Monthly Archives: Oktober 2015

Ein mediterraner Klassiker in Quanzland

Mächtige Komplett-Lasagne

Metadaten des Gerichts 

Kochniveau: 5/10  Dauer: ca. 90 Minuten  Art: Hauptgericht (8 Portionen)  Kosten: Günstig

Rezept zum Ausdrucken: Mächtige Komplett-Lasagne (PDF)

Zutatenliste – Tomaten-Hack-Soße

  • 500g Rinderhackfleisch
  • 1 Dose/400g stückige Tomaten
  • 1 Pck./500ml passierte Tomaten   
  • 150ml trockener Rotwein 
  • 2 mittelgroße Rote Zwiebeln
  • 2 mittelgroße Karotten
  • 50g Knollensellerie
  • 1 Zehe Knoblauch
  • 1 EL Oregano
  • 1 EL Basilikum
  • 2 EL Tomatenmark
  • 2 EL Olivenöl
  • (1 TL Chilipulver)
  • 1 TL scharfe Paprika
  • 1 TL Schwarzer Pfeffer
  • 1 EL Gemüsebrühe (Wer sie verständlicherweise nicht selbst zubereitet, sollte dennoch auf eine gute Qualität achten, mit den besonderen Gefahrenquellen: Geschmacksverstärker, Hefeextrakte)

Zutatenliste – Béchamelsauce

  • 200ml Wasser
  • 300ml Milch
  • 80g Mehl
  • 80g Margarine (Alternativ Butter oder Kräuterbutter, wer es mag)
  • 2 EL Gemüsebrühe
  • 1 TL Weißer Pfeffer
  • 1 Prise Salz
  • 1 Prise Muskatnuss

Zutatentliste – Lasagne

  • 125g Mozzarella
  • 25g italienischer Hartkäse (z.B. Parmesan, Pecorino, usw.)
  • 175g geriebener Käse (Bspw. Tilsiter, Emmentaler, Gouda)
  • 1 Becher Joghurt oder Crème fraîche (Bei Verwendung der Crème empfehle ich, etwas Milch unterzurühren)
  • (1/2 Hand frischer Basilikum)
  • (1/2 Hand frischer Oregano)
  • (3 Cocktail- oder 5 Datteltomaten)

Praxis-Anleitung

  1. Den Anfang macht die Tomaten-Hack-Soße, die im Übrigen für sich alleine als Variante einer Bolognese zusammen mit Nudeln ein Gericht im Gericht bildet. Dafür Karotten, Zwiebeln und Sellerie soweit nötig schälen und so fein wie möglich hacken.

    • In einer Pfanne das Olivenöl erhitzen und die Zwiebeln, zusammen mit dem gepressten (oder zuvor auch gehackten) Knoblauch kurz anschwitzen. Daraufhin das halbe Kilo Hackfleisch hinzugeben und zunächst zerkleinern, bevor es mehrere Minuten kräftig angebraten wird. Dabei nach Kurzem das restliche Gemüse bis auf die Tomaten sowie getrockneten Basilikum und Oregano hinzugeben und mitbraten. Röstaromen sind hierbei Pflicht.
    • Nun mit dem Rotwein ablöschen und die Hitze auf mittleres Niveau reduzieren. Die beiden Zubereitungen an Tomaten einrühren und zuletzt noch die Gewürze mitsamt der Gemüsebrühe einstreuen. (Wer es weniger scharf mag, der lässt den TL Chili einfach weg.)
  2. Während die Soße von nun an noch mindestens weitere 15 Minuten reduziert wird, kann die Béchamelsauce zubereitet werden. Hierfür wird zuerst die Margarine in einem kleinen Kochtopf erhitzt.
    • Die Milch mit dem Wasser mischen und Gemüsebrühe in die Flüssigkeit geben. (Wenn selbst gemachte oder gekaufte, flüssige Gemüsebrühe verwendet wird, vom Wasser soviel weglassen, dass 500ml Gesamtvolumen nicht überschritten werden.)
    • Wenn die Margarine komplett aufgelöst ist, das Mehl rasch mit einem Schnebesen einrühren und sofort darauf mit einem Schluck der Mischung ablöschen. Schluckweise den Rest der Flüssigkeit einrühren.
    • Anschließend einmal kurz und Rühren aufkochen und bei kleinster Hitze noch weninge Minuten köcheln lassen, wobei mit Salz, Pfeffer und Muskat abgeschmeckt wird.
    • Die Soße sollte eine zähflüssige Konsistenz bekommen und kann dann zur Seite gestellt werden.
  3. Mit den beiden fertigen Soßen geht es nun weiter zur eigentlichen Konstruktion der Lasagne. Dafür eine große Auflaufform verwenden mit einer Abmessung von ca. 30*20*10 cm (L*B*H). Je nach Auflaufform und Tagesform, kann die Anzahl der praktikablen Schichten variieren; ich versuche immer auf drei Nudelschichten und vier Hackfleischebenen zu kommen, lande aber gelegentlich eins darunter. Das Rezept jedenfalls geht vom Idealfall mit drei Schichten aus.
    • Den Backofen auf 200° vorhiezen lassen und ganz unten mit einer Schicht Tomaten-Hack-Soße beginnen, darüber ein wenig geriebenen Käse und die Béchamelsauce verteilen sowie zuletzt mit den Lasagneplatten gleichmäßig bedecken.
    • Für die Schichten zwei und drei nach der gleichen Reihenfolge verfahren. Dabei darauf achten, dass erstens die komplette Béchamelsauce verbraucht wird und zweitens noch genug geriebener Käse und Tomaten-Hack-Soße für oberste Schicht übrig ist.
    • Nach der dritten oder auch nur zweiten Lasagnelage kommt die oberste Schicht. Auf die Nudelplatten zunächst Bolognese geben und dann mit Joghurt oder Crème fraîche bestreichen.
    • Zum Abschluss die Lasagne mit den restlichen Reibekäse, den gezupften Mozzarella und den zwischenzeitlich geriebenen Hartkäse gleichmäßig abdecken.
    • Nun für gut 20 Minuten im Backofen bei 200° überbacken. Ab Minute 15 den Bräunungsgrad des Käses beachten, denn da Backöfen individuelle Eigenarten besitzen, entscheidet einzig dieses Kriterium über das Ende des Backens.
    • (Wer buchstäblich noch eins oben drauf setzen will, kann die fertige, heiße Lasagne noch mit geschnittenen Tomaten sowie frischem Basilikum und Oregano bestreuen.)
  4. Nach zehnminütigem Abkühlen servieren und genießen. Das Rezept ist mit acht Portionen so großzügig ausgelegt, dass die Menge über mehrere Tage gegessen oder auch eingefroren werden kann. Nach meinem Empfinden ist Lasagne zusammen mit nur wenigen anderen eines der Gerichte, die durch Aufwärmen in der Mikrowelle nicht schlechter schmecken – mehr noch, bisweilen sogar besser.

