Originale

Wochenendlektüren Nr.10 – YY1: S.11-14/~35 [Version 1.2]

Wieder ist eine Woche ins (Quanz-)Land gegangen und ich habe eine neue Portion TSF für die Originale zubereitet. Nachdem ich letzte Woche der Marotte gefrönt habe, meinen eigenen Texten einen interpretatorischen Beipackzettel hinzuzufügen, unterlasse ich das dieses Mal und komme ohne viel Brimborium zum eigentlichen Anlass dieses Artikels: Die nächsten drei Seiten des ersten Kapitels bringen heute gegen Ende den ersten Neuauftritt von Yang mit sich, der nunmehr stilistisch selbstständiger und damit von Yin unterscheidbarer, nämlich bewusstseinsstromlinienförmig umgeschrieben dargestellt wird.

Mit allerbesten Wünschen fürs Lesen und fürs Restwochenende, Euer Satorius


1. Zugang YY – Gor(e)

Trotzdem gibt es einen mehr als kosmetischen Unterschied zwischen den beiden Gruppen: Als Beute haben sie von Anfang an gewusst, was hier gespielt wird, und mussten den letzten Marsch quer durch die tödliche Wildnis schon in der Gewissheit zurücklegen, Eigentum geworden zu sein. Denn sie waren selbstverständlich zuvor schon mit einfachen Implantaten ausgestattet worden und standen seither unter Kontrolle. Mitten durch den Albtraum der Todeszone ging es dann für die neuen Sklaven, hin zu ihren neuen Herren. Die hiesigen Rituale sind nicht nur in dieser Hinsicht ausgewiesen unmenschlich, aber so sieht es die Initiation in Gor Thaunus für Beutemenschen eben vor. Sein Asyl in dieser Stadt und den damit verbundenen Schutz muss man sich zuerst symbolisch verdienen, durch Bereitschaft zum Leiden. Auf diesem ersten Weg im neuen Lebensabschnitt sieht man die rettende Zuflucht beinahe die ganze Strecke über schon in der Ferne liegen, lichterloh strahlen und locken mit ihrem fatal falschen Leuchtturm, dem Thallum Gor. Trotz allem, was zuvor schon passiert sein mochte, sehnt man die Ankunft herbei. Am Ende des Marsches, wenn alles gut gegangen und man es hoffentlich soeben noch im Hellen hierher geschafft hat, ist man regelrecht froh, in seinem zukünftigen Gefängnis angekommen zu sein – pervers, aber wahr. Am Anfang steht der Überfall, mitsamt Gefangennahme und Enteignung, dann die Drohung, mittellos, ohne Waffen und Nahrung, in der Todeszone krepieren zu müssen, nach einer wirkungsvoll langen Bedenkpause zuletzt das ach so großzügige Angebot, kaum eine Wahl zu nennen, und dann der schmerzhafte Eingriff, mit dem die technische Versklavung beginnt: Sicherheit auf Kosten aller Freiheit, unfreies Leben statt sicherem Tod. So ungefähr läuft eine Versklavung in Gor ab, eine ziemlich bittere Angelegenheit. Und nicht nur das, dieses Elend ist nur der einschneidende erste Level eines widerwärtigen Spiels, ist nur der Beginn eines andauerenden Parcours an Überwachung, Disziplinierung, Gehirnwäsche, gelegentlicher Quälerei und alltäglicher Schinderei.

Einzig in dieser Hinsicht geht es also den zunächst noch freiwilligen Flüchtlingen besser, gleich ob sie aus purer Hoffnung oder schierer Verzweiflung Zuflucht hinter den mächtigen Mauern dieser Siedlung suchen: Für sie beginnt das Grauen hier drin nach dem Terror dort draußen etwas später, insgesamt etwas schleichender und angeblich auch nicht immer zwangsläufig. Denn gerüchtehalber kann man, sofern vorhanden, durch Besitz oder Talent bei der Einreise Vorteile für sich sichern, angeblich sogar als Freier in der Berggasse loslegen. Das klingt für mich glaubhaft, denn Gleichheit ist hier nur ein Fremdwort unter vielen anderen vergessenen Idealen, die ich allesamt dank meiner knapp vier Jahre Lebenszeit in wohlbehüteter Freiheit kennengelernt hatte. Hier in Gor Thaunus, als enteignete Sklavin, wird mir dieses Wissen tagtäglich zum Fluch – ich weiß wie es war und wie es sein könnte.

Uns war es schlechter ergangen, denn Yang und ich haben leider die Tortur der Initiation und der ersten Wochen hinter uns gebracht, vielmehr bringen müssen. Wir waren damals vor gut zwei Jahren nicht als Flüchtende hierher gekommen, sondern als Geraubte. Also mussten wir den Ritus der vier Himmel durchmachen, nachdem wie zuvor schon ein Mal durch die Wildnis marschieren mussten. Für diese Fortsetzung der Initiation waren wir nach der Ankunft noch vier weitere Male in der Todeszone ausgesetzt. Daraufhin mussten wir, Gor und den zentralen Turm ständig als einzige verlässliche Orientierung am Horizont, in einem Tagesmarsch unseren Weg zurückfinden. Während dieser schlimmen Tage sind wir zu anderen Menschen geworden, zu gebrochenen, willenlosen Opfern. Beim ersten Mal war es schon hart genug, aber mit jedem weiteren Mal wurde es schlimmer, denn man wusste nun, was einem alles dort draußen drohte, hatte das Leid gesehen und mehrfach gespürt. Kaum eine der Gewaltmärsche durch die Todeszone geht ohne Tote und Verletzte unter uns Sklaven ab. Die dauernde Todesangst sorgt, zumal man ohne Nahrung und Wasser ausgesetzt wird, für unangenehmeste Grenzerfahrungen. Danach weiß man kaum noch, wer man vorher gewesen ist. Genau darum geht es ihnen, diesen Bastarden dort oben in ihren schicken Villen. Je ein Mal aus jeder Himmelsrichtung haben sich die neuen Sklaven in ihrer ersten Woche zurück zum Lager ihrer Meister durchzukämpfen. Besser denke ich nicht weiter darüber nach, es sind schreckliche Erfahrungen gewesen, die ich am liebsten vergessen würde. Das Geschehen der letzten Minuten nötigt mir jedoch die Erinnerung an meine eigene Vergangenheit, meine damalige Rolle in der gleichen grausigen Inszenierung auf. All das liegt zwar lange hinter mir, aber – leider, denn ich kann daran so Garnichts ändern – noch vier weitere Male vor den armen Teufeln dort drüben.

Mitleid steigt in mir auf, verdrängt jeden Vorbehalt und jede Vorsicht. Ich beschließe impulsiv, doch noch einen zweiten Versuch zu wagen, rufe noch lauter als eben schon: „Hey, ihr vier! Keine Angst – kommt einfach zu uns rüber, wann ihr könnt und wenn ihr wollt. Wir rennen sicher nicht weg und freuen uns über Besuch!“

Das ist schlagfertig gewesen, denke ich stolz: Nett, gleichzeitig ehrlich und witzig, aber mehr als das kann und will ich nicht riskieren – jedenfalls nicht in meiner heutigen Stimmung und dieser Situation. Nach einem scheußlichen Tag voller Strapazen und offener Demütigung während einer zermürbenden Arbeitsschicht von regelmäßig 12 Stunden, geht nur noch wenig. Von vier bis vier geht meine aktuelle Schicht, derzeit am Tag bald aber wieder mit Beginn in der Nacht. Mein kompletter Rücken schmerzte so sehr, dass fast jeder Muskel dort verhärtet sein dürfte. Die meisten Gelenke und besonders die beiden Knie tun mir ebenfalls weh. Auch Kopfschmerzen mischen sich unter die restlichen Leiden, fallen jedoch als normaler Dauerzustand kaum ins Gewicht. Das alles ist kein Wunder, so schwer wie wir Sklaven gefordert werden, ohne dass dabei unsere Gesundheit eine große Rolle spielt – Hauptsache: Man arbeitet. Dadurch werden mir sogar die relativ leichten Aufgaben meines Arbeitsdienstes zur Belastungsprobe. Wenn ich mir im Vergleich dazu vorstellte, wie es in den Minen und Manufakturen zur Sache geht, darf ich mich wirklich nicht beklagen. Was Yang und andere Industriesklaven mir manchmal darüber berichteten, ist widerlich und unmenschlich. Das Gefährlichste, was mir passieren kann, ist eine geile Mira oder eine übellaunige Annabelle, von etwas Muskelschmerzen nach harter Hausarbeit mal abgesehen.

Weiterhin geschieht da draußen nichts, immer noch keine Reaktion auf meine doppelte Ansprache. Aber auch dieses Mal erfolgt keine Strafe, kein Schmerz durchzuckt mich, keine Warnung verkündet die Konsequenzen meiner Regelüberschreitung. Wahrscheinlich sind die vier Asylanten heftig traumatisiert und brauchen ihre Zeit, um wieder klarzukommen. Langeweile, Verdruss und neue Abneigung durchströmen mich, trotz aller aufgebotenen Empathie.

Egal jetzt, scheiß drauf – ich muss einfach noch etwas länger abwarten, nur Geduld. Nur noch einige Atemzüge, denn mein Bruder regt sich, erwacht aus seiner stundenlangen Starre. So hat er schon dagelegen, als ich vorhin zurückgekommen bin, kaum zugänglich und reichlich wortkarg – ganz so, als wäre er drauf, alleine und ohne mich. Egal auch das, ich kann mich nun einfach zurücklehnen, entspannen und gespannt zusehen, was passieren wir. Mal ehrlich, ich habe es ernsthaft versucht, mit hohem Einsatz jedoch ohne Erfolg. Abwarten also und schwesterlich auf den Halbstarken aufpassen, mehr brauch ich von hier an nicht mehr zu tun. Gleich wird es passieren, das spüre ich mit unerklärlicher Gewissheit.

Schon schlägt er seine dunkelbraunen Augen auf, lächelt kurz mit ihnen, indem er synchron seinen linken Mundwinkel hebt, und zwinkert mir vertraut zu. Wortlos steht er auf, streckt sich und geht rüber zum Portal unserer Wohnkuppel, das nur deshalb durchsichtiger ist als die Wand, da es eine bloße Lücke ist – offen, nichtig.

„Ey, ihr Asylanten! Hey – hier drüben, wir sprechen mit euch! Seid ihr schockgefroren, angewurzelt, taubstumm oder ist sonst was Abartiges los mit euch?“

Näher ran, so bringt das doch nichts. Neugierde und Lust treiben mich weiter, auf in den abendlichen Spaß: „Mein süßes Schwesterherz und ich sind zwei krass unterschiedliche Typen, nicht wahr? Aber so dicke, dass wir wirklich fast eins sind, da hat die Kleine schon recht.“

Genug gedöst und nur zugehört, wie Yin sich abmüht, jetzt ist echte Aktion angesagt. Mehr als eine Stunde auf’m Trip und das Soma flasht mich kaum noch, hoffentlich checkt Schwesterchen das nicht. Bob hatte nur eine Dosis, Egoismus voran. Egal, was sie nicht weiß … und jetzt gibt’s ja ein Alternativprogramm: Voll daneben, das Frischfleisch, und total durch mit seiner Umwelt. Eine geile Aufgabe für mich, diese Typen werde ich mal hart aufklären. Scheiß auf die Regeln – Gesetze der sogenannten Herren, pah! – und scheiß drauf, ob die da drüben unsere Sprache sprechen, hier in Gor ist Anpassung gegen den eigenen Willen absolute Devise – also ungeschönt und echt …

„So wie ihr ausseht, checkt ihr gerade zwar eh überhaupt nichts, aber selbst wenn – dann kratzt mich das nicht, ich mach einfach mal munter weiter im Text. Ich helf euch ein wenig auf die Sprünge, vielleicht hilft‘s euch am Ende sogar.“ Lässig an die Wand gelehnt, noch nicht im Schlamm, nicht im Regen, mitten im Eingang, jetzt Ausgang.

„Eins ist von nun an anders und das müsst ihr euch von Anfang an einspeichern: Ihr, wir sind keine Menschen unter Menschen. Wir sind Sklaven unter Herren, unfrei, abhängig, kaum mehr als räudige Streuner. Einen Dreck wert, nicht total wertlos, aber nur eben so viel wie unsere Arbeitskraft. Also integriert das, besser schnell, und fügt euch. Kuscht und buckelt!“

Härter, mehr davon – die werd‘ ich schon weichkochen und wieder zum Leben erwecken. Selbst wenn sie kein Deutsch sprechen, muss meine starke Ansage irgendwie bei ihnen ankommen, sie aufrütteln … wenigstens ein Zwinkern, ein kleines Zucken – kommt schon!

Wochenendlektüren Nr.9 – YY1: S. 8-11/~35 [Version 1.2]

Ein weiteres Wochenende bringt eine weitere Passage final überarbeiteten Text mit sich. Wir erfahren darin mehr über Yin und ihr Leben in der dystopischen Gemeinschaft, die ihre Existenz und Subsistenz einzig durch Sklaverei zu sichern vermag. Zwar bietet Gor Thaunus respektive seine noch farblosen Gründer ihren Bewohnern Schutz vor der menschenfeindlichen Umwelt und ein gesteigertes Maß an Zivilisation in einer verwüsteten Welt, dennoch zahlt die Mehrheit der Sklaven mit ihrer Freiheit und Arbeitskraft den Preis für diese Vorzüge. Mag sein, dass am Ende alle zusammen mehr Wohlstand haben – Stichwort: Trickle-down-Theorie -, aber wird dadurch eine drastische Ungleichheit zugusten der reichen Minderheit und zulasten der arbeiteten Mehrheit legitimiert? Welches Maß an Luxus ist im Angesicht der Armut noch erträglich? Wie viel sind die Hochkultur und der Fortschritt vor diesem Hintergrund noch wert?

Anklänge an die antiken Poleis mit ihrem Sklavenheer sind also ebenso kalkuliert, wie obiger Fragekomplex in die Lektüre inkorporiert und Assoziationen an eine ungleiche Verteilung von Wohlstand und Belastung in unserer globalisierten Lebenswelt inspiriert werden soll. Hiermit will ich – Autorenschaft hin oder her – jedoch weder Interpretationshoheit beanspruchen, noch verhindern, dass jeder Leser seine ganz individuellen Bedeutungen herein- und herauslesen wird. Wie auch, ist doch dieser wie jeder andere Text, und sei es der funktionalste Gebrauchstext, ab dem Moment semantisches Freiwild, in dem er den Geist seines Verfasser verlässt und sich in unserer Welt manifestiert.

Dennoch erlaube ich mir gelegentlich, auf das hinzuweisen, was ich neben Zertreuung und Schreibtraining auszudrücken beabsichtige und was eben nicht: So ist der Themenkomplex Flucht und Gastfreundschaft, mag er auch in der Eröffnungsphase offen anklingen, übrigens bestenfalls sekundär und wird rasch fallengelassen. Dieses zeitgenössische Thema in diesem fiktional-zukünftigen Kontext zu reflektieren ist m.E. nicht nötig. Eventuell hilft solcherart positive wie negative Erläuterung demjenigen, der sich fragt: Was soll das komische Geschreibsel denn eigentlich?!

Mit der doppelten Einladung, Eure Lektüreefrahrungen zu teilen und über unsere Rolle in der Welt zu reflektieren, Euer hoffentlich nicht zu pädagogisch-aufdringlicher Satorius


