blicke ich ein wenig reumütig, ein wenig gleichgültig zurück auf eine Schaffenspause von knapp zwei Monaten. Immerhin, so scheint es aufgrund digitaler Stille, habe ich dadurch wenigstens keinen neugierigen Leser enttäuscht und in Ungeduld ob der angekündigten Fortsetzung der Wochenendlektüren gestürzt – wenn doch: ein motivierender Kommentar ist jederzeit erlaubt. Aber letztlich gilt ungebrochen, dass ich für das Schreiben selbst schreibe und mein Werk vertrauensvoll dem Äther übereigne.

Unterdessen bin ich auf den Fährten großer Literaten unterwegs gewesen und folge ihnen weiterhin; wenn ich auch zunehmend dem Hörbuch verfalle, das sich so viel bequemer in den Alltag integrieren lässt: Zu spülen beispielsweise und währenddem Weltliteratur zu genießen, macht aus einer schnöden Sisyphusarbeit eine erträgliche und einträgliche Zeit. Nach Charles Dickens Geschichte aus zwei Städten, die trotz aller anerkannten Meisterschafft hier in Quanzland wohl keinen Niederschlag mehr haben wird, bin ich nunmehr beim berühmtesten Narren der Literaturgeschichte gelandet: Don Qu. dem wahnwitzigen Hidalgo.

In seiner kritischen Parodie auf die Fantastik von Minne und Rittergeschichten antizipiert Cervantes am Beginn der Moderne durch die Figuren des Don Qujiote (respektive Quixote) und des Sancho Pansa weit mehr als die ambivalente Konkretisierung von wahnhafter Schizophrenie/striktem Idealismus bei Ersterem und tumber Habgier/offenherziger Treue bei Zweitem. Jahrhunderte vor dem Entstehen von Psychatrie und Differenzphilosophie entwirft er in einer literarischen Metaphorik ein originelles Modell menschlicher Subjektivität, das nicht nur zum Schreien komisch sondern auch zum Staunen weise daherkommt. Quasi nebenher dekonstruiert er Formen, Formate und Fabeln menschlicher Welt- und Selbstvergewisserung und er tut das in einer genialen Leichtigkeit und Vieldeutigkeit, die ihresgleichen sucht.

Genug gelobt und (an-)gedeutet, lest selbst und wundert Euch über das illustere Zwiegespräch zwischen Herr und Diener, die bisweilen die Rollen tauschen und dabei beide auf ihre eigene Art prototypisch vor Augen führen, was Ideologie und Idealismus, Wunsch und Wahn zu bewirken, ja, zu bezaubern im Stande sind.