K.-Light trifft Hardcore-S.

Der direkte Verkehr mit den Behörden war ja nicht allzu schwer, denn die Behörden hatten, so gut sie auch organisiert sein mochten, immer nur im Namen entlegener, unsichtbarer Herren entlegene, unsichtbare Dinge zu verteidigen, während K. für etwas lebendiges Nahes kämpfte, für sich selbst; überdies, zumindest in der allerersten Zeit, aus eigenem Willen, denn er war der Angreifer; und nicht nur er kämpfte kämpfte für sich, sondern offenbar noch andere Kräfte, die er nicht kannte, aber an die er nach den Maßnahmen der Behörden glauben konnte.

S. 530f.


 

Daraus war zu schließen, daß es in ihrer Art eine ganz andere Müdigkeit was als jene K.s. Hier war es wohl die Müdigkeit inmitten glücklicher Arbeit; etwas, was nach außen hin wie Müdigkeit aussah und eigentlich unzerstörbare Ruhe, unzerstörbarer Frieden war. Wenn man mittags ein wenig müde ist, so gehört das zum glücklichen natürlichen Verlauf des Tages. Die Herren hier haben immerfort Mittag, sagte sich K.

Und es stimmte sehr damit überein, daß es jetzt um fünf Uhr schon überall zu seiten des Ganges lebendig wurde. Dieses Stimmengewirr in den Zimmern hatte etwas äußerst Fröhliches. Einmal klang es wie der Jubel von Kindern, die sich zu einem Ausflug bereitmachten, ein andermal wie der Aufbruch im Hühnerstall, wie die Freude, in völliger Übereinstimmung mit dem erwachenden Tag zu sein, irgendwo ahmte sogar ein Herr den Ruf eines Hahnes nach.

S. 724f.

 

Franz Kafka (1883 – 1924), Das Schloss (1922/1926)