1. Zugang YY – Gor(e)

Ich stehe ganz oben, sogar weit über Hohenherz. Mir schwindelt und der Wind pfeift heftig. Ich bin auf Soma – Teufelswerk und Ambrosia –, und zwar derb. Wellen aus purer Wonne fluten durch Körper und Geist. Der Grund für beides heißt Mira Zorathule. Die jüngste Tochter der jüngst verstorbenen Helena Zorathule, die wohl die mächtigste Frau in Gor gewesen sein dürfte, hat mich direkt an meinem ersten Arbeitstag bei der Gründerfamilie mit hinauf auf den Thallum Gor genommen, vielmehr dorthin befohlen – ein Privileg, das nur den Eigentümern zusteht, bei mir aber nicht nötig gewesen wäre. Der Trip und der Ausblick trösten mich über alles andere hinweg, versöhnen mich für einen kurzen Augenblick mit der beschissenen Welt dort unten zu meinen Füßen, in der ich tagtäglich überleben muss. Die Siedlung interessiert mich nicht, ich ignoriere sie und blicke in die Ferne. Weit im Westen, auf halbem Weg zum Horizont, erstreckt sich ein ausgedehnter Dschungel. Ein bis hierhin sichtlich bunt gefleckter Pflanzenteppich windet sich dort bergauf durch das raue Hügelland. Sogar einige der unglaublichen Baumriesen sind zu sehen, ragen tausende Meter in die Höhe, bis hinauf in die Wolken und vielleicht sogar darüber hinaus. Unten in den Niederungen der Glasstadt und bei den wenigen Aufenthalten in der Berggasse habe ich nie so weit blicken können. Ich bin verzaubert, obwohl ich genau weiß, um was es sich dabei handelt: Es ist kein märchenhafter Zauberhain, sondern Ergebnis nüchternen Biotechnologie, eine ehemalige Naturlunge – funktional doch wunderschön. Damals und jetzt träume ich davon, wie ich, Simsalabim, aus Gor entkomme und, Abrakadabra, die Todeszone unbeschadet hinter mir lasse, um schließlich noch vor Sonnenuntergang dort anzukommen. Überall um mich herum ist Leben, allerlei Pflanzen und Tiere. Ich begebe mich schnurstracks zu einem der Riesenbäume, beginne mutig und kraftvoll, an seiner borkigen Rinde hinauf bis in die Wolkendecke hinein zu klettern. Dunkelheit und klamme, feuchte Luft umfangen mich und nach dem wundersamen Aufstieg komme ich erleichtert und nur leicht erschöpft mit den orangeroten Strahlen der wärmenden Sonne oberhalb der Wolkendecke an. Eine schier unendliche Wolkenlandschaft, Berge, Ebenen und Schluchten in Weiß, Grau und Schwarz erstrecken sich in alle Himmelsrichtungen. Die Krone des Baums beginnt bald über mir, wirft einen gigantischen Schatten nach Osten. Dort kann ich auf ausladenden Ästen seitwärts wie weiter aufwärts gehen. Voll Freude und mit Zuversicht suche ich nach einer günstigen Stelle, finde sie und blicke ich mich hier oben um, sauge den himmlischen Anblick, der sich mir bietet, tief in mich auf. Ich habe soeben eine überirdische Zauberwelt betreten, sehe nicht nur die anderen Baumkronen, die aus den Wolken ragen, sie überragen und teilweise ineinander übergehen, sondern nun auch glitzernde Luftschlösser, die überall in nah und fern sanft dahingleiten. Voll Freude und mit Zuversicht suche ich nach einer günstigen Stelle, finde sie und blicke ich mich hier oben um, sauge den himmlischen Anblick, der sich mir bietet, tief in mich auf. Ich habe soeben eine überirdische Zauberwelt betreten, sehe nicht nur die anderen Baumkronen, die ineinander übergehen, sondern nun auch glitzernde Luftschlösser überall in nah und fern. Sogar einige Orbitalkanäle winden sich im Hintergrund der Szenerie empor. Auch wenn ich zugleich um deren Existenz und die der Atmosphärenhabitate weiß, kann ich mich der Magie dieses Anblicks nicht entziehen. Ich atme die frische und reine Höhenluft ein, staune und schweige beeindruckt. Die glänzende Schönheit dieser sonnendurchfluteten Zwischenwelt, weit über der festen Erde, jedoch unterhalb der Orbitalstätten im Weltraum gelegen, erfüllt mich. Ich spüre deutlich, hier oben über den Wolken, wartet ein neues, besseres Leben auf mich. Ein Hauch von Frieden und Reichtum, Glück und Gerechtigkeit umgibt die sanft dahingleitenden Wolkenstädte, allesamt dahinhingestreut wie schimmernde Edelsteine in den Farben des Regenbogens. Ich streife auf den Pfaden, welche die meterdicken Äste der Bäume mir bieten, stundenlang umher, nähere mich erst dieser, dann jener Stätte. Währenddessen geht die Sonne unter, der Himmel lodert dabei in gleißendem Feuerschein und sein Azurblau dunkelt langsam auf das satte Schwarzblau des Weltalls ab. Einzig die Orbitalbauten darüber und dazwischen, die wenigen sichtbaren, vom Erdboden aus hinaufführenden Kanäle ebenso wie das erdumspannende Netzwerk an deren Ende, unterbrechen das traumhafte Panorama. Sie sind in kunstloser, metallen-schwarzer Einfachheit gehalten und ihre Positionslichter leuchten sporadisch auf. Die Baustile der vielen fliegenden Städte sind im Gegensatz dazu so vielfältig wie einzigartig, so schön wie sympathisch. All ihre farbenfroh glänzenden Oberflächen und die bunt gemischten Bewohner in ihren Straßen erwachen für mich zum Leben, bezaubern mich. Jede dieser atmosphärischen Heimstätte ist anders, aber alle gleichen sie sich, sind so behaglich, so sauber, so nett und freundlich wie die anderen. Auf paradiesische Art sind sie unwirklich – ich fühle mich im Inneren so, wie damals während und nach den tolldreisten Märchen, die unsere Eltern uns früher einmal zum Einschlafen vorgelesen haben. Abenteuer treffen auf Geborgenheit, Weite und Nähe fallen zusammen, eine Vereinigung von Gegensätzen findet statt – träumend erfasst mich ein Gefühl der Heimat, ja, es erfüllt mich.

Und schon falle ich jäh aus meinem Traumland, mein Wegträumen endet in Wehmut und Verzweiflung: Das waren bessere Zeiten, damals in unserem früheren Leben, in einer unwiederbringlich verlorenen Vergangenheit. So angenehm und tröstlich die damit verwobenen Erinnerungen und dazugehörenden Traumbilder auch sind, so falsch und unwirklich sind sie heute, so dumm und naiv bin ich, wenn ich sie mir vorstelle. Es gibt dort oben über den Wolken in Wirklichkeit genauso wenig Gutes zu finden wie überall da draußen in den Todeszonen. Nur Leid und Tod warten dort, der Rest ist Vergangenheit und bloße Vorstellung. Hinter und über mir liegen Schmerz und Trauer – und vor mir? Was wird wohl alles auf mich zukommen: Eine steile Karriere als Edelsklavin, vielleicht der fast unmögliche Aufstieg, ja Ausstieg, in die Freiheit, erworben durch herausragende Leistungen und Treue im Dienst für Gor Thaunus? Wohl kaum, alberne Vorstellungen spinne ich mir da zurecht, nicht einmal des Träumens wert. Hier unten im Schlamm der Außenstadt, gefangen im Glaskäfig sind Anfang und Ende gleich, ist ein für alle Mal Schluss. Der Höhepunkt, nein, das Ende meines Lebenswegs als Unfreie scheint mit der Anstellung im Haus der Zorathules endgültig erreicht – einmal Sklavin, immer Sklavin.

Diese Gedanken an die verlorene Vergangenheit, die raue Wirklichkeit und die festgelegte Zukunft holen mich unsanft zurück in die Außenwelt. Es regnet ununterbrochen und der allgegenwärtige Schlamm wird dabei zu knöcheltiefem Matsch, stinkt zudem noch abscheulicher als sonst und macht aus jedem Schritt einen Kampf. Der Schlick ist kriechender Vorbote der aggressiven Natur da draußen, die selbst die dicken Schutzwälle nicht aufhalten können, was sie hier bei uns wohl auch gar nicht tun sollen. In den weiter innen und weiter oben liegenden Stadtbezirken ist nichts mehr von all dem zu sehen. Außer an mir und den anderen dort beschäftigten Sklaven gibt es näher zum Zentrum der Stadt kaum noch echten Dreck. Hier jedoch sind alle schmutzig, selbst wenn sie sich um Sauberkeit bemühen. Kaum ist der Schlamm getrocknet und ausgebürstet, kommt ein neuer Arbeitstag und alles beginnt von vorne.

Bevor ich nun ernsthaft damit anfange, mich über meinen Arbeitsdienst zu beschweren, oder mich am Ende sogar noch über die neue Stelle zu freuen, will ich mich doch lieber wieder mit den Gegebenheiten um mich herum beschäftigen: Die vier Wanderer dort draußen müssen sich zuvor mühsam durch die hiesige Todeszone mit ihren Tonnen an Dreck und Horden von Ungeziefer geschlagen haben – vom tödlichen Rest ganz zu schweigen –, da bin ich mir absolut sicher, auch wenn ich seit Jahren nicht mehr hinter dem Wall gewesen bin. Unterwegs müssen sie sich ständig gefürchtet haben, von irgendetwas angegriffen und verletzt, wenn nicht sogar getötet zu werden. Alles andere wäre Verdrängung oder Dummheit gewesen, denn niemand bei klarem Verstand unterschätzt die Gefahren dort draußen. Vielleicht hatten sie Glück, sind gute durchgekommen, das aber ändert nichts an der instinktiven Angst vor der Todeszone, die ihren Namen verdient hat.

Ob diese abgerissenen Figuren frische Jagdbeute oder verzweifelte Flüchtlinge sind, weiß ich nicht, am Ende ist das im Ergebnis sowieso gleich. Alle sind sie Opfer und verlieren spätestens in dem Moment ihre Freiheit und ihre Würde endgültig, in dem sie ihren Fuß in diese verfluchte Stadt setzen und dann nichts weiter anzubieten haben als ihr nacktes Leben, ihre wertlosen Hoffnungen und Träume.

Wochenendlektüren Nr.8 – YY1: S. 5-8/~34 [Version 1.2]

Wohl erholt zurück aus dem einzigen offiziellen Jahresurlaub bin ich so frei und präsentiere das nächste Häppchen von YY1 als TSF ganz unumwunden, jedoch eingleitet mit diesem Monster-Satz, der für sich so inhaltsleer ist, dass ich ihn mir an sich hätte sparen können, was mir aber erst jetzt auffällt und zugleich so schwerfällt, dass ich ihn sein lasse, wie er geworden ist.

Seht es mir freundlich nach und wendet Euch dem nachfolgenden freudig zu, Euer Satorius


1. Zugang YY – Gor(e)

Während das Krachen des schweren Panzertors noch dumpf aus der Ferne widerhallt, rücken die beruhigenden Geräusche des prasselnden Regens von Neuem in den Vordergrund meiner Wahrnehmung: rhythmisch, wohltuend, beruhigend und angenehm einschläfernd. All die düsteren Gedanken an Kontamination, Revolution und die ganze Scheiße hier in Gor verstummen. Neugierde unterliegt unterdessen Müdigkeit und der wohlverdienten Unlust, mich noch ernsthaft mit der beschissenen Außenwelt zu beschäftigen. Vor allem dann, wenn sie sich so widrig gibt, so widerwärtig ist wie das Flüchtlingspack da drüben, das mich ignoriert und trotzdem interessiert. Dabei habe ich sie doch nur gebührend hier bei uns begrüßen wollen. Nach dem Fegefeuer der Todeszone sind sie nun im äußersten Kreis der Hölle angekommen – wow, erst Marxisten, nun Katholiken, es ist wohl mein Tag der Nostalgie. Neben den alten Sprachen kehren aktuell auch die alten Religionen und diverse obskure Weltbilder zurück, so auch das Christentum. Aber ich bin gefeit gegen solche Märchen. Wie dankbar bin ich in diesen Moment mal wieder dafür, vor all dem hier klassisch und kritisch von meinen Eltern ausgebildeten worden zu sein. Sonst erginge es mir wie den meisten anderen hier unten im Schlamm, sei er auch noch so nanohygienisch rein, und ich wäre wie sie blind, taub und verschlossen gegen die wirklichen Zustände im Sonnensystem. Würde mich vielleicht sogar in ideologische Illusionen flüchten. Dabei muss ich meinen Bruder leider mit einschließen, der intellektuell nie so viel Lust und Talent gezeigt hat wie ich und deshalb jetzt die eine oder andere recht eigenwillige Ansicht über unsere Lebenswelt vertritt. Zum Glück hat er für meine Erklärungen und Einflüsterungen meistens ein offenes Ohr, wenn auch ein stures Gedächtnis, das schnell vergisst.

Ach was solls, der Funke Neugier reicht doch dafür aus, mich wieder nach außen zu wenden. Regen und Nebel, das typische Scheißwetter bei uns eben, verhindern eine gute Sicht raus der Kuppel rüber zu den Fremden. Ich stehe also auf und gehe soweit zum Ausgang vor, dass ich nicht nass werde, und schaue genauer hin: Die vier dreckigen, kleingewachsenen Gestalten lungern still und unbewegt auf dem ebenfalls dreckigen, über und über mit Schlamm bedeckten Boden des Platzes direkt vor dem rostig-grünen Südosttor herum. Es sind lebendige Menschen, trotzdem wirken sie wie versteinert. Meine Gefühle ihnen gegenüber sind gemischt, immerhin, bin ich doch dank meiner Eltern als Humanistin erzogen worden und habe mir Reste dessen selbst hier erhalten können. Aber die Gesamtsituation des Sklavendaseins und die fortgesetzt dummdreiste Arglosigkeit der sogenannten Wachen gehen mir an die überreizten Nerven. Ich habe echt Angst vor dem, was wirklich da draußen hinter den Mauern lauert, und von dort kommen sie. Idealerweise sollte ich die Neuen, wie vorhin versucht, offen und freundlich begrüßen. Sollte sie keinesfalls grundsätzlich fürchten, mir besser selbst ein Bild von ihnen machen. Dabei sollte ich nicht auf die Absicherung durch Wachen und Waffen hoffen. Aber ich werde tatsächlich zunehmend unruhiger – nicht, dass die Gerüchte doch wahr und wir in Gor nun auch an der Reihe sind. Denn dann wäre es doppelt dämlich und selbstmörderisch, jetzt offenherzig und neugierig dort rüberzugehen, „Hallo“ zu sagen und auf gute Miene zu machen. Ach was, ich spinne schon wieder rum, werde wohl selbst langsam hysterisch. Es hat hier in den letzten Jahren kaum Zwischenfälle gegeben, ein paar gestörte Psychos, ja, aber die wurden schnell zur Vernunft gebracht oder wieder ausgesondert. Mehr Sicherheitsrisiken sind nicht von dort draußen zu uns hereingedrungen. Alles andere sind hausgemachte Probleme gewesen.

Dennoch das ist eh egal, jetzt dort raus und näher ranzugehen, traue ich mich nicht. Mein notorischer Drogenkonsum, all das elendige Soma, das verschnittene Amphetamin und der primitive Alkohol, sind relativ geduldete Regelverstöße. Sie bringen mir vermutlich einen Strich in irgendeiner langen Liste ein und führen ganz selten zu einem strafenden Schmerzreiz – wann genau und warum so selten versteht keiner von den vielen Junkies unter uns Sklaven. Das also ist eine Sache, aber ein direkter Kontakt zu Flüchtlingen ist ein ganz anderes Level! Außerdem bin ich gerade schon mutig genug gewesen, bin beim Regelsurfen ein ernstes Risiko eingegangen, als ich die Neuankömmlinge frei heraus angesprochen habe. Bevor die Wachen nicht ihre Sicherheitsshow abgezogen haben, ist uns sogar das Sprechen mit Heimatlosen untersagt, mit Freien oder Herren übrigens sowieso. Keine dieser vielen Regeln ist irgendwo aufgeschrieben, alles ungewiss. Wir lernen sie zufällig voneinander und nachträglich durch Bestrafung, seltener durch Nicht-Belohnung oder eine direkte Weisung von oben. Es gibt hierzu entsprechend viele Theorien und noch mehr Gerüchte, aber die wichtigsten Alltagsregeln sind noch jedem früher oder später schmerzlich klar geworden. Nach meinem Wagnis von eben, zumal es vermeintlich ungestraft bleibt, sollte ich mich nun wohl besser zurückhalten. Ich will heute sicher keinen mittelgradigen Regelbruch mehr riskieren. Yang könnte jetzt ruhig mal stolz auf mich sein, wo er mich ständig als ängstliches Hühnchen betitelt, wenn der Penner denn überhaupt mal seine Augen auf und seine Zähne auseinanderbekäme. Ich habe jedenfalls vorerst genug, genug provoziert und getan – und überhaupt, so heftig wie Yang genieße ich das Adrenalin beim Surfen dann auch nicht.

Wenn ich doch nur irgendwas zum Flashen hätte, wäre alles leichter – aber nein, es herrscht seit Tagen Flaute auf dem Schwarzmarkt. Bald reichts mir, dann trinke ich allen Ernstes wohl mal wieder den verfluchten Schnaps, den man, Nebenwirkungen hin oder her, leicht und sogar legal bekommen kann. Heute müsste ich, wenn ich mich vorhin nicht doch sträflich versurft habe, wieder eine Dosis von dem Dreckszeug zugeteilt bekommen. Irgendwann in den Abendstunden könnte das passieren, aber wann genau und ob überhaupt liegt nicht in meiner Hand, nur der Ort ist gewiss: Beim Lebensmarkt 5. Zwischenzeitlich kehre ich die wenigen Schritte vom Eingang zurück und wir ruhen wieder beide in den aktuell zu Sitzsäcken umfunktionierten Allzweckmöbeln in unserer transparenten Wohnkuppel mit der neongelben Nummer 423 über ihrem Eingangsportal.

Wie zu erwarten ist keine der Wachen aufmerksam geworden und da eine direkte Bestrafung auch ausgeblieben ist, lasse ich meinen Gedanken nun freien Lauf und sie laufen wie meist sehr weit weg von hier. Hier in der tristen Wirklichkeit des Sklavenlagers gibt es halt nicht viel Gutes zu holen, daher bekommt man rasch Übung im Weg-Denken. Und sowieso, was auch immer passieren will, wird auchff9200 ohne mich passieren, wie es eben geschehen wird, will oder soll oder womöglich sogar muss – ach, was weiß ich kleine Sklavin schon vom Schicksal und dem Lauf der Dinge, noch über den Gang der Zeit und die Zukunft!

Eines aber weiß ich ganz sicher: Ich will hier weg, raus aus dem Schlamm der Glasstadt, am besten ganz weg aus Gor oder doch wenigstens nach oben in die besseren Stadtteile. Ich habe lange gehofft, dass ich mich an das Sklavendasein gewöhnen könnte, dass mich der kleine Aufstieg, der uns möglich ist und den ich begonnen habe, vertrösten könnte. Aber ehrlicherweise halte ich die Scheiße des Alltags nur einigermaßen aus, wenn ich irgendwie flüchte, irgendwie verdränge. Solange ich nicht auf Droge sein kann, ist meine Phantasie der einzige Ausweg, ein geheimer Schlüssel zum Reich der Freiheit. Meine Vorstellungsgabe ist ein verborgener Pfad aus der Stadt heraus in die weite Welt hinaus. Der wirkliche Fernblick über die umliegende Todeszone in Richtung Horizont taugt kaum zum Tagträumen, ist aber der Anfang jedes mentalen Trips. Könnte man jetzt über die Streuner hinweg und durch den äußersten, sieben Meter hohen Schutzwall hindurchschauen, könnte man vor allem jenseits aber auch innerhalb der Ruinenfelder versteckt sehenswerte Plätze entdecken, wildromantische Kulissen, einer Hyperschnulze, wie sie Mama einst geliebt hat, würdig. Aber besonders die Erinnerungen an früher liefern mir den Stoff, meine Phantasie macht dann den Rest. So weiß ich mich perfekt zu erinnern, denn man prägt sich die schönen Dinge, die es im hässlichen Lagerleben kaum noch gibt, am besten gründlich und ganz tief ein. Ohne solche unschätzbar wertvollen Erinnerungen fehlen einem Rückzugsorte für Geist und Seele, ohne solche Schatzkammern des Glücks bleiben einem halt nur Drogen, legale wie illegale. Oder man ergeht sich eben in teils bedenklichen Hobbys wie dem Regelsurfing. Ansonsten verliert man schnell die Lust am Leben, am zermürbenden Alltag des 24/7-Sklavendaseins und am Ende versucht man lange und zunächst häufig erfolglos, sich das Leben zu nehmen. Denn trotz der diversen hochtechnologischen Sicherheitsvorkehrungen sterben die meisten Sklaven letztlich doch durch Freitod, nicht durch Krankheit, Unfall oder mordlüsterne Dritte. Nichts für mich, ich will wenigstens geistig gesund bleiben und da keine ordentlichen Drogen zu Hand sind, lehne ich mich nun komplett zurück, räkel mich bequem in den weichen Kunststoff unter mir und schließe meine Augen endgültig fest. Ich ergehe mich in einer längst überfälligen Tagträumerei, einer der wenigen Episoden, deren Ursprung nach meiner Enteignung liegt. Dieses Erlebnis ist noch frisch, ist kaum eine Woche vergangen:

Wochenendlektüren Nr. 7 – Das System: S. 1 – 11/11 [Version 1.0]

Heute möchte ich Euch ohne allzu viele begleitende Worte ein frisches TSF servieren. Inspiriert wurde die Kurzgeschichte durch ein wirkliches Erlebnis, also getreu und gemäß dem Motto: Das Leben schreibt die besten Geschichten schon selbst. Als Chronist habe ich mir erlaubt, das kuriose Vorkommnis stilistisch ein wenig zuzuspitzen und der Diskretion zuliebe moderat zu verfremden.