Euer alltagsabsorbierter Gelegenheitsblogger, Satorius


Aber sage mir, Sancho, verwahrst du auch den Helm Mambrins sorgfältig? Ich sah, wie du ihn vom Boden aufhobst, als ihn jener Undankbare zerschmettern wollte und es ihm nicht gelang, woraus man eben die Trefflichkeit seines Metalls ermessen kann.«
Auf dieses antwortete Sancho: »Bei Gott, Herr Ritter von der traurigen Gestalt, alles kann ich nicht ausstehen und in Geduld anhören, was Ihr sagt, und dadurch komme ich manchmal auf den Gedanken, daß alles, was Ihr mir von Ritterschaft vorsprecht und von Königreiche und Kaisertümer gewinnen und Inseln verschenken, und andre Gnaden und Herrlichkeiten auszuteilen, wie es die irrenden Ritter in der Art haben sollen, daß alles das nur Windbeutelei und Lügen sind und alles nur Luftklöße oder Luftschlösser, wie es heißen mag; denn wenn ich Euch sagen höre, daß ein Barbierbecken ein Helm Mambrins sei, und daß Ihr länger als vier Tage in diesem Irrtum beharrt, was soll ich wohl anders denken, als daß dem, der so etwas glaubt und behauptet, im Kopfe etwas losgegangen ist? Das Becken, das voller Beulen ist, habe ich im Beutel hier, bei mir zu Hause will ich’s mir zurechtmachen lassen und mich darin barbieren, wenn Gott mir so gnädig ist, daß ich noch einmal meine Frau und Kinder wiedersehe.«
»Wahrlich, Sancho, bei demselben Gotte, bei dem du vorher geschworen hast«, antwortete Don Quixote, »du hast den allerdümmsten Verstand, den nur jemals noch ein Stallmeister in der ganzen Welt hat oder gehabt hat. Wie ist es möglich, daß du, der du schon so lange in meiner Gesellschaft bist, nicht einsiehst, wie alles, was die irrenden Ritter angeht, nur wie Hirngespinst, Narrheit und Unsinn aussieht und alles verkehrt und wunderlich scheint? Nicht deswegen, weil es sich also befindet, sondern weil immer ein ganzes Regiment von Zauberern hinter uns herläuft, die alle unsere Dinge verändern und verwandeln und sie nach ihrem Gefallen auswechseln, je nachdem sie uns beschützen oder verfolgen, und so scheint, was dir wie ein Barbierbecken aussieht, mir der Helm Mambrins, und ein anderer wird es wieder für etwas anderes ansehen; auch war es eine herrliche Vorsicht des Weisen, der auf meiner Seite ist, es so einzurichten, daß allen das ein Bartbecken scheint, was doch wahrhaftig und in der Tat der Helm Mambrins ist, denn da er von so unermeßlichem Werte ist, würde mich die ganze Welt verfolgen, um ihn nur zu besitzen; da sie ihn aber nur für ein Barbierbecken ansehen, kümmern sie sich nicht sonderlich darum, wie es sich auch bei jenem auswies, der ihn zerbrechen wollte und ihn dann mit Verachtung auf dem Boden liegenließ, wo er ihn wahrlich nicht um alle Welt gelassen hätte, wenn er seine Preislichkeit gekannt. Hebe ihn gut auf, Freund Sancho, denn jetzt brauche ich ihn nicht, sondern ich will im Gegenteile alle diese Waffenstücke ablegen, damit ich so nackt sei, wie ich von Mutterleibe kam, wenn es mir einfällt, in meiner Buße mehr dem Roland als dem Amadis nachzuahmen.«

Miguel de Cervantes Saavedra (1547 – 1616), Leben und Taten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von la Mancha, S. 329f. (1605/15, 1852/53 übersetzt von Ludwig Tieck)

Von der Stoa das Leben lernen oder es fahren lassen

Was immer irgend jemand gut formuliert hat, ist mein Eigentum. Auch folgendes Wort stammt von Epikur: „Wenn du nach der Natur lebst, wirst du niemals arm sein: wenn nach Wunschvorstellungen, wirst du niemals reich sein.“ Wenig fordert die Natur, die Wunschvorstellung Unermeßliches. Gehäuft werde auf dich, was immer viele Reiche besessen hatten; über eines Privatvermögens Maß hinaus bringe dich das Schicksal, mit Gold bedecke es dich, in Purpur kleide es dich, zu einem Maß an Genuß und Reichtum bringe es dich, daß du die Erde mit Marmor verbirgst, nicht nur Reichtum zu besitzen dir erlaubt ist, sondern auch, auf ihn zu treten; hinzu mögen kommen Plastiken und Gemälde und was immer irgendeine Kunstfertigekeit an Luxus hervorgrebacht hat: Größeres zu wünschen wirst du davon lernen. Naturgegebene Bedürfnisse sind begrenzt; aus trügerischem Wunschdenken entstehende wissen nicht, wo sie aufhören sollen: keine Grenze nämlich gibt es für Trügerisches. Wer einen Weg geht, für den gibt es etwas Letztes: Irrtum ist unermeßlich. Zieh dich also zurück von Nichtigem, und wenn du wissen willst, ob, was du wünschst, naturgegebener oder blinder Sehnsucht entstamme, überlege, ob es irgendwo haltmachen kann: wenn du weit gegangen bist und immer noch etwas Weiteres übrig bleibt, so wisse, das ist nicht naturgegeben.

Lucius Annaeus Seneca (1 – 65), Briefe über Ethik, 16, 7-9 (S. 127f., Philosophische Schriften – Band 3, übersetzt von Manfred Rosenbach)


Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf der Erde. […] Gefährde nicht die Bedingungen für den indefiniten Fortbestand der Menschheit.