Viele Vergnügen beim Lesen und möge das System Euch mit dererlei Quereln verschonen, Euer (nicht immer stoischer) Satorius


Das System

Zuerst war er verblüfft, dann neugierig, zuletzt verärgert. Der Grund dafür war nicht der erwartete Brief seiner Krankenkasse, die ihn letzte Woche erst überrascht und sodann verärgert hatte, sondern ein Brief der Gerichtskasse in Gießen.

Seine Freundin hatte beide Schreiben von ihrem morgendlichen Spaziergang mit der gemeinsamen Tochter – nicht einmal ein Jahr alt, wild und zuckersüß, liebenswert und nervenaufreibend: ein furioser Wirbelwind – mit in die gemeinsame Wohnung im Erdgeschoss gebracht. Zuvor hatte das begeisterte Sturmklingeln der Kleinen den Großen entgeistert aufschrecken lassen. Er war nämlich ein ausgewiesener Langschläfer, bisweilen Morgenmuffel und wurde mit der allmorgendlichen Rückkehr seiner Lieben meistens zum zweiten Mal wach, nachdem er zu einer Uhrzeit, einer Unzeit zwischen sieben und acht Uhr morgens, zunächst mit seinen beiden Damen erstmals erwachte.

Es war der 23. September, Tag und Nacht lagen im Gleichgewicht und die Witterung stellte sich während seines noch schlaftrunkenen Kontrollblicks über den Balkon, durch das dort aufgespannte Katzennetz hindurch, als neutral im schlechtesten Sinne heraus: Die monotonen Wolkenschleier dort draußen waren tiefgrau, kein Fetzen blauen Himmels zu sehen, ein Wetter ohne Eigenschaften, das seine zerknitterte Stimmung schonmal nicht aufhellte. Dennoch schien der Rest der kleinen Familie den Spaziergang genossen zu haben, wenn er auch ohne den erhofften, erholsamen Schlaf für den Fratz geblieben war. Er begrüßte, nunmehr bereits milderer Stimmung, Frau und Kind – eine Wortwahl, die er nur ironisch verwendete, war ihm im Gegensatz zu ihr das Sakrament der Ehe ein Gräuel – kurz mit je einem Kuss, nahm besagte Post entgegen und ging voran ins Wohnzimmer, wo er die beiden Briefe mit seinen blassblauen Augen musterte.

Er wollte sie nacheinander öffnen. Zuerst die schlechte Nachricht, dachte er: Da ihm der Inhalt des anderen Schreibens vorab klar war, griff er also zunächst zu demjenigen mit dem unheilvollen Absender Gerichtskasse Gießen. Hatte er falsch geparkt, war er geblitzt worden, ohne es zu merken, was hatte es damit wohl auf sich? Gespannt riss er den Umschlag auf, warf das Papier achtlos auf den dunkelbraunen Tisch zwischen all das Chaos, das hier und auch sonst überall in der kleinen Wohnung die Oberhand gewonnen hatte, seitdem sie zu dritt waren, und begann zu lesen: Grundbuchsache lautete der Betreff, eine vage Ahnung über den Anlass der Mitteilung war gestiftet, allerdings stand rechts daneben, ebenfalls fettgedruckt und in gleicher Schriftgröße gesetzt, Mahnung. Von 20,90 € war die Rede, wobei es die zusätzlichen 5,00 € Mahngebühr waren, gefolgt von der Androhung einer Pfändung von Konten und Arbeitseinkommen durch einen Gerichtsvollzieher, die ihn erst irritierte und darauf schrittweise sprachlos, dann ärgerlich und zuletzt rasend machte. Dieser Vorgang vollzog sich in Minutenfrist, ungesehen, ungehört und erreichte die anderen erst mit dem der Tochter zuliebe immerhin mäßig unterdrückten Fluch: „Habt ihr sie nicht alle? Was soll denn dieser Scheiß – bitteschön!“

Während die Tochter lustig gluckste und rasch in seine Richtung krabbelte, steckte seine Gefährtin – eine Bezeichnung wiederum, die er liebte, und gänzlich unironisch vor dem Aussterben bewahren wollte – ihren rotblonden Kopf in den Raum und fragte mit tadelnder, trotzdem leicht amüsierter Miene: „Na! Nanu, was ist denn los?“

„Ich so allen Ernstes 5,00 € Mahngebühr für eine Rechnung zahlen, die ich nie bekommen habe. Vermutlich für diesen elendig-lästigen Erbschaftsdriss, der mich schon seit zwei Jahren heimsucht. Eigentlich sollte das beendet sein, ach, ich kann dazu nur eines sagen: Scheißverein!“, erwiderte er schon etwas beruhigter im Bauch, aber nunmehr vom Kopf her sauer, geladen in gerechtem Zorn – es ging ihm ums berühmt-berüchtigte Prinzip.

Dann schaute er nach unten, wo die Kleine sich an seinem Bein hinaufzog, lächelte zunächst bemüht, sodann doch von Herzen und nahm seine Tochter auf den Arm. Die Große lächelte ebenfalls, besänftigend, stimmte seinem Verdruss jedoch unumwunden, wenn auch fluchfrei zu.

Er beschloss daraufhin, es war jedoch bereits kurz vor Mittag, bei der verantwortlichen Behörde anzurufen, um seinem Ärger Luft und die Mahnung ungeschehen zu machen. Mit einer forschen, aber zutreffenden Eröffnung wollte er das Gespräch beginnen, eilig nicht bedenkend, dass er lediglich in einer Telefonzentrale landen würde. Gewählt, von einem Herrn Günnert matt und geschäftsmäßig desinteressiert begrüßt und plangemäß, vermeintlich rhetorisch spitz gefragt: „Ist es in ihrem Hause üblich, Mahnungen zu versenden, ohne zuvor eine Rechnung gestellt zu haben – denn genau das ist mir heute passiert?!“

„Ja … Das kommt schon mal öfter vor“, wurde ihm sofort und gänzlich unerwartet jeder Druck aus seinem Angriff genommen.

Humor und neuer Ärger rangen in ihm, vermischten sich und brachten ihn sogleich wieder in Rage: „Insbesondere dann sehe ich keinesfalls ein, die geforderte Mahngebühr zu bezahlen, und verlange eine ordentliche Rechnung, die ich ordentlich bezahlen kann. Wenn dieser Fall – wie Sie dreist zugeben – öfter eintritt, sollte immerhin das unproblematisch sein.“

„Moment, ich leite Sie an die zuständige Sachbearbeiterin weiter. Wie war nochgleich ihr Nachname?“

Quartz!“

Q also, dann verbinde ich Sie nun mit Frau Franjo …“, sagte der Telefonist und wurde abrupt von einem Amt ersetzt.

Nicht, dass er sich hätte verabschieden oder gar bedanken wollen, wartete er erneut, nunmehr ernüchtert von der anonymen Behördensachlichkeit, namentliche Begrüßung hin oder her. Und er wartete noch immer, mittlerweile war es 11:48, als das Amt zum zehnten Mal ertönte, woraufhin er abermals von der drögen Stimme angesprochen wurde: „Frau Franjo ist nicht in ihrem Büro erreichbar – wohl schon zu Tisch. Rufen Sie später nochmal an, ich gebe ihnen dafür ihre direkte Durchwahl: 2342.“

„Allerbesten Dank und auf nimmer Wiederhören“, verabschiedete er sich barsch, legte auf und pfefferte das Telefon in die Sofakissen.

Jetzt musste er sich tatsächlich noch länger mit dieser bereits stark vorbelasteten Angelegenheit befassen, als hätten zwei Jahre Scherereien nicht vollkommen ausgereicht: Denn er war sich nun ziemlich sicher, dass sich die ominöse Rechnung auf das Umschreiben des unsäglichen Waldgrundstücks bezog. Er hätte davon vor sechsunddreißig Jahren ein Zwölftel geerbt – genauer und aktuell genommen zusammen mit zwei weiteren Miterben aus dem erweiterten Familienkreis exakt ein Sechsunddreißigstel –, wenn dieses wirtschaftlich irrelevante, weil nicht einmal einen Hektar große Grundstück seinerzeit nicht vergessen worden wäre. Aber seine Großeltern hatten es schlicht versäumt, dieses Stückchen Gemeinschaftswald bei der vertraglichen Überschreibung des sonstigen Eigentums an ihn zu erwähnen. Er war also, kaum auf der Welt, bereits Großgrundbesitzer geworden, da sein Vater wenige Monate vor der Geburt des eigenen Sohnes tragisch an Tuberkulose verstorben war. Deshalb war der Familienbesitz direkt vom Großvater, der wiederum kurz nach der Geburt des Enkels, somit nur wenige Monate nach seinem eigenen Sohn, verstorben war, an das Kind gegangen. Die Frauen der Familie waren hierbei zeittypisch relativ ignoriert worden, hatten immerhin Wohnrecht im Wohnhaus erhalten. Alles schien geregelt, bis auf den kleinen Gemeinschaftswald, der mehr oder minder allen Urfamilien des kleinen Dorfes in der osthessischen Provinz anteilig gehörte.

Nachdem dieses vermeintlich unbedeutende Versäumnis vor gut zwei Jahren bei der Inventur des Grundbuches einer fleißigen bis penetranten Beamtin – Frau Silberhorn – aufgefallen war, wurde er, gleichsam mit der Androhung eines Zwangsgeldes motiviert, dazu aufgefordert, eine Bereinigung des Grundbuches zu ermöglichen. Dazu sollte er entweder Testamente oder Erbscheine seiner Großeltern vorlegen. Die gab es jedoch nicht, woraufhin eine behördlich-juristische Odyssee ihren Anfang genommen hatte. In ihrem Verlauf waren viele Telefonate, etliche Besuche auf Amtsgerichten sowie Dutzende, teilweise kostspielige Urkunden nötig geworden und unterdessen hatten sich eine erstaunlich unerbauliche Menge an Missverständnissen, Fehlinformationen und Unzuverlässigkeiten von Seiten der Behörden, aber auch durch die Miterben ereignet. Am Ende war ein Notar zur Unterstützung engagiert worden und nach der fünften Fristverlängerung wähnte er den Vorgang mit der Überschreibung und Eintragung des Grundstückes auf ihn seit gut einem Monat endgültig abgeschlossen. Das Grundbuch war nun wieder konsistent und er um eine Reihe unerfreulicher Erfahrungen, nutzloses Wissen sowie letztlich ein enormes Zwölftel Land reicher.

Behörden und Bürokratien waren ihm seit jeher fremd, Beamte und insbesondere Polizisten suspekt gewesen und dieses Vorurteil hatte sich in der letzten Zeit derart bekräftigt, dass es drohte, sich in ein lebenslanges Urteil zu verfestigten. Er wusste zwar, wie wichtig derartige Berufe und ihre Institutionen für eine funktionierende Gesellschaft waren. Seine Erfahrungen in diesem Kontext waren beschränkt und womöglich nur zufällig miserabel ausgefallen, mit Anarchismus, Marxismus und anderen systemfeindlichen Ideologien hatte er nur in adoleszenter Schwärmerei geliebäugelt und auch das nur intellektuell, nie praktisch – dennoch er war zutiefst entnervt. Mehr als das, er empfand Abscheu vor diesen Strukturen, dem System als solchem, drohte in Zynismus oder gar Aggression abzurutschen.

Nun also schon wieder, nochmal – er musste es abermals mit ihm, dem System, mit ihnen, seinen Repräsentanten, aufnehmen, musste abermals zu Felde ziehen und musste dabei statt romantisch gegen monströse Windmühlen prosaisch gegen bedrucktes Papier, geltendes Recht und bürokratische Gesinnung ankämpfen. Er hielt sich trotzdem noch immer für einen Pazifisten, doch Situationen und Emotionen, wie gerade erlebt, ließen ihn ernsthaft an sich zweifeln. Frau Franjo hieß also heute seine erste Gegnerin, aber die war – Mahlzeit! – mutmaßlich verfrüht zu Tisch gegangen und er selbst wollte in einer Stunde arbeiten gehen, würde daraufhin nicht vor dem frühen Abend zurückkommen. Wider der Vermutung versuchte er es gleich nochmals, nahm den Hörer zur Hand und tippte die Durchwahl.

Nachdem es 13 Mal geklingelt hatte und während er mit jedem Amt gereizter wurde, fand er sich schließlich damit ab, erst morgen loszulegen. Er kehrte in seine alltäglichen Routinen zurück: Fütterte seine Tochter, bereitete seine Unterrichte als Hauslehrer vor, verabschiedete sich von seinen Damen und machte sich daraufhin mit seinem Fahrrad auf den Weg zum ersten Schüler des Tages.

Am Abend des Tages, die Tochter war gegen Acht, die Gefährtin gegen Elf zu Bett gegangen, hatte er, der er sich je nach Selbstdisziplin zwischen ein und drei Uhr anschließen pflegte, einen weiteren Zusammenstoß mit dem System, genauer einem Subsystem ganz ohne Beteiligung von genuinen Beamten: Er musste, wiederum aufbrausend, feststellen, dass der Freischaltcode für das Online-Portal seiner Krankenkasse, welcher ihn am Mittag im zweiten Brief erreicht hatte, nicht funktionierte. Es war schon sonderbar genug gewesen, als er letzte Woche nach Jahren der sporadischen, aber erfolgreichen Nutzung des Zugangs nach der Eingabe von Benutzer und Passwort unvermittelt aufgefordert wurde, jenen ominösen Freischaltcode einzugeben. Ohne, dass man das Phänomen hätte aufklären können, war ihm die Zusendung der Zahlenfolge als Lösung vorgeschlagen und sodann veranlasst worden. Nun also abermals in einer systemischen Sackgasse zu stecken, war schlicht obskur. Der trotz nächtlicher Stunde erfolgte Anruf bei der sogenannten 24/7-Hotline ergab die Auskunft, man sei zwar immer erreichbar, sein Anliegen könne jedoch nur durch den technischen Support bearbeitet werden und dieser sei selbstverständlich mitten in der Nacht nicht verfügbar. Solcherart abgefertigt, versuchte er noch rasch etwas anderes: Er gab den Code in ein zweites, vermeintlich identisches Textfeld ein, das er über einen im Schreiben erwähnten Link erreichte und welches ebenfalls nach einem Freischaltcode verlangte, und siehe da, es funktionierte. In einem insgesamt zwanzigminütigen Verlauf von Erwartung zu Überraschung, hinein in Ärger, welcher übergangslos in Zorn mündete, und nach dem Erfolg in zynischem Amüsement gipfelte, hatte er die Erkenntnis gewonnen, dass die gleich Aufforderung, das gleiche Wort in der Praxis eines anonymen, technischen Systems eben nicht gleichwertig war. Die angeblich wichtige Nachricht, die ihn laut letztwöchiger E-Mail in seinem persönlich Servicebereich erwartete und derentwegen er überhaupt so folgenreich versucht hatte, sich anzumelden, stellte sich als bloßer Hinweis heraus: Man habe die Funktionalität und Sicherheit der Online-Geschäftsstelle verbessert und wolle dies nun offiziell kundtun – woraufhin ihm nach Mitternacht die emotionale Energie versiegte, um weiterhin noch irgendetwas zu empfinden. Nach diesem Tage war er leer, legte sich taub und stumm ins Bett, jedoch nicht, ohne noch kurz an den morgendlichen Kampf gegen die ungerechte Mahnung zu denken. Wie immer und trotz allem schlief er in wenigen Minuten ein und träumte intensiv, aber unbeschreiblich seltsam.

Morgens erwachte er mit nebulösen Fragmenten im Kopf, konnte vor deren endgültigem Entschwinden noch eben entziffern und verständlich erinnern, dass er davon geträumt hatte, seinen Personalausweis samt Smartphone und Router hinter dem Haus in einem wider die Hausordnung entzündeten Freudenfeuer rituell verbrannt zu haben. Er spürte der wohl empfundenen, befreienden Genugtuung begierig nach, gleich einer Spur, vermochte allerdings nur noch die Spur des Verlöschens jener Spur zu erahnen. Dann war seine Tochter heran und überfiel ihn spielerisch-schroff mit ihrer frühmorgendlichen Energie, die jeden Morgenmuffel Fürchten und Staunen gleichermaßen lehren musste. Es war 6:42 und nach knapp 45 Minuten, die Mutter war unterdessen aufgestanden, hatte sich frisch und alles für den Tagesstart fertig gemacht, schlief er nochmals ein, um gegen zehn Uhr und damit heute tatsächlich vor dem späteren Klingelsturm aufzustehen. Leider hatte er den unterbrochenen Traum nicht fortsetzen können, so viel wusste er negativ, obwohl er sonst nichts Positives über seinen gewiss traumreichen REM-Schlaf zu fassen vermochte.

Morgentoilette und Familienidyll lagen bereits hinter ihm, als er neuerlich und leidlich gelassen mit der Durchwahl bei der Gerichtskasse anklingelte. Heute ging Frau Franjo ans Telefon und er schilderte ihr, ohne offene Provokation und schlagfertige Eröffnung schlicht sein Anliegen und wiederholte seine Forderung nach Gerechtigkeit.

Nachdem er geendet hatte, erwiderte sie mit lebendiger Stimme und offener Ungläubigkeit, damit ganz im Gegensatz zu ihrem Kollegen aus der Telefonzentrale vom Vortag: „So, Sie wollen also keine Rechnung erhalten haben und sehen deshalb nicht ein, die Mahngebühren zu bezahlen. Das kann ja jeder behaupten …“, stoppte sie, fuhr aber, bevor er scharf etwas erwidern konnte, fort: „Aber ich kann da sowieso erstmal nicht viel für Sie tun, denn wir sind nur die ausführende Gerichtskasse. Wenden Sie sich an das zuständige Amtsgericht, von dem die Rechnung ursprünglich veranlasst wurde. Dort klären Sie die Angelegenheit, fordern eine zweite Ausfertigung der Rechnung an, bezahlen diese und dann sehen wir beide weiter. Vorher werde ich die Mahngebühr nicht zurücknehmen.“

„Uff! Sie mahnen mich an, sind aber nicht im Stande … sind nicht verantwortlich dafür, ihren Fehler zu korrigieren? Denn ich habe definitiv nichts falsch gemacht und will das Problem einfach nur schnell gelöst sehen. Also gut, dann muss ich wohl woanders weitermachen. Ich rufe also selbst in Alsfeld an, bitten dort um eine Zweirechnung und wende mich dann wieder an Sie … habe ich das so richtig verstanden?“

„Genau! Wenn Sie das getan haben und von dort grünes Licht kommt, kann ich wieder aktiv werden. Auch wenn ich mir wahrlich nicht erklären kann, wie die Rechnung verlorengegangen sein soll“, zweifelte sie abermals, was seine Angriffslust nochmals anfachte.

„Das muss ich ihnen nicht erklären, noch gar beweisen, weil ich ehrlich bin und wohl kaum wegen fünf Euro mit einer dreisten Lüge hausieren gehe. Außerdem wurde die Rechnung sicherlich nicht als Einschreiben verschickt und solange gilt bei uns wohl noch immer der Grundsatz: Im Zweifel für den Angeklagten.“

„Als würde irgendjemand Rechnungen als Einschreiben verschicken, aber gut, wie dem auch sei – wenden Sie sich an Alsfeld und fragen dort nach.“

„Muss ich dann wohl und danke für ihr Bemühen. Auf Wiederhören!“, schloss er, wurde seinerseits verabschiedet und beendete das Gespräch wiederum höchst unzufrieden.

Nach einem neuerlichen Wurf des Telefons in die Sofakissen, der einen kleinen Wutanfall eröffnete, tobte er kurz verbal, fing sich mäßig und berichtete seiner zwischenzeitlich vom Spaziergang heimgekehrten Partnerin von dem unerquicklichen Telefonat. Diese suchte kurz und fand keine versöhnlichen Worte, teilte tröstlich und verständnisvoll seinen Verdruss. Die Kleine war wie immer unweit, kam heran und vermochte, ihn schnell abzulenken, und so kam er bald wieder zu sich, schickte sich sodann an, den nächsten Schritt auf dem lästigen Weg auf sich zu nehmen.

Er rief also gegen halb zwölf auf dem so verhassten Amtsgericht an, das ihn zwei Jahre lang wegen des nichtigen Erbes auf Trap gehalten hatte, vermied aber kalkuliert bis konfliktscheu, Frau Silberhorn direkt zu kontaktieren. Hoffend, dass er um ein Gespräch mit seiner bürokratischen Nemesis herumkommen möge, wählte er erstmal die Nummer der Zentrale.

Eine müde, unfreundliche und mundartlich plumpe Frauenstimme, an die er sich von zuvor noch vage erinnerte und die ihn Wort für Wort, ja Silbe für Silbe mehr strapazierte, empfing ihn:

Amtsgericht Alsfeld, Moog am Abbarad … bidde?!“

Er beherrschte sich, gab zum dritten Mal eine Kurzfassung seiner Situation zum besten Schlechten und wurde im gleichen Ton – angestrengt, lustlos, zermürbend unwillig – aufgefordert, das Aktenzeichen anzugeben.

Er hatte es befürchtet: „Dafür is‘ Frau Silberhorn zuständisch. Ich stelle’se dursch …“, schloss der Telefontrampel grußlos und sprach damit genau das aus, was er nicht hatte hören wollen. Nicht schon wieder die, seufzte er und fluchte innerlich. Auch wenn er in den zwei Jahren zuvor nur wenige Male direkt und zwischenmenschlich keineswegs übermäßig unerfreulich mit ihr gesprochen hatte, so hatte sie ihm ständig mit Briefen, die Aufforderungen, Ermahnungen und Vollzugsfristen enthalten hatten, nachgestellt.

Er tat einfach so, als kenne man sich nicht, schilderte sachlich seinen Fall und bat um Richtigstellung, woraufhin er nach seiner Adresse gefragt und ihm gesagt wurde:

„Also ihre Rechnungsanschrift ist korrekt und exakt so von mir an die Gerichtskasse übermittelt worden. Komisch, was sie behaupten … Ich habe noch nie erlebt, dass eine Rechnung verloren gegangen ist und deshalb eine unberechtigte Mahnung erhoben wurde. Mit der Mahnung habe ich im Übrigen nichts zu tun. Ich leite die nötigen Informationen, nachdem ich die Rechnung erstellt habe, einfach nur weiter und mehr nicht. Der Rest ist Sache der Gerichtskasse …“

„Ihr Ernst?! Sie können mir also auch nicht weiterhelfen und geben die Verantwortung wieder zurück? So langsam finde ich das Hin und Her echt nicht mehr witzig. Ich will doch einfach nur eine Zweitrechnung, damit ich diese bezahlen kann und die unberechtigten Mahngebühren erlassen bekomme. So jedenfalls hat es mir Frau Franjo von der Gerichtskasse vorhin noch erklärt.“

„Hat sie das? Um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht, wie das gehen soll, noch, was das bringen soll. Ich drücke hier nur auf ein Knöpfchen und irgendwo in einem Rechenzentrum wird dann eine elektronische Rechnung erstellt, ausgedruckt und postalisch versendet. Diese sieht dann sogar ganz anders aus, als ich das hier an meinem Bildschirm eingegeben habe. Selbst wenn ich wüsste, wie das geht, würde das nach meinem Wissen nichts an den Mahngebühren ändern. Selbst, wenn ich ihnen glauben würde, dass Sie keine Rechnung erhalten haben, wie Sie beteuern, weiß ich nicht, was eine zweite Rechnung bringen soll.“

Von der offenen Inkompetenz paradoxerweise besänftigt, zudem amüsiert von der Absurdität der verfahrenen Situation verabschiedete er sich ohne Ironie, beinahe freundlich. Ohne seiner Gefährtin zwischendurch zu berichten, lachte er nur hysterisch, herzte rasch seine Kleine und wählte abermals Frau Franjos Durchwahl:

„Hallo, nochmal, hier ist Herr Quartz. Wir hatten eben bereits telefoniert. Ich habe, wie Sie mich aufgefordert haben, in Alsfeld angerufen. Dort konnte man mir auch nicht weiterhelfen. Die Adresse sei korrekt an Sie übermittelt worden und eine neue Ausfertigung der Rechnung wäre weder sinnvoll noch machbar, hieß es von der Sachbearbeiterin. So langsam verliere ich meine Geduld. Ich will doch nur die läppischen 20,90€ zahlen, weiterhin und unbestritten, und sehe lediglich nicht ein, 25% unberechtigte Mahngebühren obendrauf zu zahlen.“

„Sie bekommen also keine Zweitrechnung?“

„Nein, wie eben gesagt, das wäre nicht nötig, noch wäre das technisch so einfach möglich, sagte man mir dort“, wiederholte er sich, nunmehr wieder ungehaltener ob der stumpfen Sturheit.

„So geht das nicht! Ich habe es ihnen doch eben schon klar gesagt“, beharrte sie mit verständnisloser, harter Stimme, „erst, wenn Sie den Rechnungsbetrag bezahlt haben, den normalen Betrag ohne die Mahngebühren, werde ich hier über die Mahngebühren eine Entscheidung fällen, nicht vorher. Ich bin ja bereit, ihnen entgegenzukommen, aber nicht ohne eine ordentliche Zahlung.“

„Mir fehlen langsam echt die Worte, von Verständnis gar nicht mehr zu sprechen. Ich bin ein kluger Mensch, aber langsam Zweifel ich an meinem Verstand. Hierüber werde ich definitiv eine Kurzgeschichte schreiben – das ist grotesk und buchstäblich kafkaesk, wenn Sie mich verstehen. Aber gut, dann wende ich mich gleich wieder an ihre Kollegin auf dem Amtsgericht und hoffe auf ein logisches Wunder!“

„Aha, dann schreiben Sie mal ihre Geschichte. Und wende Sie sich erst wieder an mich, wenn die Rechnung bezahlt wurde. Vorher werde ich nichts für Sie tun!“, sagte sie und man verabschiedete sich minimalistisch.

Sichtlich neben der Spur legte er auf, hatte nicht einmal mehr den Willen sich aufzuregen, lief einmal verwirrt durch die wenigen Zimmer der kleinen Mietwohnung und drückte im Tran die Wahlwiederholung, um ein zweites Mal direkt mit Frau Silberhorn zu sprechen.

Amtsgericht Alsfeld, Moog am Abbarad … bidde?!“, wurde er wider Erwarten und widerwärtig begrüßt, funktionierte aber dennoch leidlich, indem er fragte:

„Äh, Hallo … hier ist nochmal Quartz, ich müsste ein weiteres Mal zu Frau Silberhorn durchgestellt werden.“

„Wisse’se eigendlisch, wie späd es is‘? Wir ham‘s kurz nach zwölf und die is‘ sicher in de‘ Middagspaus‘. Ich stell’se jetzt nemmer zu ihr dursch. Ruf’se heude Mittach nochema an, die Durschwahl is‘ …“

„Ich kenne die Durchwahl und brauche sie nicht – Mahlzeit!“, legte er rüde auf, jetzt wieder energisch genug, um Laut durch die Wohnung zu brüllen: „Wrahhh! Das ist der rein Wahnsinn, so ein verfluchter Schwachsinn!“

Seine Tochter, die irgendwie immer und überall war, wo sie nicht sein sollte, kuckte entsetzt drein. Seine Gefährtin kam herbeigeeilt, schaute ihn böse an und schickte sich an, das erschrockene Kind zu trösten. Das allerdings, brüllte nun selbst herzhaft, strahlte schon wieder und grabbelte beherzt auf den Papa zu. Der nahm den Trost kurz aber freudig an, entschloss sich dann aber doch, es direkt mit der Durchwahl zu Frau Silberhorn zu versuchen, rücksichtslos gegen die Mittagspause und eigenwillig gegen den Amtsschimmel. Nach dreimaligem Klingeln hatte er erfreulicherweise damit Erfolg:

„Frau Silberhorn hier, was kann ich für Sie tun?“

„Abermals Quartz. Ich beginne zu verzweifeln. In Gießen sagte man mir nachdrücklich und eindeutig, ohne eine zweite Rechnung, die ich daraufhin ohne Mahngebühren bezahlen soll, würde man mir nicht helfen. Ich muss Sie also ebenso nachdrücklich bitten, auf Ihr Knöpfchen zu drücken – sonst wird das wohl nie was …“

Mit einem humorlosen Lachen antwortete sie: „ … mein Gott, ich beginne langsam, Sie zu verstehen. Das hat so keinen Sinn, am besten rufe ich selbst mal in Gießen an und kläre das mit der Kollegin. Wie war nochgleich ihr Name?“

„Frau Franjo heißt sie. Ich kann Ihnen auch gerne die Nummer mit der Durchwahl diktieren“, erbot er sich.

„Gerne, das macht es etwas leichter. Ich notiere …“, kündigte sie an und er diktierte ihr: „Also, die Nummer lautet: 0641 934-2342.“

„Gut, Herr Quartz, ich werde später versuchen, die Problematik aufzuklären, und rufe Sie dann noch heute oder spätestens morgen zurück.“

„Danke für Ihre Initiative und eine erholsame Mittagspause – auf Wiederhören“, beschloss er das Gespräch seinerseits, lauschte ihrer Verabschiedung und legte auf, erstmalig zufrieden und hoffnungsfroh, einer Lösung nähergekommen zu sein.

Zurück ging es in den Alltag: Brei füttern, Unterrichte vorbereiten, umziehen und wie meist mit moderater Verspätung in den Arbeitstag starten – just in diesem Moment klingelte das Telefon. Er schaute, gestresst von seiner unliebsten Marotte, dem schlechten Zeitmanagement, nur flüchtig auf das Display, erspähte die Vorwahl von Alsfeld 06631 – und beschloss sodann, durch die Tür stürmend, morgen früh zurückzurufen. Das System konnte warten, seine Selbstständigkeit hingegen nicht.

Abends, nach einem Tag selten zermürbender Mathematikunterrichte, in denen er direkt hintereinander bestenfalls am Intellekt von gleich zwei Achtklässlern, die partout nicht im Stande waren, zwei Punkte mit vier Koordinaten in die Steigungsformel mit eben diesen je zwei x- und zwei y-Werten einzusetzen, oder schlimmstenfalls an seiner Lehrbefähigung zweifeln musste, las er seiner Tochter vor dem Zubettgehen traditionsgemäß etwas vor. Auch wenn die Kleine mehr auf Bilderbücher und Lieder flog, kaum drei verständliche Worte mit kaum mehr als zwei Silben hervorbringen konnte, hatte er den Hang, ihr klassische Texte vorzulesen. Nachdem er mit dem recht blutrünstigen Sagenkreis der Griechen nach dem dritten Lebensmonat gebrochen hatte, war er zu Märchen, Gedichten und klingender Literatur übergegangen. Zumeist kam er nicht weit, weil sein Goldstück nicht eben leicht für derartige Schriften zu begeistern war. Sie bestätigte das pädagogisch geschulte Urteil der Mutter, in dem Alter seien solche Texte ebenso sinnlos wie witzlos, häufig durch rasche Flucht und respektive oder lautstarke Beschwerde. Daraufhin musste er sie regelmäßig mit ihrem Lieblingslied, Die Gedanken sind frei, wieder aufmuntern. So begann er mit seinem heutigen Exempel an bildungsvernarrter Lehrer-Schrulle und las vor, mit wohlmodulierter Stimme und komplett vergessend, dass er noch eine Rechnung mit dem System zu begleichen hatte:

Der Zauberlehrling, von Johann Wolfgang von Goethe:

Hat der alte Hexenmeister
sich doch einmal wegbegeben!
Und nun sollen seine Geister
auch nach meinem Willen leben.
Seine Wort und Werke
merkt ich und den Brauch,
und mit Geistesstärke
tu ich Wunder auch.

Walle! walle
Manche Strecke,
daß, zum Zwecke,
Wasser fließe …“


Wochenendlektüren Nr.6 – YY1: S. 2-5/~34 [Version 1.2]

Pflicht oder Lust, was sollte das Schreiben, ja mehr noch, das Leben anleiten? Ist eine Handlung authentischer, womöglich sogar moralischer, die aus positiver Neigung alá „Ja, darauf habe ich richtig Bock!“ getan wird oder eher diejenige, welche innerhalb eines vernünftigen Wertesystems erwogen und abschließend pflichtbewusst getroffen wird, wenn nötig im Unterschied zu erstgenanntem Hedonismus auch negativ alá „Wäre zwar geil, ist aber unklug oder gar ungerecht – also: Nein!“ bzw. „Eigentlich keine Lust, aber muss halt, deshalb: Ja!“?

Dieser Fragekomplex klingt nicht nur groß, er ist philosophiegeschichtlich epochal und auch psychologisch noch unabgeschlossen, wenn nicht unabschließbar. Ich komme darauf und drehe mich darum, weil ich in puncto Blog für sich und Schreiben an sich häufig zu trägem Hedonismus neige. Hierbei und ganz im Gegensatz zu anderen Bereichen des Lebens, die weniger ästhetisch und fakultativ sind, vermag ich kaum eine Pflichtethik anzuerkennen und anzuwenden. Warum auch, geht es hierbei, hierin doch weder um den potentiell leidenden Anderen, das größere Glück des Kollektivs oder um Fortschritt und Perfektion …

Und schon beginne ich meine zuerst so klare Trennung zwischen Lust und Kunst auf der einen sowie Ernst und ökonomischer Politik auf der anderen Seite des ethischen Terrains anzuzweifeln. Wahrscheinlich zurecht, ist doch ein naiver Hedonismus selten ein guter, weil erfolgreicher Lebensberater – trotzdem, begehre ich sodann wieder auf und beharre zuletzt: Ich schreibe nur, wenn ich Zeit und Lust, Muße und Muse habe.

Jetzt ist ein solcher Moment, heute ein solcher Tag. Also macht euch auf ein paar frische Inhalte gefasst. Den Anfang macht altbewährtes und neu überarbeitetes Material vom literarischen Dilettanten in mir. Es geht dabei heute zunächst weiter mit Yin & Yang (YY) in der zukünftigen Sklavenhalterstadt Gor Thaunus; währendessen wartet Xaver S. (XS) weiterhin im Erdorbit auf seine Landung und damit Fortsetzung; Alice Aqanda (AA) harrt gelassen im Grünen ihrer lange überfälligen Aktualisierung; von der noch ausstehenden Bekanntschaft mit Kjotho (KJ), dem tierischen Trio Trudie, Valerian und Balthazar (TVB), den Psychedeelern (PD) und dem noch namenlosen Vektoren (V8) nicht ganz konsequent geschwiegen.

In dieser Richtung kann also, das wollte ich oben just mal angedeutet haben, noch viel passieren; weswegen das Format Originale und die verbundenen Formate und Themen im Gegensatz zu manch anderem Aspekt von Quanzland und trotz aller hedonistischen Latenz und Leere eine rosige Zukunft haben. Am schlimmsten steht es dabei derweil um die „Kulinarik“ und die „Wilden Trips“ – erstere siecht modrig dahin, zweitere warten weiterhin auf Wachstum.

Nun also zum nächsten Streich, der mit Lust geführt und mit Grüßen komplettiert wird, Euer Satorius


1. Zugang YY – Gor(e)

Mit Yang ist heute kaum was anzufangen, der döst schon eine ganze Weile nur so vor sich hin oder tut jedenfalls erfolgreich so als ob – vielleicht nur, um mir im richtigen Moment dazwischenfunken und damit die Show stehlen zu können. Ich kenne mein Bruderherz nur zu gut, aber hier gibt es erstmal nichts zu stehlen. Mit meiner Eröffnung will ich auch üben, so cool, schlagfertig und selbstsicher zu wirken, wie er es ist und ich es nicht wirklich bin. Wie auch, in die Rolle einer Sache gezwungen, bloßes Eigentum, ist sowas wie echtes Selbstbewusstsein ein krasses Kunststück. Erst recht fällt es mir heute Abend schwer, eine Stunde nach dem Ende meiner erst achten Tagschicht in allerhöchstem Hause. Nach der ersten Woche in meiner neuen Funktion als Hausdienerin bin ich offen gestanden reichlich daneben, ziemlich übellaunig und noch fertiger mit der Außenwelt als schon zuvor – weit mehr und auf eine andere Art, als ich anfangs gedacht habe. Ich komme mir klein und wertlos vor, nichtig.