Hans Jonas (1903 – 1993), Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, S. 36 (1979)


Während ein ernstzunehmender Bruchteil der deutschen und auch der globalen Jungend anfängt, für ihre naturgegebenen Bedürfnisse in einer prognostisch-düsteren Zukunft einzustehen; nachdem Hans Jonas, wissend um die Dialektik der Aufklärung, Kants ehrwürdigen, aber zu individualistischen Imperativ notwendig erweitert hatte; wo bereits seit 1972 die trügerische Wunschvorstellung vom grenzenlosen Wachstum der Weltwirtschaft attestiert worden ist; hatten zwei Millenien zuvor die Weisen der klassischen Antike, sowohl der griechischen wie der römischen Kultur als auch der stoischen und epikureeischen Philosophie, klar erkannt und benannt, dass sehnsüchtig erstrebter und arglos angehäufter Reichtum widernatürlich ist. Von anderen Kulturen und ihren gleichtönenden Stimmen schweige ich der Prägnanz und der Redlichkeit zuliebe, denn hier herrschen Halbwissen und Vagheit.

Die Reichen und Mächtigen (es mag auch hier Ausnahmen geben, aber die diskriminiere ich kurzerhand) jedenfalls und jedoch waren seither entweder blind, taub, lahm und dumm oder schlicht unsittlich und dabei gemeingefährlich egoistisch bis schreiend generationenungerecht. Ihresgleichen, die gesellschaftlich relevanten Institutionen, aber auch der Pöbel aller Länder haben nicht nur die altvorderen Belehrungen ignoriert, sondern sind auf dem ziel- und uferlosen Weg des ewigen Wachstums und der unablässigen Ausbeutung stur weiter einem fatalen Trugbild nachgeeilt. Generation um Generation lebten den stupiden Alptraum einer ökonomischen, politischen und sozialen Dystopie, verfielen solcherart mehr und mehr einer fatalen Hybris, die in ihrer moralischen wie rationalen Verwerflichkeit irgendwo zwischen Prometheus und Narzissus changiert. Also sogar der vorphilosophische Mythos hatte sie, hatte uns eindeutig und lebensnah gewarnt und nachdrücklich zum Umdenken ermahnt.

Aber nein, wir wollten nicht hören; und so stehen wir heute im Angesicht der politisch wiedererwachenden Jugend bestenfalls kleinlaut, schlimmstenfalls leugnend da und müssen schahmvoll anerkennen: Wir haben uns versündigt, haben Mutter Natur geschändet und die Erde verwüstet.

Und was macht man dieser Tage in Deutschland, dem Land der Dichter und Denker, Förster und Erfinder, dort, wo vermeintlichen die ökologische Avantgarde zuhause ist, dort, wo Idee und Begriff der Nachhaltigkeit geprägt und gepflegt wurde: Man zaudert und hardert! Man fürchtet um Arbeitsplätze und Wettbewerbsvorteile, scheut den Unmut der Wähler und die Unzufriedenheit der Dekandenten. Man feiert rhetorisch tumb ein sogenanntes Klimapaket als „Durchbruch“, das nach pessimistischen oder realistischen Schätzungen – ich vermag das, Stichwort: Redlichkeit, nicht zu qualifizieren – läppische 50% der vertraglich vereinbarten und hart erkämpften CO²-Einsparziele gemäß Pariser Klimaschutzabkommen erzielen könnte. Unterdessen hofft man blind auf Innovationen, die uns dereinst womöglich retten könnten. Von Selbstvertrauen und Courage keine Spur, von Veränderung und Konsequenz keine Rede, der Rest ist Schweigen und Einerlei …

„Verzicht“ und „Verbot“, sogar „Mäßigung“ werden im öffentlichen Diskurs größtenteils wie Todsünden behandelt und verteufelt, „Konsum“ und „Wachstum“, „Freiheit“ und „Markt“ hingegen als Tugenden gefeiert und geadelt. In diesem Kontext noch ernsthaft von naturgegebenen Bedürfnissen zu reden und solche zu kritisieren, die trügerische Wunschvorstellungen konservierend, die Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden gefährden, ist mir ehrlicherweise das Tippen nicht weiter wert. So evident, so grotesk, so irrig und fatal ist die Lage, wenn man nur noch abschließend hinzudenkt, dass Deutschland, dass Europa nur ein kleines Zahnrad im Getriebe der Weltverschrottungsmaschinerie ist.