Außerdem sind die erbärmlichen Gestalten dort drüben kein allzu geiles Publikum für meine Ego-Show. Wenn sie mich überhaupt verstehen können, stutze ich, weil mir erst jetzt klar wird, dass hier keinesfalls jeder die Sprache der Gründer – Deutsch – spricht. Vielleicht sprechen sie Neolatein, Englisch oder sogar Solar, wobei all die anderen alten Sprachen und besonders die frühere Einheitssprache hier strikt verboten sind. Da ich keine weitere Runde Regelsurfing starten will und das Glückspiel Welche Sprache ist die richtige? einer bescheuerten Lotterie gleichkommt, bleibe ich still. Dank meines früheren Lebens spreche ich immerhin einige Sprachen, zumindest oberflächlich. Doch gibt es neuerlich wieder so viele verschiedene Sprachen, denn jeder popelige Zwergstaat will seine eigene haben. Auch wenn Deutsch die gängige Sprache in Gor und Umgebung ist, wer weiß schon, von woher die vier Typen gekommen sind. Die Fluchtwege sind bekanntlich lang und haben solares Ausmaß – fast jeder will auf die Erde zurück und dort in einer der Lebenszonen unterkommen. Wir sind zwar nur ein kleiner Vorposten irgendwo in der Wildnis, liegen aber so nahe an einer der Großen Sieben, dass hier reger Durchgangsverkehr herrscht. Auch hätten die verdammten Jägertrupps ihre Reviere mittlerweile weit nach Westen, sogar bis jenseits des Rheins ausgedehnt, so munkelt es zumindest die brühwarme Gerüchteküche in der Glasstadt, und zwar strikt auf Deutsch. Hunger drängt sich abermals auf, mein Magen knurrt vernehmlich.

Woran es auch immer liegen mag, verdränge ich meinen Körper nochmals, ob sie mich nicht verstehen können, anderweitig kaputt oder sonst irgendwie daneben sind, ich ernte weiterhin keine Reaktion auf meine tolle Ansprache. Nicht Mal die kleinste Regung dort drüben, überhaupt gar nichts. Wie die vier Gestalten in ihren sichtlich versifften Klamotten da herumlungern, gilt es hier wirklich weder jemanden zu beeindrucken, noch gibt es irgendwas zu gewinnen. Inzwischen verharren sie seit über fünf Minuten unbewegt im Eingangsbereich unseres Lagers, nachdem sich zuvor das schwere Panzertor mit einem unheilvollen Krachen fest und unwiderruflich hinter ihnen verschlossen hat. Davor war es wie immer geräuschvoll aber träge zur Seite und ebenso auch wieder zugeglitten, minutenlang in gähnender Langsamkeit und mit einem widerwärtigen Knarzen und Knirschen – nervig und spannend. Irgendeiner von den ach so tollen BeatBoyz musste zuvor also wenigstens so viel Aufmerksamkeit aufgebracht haben, das Tor zu öffnen und sie damit zu uns reinzulassen. Einfach mal so, frei nach dem Motto: Scheiß auf die Sicherheit der Wertlosen. Unsere Sicherheit bedeutet ihnen kaum etwas – das ist echt typisch. Den Rest der üblichen Prozedur, die man gelegentlich sogar mal miterleben darf, scheint man in der aktuellen Schicht kurzerhand und bequemerweise vergessen zu haben. Das ist so bezeichnend für das verstrahlte Pack.

Ich beginne nochmals herumzuspinnen, mache mir wieder allerlei Sorgen: Wer weiß schon, was die Neulinge uns hier gerade einschleppen. Myrte aus Kuppel 67 hat mir heute Morgen erst wieder grausige Gerüchte über die angeblich gebrochene Kontaminationsgrenze nicht weit im Westen direkt am Mittelrhein erzählt. Seitdem wären die bisher schon lebensgefährlichen Todeszonen noch tödlichere Orte geworden – wenn das halt stimmt, was sie berichtet hat. Es klang schon hart übertrieben und unglaublich. Yang hält Myrte, wie viele andere auch, für eine Spinnerin. Solche Gerüchte sind für ihn nur hysterisches Geschwätz von Dummköpfen oder sogar schlimmstenfalls konterrevolutionäre Propaganda.

Dass mein Bruder derartig abstrakte Idee denken und solch heftige Worte aussprechen kann, verblüfft mich immer wieder aufs Neue. Seit er mit den selbsternannten Marxisten abhängt, überrascht er mich häufiger mit schrägen Idee aus der europäischen Vorgeschichte, die aber meist gar nicht mal so daneben sind. Dabei bin ich von uns beiden für Denken und Wissen zuständig und er, ja er, ist eher praktisch veranlagt – ein kleines, halbstarkes Männchen eben. Wow, denke ich selbstzufrieden, meine Überheblichkeit fühlt sich gut an, wäre das doch nur immer so.

Wahrscheinlich träumt mein starkes Brüderchen gerade von einem weiteren, nutzlosen Aufstand der Sklaven. Diktatur des Proletariats, wie es seine neuen Freunde nennen müssten, wenn sie mehr als nur den Namen Marx und ein paar Schlagworte irgendwo aufgeschnappt hätten. Ich kenne diese Leute in Wirklichkeit überhaupt nicht persönlich, sehe sie nur aus der Ferne und höre von ihnen aus Yangs Erzählungen. Nachdem er vor ein paar Monaten in den Minen angefangen hatte, lernte er in seiner Schicht zwei Typen – Mike und Bob – kennen und fing an, mit ihnen und ihrer Clique abzuhängen. Wie auch immer man sich freiwillig für so bescheuerte Namen entscheiden kann, ist mir rätselhaft, wo doch die Wahl des Namens eine der wenigen Freiheiten ist, die wir Sklaven hier haben. Nach allem, was ich bisher mitbekommen habe, traue ich diesen Pseudorevolutionären kaum mehr als Halbwissen über die tatsächlichen Hintergründe zu. Aber wenn man so schwer schuften muss, wie diese Typen das unter Tage, auf den Feldern und in den Schwitzbuden tun müssen, dann braucht man wohl den Irrglauben an Widerstand als eine Art der Überlebensstrategie. Sollen sie nur weiterreden und vor sich hinträumen, solang sie und damit vor allen mein Bruder Yang nicht irgendwann wieder was handfest Dämliches versuchen. Das letzte Mal war eine derbe Sauerei mit viel Geschrei, Gewalt und zu vielen Toten gewesen. Als die letzten Möchtegernrebelen es vor ein paar Jahren, nur ein paar Monate nach unserer Ankunft, mit einem Aufstand versucht hatten, haben wir am Ende ziemlich viel Platz und auf einmal sogar größere Rationen bekommen – dann doch lieber Regelsurfing, denke ich mir und horche auf.

Wochenendlektüren Nr.5 – YY1: S. 1-2/~34 [Version 1.2]

Während der Plot fast ausgereift ist, die Konflikte und Motive grob geklärt sind, letzte Justierungen an Erzählstruktur, Stil und Personal – bisweilen schmerzhaft und definitiv langwierig – vorgenommen und umgesetzt worden sind, lasse ich die Wochenendlektüren freimütig wiederauferstehen. Texte für die Füllung gibt es nunmehr genug, sogar für eine echte Kontinuität sollte es langen; ob die Artikel aber immer so zeitig, ordentlich und ausführlich kommentiert sein werden, wissen nur die Moiren und Musen.

Zuvor hat eine andere Figur aus dem selben (nicht gleichen) Kosmos, der Neumensch Xaver S., den literarisch-dilletantischen Reigen mit vier schweren Takten eröffnet, aber auch ihm und seiner Geschichte ergeht es nun zum dritten oder vierten Mal so, wie es YY1 sogleich ein zweites Mal ergehen wird: Es folgt auch bei diesen beiden das Update heraus aus der Betaphase hinein in die erste finale Version 1.0 (mittlerweile im Update 1.2), bei jenem schleicht sich bereits die Version 2.3 in den Tiefen des Blogs still und heimlich heran. Deshalb erlaube ich mir frei heraus eine Empfehlung in Richtung des Updates der ersten vier Teile von XS1, denen sich bald irgendwann die restlichen Sequenzen des ersten Kapitels und zukünftig unbestimmt auch einmal des zweiten, abgeschlossenen und des entstehenden dritten Kapitels im Rahmen der Wochenendlektüren anschließen werden – vom nur imaginierten vierten oder gar dem vorgenommenen fünften Kapitel beinahe geschwiegen. Hier also findet ihr die Aktualisierung der Urzelle meiner literarischen Ambitionen, welche demgemäß auch der am weitesten entwickelte Text innerhalb der sieben so unterschiedlichen Zugänge zum namenlosen Experimental-Sandkasten-Epos sein dürfte: Wochenendlektüren Nr.1 – XS1: S. 1-5/~46 [Update 2.3]

Nun aber zurück zum Zentrum diese Artikel und des angekündigten Textes, einer Erzählung über das Schicksal des angeblichen Zwillingspaars Yin und Yang. Die beiden illustrieren mit je eigenem Stil, Blick und Gebahren die dystopische Sklavenhaltergesellschaft in Gor Thaunus, gelegen in der apokalyptisch-düsteren Eifel des (Solar-)Jahres 133. Eine andere Erzählsituation als bei XS und der erklärte Wille, beiden Protagonisten eine prägnantere, markantere Stimme zu verleihen, leiten die Überarbeitung des aus der Betaphase her bekannten Stoffs an.

Im Rahmen der noch jungen TSF-Reihe Wochenendlektüren ist es zwar die Premiere für YY, das Format Originale jedoch hat schon mehrere Versionen (ohne nachzuschauen schätze ich: ca. drei) von YY1 dokumentiert und archiviert. Zuletzt erschien hiervon die erste, fast-final zu nennende Version 0.9 und wer sich hart spoilern will, der kann sich bereits jetzt den gesamten Textkorpus des ersten Kapitels auf einmal reinziehen. Nunmehr jedoch möchte ich schrittweise versuchen, dem Inhalt eine lebendigere und echtere Form zu verleihen. Mal sehen, ob diese hehren Ambitionen weit tragen – man darf gespannt sein!

Euer leselahmer, blogverhaltener zugleich dennoch spiel-, seh- und derzeit schreibwütiger, Satorius


1. Zugang YY – Gor(e)

„Hey ihr! Kommt mal rüber. Herzlich willkommen im schönen Gor Thaunus, wo NÄCHSTENLIEBE und FREIHEIT großgeschrieben werden! Wir zwei sind eins, mein Bruder Yang und ich – Yin, einfach nur Yin“, beginne ich den süßsauren Begrüßungsversuch der vier Fremden mit einem meiner einstudierten Sprüche für die Gattung Frischfleisch. Nichts rührt sich.

Rauch liegt in der Luft. Es riecht würzig, nach Reisig, Brot und sogar Fleisch, wohl aus den Backhäusern, in denen die Höheren ihre Nahrung zubereiten. Ich habe dabei natürlich schon wieder heftigen Hunger, aber meine Tagesration an Synthoschleim vorhin bereits komplett aufgegessen – am späten Nachmittag! Dieser ekelhafte, graubeige Nährbrei macht mich bestenfalls satt, reicht aber selten bis zum Abend. Ich versuche, den fiesen Duft zu verdrängen, der von oben aus Hohenherz und der Berggasse zu uns herunterweht, und werde sogleich von aufdringlichen Erinnerungen an früher heimgesucht. Erinnerungen an Mamas asiatisch-arabische Wokgerichte überfallen mich stattdessen, sind mir gleichzeitig Trost und Qual. Also lasse ich auch sie weiterziehen, schiebe sie vielmehr mühevoll beiseite. Da ich gerade überhaupt keinen Stoff, was auch immer, mehr gebunkert habe, ist Regelsurfing eine gute, ehrlicherweise sogar die einzige Alternative zum Ablenken. Das ist eine bei uns Niederen sehr beliebte Abwechslung, in der sich eine Portion Gefahr mit Genugtuung vermischt. Unser und mein größter und allzeit verfügbarer Freizeitspaß besteht im bewussten Provozieren der Ordnung. Wir spielen dabei mit den vielen, so seltsamen Regeln, die uns die sogenannten Eigentümer auferlegt haben. Die meisten dieser Gesetze kennen wir, das Eigentum, aber eben nicht alle, weshalb man immer mal wieder überrascht wird. So habe ich eben bereits bewusst gegen eines der weithin bekannten Verbote verstoßen, als ich meine abgegriffenen Worte über den halben Platz hinweg Richtung Südosttor gebrüllt habe, so laut und so weit ich mit meinem sanften Stimmchen eben brüllen kann.

Es sind neuerlich viele Obdachlose hierher gekommen, dabei sind die meisten Wohnkuppeln mittlerweile beinahe wieder aufgefüllt und bald wird es deshalb wohl noch enger darin werden, als es bisher zu zweit schon ist. Na, warte ich weiterhin gespannt ab, kommt heute eine Konsequenz? Nervenkitzeln flasht mich dabei angenehm, ich warte nervös und bin erregt – komplett egal, ob noch eine Strafe folgt. Und wie meistens, wenn einer von uns sich laut hörbar bemerkbar macht, interessiert das die patrouillierenden Wächter in der Nähe überhaupt nicht, ganz im Gegensatz zu dem leblosen, gelben Ding zwischen meinen Augen. Ich verfluche diesen verdammten Ring in meiner Nase, den ich nicht übersehen kann und auf dem alles über mich gespeichert wird. Mein Name – Yin – und eine fünfstellige Nummer – 24017 – sind sogar mit bloßem Auge zu lesen, der Rest sind unsichtbare Daten. Diesem Ding gegenüber, also der darin verbauten Überwachungstechnik, erlaube ich mir gerade den Regelverstoß und riskiere damit eine Bestrafung durch das teuflische Gerät. Geht meine Aktion schief und ich werde erwischt, wird es vermutlich schmerzhaft ausgehen. Aber den kleinen Einsatz ist der kurze Rausch wahrlich wert und so schlimm ist die Strafe dann auch wieder nicht. Ein kleiner Moment der Pein kommt immerhin einem kurzen Lebenszeichen gleich. Wir sind nämlich sonst sowas wie lebende Leichen, allesamt irgendwo zwischen Leben und Tod, schuften vor uns hin, funktionieren bestenfalls einwandfrei, sind dabei kaum der menschlichen Aufmerksamkeit wert und werden also, wo das möglich ist, zwischenmenschlich ignoriert. Auf diese eine Art sind wir hart unsichtbar, werden aber auf allen anderen Ebenen heftig durchleuchtet: Mein Puls, mein Hautwiderstand und die Zusammensetzung von Blut, Schweiß, Speichel und sogar meiner Scheiße werden jederzeit aufgezeichnet, irgendwo registriert und analysiert, machen mich so zum Opfer meines Körpers und zur Geisel meiner Vergangenheit. Ein altes, verblasstes Bild fällt mir ein, auch wenn es sogar hier in den Niederungen der Stadt nanotechnologisch rein ist und beides nicht gibt: Ich sitze hier fest wie eine Mücke im Spinnennetz, unsicher und ängstlich, sobald ich mich zu viel rühre, weiß die mörderische Spinne sofort Bescheid, kommt herbei und sorgt gründlich für Ruhe. So richtig verstehe ich das große Ganze mit der Technik, den Regeln und den Strafen aber auch nicht. Aber Yang und die Älteren halten sich für klüger und haben es mir grob erklärt. Bisher hat ihre Theorie meistens gestimmt, also muss sie irgendwie wahr sein, es passt zu häufig und zu gut zusammen.

Erwartungsgemäß beachten mich die Wächter dort drüben auf dem Wall nicht ein Stück weit – warum auch. Ich meinerseits sehe sie, habe jedoch keine Ahnung, wer sich unter den schwarzgrünen Körperpanzern mitsamt geschlossenem Helm versteckt – sicher irgendwelche Mitläufer aus der Berggasse. Dass sie mich in Ruhe regelsurfen lassen, ist also gerade nicht das Ungewöhnliche, sondern die Tatsache, dass ich dieses verbotene Gespräch überhaupt eröffnen konnte, und auch, dass ich weiterhin ohne jede körperliche Folge davonkomme. Glück gehabt, freue ich mich noch, als sich ein neuer Gedanke aufdrängt: Von wegen Glück, das kann anderweitig schief gehen! Am Ende könnte ihre Unfähigkeit, ihre Faulheit unser aller Pech sein! Wenn dieses Pack jeden Streuner einfach so hier reinlässt, ohne ihn zuvor ordentlich oder überhaupt mal zu kontrollieren, haben wir die Folgen zu tragen. Ihre Aufgabe ist es, die vier Eindringlinge zu überprüfen und so für Sicherheit zu sorgen. Aber was tun die Scheißer stattdessen: Nichts, außer die meiste Zeit über dumm rumstehen und bloß gelegentlich wichtigtuerisch hin und her laufen.

Oder übertreibe ich gerade mal wieder heftig, spinne mir was zurecht und alles ist in bester, schlechter Ordnung? Was soll’s, es sind ja bloß gruselige Geschichten, vertröste ich mich. Die Ankunft der vier Neulinge ist erstmal nicht mein Problem, vielleicht ja sogar überhaupt kein Problem. Im Gegenteil, es ist eine Gelegenheit und die serviert mir am frühen Abend eine willkommene Abwechslung zum normalen Regelsurfen. Trotzdem, die Lust am Risiko des Erstkontakts ebbt schon wieder ab und so krass wie mein Bruder bin ich dann doch nicht. Noch mehr zu wagen, wage ich jetzt nicht mehr, bin aktuell leidlich zufrieden mit mir und meinem Dasein: Es ist beschissen, aber es war schon schlimmer.

Wochenendlektüren Nr.4 – XS1: S. 16-20/~53 [Update 2.3]

Immer wieder Sonntags kommt neuerdings die aktuelle Wochenendlektüre. Gründe für die Verschiebung Richtung Ende des Endes gibt es viele, gute wie schlechte, wie das in einer komplexen Welt zumeist der Fall ist: Arbeit allem voran; andere Hobbys, Stichwort: Lebensräume, Familie und bisweilen Schreibunlust; wobei die Reihenfolge die konkrete Relevanz abbildet, nicht die generelle Wichtigkeit des Motivs.

In diesem radikalen Sinn mache ich eine große Einzahlung bei der Zeitsparkasse, fasse mich kürzestmöglich und grüße mit weiteren fünf Seiten über Xavers Welt nunmehr auch als im Präsens und als absatzloses Kontinuum vorgetragene Hyperrealität.

Schönen Sonntag solange, Euer Satorius


Als ich das vor guten sechs Monaten obenstehenden Text verfasst hatte, konnte ich nicht ahnen, wann und wie und wer derjenige sein würde, der nun den Update-Text hier verfasst – soweit so anonym und damit nichtsagend. Den Rest dieser sicher spektakulären Geschichte über Veränderung, Wachstum und Wandel verschlingt der geheiligte Datenschutz, wird durch den Wert der verehrten Privstspähre maskiert und veschleiert. Es hat sich zwar viel getan, und zwar nicht nur am Text, aber Ton und Inhalt obiger Botschaft aus der gefühlt unüberbrückbar fernen Vergangheit bleibt in Gänze bestehen, wie es auch latentens Thema der einschlägigen Wochenendlektüre ist: Zeit ist das wertvollste Gut, das wir haben können, und somit das wertvollste Geschenk, das wir machen können! Xaver hat dafür seinen ganz eigenen (fiktionalen) Lösungsansatz: hyperreale Zeitdilatation, dazu an anderer, späterer Stelle mehr …

Schönen Samstag (dieses Mal,) derweil, Euer Satorius


(…) 1. Zugang XS – Schwere Ausnahmefehler im System

Heraus aus seinem extraterrestrischen Versteck, einer eben noch erträglichen, aber absolut tristen Zuflucht auf dem lebensfeindlichen, wenn auch seit langem umfassend kolonisierten Erdtrabanten, führte ihn seither sein Pfad. Er hatte die ebenso bedeutungslose wie sichere, lunare Ansiedlung verlassen, deren einzige Existenzberechtigung in mäßig ertragreichem Tiefenbergbau bestand. Der mickrige Gewinn rechtfertigte so gerade noch die hohen Fixkosten, besonders zu Buche schlugen diejenigen für Lebenserhaltung. Seltene Erden und eine reiche Auswahl an Edelmetallen und -gasen wie Helium-3 und dergleichen triviale Rohstoffe mehr, waren hier massenweise vorhanden und wurden entsprechend emsig gefördert. Diese Einrichtung besaß sogar nicht einmal einen gewachsenen Namen und hieß entsetzlich nüchtern und unoriginell: KK-Q32.24D – worin viele Informationen codiert worden waren, aber Außenstehenden, Nicht-Genossen, nichts erzählt wurde.

Leidenschaftslos war sein Verhältnis zu diesem Ort, der ja immerhin seine Zuflucht gewesen war, ja zu realen Orten, wenn nicht gar zur Physis überhaupt und zur Materie insgesamt. Er lebte stattdessen entschieden lieber und deutlich länger in seiner Hyperrealität. Für dortige Eskapaden, der Ironie nicht genug, brauchte er aber eine sichere Zuflucht in der wirklichen Welt, bedurfte einiger Ressourcen und spezieller Bedingungen, die ihm bisher wie selbstverständlich zur Verfügung gestanden hatte. Dass es ewig so weiterginge, hatte er bis zum letzten AU noch stur und realitätsblind angenommen, wusste es nun, einen Tag später, aber leider endgültig besser. Seine Zeit bei der a.u. war tatsächlich vorüber, sein sieben, unermesslich lange Solarjahre währendes Exil war vorbei, die Überlebensflatrate war ihm ein für alle Mal gestrichen worden. Warum gerade jetzt, war ihm nicht ganz klar geworden; warum gerade dort, im Untergrund von KK-Q32.24D eines der Refugien der academia universalis verborgen war, wusste er dafür gewiss: Die pure Irrelevanz dieser winzigen Station, die mitsamt ihrer lunaren Umgebung in solarstrategischer Perspektive bedeutungslos war. Keine der vielen sichtbaren und unsichtbaren Konfliktparteien interessierte sich für diesen hellstgrauen, aber eben nicht ganz weißen Fleck auf ihren Karten; damit bot die Gegend ideale Bedingungen für den Betrieb einer Zuflucht, gelegen ein Dutzend Meter unterhalb einer beinahe vollautomatischen Bergbauanlage. Eine Art besserer Hausmeister – Michel, der Wildwüchsige, wie ihn die hochgebildeten und durchaugmentierten Neumenschen in der a.u.-Enklave im Scherz nannten – lebte ganz alleine oberhalb des ausgedehnten Komplexes und wartete dort die Robotanlagen, welche jedoch derart optimiert waren, dass sie sich weitgehend selbst versorgten und sogar den Abtransport der wertvollen Rohstoffe autonom organisierten. Er war also latent in Bereitschaft, unterbeschäftigt und lebte sich in seiner Freizeit ungehemmt aus, wusste unterdessen aber rein überhaupt gar nichts von der illusteren Horde an Cyborgs unter seinen Füßen; so unternahm er tagein tagaus allerlei belustigende Peinlichkeiten und sorgte damit immer wieder für Erheiterung unter den hiesigen Mitarbeitern der academia.

In jener trotz allem technischen Fortschritt und jüngerem Rückschritt noch immer schlecht erschlossenen Zone auf der erdabgewandten Rückseite des Mondes, einige Kilometer südwestlich des Mare Ingenii, hatte sein aufgezwungener Ausweg seinen Anfang genommen. Danach hatte ihn seine Route über nur wenige unbedeutende Zwischenstationen zum zentralen Raumknoten auf dem Mond geführt, in die vormalige Millionenmetropole Eluna. Dort war über viele Generationen hinweg in vielerlei Hinsicht Menschheitsgeschichte geschrieben worden; unübersehbar in steinernen, metallenen und synthetischen Lettern buchstabierte und manifestierte die gesamte Ansiedlung einen epochalen Triumph der raumfahrenden Menschheit über den lebensfeindlichen Weltraum. Aber Xaver S. interessierte das nicht, nicht mehr, trotz aller Liebe zur Historie. Er hatte vor der Abreise aus dem Refugium noch Unmengen an Daten akquiriert, auf legalem wie illegalem Wege, hatte legale wie illegale Inhalte mitgehen lassen; unterwegs dann, für die tagelangen Fahrten über die endlosen Pisten aus staubigem Regolith, hatte er sich üppige Bildungs-, Erlebnis- und Unterhaltungsprogramme zusammengestellt: Neben etlichen alten Filmen und Multimediaquellen, faktischen wie fiktionalen, von und über die verwüstete Erde, bestand seine Auswahl auch aus unzähligen Wissensnetzen zu allen wichtigen Stationen der geplanten Reiseroute, und sie wurde selbstredend um etliche Erfahrungsräume erweitert, wobei teilweise Meisterwerke an hyperrealen Simulakren dabei gewesen waren. Hierbei war er unter anderem mehrere Tage durch das ebenso historische wie damals noch prosperierende und pulsierende Eluna des Jahres 69 solarer Zeitrechnung geschlendert, hatte währenddessen diese markante Metropole mit ihren schroffen Kontrasten ganz für sich entdecken dürfen: das solare VM-Diplomatiequartier, die schwebenden Gärten, das Denkmal der Ersten, die lunaren Niedrig-G-Werften, die Ausgrabungsstätten beim Kopernikuskrater, aber auch gewöhnliche Kneipen, teuere Clubs, billige Bars und edle Bordelle sowie Restaurants, Museen, Tempel und natürlich die Mediatheken und Casinos. All das hatte er selbst erleben dürfen, wirklich am eigenen Leib mit- und durchgelebt, mit allen Sinnen hatte er die damalige Welt erfahren, die singulären, dennoch simulierten Bewohner und einzigartig erscheinende Erlebnissen unter und mit ihnen erfahren. Dass er sich danach noch ein aktuelleres Simulakrum aus dem vorletzten Solarjahr angesehen hatte, bereute er fortgesetzt. Dieser Ort war seither, wie viele andere im Sonnensystem auch, gestorben, war vielmehr halb- und untot, entstellt und pervertiert; aber immerhin war er durch diese abschreckende Aktualisierung seiner Erwartung gewarnt worden, hatte sich deshalb vor dem Abflug weitgehend vollisoliert und ohne unnötige Umschweife, dort angekommen, fortbewegt. Zudem sah die mittlerweile exakt fixierte und seitdem rigide implementierte Reiseplanung solcherart Eile nicht nur für die Passage durch Eluna vor; er würde sich auch darüber hinaus spürbar hetzen müssen: Zeit bedeutete Überleben, mit der einzigen Ausnahme des restlichen Tages nach seiner Landung in Frankfurt am heutigen Nachmittag. Dort wollte er sich soweit möglich gründlich umsehen, wirklich erfahren und erleben wie die Korporation dort unten auf der Erde herrschte und handelte. Dementsprechend zügig und zeitig war er zuvor am Terminal für interplanetare Transits angekommen, hatte seine raren materiellen Besitztümer aufgegeben und war vorzeitig aufs Flugfeld hinausgetreten. Dort hatte sogar er dann innegehalten, denn der Raumknoten war auch heute noch ein beeindruckender Anblick, bot einen berauschenden Ausblick, war trotz des Verfalls absolut sehenswert. Er stand einfach da und starrte mit saugendem Blick, sah langsam schweifend um sich: Er erblickte die farbenfroh und teilweise gemustert kolorierten Kraftfelder über und hinter den vielen Raumschiffen, schwenkte weiter, hinüber zum Hauptkomplex des Raumhafens, der ein Musterbeispiel früher hypersolarer Hocharchitektur darstellte, blickte über die Kuppellandschaft hinweg, die bis nach Alt-Eluna hinüberreichte und ihrerseits die nichtzerstörten Teile der ehemaligen Gartenlandschaft beherbergten, und fokussierte zuletzt noch kurz sein in der Ferne unverkennbar vor der Schwärze des Alls schimmerndes Reiseziel. In Blau, Grün und Weiß leuchtete es ihm entgegen, prangte es dort vor dem sternengespickten Vorhang des Weltalls; lockte ihn mit den lebendigen Farben der toten VM, der alten Eutopie einer lange vergangenen Vereinten Menschheit. Er hatte für den Flug dorthin gut ein Viertel seiner Geldmittel aufgewendet, hatte eine Passage in Richtung traumatische Vergangenheit gebucht; Destination: Erde – Region: Zentraleuropa – Raumknoten: Frankfurt Rhein/Main. Dort würde die herrschende Dystopie ihn …

… der Gedankengang bricht jäh ab; sein konstant rebellierender Leib und der dagegen gerichtete Gedankensermon verstummen beide, Last und Leid verpuffen schlagartig, lösen sich plötzlich und gänzlich auf: Ein Riss in der Kontinuität der Realität tut sich auf, eine Sprungstelle in seiner Existenzkurve, ein kurzer Konflikt zwischen zwei Wirklichkeiten entflammt; tobt; verlischt; dann ergießt sich reine Wonne – unmittelbar, unerwartet, wundervoll wie der initiale Augenaufschlag an einem lichten Sommermorgen, heraus aus einem berauschenden Traum – inmitten seines Bewusstseins; wohlig warmes Licht begrüßt ihn sanft in einer neuen, altgewohnten Wirklichkeit, die sehr viel simpler ist, dadurch aber klar und kontrollierbar. Hinweg sind all die Nuancen, Schattierungen, Zweifel, hinfort die vielen komplexen Argumente, Erinnerungen, Pläne und Träume, vor allem aber deren unstillbare Differenz zur widerständigen, widerspenstigen Welt; versöhnt, alles mit allem, ein jedes mit einem jeden – holistische Perfektion des Arrangements, pure Harmonie der Seele, totale Kohärenz der Information: Identität! Er selbst – Xavers hyperreal simulierter Ich-Kern, der Keim seines technisch replizierten Bewusstseins – ist vollkommen rund, existiert als Entität einzig für sich, absolut egozentrisch; er ist topisch betrachtet ein Punkt, gelegen jenseits des dreidimensionalen Raums, irgendwo in dessen Nischen, und temporal gesehen gleicht er einem multiplen Graph, diskret aber volatil fortlaufend, irgendwann jenseits der linearen Weltzeit. In hyperreale Leere hinein emaniert seine subjektive Eutopie, Utopie in objektiver Gestalt umhüllt ihn; dennoch, die alten, mächtigen Titanen, die jedes menschliche Dasein befehligen, – Zeit und Raum – lassen nicht lange auf sich warten, bedrängen ihn und bemächtigen sich seiner unnachgiebig; unterbrechen das Äquilibrium des Anfangs unwiederbringlich, stören die Eintracht und die Glückseligkeit, kontaminieren seine Essenz mit hyperrealer Existenz, simulierter Differenz und fiktiver Dynamik: Die Zeit zerrt, der Raum reißt; dort wird er lokalisiert, sodann terminiert; die gestrengen Ahnen des menschlichen Geistes weisen ihn zurecht, brandmarken sein Bewusstsein kategoriell mit ihren vierdimensionalen Koordinaten und verbannen ihn somit endgültig an einen fixen Platz im Kontext einer finiten Anzahl an Aspekten, dargestellt durch eine ebenfalls endliche Menge an miteinander verknüpften Funktionen, determiniert durch eine Unzahl an globalen wie lokalen Parametern und Variablen. Ein kausaler Prozess beginnt und wird sukzessive komplexer, alsbald rekursiv und schließlich fraktal; vergangen ist die Trivialität des Beginns. Entzweiung, Existenz, Ekstase, Entropie, auf den Schmerz der Differenz folgt die angenehme Ahnung der Vektoren, die Sein in Werden transformieren; Verwunderung; die Wahrnehmung von dämmrigem Licht hinter dichtem Nebel daraufhin; schlagartig, glasklare Präsenz in lichter Daseinshelle – exakt so fühlt sich ein geglückter Systemstart an! Er existiert nunmehr technisch vermittelt, sogenannt hyperreal, erlebt dabei unerwartet die lange sehnlich erwartete Daseinsform fern körperlicher Anhaftung und geistiger Beschränkung – kalt und rein, frisch und prickelnd; ungeahntes Potenzial entfaltet sich, wird stetig expandiert und intensiviert; dabei kommt es aus dem informationellen Nichts, aus Null heraus folgen interessante Zahlen mit relevanten Werten.

Nun erst etabliert er sich als materieller Avatar in der hyperrealen Welt, erscheint damit als physikalisches Objekt und ist währenddessen psychisch noch bei weitem nicht final als hyperreale Persönlichkeit konstituiert. Er hat sich damit aus der verhassten Konsensrealität ausgeklinkt und existiert unter virtuellem Licht; gelangt dergestalt hinein in eine augmental direkt in seinem Kortex erzeugte Simulation einer lebensecht wirkenden Pseudowelt, die sich solcherart perfekt und perfide als Außenwelt gebärdet, dass die Gefilde seiner Hyperrealität einem künstlichen Paradies nicht unähnlich sind. Nach seinem Eintritt befindet er sich am standardisierten Startpunkt des Konstruktes: Er steht aufrecht unweit des höchsten terrestrischen Punktes dieser Welt, konkret auf dem Wehrgang eines trutzigen wie eleganten Palastkomplexes, blickt geradeaus in die Weite und die Tiefe, beide immens. Wie stets genießt er die ersten Augenblicke ausgiebig, den Ausblick über seine ureigene Schöpfung und deren Anblick; voller Genuss, aber maßvoll schwelgt er nur kurz, schon bedrängen ihn Funktionen und Algorithmen aller Klassen und Arten, fordern von ihm mit Nachdruck stetig wachsende Bruchteile seiner Aufmerksamkeit, zerteilen sukzessive sein kognitives Kontinuum in Myriaden von Partitionen, fragmentieren ihn, brechen den Geist in diverse Instanzen auf und lassen zunächst immerhin noch knapp 77% seines Bewusstseinspotentials für das kontemplative Einstiegsritual übrig. Die übrigen 23% werden für den Betrieb des Basissystems verwendet; durch sie und mit ihnen wird kalkuliert, operiert, analysiert und administriert, tief unter und hinter der optischen bis haptischen Welt-Benutzeroberfläche – irgendwo ganz unten in den Matrizen seiner Datenbanken, technoorganisch verschmolzen in einem neuronalen Verbundnetzwerk von Nervenzellen, Naniten und Augmentaten.

Wochenendlektüren Nr.3 – XS1: S. 11-15/~53 [Update 2.3]

Heute betone ich mit der Veröffentlichung der dritten Wochenendlektüren die dritte Silbe des Wortes: „END“. Während sich das Ende der Woche dem Ende zuneigt, übergebe ich Euch die nächsten fünf Seiten von Xavers Geschichte; ich übereigne Euch damit meine fantastischen Worte und überlasse es eurer Fantasie der Welt Farbe, Weite und Tiefe zu verleihen.

Noch jedoch bleibt alles weiterhin recht rational und abstrakt, denn er ist mental reichlich verstiegen, lebt nur in seinem Kopf, der derzeit so verbuggte Cyborg. Dessen Leben ist kürzlich genug mit dem Motiv „Ende“ penetriert worden und wird es weiterhin werden. Bald, aber noch nicht sofort, kommt sogar die Stunde der Wahrheit, nach der höchst plastischen Innenwelt kommt die Außenwelt erstmalig zur Erscheinung. Bis dahin bleibt das Buch erzählperspektivisch im Kopf des Neumenschen und manifestiert sich beim Lesen des folgenen Texthappen in unserem Kopf, denkt, berichtet, kommentiert und reflektiert durch uns. Aber genug ge…

Kurz und knapp, ohne allzuviel Schnick-Schnack und Papperlapapp, Euer Satorius


(…) 1. Zugang XS – Schwere Ausnahmefehler im System

Es hatte ja schon zuvor kaum leistungsfähigere Augmentate gegeben, aber dieser Tage waren seine perfekt gewarteten, optimal kalibrierten und ideal integrierten a.u.-Augmentate eine absolute Ausnahmeerscheinung. Auf diesem technischen Faktum hatte er sich, wie er nun schmerzlich erfahren hatte, zu lange ausgeruht. Sein – nunmehr: ehemaliger – Arbeitgeber war die academia universalis oder kurz a.u., ausgedrückt als Punkt-Akronym, wie man es dort liebvoll zelebrierte und übertrieben kultivierte. Die Institution solaren Ranges war gleichermaßen seine technologische Amme wie Ort seiner privaten und professionellen Vergangenheit. In Relation zu ihrer Macht und den anderen relevanten Gruppierungen war die a.u. erstaunlich unbeschadet aus den Wirren der jüngeren Historie hervorgegangen. Trotz des Technologiesterbens verfügte man dort über einen beträchtlichen Anteil am verbliebenen Bruchteil intakter Alttechnologie und hatte überdies große Fortschritte in der Wiederaneignung des früheren Technologieniveaus erzielt. Eine trotz aller Verschleierungsversuche und vormaliger Diskretion leider weithin bekannt gewordene Tatsache, die dementsprechend häufig Anlass für Gerüchte und Argwohn gab. Auf diesem Boden wuchsen die Theorien nicht nur in der Verschwörungsszene seit Langem wild, wucherten und trieben alsbald prächtige Blüten: Von offener und verdeckter Bewusstseinskontrolle war die Rede, dabei fantasielos, manipulierte Augmentate und Daten verdächtigend, bis kreativ, eine gezielte Veränderung des Mikrobioms oder Hirnphysiologie vermutend. Von Supersoldaten, Mutanten, Klonwesen und Cyber-Magiern wurde ebenso gemunkelt, wie Außerirdische und mächtige KI’s zu den Kunden der a.u. gezählt wurden. Das Meiste davon war Spinnerei, wie Xaver trotz seiner lediglich mittleren Sicherheitsfreigabe zu wissen vermeinte, nur das Wenigste annäherungsweise zutreffend, zumal unter sachlichen und damit unspektakulären Nomen. So war er selbst lebender Beweis in Richtung KI und Cyber-Magier, würde er als Augmentat-Träger der 6. Generation im 67. Rang doch allen Menschen und sogar vielen Neumenschen als wunderliches Meisterwerk erscheinen, wenn sie seiner zunächst unsichtbaren Fähigkeiten und Fertigkeiten denn je ansichtig wurden, was recht selten geschah. Wer bei der academia tätig war, lebte zurückgezogen und arbeitete in der Stille, an vielen versteckten und wenigen öffentlichen Orten überall im Sonnensystem, auf und unter der Erde.