Warum für die Zukunft demonstrieren, warum stoisch, weise und klug handlen, ich habe eine viel bessere, eine durch und durch tröstliche Idee: Lasst uns doch einfach alle mit unseren SUV’s kurz beim Drive-In haltmachen, fünf Burger kaufend und zwei bis drei wegwerfend, bevor wir auf der AIDA einchecken, wo uns achselzuckend einfällt, dass wir zuhause in der Villa Licht, TV, Rechner und Heizung an- und die Fenster aufgelassen haben, was wir aber nach Sauna und Whirlpool, beim üppigen Abendbankett unter’m Wärmepilz an Deck sitzend und schlemmend, mit dem Cocktail-to-go im Plastikglas in der Hand schon wieder vergessen haben.

Ein Hoch auf die Jugend, möge ihnen späterhin der zivilisatorische Abgrund nicht zu unbehaglich werden, Euer entnervter Satorius

P.S.: Nicht, dass ich deratig Utopisches zu unseren Lebzeiten noch erwarten würde, aber wie wäre es hiermit – klar, kritisch, jedoch unkonkret!

Sommerliche Abgründe

Der Konflikt zwischen der gesellschaftlichen immanenten und der universalen Ethik wurde zwar im Laufe der Menschheitsentwicklung schwächer, aber es bleibt doch so lange ein Konflikt zwischen diesen beiden ethischen Formen bestehen, wie es der Menschheit nicht gelingt, eine Gesellschaft aufzubauen, in der die Interessen der „Gesellschaft“ mit den Interessen aller ihrer Glieder identisch geworden sind.

Erich Fromm (1921 – 1993), Psychoanalyse und Ethik, S. 263 (1954)


Wenn denn alle Glieder überhaupt wüssten, was ihre wesentlichen Interessen und, mehr noch, ihre wahrhaften Bedürfnisse sind. Wer kann von sich behaupten, jene ominöse universale Ethik zu kennen und sich von ihr konsequent leiten zu lassen? Zumal, worin differenzieren sich „universell“ und „universal“? Vermutlich ein Bastard aus Hybris, Hypostase und Hysterie wie Platons höchste Idee des Guten, Kants Sittengesetz, ein beliebiger guter Gott oder bspw. die FDGO in unserer BRD. Ich jedenfalls bin da als Agnostiker bequemerweise intellektuell fein raus …

… allerdings mit dem diabolischen Lächeln des Moralisten wieder drin bei einer augenfällig rhetorisch überspitzten Gegenwartskritik im Geiste von Fromm, Jonas und Greta. So klage ich an und frage mit hallender Donnerstimme mein altes – immerhin in dieser Hinsicht beinahe alter – Ego: Muss ich mit dem Auto jederzeit überall hinfahren; brauche ich ein, zwei oder gar drei Flugreisen zum beliebigen Urlaubsort der Mittelstrecke – ach was, gönnen wir uns mal was -, die Kreuzfahrt als zweimonatige Weltreise; sind 150m² für drei Personen bei meinem sozialen Status noch angemessen; betreibe ich dutzende spannende, teure und aufwendige Hobbies und kaufe ich mir täglich dies oder das, gönne mir montalich jenes oder welches, was eben gerade meine ablenkbare Lust bindet, Begehren auf Eigentum weckt, mehr und mehr, obwohl ich jetzt bereits in Produkten und Waren versinke; verbrauche ich insgesamt meine Konsumgüter im Nu und werfe sie als Müll zusammen mit den etlichen schnelllebigen Gebrauchsgütern mit offer wie arglistiger, eingebauter Obsolenz oder minderwertiger Qualität zum billigen Preis achtlos weg; sollte ich zudem tatsächlich Tonnen an Tieren verwursten und vertilgen, Zucker, Palmöl, Soja und Weizen wegen die Wälder (brand-)roden und monokultivieren; ist es zuletzt wirklich unumgänglich pro Tag und Person Dutzende Kilowatt an überwiegend brauner Energie in Geräte und Maschien, Akkus und Bildschirme zu stecken, damit Bewegung, Information, Wärme und Licht uns überall hin begleiten?

(Geschellschaftlich immanenter) Chor: „Ja, Mann – genau dafür arbeite ich, Tag ein, Tag aus! Das ist mein Geburtsrecht und unsere normale Wirklichkeit, denn wir sind die Erste Welt! Wer gewinnt, nimmt sich seinen Gewinn – voll Stolz und mit gutem Recht… „

In Fromms hochgeschätzten Worten sowie meinerseits grob, ganz und willkürlich in den Blick genommen, ist die historische Realität, auf die obiges Fragengewimmel abzielt, wohl sowas wie die pessimistische Schattenseite unserer gesellschaftlichen immanenten Ethik in puncto globler Ökonomie und Ökologie. Wir versagen als Kosmumente ebenso wie als Weltgemeinschaft und damit als Haushälter der Erde in zunehmendem und frappierendem Maße, möchte man meinen.

(Geschellschaftlich immanenter) Chor: „Wären da nicht dieser verfluchte Klimawandel, das Artensterben, die Verwüstung, Überfischung, Vermüllung, all diese zufälligen Naturkatastrophen, wir könnten einfach so weiter machen wie die 666 (3000 Jahrhunderte Menschheitsgeschichte geteilt durch ~ 4,5 Generationen pro Jahrhundert) Generationen des Homo Sapiens vor uns. Aber nein, Schluss aus, wir nicht mehr, wir sollen verzichten, sparen und zurückstecken. Dabei sind wir doch so prächtig gewachsen, haben so viel Fortschritt gestiftet, Gerechtigkeit und Geist in die Welt gebracht, expandiert, kolonisiert und zivilisiert, uns seit der Renaissance und spätestens mit der Aufklärung scheinbar unaufhaltsam in Richtung universaler Ethik voranentwicklet – und jetzt, all die schöne Zivilisation soll nun schlecht sein, faul und madig in ihrem Kern, stehend auf tönernen Füßen und gebaut auf Sand? Pah! – wir sind Gottest Kinder und haben uns die Erde Untertan gemacht – Basta!“

Ihr vernehmt es ungeschönt: Mein Sommerloch war tief und mein Aufenthalt dort lang, ein asketischer Abgrund aus Verzicht, Grübelei und ökologisch-harmloser Zerstreuung liegt gähnend und klaffend hinter mir. Was sieht mein entsandeter Kopf: Der Amazonas brennt, Millionen Menschen flüchten, unterdessen beuten Populisten, Diktatoren und Oligarchen die Bevölkerung und die Umwelt weiterhin hemmungslos aus und spalten die Menscheit millionenfach, beim Handel tobt offener Krieg“, Europa ist längst keine Utopie mehr, sondern droht Geschichte zu werden.

Wenn ich solcherart böswillig die schlechten Nachrichten über das Weltgeschehen zusammenschreibe, und wirklich nur dann, höre ich bisweilen, aber ganz selten den (Gesellschaftlichen immanenten) Chor leise summen. Ansonsten bietet das Kleinod der privaten, zumeist heilen Spähre ein Antidot gegen als das bittere Gift das die (nachrichten)-mediale Kanäle pessimistisch-permanent vermitteln.

Trotzdem und deshalb harre ich aus, bleib auf dem Posten und glaube unbeirrt, dass individuelles Handeln und dessen utopische Veränderung eine notwendige Bedingung für analoge globale Veränderung ist; auch wenn das Individuum wie ich lediglich ökonomischen und ökologischen Idealen nacheifert und somit keine hinreichende Bedingung für besagte Veränderung darstellt. Denn es bedarf ebenso notwendig der politischen Aktion, ob als Reform oder Revolution – jedoch nicht durch mich: Ich diskutiere, informiere und multipliziere meine tagespolitischen Präferenzen und gehe schlussendlich wählen. Genug der Politik.

Der Rest ist politische Ökonomie, hätte Marx freudestrahlend attestiert, wenn auch in meinem Einzelfall betrachtet quantitativ und womöglich gar qualitativ unbedeutend. Dazwischen also übe ich diese sanfte Macht aus, bin frei und verantwortlich in meinem ökonomischen Handeln. Zeige mein Ethos durch meinen Konsum und meinen Lebenstil: Ich fahre weiterhin Fahrrad; essen so wenig Fleisch, wie es für einen dörflich durchsozialisierten Fleischfresser eben geht; bleibe mit meinen sieben Sachen zuhause, reise in der Region und höchstens europäisch, wo es zwar prinzipiell schön ist, aber das Wetter häufig beschissen; und finde somit höchstoffiziell und abschließend wohlbehalten und nur mäßig sonnengegerbt zurück nach Quanzland.