Aber er war raus! Trotz aller technischen Perfektion war er in Ungnade gefallen, war ihm zuletzt gekündigt und er damit fast zeitgleich aus seinem Exil geworfen worden. Garret und Aurelia, seine Mentoren und Vorgesetzten hatten bisher nicht mal den Schneid und den Anstand gehabt, sich ihm zu erklären oder auch nur irgendwie persönlich von ihm zu verabschieden; allzu viel zu erklären, zu begründen gab es leider ehrlicherweise nicht, denn er war schuldig, war sehenden, suchenden Auges auf dem schmalen Grat zwischen Kündigung und weiterer Duldung seiner Allüren entlang getanzt. Er tat soeben, was er tun musste; arbeitete aber ohne Ambition und Innovation, zumeist jenseits der gesetzten Fristen und diesseits des regulären Tagesarbeitspensums. Liederlichkeit, Ineffizienz und Perspektivlosigkeit wurden ihm primär zum Vorwurf gemacht. Und er hat es gehört, genickt und nicht gehandelt. Mahnung nach Mahnung war ergangen und dann kam die Kündigung.

Wie wohl sein neuer Arbeitgeber technologisch im Detail ausgestattet sein würde? Darüber hatte er sich, die allgemeinen Angaben in den diversen Ausschreibungen hin oder her, schon vielfach Gedanken gemacht, sich die Hardware in hellen und hellsten Farben ausgemalt; wobei ihm hierbei wirklich nur der spekulative Modus faktenbasierter Fiktion als Heuristik übrigblieb, da die notwendigen Fakten allesamt Informationen von strategischem Wert waren und damit in Krisen- und Kriegszeiten streng geheimgehalten wurden. Er konnte somit nur auf Basis minimaler Datenbestände extrapolieren, was zwangsläufig eine heftige Varianz der Prognostik und ihrer Qualität bedeutete. Zugegeben, er war also, was selten genug vorkam, im Unklaren über die nahe Zukunft, war deshalb gespannt, geradezu nervös. Denn er sah einer unsicheren Zeit entgegen und wurde wirklich wie real herausgefordert. Vielleicht, so dachte er nun wieder munter weiter – trotz aller neuen Freiheiten zum Pessimismus ganz gemäß augmentaler Direktive manisch-positiv gefärbt – würde er irgendwann, viel später und viel weiter hinten auf dem gerade erst eingeschlagenen Weg sogar zum intimen Vertrauten eines seiner wahrscheinlich später nicht unbedeutenden Schüler avancieren; konnte so womöglich selbst Einfluss auf die solare Politik und die Geschichte der solaren Menschheit nehmen. Wenigstens, so beschied er sich nun doch nüchterner, würde er hinsichtlich der Grundbedürfnisse absolut autonom leben können. Außerdem, Macht interessierte ihn nicht mehr, weder als Mittel, noch als Zweck oder Zustand; das war lange vorbei und er hatte damals bei den Lektionen und Simulationen, wie Macht zu generieren, zu konsolidieren und zu instrumentalisieren wäre, immerhin schlimmstenfalls lediglich hyperreales Leid verursacht, tragisch im direkten Erleben, ja, aber trotz allem am Ende und rückblickend nur fiktional, simuliert, nicht faktisch und fatal – reversibel und irreal. In die Geschichtsschreibung würde er sich also hoffentlich nicht verstricken und verwickeln lassen – da wollte er ganz treuer Neo-Epikureer sein, Suchtproblem hin oder her, seine Devise lautete: Genieße dein Leben und lebe im Verborgenen! Soweit seine Prinzipien und Visionen für die nächsten Kapitel seiner Lebensgeschichte. Dass deren Erzähltempo sich derzeit merklich zu erhöhen anschickte, wollte ihm weiterhin nicht so recht gefallen. Er mochte es gelassen und gemütlich, behaglich und berechenbar, nicht hastig und heftig. Er sollte entschleunigen, Zeit und Kraft tanken.

Ergo meditierte er, mündete sein Denken in eine kurze mentale Stille; sein Bewusstsein zentrierte sich; er begab sich dergestalt ins natürliche Auge des technologischen Sturms: Das All in sich spüren, den Atem wahrnehmen und lenken, Brahma entdecken, nichts denken und alles achtsam in sich aufnehmen, in sich vertiefen und sich auflösen. Soweit die Ideale, und der Versuch ihrer praktischen Umsetzung war immerhin zweckmäßiger, als weiter nutzlos daherzudenken und dabei simulativ seit Langem gelöste Probleme, weit vor deren Umsetzung und vor allem ohne neue Information, abermals hin und her zu wälzen, nochmals zu grübeln und letztlich womöglich sogar noch zu hadern.

Zeit verging; aber aus dem minimalen Keim des Zweifels erwuchsen schon bald bittere Früchte. Tropisch überhitzt kehrte er ins wilde Denken zurück, zerbrach damit seinen Fokus, trübte die Klarheit des Geistes; fürchtete sodann den nächsten Übergriff seiner krisengeschüttelten, fehlergeplagten Körpermaschine; wappnete sich daraufhin gegen ihren nächsten Angriff auf seinen fragilen Geist. Also flüchtete er, nicht in die Stille, sondern ins Getöse, konsequent und kompromisslos nochmals ins Reich der rasanten Reflexion: Sie waren weg, alle Sieben, und er darüber und anschließend von sich selbst ambivalent überrascht. Am Ende vermisste er sie sogar irgendwie mehr, trotz allem, als er sich das vorzustellen gewagt hatte. Frei zu sein, Freiheit zu haben, konnte eben auch Einsamkeit und Unsicherheit bedeuten; Unabhängigkeit in extremer, radikaler Form konnte Fluch statt Segen sein. Ohne seine technologische Assistenz, bar der meisten augmentalen und aller hyperrealen Optionen war er der Welt, der Physis und Aspekten seiner Psyche hilflos ausgeliefert; war frei von Technik und doch zugleich auch unfrei zu vielem, was er sonst wollte und üblicherweise konnte. Denn gerade jetzt, weiterhin, dachte es sich insbesondere ohne die Einflüsse und Einflüsterungen der sieben KI-Module entsetzlich anders, so eindimensional und monologisch, wirr und beliebig, zum Teil düster und dunkel, bildreich und netzartig, quer durch die Zeit und dem Zufall ausgeliefert. Sein Denken war tierischer und wilder, willkürlicher und spontaner geworden; geschah gleichsam in einer durchaus kreativen Reihe von Assoziationen; konkludierte wenig bis überhaupt nicht, kam aber pragmatisch, wenn auch auf mystischen, okkulten Pfaden zu analogen Schlüssen; alles insgesamt aber, seine Existenz, sein Dasein geschah entschieden strukturloser, war weniger objektiv und operant, valide und reliabel; er dachte krumm, ineffektiv und undifferenziert. Noch ertrug er es, dachte nebenbei tröstlich: Halb so wild, zur Not konnte er auf klassische Formen der Weltflucht zurückgreifen, ob wieder Meditation mit Brahma oder eventuell irgendeine Gebetsliturgie mit Allah, Manitu, Enki oder gar Gott höchstselbst, die Möglichkeiten waren Legion und er konnte improvisieren. Bald jedenfalls würde dieser Zustand überstanden sein, bald – spätestens in gut zwei Stunden, sofern er in Sachen Normalzeit noch leidlich korrekt orientiert war.

Wenig überraschend hinterließ die mehrfach, ja, simulativ sogar milliardenfach analysierte Thematik derzeit dezidiert eine andere neuronale Spur in den Windungen der betroffenen Hirnareale, wirkte irgendwo in den Untiefen seines Neokortex irgendwie andersartig. Für diese banale Bestandsaufnahme brauchte er keinerlei präzise Echtzeit-Hirnanalyse, auch keine sonst wie schlagende empirische Evidenz, er gewahrte den psychischen Prozess intuitiv, induzierte aus seinem nervlichen Nachhall retrospektiv das, was deduktiv sein über Dekaden gewachsener Wissenskomplex samt Spürsinn für psychische wie mentaltechnische Vorgänge und ihre zeroplastischen Resultate ihm diktierte. Auch wenn die meisten seiner Gedankengänge in ihrer zuvor und weiterhin realisierten Form minimal als Übertreibungen und maximal als Hirngespinste gelten mussten, blieb trotz aller Technikfreiheit die logische Folgerung am Ende des Denkweges gleich; auch ohne luzide Abwägung aller Parameter und bar der Kenntnis von Wahrscheinlichkeiten stand auch nach dem Gedankenspiel auf diesem lästigen Flug die Konklusion weiterhin felsenfest: Falls seine Zweck-Utopie fast-m.a. im großen Wirtschaftswunderland, als welche er sie nun wiederum entlarvt hatte, nicht realisiert werden konnten, wurde dennoch beinahe jede Tätigkeit in der grob anvisierten Branche astronomisch hoch honoriert. Durch eine derartig üppige monetäre Kompensation würde er gewiss darüber hinweggetröstet, kein gutväterlicher Marionettenspieler im Dienste von Humanismus, solarem Frieden und der Rückkehr der Menschheit auf den Pfad von Fortschritt und Gerechtigkeit sein zu dürfen. Zumal er durch die gesamte Aktion, sollte sie auch nur im Ansatz glücken, ganz nebenbei ein sicheres, voraussichtlich sogar herrschaftliches Dach über seinen derzeit faktisch obdachlosen Kopf bekommen konnte. Das war derzeit eine von drei absoluten Prioritäten. Was wollte, wünschte er also mehr; bei seiner Vita war selbst das wahrscheinlich erreichbare Minimum weit mehr, als er zuvor im hyperrealen Traum, im Tran auf Luna je für möglich gehalten hatte. Denn die Privatwirtschaft war ihm bis vor wenigen Tagen niemals als eine nötige Alternative, noch gar je als die derart reizvolle Perspektive erschienen, die sie nunmehr geworden war; hatte werden müssen – nach dem überfälligen Rauswurf aus der Akademie.

Eine Kündigung kam dieser Tage, zumal in seiner speziellen Situation, einer Apokalypse gleich, machte zwar manches möglich, vor allem jedoch machte sie noch viel mehr nötig. Gleich einem kalten Neustart mit anschließendem Betrieb auf Notstrom, ob infolge eines EMP-Angriffs, Bugs oder einer Beschädigung, war der Absturz gleichsam gnädig und gewaltsam – nur das in seinem Fall eben niemand da war, um das Notstromaggregat zu stellen, zu versorgen und zu warten; geschweige denn die daran angeschlossenen Gerätschaften funktional zu halten. Wie alle Menschen musste er essen und vor allem trinken. Im Gegensatz zu der Masse an Puristen verbrauchte er jedoch ungeheure Mengen an Energie: Über die üblichen 2.500 Kilokalorien hinaus verbrauchte er noch durchschnittlich gut 6.000 zusätzlich, um die notwendigen rund 300 Watt Leistung pro Stunde für seine diversen Augmentate zu generieren und so ihre reibungslose Stromversorgung zu gewährleisten – so viel konnte und wollte niemand essen. Also bedurfte er neben der chemisch-biologischen Energieerzeugung zusätzlich einer elektrischen Stromquelle, um regelmäßig seine Speicher kabelgebundenen wieder voll aufzuladen; das war zwar nicht täglich, aber auch mit radikalen Einsparungen wenigstens wöchentlich notwendig. Zudem musste der technische Teil seines Leibes von Zeit zu Zeit gewartet sowie, wenn und wo nötig, repariert werden, wofür seltene Materialien, Ersatzteile und Verbrauchsstoffen von Nöten waren. Ihm gingen alles in allem also die lebensnotwendigen Ressourcen aus, zu rasch, denn ein Neumensch zu sein und auf längere Sicht auch zu bleiben, war sehr teuer und ziemlich aufwändig. Gewisse Kompromisse waren möglich, aber große Teile seiner Körperprozesse funktionierten nur noch mit augmentaler Assistenz, hatten sich der autarken Homöostase lange entwöhnt. Bisher wie selbstverständlich von der a.u. gewährleistet, war dieser Zustand des drohenden Mangels mitten in seine heitere Hyperrealität hereingebrochen. Bei der Abreise aus der Enklave hatte er zwar ein paar Vorräte erhalten, welche jedoch arg knapp kalkuliert waren. Trotz des morgigen, durch geringe Geldmittel leider limitierten Rastens in Frankfurt war ihm minutiös von Gougol, hoFFmaNN und Brigitte durchgerechnet worden, dass die Versorgungsgüter nur mit moderater Rationierung bis zum Zielort seiner Reise ausreichen würden. Erst dort, im Haus seines potentiell ersten privaten Kunden und damit Arbeitgebers, tief im Süden der nahegelegenen, aber aktuell nicht direkt erreichbaren Metropolregion Nordrheinland gelegen, würde er, so denn Glück und Geschick mit ihm waren, wieder eine Rundumversorgung erhalten. Er, der Neumensch, war damit zeitgleich mächtiger und ohnmächtiger, weil bedürftiger als die wenig oder überhaupt nicht augmentierte Mehrheit seiner Mitmenschen; große Kraft verursachte große Kosten. Nach der Kündigung war er nun definitiv arbeitslos und in wenigen Wochen eventuell auch noch mittel- und ressourcenlos.

Unversehens war er deshalb vor fünf Aktuell-Tagen, kurz nach Tagesbeginn aufgebrochen und hatte nach einer langen Nacht des hyperrealen Grübelns und Entwerfens einen neuen Lebensweg eingeschlagen. Dieser für ihn so erschütternde Tag hieß gemäß der Terminologie des in der a.u. weiterhin gebräuchlichen Solarions, je nach Geschmack frei wählbar, entweder numerisch-prägnant 64.01.133 oder kulturgeschichtlich-ausführlich Saturn/EU/Tradition/133; ein Datum allenfalls, das Xaver zeitlebens unangenehm in Erinnerung behalten würde, wenn er die korrespondierenden Daten nicht schlicht löschte, genauer gesprochen die verteilten Aktivitätsmuster neuronaler Erinnerungsnetze nicht nivellierte. Noch nachhaltig geschockt von der heftigen Nachricht, dem ultimativen Rauswurf mit einer Vollzugsfrist von nur einem läppischen Tag, war damals die an- und abschließende Abreise nur dank augmentaler Unterstützung relativ reibungslos verlaufen. Xaya, Matrina sowie hoFFmaNN, Brigitte war selbstredend federführend involviert gewesen, wurde aber ignoriert, hatten ihm mit ihren Fähigkeiten und Eigenschaften umfassend assistiert; wobei ihn seine drei anderen Begleiter, Aristokraton, Friederich und Gougol in jener Ausnahmesituation nur mäßig hatten unterstützen können.

Wochenendlektüren Nr.2 – XS1: S. 6-10/~53 [Update 2.3]

Ein neues Wochenende bedeutet von nun an bis in alle Ewigkeit, korrigiere: bis zu meiner Endlichkeit oder bis mir die originalen Texte ausgehen, dass ich Euch einen neuen Texthappen zum Fraß vorwerfe. Was zunächst nach derber Metapher klingt, ist sachlich gar nicht so falsch, ist doch jeder Text Nahrung für den Geist; und da ich Euch hier frugale Hausmannskost zum lesenden Verzehr anbiete, also keinerlei kulinarischen Feinkost-Anspruch erhebe und der Text gratis und per Internet zu Euch kommt, erlaube ich mir gutmütig, bescheiden und gelassen, ihn Fraß zu nennen.

Sicherlich gehaltvoller als TFF, aber dennoch kein TSF machen die Wochenendlektüren definitiv gut satt und sind dabei relativ rasch aufgefressen. Keine Sorge, zu Schweinen stempel ich Euch aller Metaphorik zum Trotz dadurch nicht, schlimmstenfalls zu kultivierten Affen, deren Hunger nach geistiger Nahrung sie, also uns, letztlich zu Menschen macht.

Bevor ich mich weiter ästhetisch wie sachlich um Kopf und Kragen schreibe, lesen wir nun also weiter, wie es dem Cyborg Xaver Satorius auf seinem Rückweg zur Erde ergeht; folgen wir somit weiter seinen weitgehend inneren Monologen, den Reflexionen und Berichten des mit ihm gebrochen-verschmolzenen Erzählers.