Mache mich gedanklich frei und lege die Füße hoch, beanspruchen hier doch weder gesellschaftliche immanente noch universale Ethik Geltung und Gewissen. Bestenfalls interessieren sie, schlimmstenfalls werden sie persifliert oder ignoriert. Aber draußen in der wirklichen Welt gelten andere Gesetze, vorortet jenseits und dieseits jedweder Ethik. Basale Tatsachen des Plausibilitätskalibers von: Wer im Sommer über seine Verhältnisse lebt, der hat im Winter nicht genug Vorräte zum Überleben; wer sein Haus vernachlässigt oder gar in Brand setzt, der wird obdach- und heimatlos; alles hat ein Ende, nur die Wurst hat Zwei.

Mit samstäglich Grüßen, insbesondere an alle gefallenen Idealisten und bösen Gutmenschen, Euer Satorius

Ein preiswerter „Schrank“

Preisträger und Preisgekröntes zu empfehlen, ist leicht, müßig und trozdem nicht ganz überflüssig. Ich jedenfalls mache mich leichten Herzen dieses Vergehens schuldig und empfehle mit Birgit Birnbachers Der Schrank einen frisch mit dem Bachmann-Preis gekürten Text. Dankenswerterweise ist die komplette Kurzgeschichte auf der Seite der 43. Tage der deutschsprachigen Literatur publiziert worden und kann hier (Quellen-Link) gefunden und gerne gelesen werden.

Dem trotz Kürze hermetisch-sperrigen, mittelgradig-skurrilen Titel folgte eine für mich bezaubernde Kurzgeschichte, die mich in einem Rausch mitriss und nach gut zwanzig Minuten minimalistisch-realer Wirklichkeit wieder in die maximal-wirkliche Realität entließ. Thematisch lässt darin eines meiner inhaltlichen Steckpferde, „Neo-Biedermeier“, herzlichst grüßen und eine Ich-Erzählerin mit auktorialen Allüren berichtet von ihrem Lebenslauf hinein in die sog. Neue Arbeit, ihren Erfahrungen als Probandin im Blick des Beobachters und den interpretationswürdigen Erlebnissen rund um den öminösen, titelgebenenden Schrank.

Zum Inhalt viel mehr oder auch nur etwas weniger zu sagen, äfft nicht nur die Eröffnung schönde nach, sondern würde diesem dichten Gewebe von plausiblen Impressionen, atmosphärischen Assoziationen und gelegentlicher Inspiration an Kraft und Wirkung rauben, weswegen ich einzig den Eröffnungsparagraphen als TFF serviere – ein Amuse-Gueule aus der österreichischen Küche, das zum gratis Hauptgang verführen mag.

(Text-)Hungrigen Geistes grüßt Euch, Euer Satorius


Das ist nicht viel, aber es könnte weniger sein. Was der Beobachter sieht, als er auf die Haustür zugeht: Dieser Rasen ist keine Wiese, aber dort und da fliegt ein Tier. Das Waschbetonquadrat, auf das der Typ vom Haus gegenüber manchmal seine Lebensmittel kippt, ist sauber vom kürzlichen Gewitter. Mit diesem Hof hat es einmal jemand gut gemeint, auch die Aufschrift auf der Fassade bezeugt es: Die Reitkunst war hier einst eine sehr beliebte Sportart. Der Beobachter steht allein da, er weiß nicht, dass ich ihm von oben zuschaue. Viele der kleinen Küchen- und Flurfenster sind wegen der Hitze geöffnet, manche sind mit ausgebleichten Tüchern abgehängt, einige mit Folie blindgeklebt. Von irgendwo ist ein Fernseher zu hören, es ist windstill, kurz nach Mittag, Hochsommer. Jahrhundertsommer, schreiben die Zeitungen, und in der Blumenkiste, außen an der straßenseitigen Loggia der Beckmann, verdorren gelbe und violette Stiefmütterchen zu Stängeln. Unten vorm Supermarkt verfangen sich hellrote Fetzchen von Gratisplastiksäcken in der staubigen Linde. Eines wird dem Beobachter in der Sohle seines Schuhs hängen geblieben sein, im Stiegenhaus liegt es später auf den Stufen zwischen zweitem und drittem Stock. In den Tagen nach seinem Erstbesuch gehe ich ein, zwei, schließlich drei Mal daran vorbei. Beim vierten Mal ist es fort.

Birgit Birnbacher (1985 – ), Der Schrank, S. 1 (2019)