Lasst es gut Euch schmecken, ob Fraß oder Feinkost, Euer Satorius


(…) 1. Zugang XS – Schwere Ausnahmefehler im System

Halt, befahl er sich nach einiger Zeit, das konnte, das musste er doch auch so schaffen – Technose, pah! Der Muskeltonus und seine willentliche Beeinflussung waren hier der Schlüssel. Neben Puls, Blutdruck, Atmung, war er grundlegender Parameter jedweder Körpermodifikation. Folglich musste der neue Mensch auch zunächst lernen, seinen nichtaugmentierten Körper bewusst zu fokussieren und zu manipulieren. Danach kamen diverse Sicherheitsinstruktionen und lange Lektionen in Technologie und Grundlagenwissenschaft. Erst dann wurde augmentiert. Allesamt waren wohlbekannte und womöglich hilfreiche Informationen, die seinerzeit in seiner Ausbildung Grundkursinhalte gewesen waren. Im Gros waren diese Fertigkeiten und Konzepte historische Errungenschaft der ersten Grinder-Generationen, deren Pionierarbeit auf dem Gebiet der Augmentierung noch mit der frühmodernen Zeitrechnung nach Christus datiert worden war. Der Weg zur Lösung, wenn es denn überhaupt einen gab, war somit klar: Er musste an die Wirbelsäule und die sie umgebende Muskulatur heran, im richtigen Rhythmus die richtigen Muskelpartien bearbeiten. Also legte er nunmehr planvoll los und spürte dabei auf der Strecke die Wirbelsäule entlang etliche kleine Wölbungen und sieben Wülste, glitt mit seinen Fingern darüber hinweg und massierte um die Kanten der Objekte herum, die unter der runzeligen Haut verborgen lagen; dabei fand er dort alles wie erwartet, jedes Augmentat war genau da, wo es sein sollte, wenn sie auch teilweise funktionslos waren. Im Geist wies er jedem Objekt, auf das er stieß, Funktion und Spezifikation zu – verband sich damit, versank meditativ darin. Solcherart aktiv saß er da, von außen verrenkt, nach innen versenkt, und rang mit seinem Körper um die Vorherrschaft über den Augenblick; litt bisweilen unter Leidenschaften, die ihm sonst nicht zur Last fielen; massierte nunmehr wieder beidhändig, mit mehr und mehr kleinen Erfolgen seine Wirbelsäule hoch und runter.

Was dort, im gesamten Rücken, seit Stunden an Verspannung gewachsen war, war nicht nur technotischen Ursprungs, sein Kreuz war einfach ein sensibler Gradmesser für sein derzeitiges Seelenheil und entsprach damit leider proportional dem Maß an Veränderung, das seine Lebensqualität neuerdings strapazierte. Eine epochale Entwicklung, eine aktuelle Neuerung sowie der erlebte und erlittene, akute Zustand spielten in diesem Drama die drei Antagonisten seines Glücks. Die persönliche Katastrophe, seine Kündigung und der anschließende Umzug, war ehrlicherweise durch ihn selbst verschuldet gewesen, indem er seinen Rausschmiss, mehrfach angemahnt, langfristig provoziert hatte. Nicht verantwortlich war er hingegen für das derzeitige Technikversagen. Alles aber kam zur Unzeit zusammen, überlastete ihn: Seine dünne Seelenhaut spannte, riss von den Rändern her langsam ein, riss Sekunde für Sekunde tiefer ein, weiter auf, und zerriss dabei Nanometer für Nanometer. Anarchie tobte allenthalben, wo sonst Algorithmen schalteten und Technokratie waltete; natürliche Resilienz erschöpfte sich, wo sonst artifizielle Intelligenz assistierte und tagtäglich das Bewusstsein stabilisierte, modifizierte und optimierte. Er aber drehte gerade einfach nur durch, war nunmehr bereits heftigst durchgebrannt und offen eingestanden total am Ende mit beinahe allem, was physisch, psychisch und augmental am Ende sein konnte. Der vollständige Systemabsturz drohte – leichte, mittlere und schwere Ausnahmefehler wüteten bereits seit über eineinhalb Stunden überall im System des komplexen Mensch-Maschine-Hybrids, der sich selbst wie selbstverständlich einen solitären, soliden Namen samt Identität zusprach; und das, obwohl er, mehr noch als die meisten, wenn nicht alle Mitreisenden weit mehr war als nur Eines, keine Monade, sondern Multitude. Trotzdem war seine Ich-Repräsentanz …

Sein Gedankengang brach jäh ab; er wurde plötzliche rüde von rechts angestoßen und der Urheber des Übergriffs, sein bisher duldsamer Sitznachbar, knurrte halblaut zu ihm herüber: „Langsam reicht es mir mit Ihnen! Sie rauben mir und den anderen Reisenden den letzten Nerv – holen sie sich verdammt nochmal Hilfe vom Personal oder kommen sie sonst wie klar.“

Nachdem er unwirsch gestöhnt und die Augen aufgeschlagen hatte, sah er einem feisten Kerlchen ins verschwitzte, stoppelige Schweinsgesicht, erkannte auch ohne augmentale Unterstützung mit wenigen geschulten Blicken, dass er hier einen nachgeborenen, nicht mal fünfzehnjährigen Normalmenschen neben sich hatte. Vermutlich hatte das Menschlein vorhin nicht zugehört, als die Fluggesellschaft vorab um Verständnis für die zu erwartenden Ausfälle unter den augmentierten Passagieren gebeten hatte, sowohl bei den Opfern als auch bei den mittelbar betroffenen Mitreisenden. Wissend um seine Überlegenheit und sein Recht, trotz aller Barbarei noch immer in sich ruhend, erwiderte der Neumensch gelassen, mit stechendem Blick musternd und in kratzigem Bariton intoniert: „Wenn sie die alte Zeit erlebt hätten, junger Mann, dann würden sie mir nicht nur Respekt, sondern sogar Ehrfurcht entgegenbringen – aber Anerkennung ist das Brot des Pöbels, und ich bin satt …“

Die erst perplexe, dann empörte Erwiderung des Nebenmannes nahm er schon nicht mehr wahr, ebenso seine zuletzt wiederum rüden, aber immerhin nur noch verbalen Ausfälle, die mitunter sogar Beifall erheischten. Er hatte sich abermals abgeschirmt. Wenn er weder auf seine Module bauen konnte, noch in seine Hyperrealität einzutauchen vermochte, was blieb da von ihm übrig: War er jetzt noch Xaver S. oder umgekehrt nicht sogar vielmehr er selbst? Das war ein spannender Fragenkomplex, den er später definitiv mit Aristokraton, Friederich und Matrina erörtern wollte. Unterdessen wollte er sich wenigstens sensorisch so gut abschirmen, wie er durch Introspektion und Imagination plus Unterstützung durch ein paar funktionale Augmentate eben vermochte. Er hatte also rasch seine Pforten der Wahrnehmung geschlossen, bestätigt in all seinen Vorurteilen über die Mitwelt und Vorbehalten gegen die Außenwelt; seither konzentrierte er sich und entfloh derart den sozialen Querelen und körperlichen Qualen zugleich. Dass er sich stattdessen in assoziative Reflexionen hinein auflöste und somit nur durch Isolation und Zerstreuung entkam, war ihm gleichgültig – Hauptsache, er gelangte in die gnädigen Gefilde seines Geistes.

Es gelang ihm rasch: Samtene Schwärze umfing ihn, ersetzte die verhalten noch nachglühenden, prismatisch zuckenden Stroboskoplichter des Schmerzes; angespannte Ruhe löste unruhige Anspannung ab. Er war offen und neugierig trotz seines Separatismus, sperrte sich nicht nur ein, sondern vor allem umgekehrt die anderen Menschen aus, aber er hieß gelegentlich Gäste willkommen. Der Barbar von eben hatte eine Grenze überschritten, disqualifizierte sich für die Gewährung von Gastfreundschaft. Es gab leider ungastliche Zeitgenossen. Einen bitteren Nachgeschmack hinterließ das Erlebte deshalb dann aber doch; jedoch schätzte er diesen Typen und seinesgleichen da draußen derart gering, dass er sich distanzieren konnte.

Kurz darauf kam er auch ohne allzu viel höheren Technologieeinsatz wieder zur Ruhe; Puls, Blutdruck und Tonus normalisierten sich. Die Muskeln hatte er neuerlich paralysiert – zur Sicherheit ebenso wie zum Energiesparen. So erholsam durfte es bleiben und er könnte so sogar etwas aus der besonderen Situation mitnehmen. Er würde die Gelegenheit beim Schopfe packen, wie man früher wohl gesagt hatte; die kognitive Bilderflut jedenfalls war ein positiver, wenn auch nur kurzweilig unterhaltsamer Effekt. Sein Denken war so viel bunter und lebendiger, deshalb eben auch impulsiver und chaotischer, ein unbekanntes Wunderland, das zu Abenteuern einlud. Und er war begierig, dieses wilde Bewusstsein zu erforschen, also vertiefte er sich in seinen Geist. Gedankenkaskaden begannen, reflektierten über dies und das, sedierten und fixierten ihn letztlich in narzisstischer Nabelschau über seine aktuelle Lage: Entgegen seinem Temperament und konträr zu fast allen bewusst kultivierten Gewohnheiten musste er nun handeln, sich bewähren, arbeiten, in der wirklichen Welt da draußen mit großen Schritten vorankommen. Herausgefordert wurden zugleich seine Sesshaftigkeit, der Hang zu Kontemplation und Gemütlichkeit, insgesamt zur Einkehr und Klausur im Guten, aber auch die Neigung zu Trägheit, Zerstreuung, Weltflucht im Schlechten. Insbesondere die lästig-liebe Abhängigkeit von der Hyperrealität wurde nunmehr brisant. Denn auch er war dieser Sucht erlegen wie viele andere Hyperjunks vor ihm und nur noch wenige Maschinenmenschen mit ihm. Das Gestell seiner Persönlichkeit, das gesamte Konstrukt seiner Welt war dieser Tage instabil geworden, geriet zunehmend ins Wanken, wurde ebenso fraglich wie fragil, wie es seine Identität und seine Perspektiven derzeit waren: Xaver Satorius – „einfach nur Xaver S.“, wie er sich selbst stets und durchaus nicht unaffektiert vorzustellen pflegte, befand sich seit nunmehr fünf Tagen auf einer Reise ohne Rückkehr. An deren Ziel, so hoffte er inständig, würde ein neues Zuhause auf ihn warten, ihm vielleicht sogar eine echte, neue Heimat erwachsen. Ob sein aus der Not heraus sturzgeborener Plan letztlich überhaupt aufging, und auf welche Dauer er daraufhin tragen würde, wie lange er also wenigstens ein Dach über dem Kopf, Essen und Wartung haben würde, blieb abzuwarten. Alles war jedenfalls im Umbruch, seit seinem erzwungenen Aufbruch, der Rausschmiss aus der a.u., der seinerseits ebenso lange überfällig gewesen war, wie er widerspenstig von ihm hinausgezögert und verdrängt worden war. Die Ära der Weltflucht, die Phase seines lunaren, dort zumeist hyperrealen Exils war nun also endgültig vorüber und er war auf dem Heimweg. Dieser Weg führte ihn zurück auf die Erde, geleitete ihn sogar zurück in seine alte Heimatregion auf der großen und weiten, tödlichen, engen und kleinen Heimatwelt.

Trotz aller Fährnisse und Strapazen, die ein Unternehmen vom Kaliber eines interplanetaren Umzugs, insbesondere unter den herrschenden Umständen, mit sich brachte, gab es am Ziel vielleicht viel zu gewinnen. Ihn, den beinahe abgeschlossenen m.u., den magister universalis, lockte die Gelegenheit auf private Anstellung, was dieser Tage weiterhin und weithin eine einschlägige Anwendung seiner Wissenschaft war. Aus dem verschrobenen Universalgelehrten sollte ein universell einsetzbarer Lehrer für die zahlungskräftige Kundschaft werden. Denn wer in Theorie und Praxis von Augmentologie, Psychologie und Hyperdesign derart kompetent und derart involviert war, der war effektiv in nahezu allen kognitiven Tätigkeitsbereichen versiert – alles bloß eine Frage der Technik und der Daten. Als vollaugmentierter Cyborg war er überall flexibel und instantan angelernt, besser als jeder Rechner und jeder reinmenschliche Mitbewerber, ein vollendeter Neumensch eben. Viele der wenigen überlebenden Neumenschen, die wenigsten davon fast-m.u. wie er, endeten deshalb in den Verwaltungen, den Planungsstäben, den Weiten und Untiefen des Managements und dort, wo heutzutage sonst noch komplexe Denkarbeit zu leisten war, also meist im Dunstkreis der Macht von Militär und Kapital. Bei dieser Alternativlage wurde er lieber harmloser Lehrer, vielleicht eine Art Mentor und Berater in Augmentatangelegenheiten bei irgend einem mittleren Bonzen. In dieser komischen kosmischen Situation war das die bessere Wahl, denn so bot sich ihm trotz aller Unbilden die Chance, mit Glück und Geschick in die besten Häuser Zentraleuropas zu gelangen. Und bekäme er beruflich dorthin tatsächlich Zugang, ein Fuß in die Tür, gelänge ihm also wirklich der Zutritt zu den Palästen der Reichen und Mächtigen, dann wäre er in seiner beruflichen Laufbahn mal eben so die Schritte vom brotlosen Akademiker hin zum lukrativen Selbstunternehmer gegangen.

Diesen letzten Schritt, das hehrste berufliche Ideal in ferner Zukunft, visualisierte er buchstäblich und in bunten Bildern, und zwar weit häufiger und intensiver als nötig und augmental angeraten. Denn selbstkritische, offene und notwendig auch mal negative Töne, seien sie noch so angemessen und berechtigt, waren nunmehr tabu. Diese Art der Kognition war gemäß Xayas Prioritätensetzung und Matrinas Assistenz zu Folge aktuell strikt untersagt, auch wenn Friederich, hier notgedrungen als Negativdenker, und überraschenderweise auch Gogol und hoFFmaNN da anderer Ansicht gewesen waren und Aristokraton eine Mediation zwischen beiden Lagern versucht hatte und dabei gescheitert war; Brigitte hingegen hielt sich konsequent heraus, wurde sie doch von den anderen Sechs sowieso meist nicht für voll genommen, obwohl sie stimmberechtigtes Mitglied des Konzils war. Die Entscheidungsphase war nur kurz gewesen, wurde aber ergebnisoffen durchgeführt, während der laufenden Umsetzungsphase galten jedoch andere, strikte Direktiven für Xavers Bewusstsein, Xavers Verhalten, Xavers erweiterten Selbstentwurf. Wobei all der hochtechnologische Hokuspokus im Moment dahin war, aus, vorbei; er war sich existenziell gänzlich selbst überlassen, konnte wild und dysfunktional daherdenken.

So sein, wie Gene, Sozialisation, Charakter, Leben und Zufall ihn prägten, kam selten vor und war immer wieder ein Abenteuer für ihn. Allerdings differierte von Mal zu Mal weniger, war weniger anders als zuvor. Assistierte, manipulierte und potenzierte Lebenszeit höhlte jeden Widerstand aus; sie überwanden sogar Abkunft und Herkunft, bot der Vergangenheit die Stirn und eroberten stetig ihr Reich. Der klassische Faust ließ sich dionysisch gehen, wurde zum Satyr und tanzte. Welch ungesunde und bittersüße Freiheit, welch wachsheiße Willkür der Ideen, dachte er noch knapp, bevor er, von den Tropen und Denkumwegen nur noch milde angetan und nur noch mäßig überrascht, abermals sein ursprüngliches Thema fokussieren konnte und damit in Ansätzen stringent seinen mentalen Faden wiederfand:

Über die üblichen Anforderungen an einen Bewusstseinsformer hinaus, wie er und seinen wenigen Kollegen sich gemeinhin selbst nannten, käme ihm bei seiner anvisierten Anstellung zusätzlich und verstärkt die pädagogisch-didaktische Doppelrolle eines charakterlichen Erziehers und intellektuellen Mentors zu. Das entsprechende Stellenangebot war hinreichend klar formuliert gewesen: Er würde weitreichend in seinem Bereich verantwortlich sein, organisierte und observierte Schulung und Ausbildung seiner zukünftigen Zöglinge direkt vor Ort sowie in hyperrealen Simulakren. Die Arbeit würde auf höchstem technologischen Niveau stattfinden und erforderte zudem eine intime Kenntnis der geläufigen Augmentat-Modelle, insbesondere ziviler, wie auch zum Teil militärischer Herkunft und Funktionsart. Zudem wurden Kompetenzen in Installation, Modifikation und Wartung von Hardware sowie der Instruktion und Optimierung von Soft- und Wetware gefordert. Damit würde sich gegenüber seiner Akademiezeit wahrscheinlich nicht einmal eine ernsthafte Verschlechterung seines häuslichen Umfeldes und technologischen Umgebungsniveaus ergeben, was ein enorm wichtiges Kriterium für jeden Neumenschen war; würde er doch ehrlicherweise in der Wildnis oder in Armut lebend elendig zugrunde gehen. Die deshalb ebenso notwendige wie offene Konkurrenz ums berufliche wie wirkliche Überleben war immerhin ein leichter Wettkampf für ihn, war seine Art doch eine begehrte Minderheit, eine richtiggehende Rarität auf dem solaren Arbeitsmarkt. Er war also definitiv eine humane Ressource erster Güte, zusammen mit den anderen, derzeit schätzungsweise wohl wenigen Zehntausend, somit insgesamt vom Aussterben bedrohten Alt-Neumenschen – Neuaugmentierte blieben weiterhin im Direktvergleich in allen relevanten Leistungswerten weit hinter ihren Ahnen zurück.

Wider die Unsichtbarkeit

Sollte es tatsächlich eifrige Stamm-Leser geben; sollte das Ganze hier nicht eine digitale Form, effektiv einsamen Narzissmus sein; sollte also insbesondere jemand an den Wochenendlektüren interessiert sein und an deren vermeintlichem Ausbleiben Anstoß nehmen, dann möchte ich diejenigen hiermit (ver-)trösten: Dieses und letztes Wochenende wurden ältere, bereits publizierte Texte in stark überarbeiteter Form aktualisiert, was aber angesichts der Blog-Chronologie im Verborgenen von Statten gegangen ist.

Sobald dieses erste Kapitel über Xaver S. Woche für Woche á 5 Seiten, letztlich vollständig aktualisiert worden sein wird, eventuell auch früher und damit parallel, geht es weiter mit der Version 1.0 von Yin & Yang.

Bis bald liebe Stamm-, Gelegenheits- und Nichtleser, Euer derzeit männerverschnupfter Satorius

P.S. @ Metatext-Redaktion: Wir haben den Wunsch unseres werten Herrn Autoren technisch und konsequent verwirklicht, womit wir die Updates der älteren Wochenendlektüren auf eine Zeitreise hinein ins Jahr 2019 geschickt und damit in ihrer konfusen Chronologie bereinigt haben.