S. war irritiert, eine Irritation, zu der sich, wie ein entfernter Bekannter einem auf der Straße zu begegnen pfelgt, ein mildes Amüsement gesellte. Seine unklaren Erwartungen waren klar enttäuscht worden, dachte er in einem Augenblick; im nächsten jedoch, war er wieder fasziniert, zerrissen zwischen erfürchtigem Staunen und unbegreifflichem, ihn quälenden Sinnverlust. Sollte es wahr sein und man hört nicht nur bekanntlich, sondern wirklich dann am besten auf – genau dann, einfach so, bloß aus profanen, nur wegen existenziellen Motiven, mehr nicht -, wenn die Spannungsbögen vibrieren, weil sie zuvor so minutiös und feingliedirg gewoben wurden, dass man sie nun kühn immer weiter, bis zur unvermeidlichen Zerreißprobe spannen könnte? Ein literarischer Koitus interuptus lag hinter ihm und er wusste sich nicht zu fangen, konnte nicht reflektieren, was er, S. der umherirrende Geselle ohne Meister, eigentlich von K. erwartet hatte. Er war zuvor unbelastet von dergleichen Erfahrungen und Wünschen gewesen; Klassiker, angebliche Meisterwerke, die gefeierte Weltliteratur, dieser staubige, speckige Tand alt gewordener, greiser Kultur, waren ihm zutiefst zuwider gewesen. Dann kam die Wende, woher, wusste er auch nach Jahren der peinlichen Selbstbeschau nicht bestimmen. Getrieben von einer Lust am Wort und den klugen Spielereien mit Wörtern, diesen bunten Spielzeugen für Erwachsene hatte er angefangen – wie ein Verdurstender in der Wüste, der erst gierig fremdes Wasser hinabstürzt und dann eigenes besitzen will – zu lesen, zu lesen und irgendwann sogar zu schreiben. Nach vielen anderen Begegnungen kreuzte dann K. seinen Weg, erst sehr spät, nach Jahren der Wanderschaft in Freiheit und Unabhängigkeit; nicht mehr so übervoll mit Eigensinn, nach einer sättigenden, fast ermüdenden Gewöhnung an den Geschmack der Worte, derer beinahe bereits überdrüßig, begann er zögerlich damit, den Meistern seines Werks zuzhören, ihnen zuzusehen bei ihren Kunststücken. S. kam sich dabei bisweilen vor wie ein kleiner Junge, auf der letzten Bankreihe sitzend, ganz hinten im stickigen, düsteren Zirkuszelt: Die Raubtiere, auf exotische, errengede Art mochte er sie, aber näher wollte er ihnen nicht kommen, nicht einmal, wenn sie ihrer Bewegelichkeit beraubt und sicher verwahrt, gebändigt von ihrem leibhaftigen Dresseur oder einem leblosen Stahlkäfig; die Artisten, Meister der Technik, Virtuosen ihrer Kunst, flößten ihm echten Respekt ein, dennoch drehte sich ein Leben bei einer solchen Perfektion doch wohl nur um wenig mehr, als die eine zufällige Passion, die sich trotzdem, Beruf und Berufung in einem, als graues Tagwerk für Brot und Haus publikumswirksam veräußern musste; die Clowns sorgten beim Publikum regelrecht für Heiterkeit, wollten echte Narren für moderne Menschen sein, blieben aber so oberflächlich wie ihre Schminke – schon der nächste Regen reichte, einer Träne oder einem echten Lachen hielt sie niemals stand. Wo in dieser Kette an Ereignissen, Bildern und Worten sollte er das Zusammentreffen mit K. einordnen, wie dessen viel zu schroffes Verschwinden begreifen, nach einem an Ermüdung und Ermunterung reichen, von Erkenntins und Ernüchterung geprägten Beisammensein? Der Blick, mit dem S. zu K. hineingeschaut hatte, glich dessen Blick nach draußen und auf die Agenten und Werkzeuge der Herren oben im Schloss: frech und forschend, mal klarer, mal getrübt, immer grob wissend, in welcher Richtung das Erhabene in der Höhe eigentlich zu finden sei, gleichsam unfähig, den Weg dorthin selbstbewusst und geraden Schritts zu gehen, unterworfen den schicksalshaften Launen, die durch die Welt der Worte spuken. Häuser gibt es, Orte der Ruhe und der Wärme, in die S. hoffnungsfroh einkehren möchte, nur um festzustellen, dass Gastfreundschaft ein rares Gut geworden ist, keine Selbstverständlichkeit mehr jedenfalls. Man begegnet ihm mit offenem Misstrauen, statt mit Offenheit und Wärme. Wäre hier draußen die Witterung nicht so rau, der allgegenwärtige, meterhohe Schnee so beherrschend, die Böhen so schneidend, die Kälte so durchdringend und die Tage so kurz, würde er schlicht weiterziehen, so jedoch ist er verfroren, ist er deshalb auf Unterkunft und Labsaal angewiesen. Und wenn er ganz ehrlich zu sich selbst ist, ins Schloss dort oben seinen Fuß zu setzen, einem bedeutenden Herren zu begegnen und Verbindungen dorthin zu knüpfen, all das rechtfertigte sogar weit mehr als eine Nacht hier draußen in der unwirtlichen Fremde. Der anfänglichen Irritation zum Widerspruch war S. sich ganz sicher, er durfte nicht verzagen, vielleicht würde er K. noch ein zweites Mal aufsuchen oder er stellte sein Glück mitsamt seinen Idealen an anderer Stelle auf die Probe. Das Dorf war nicht sehr groß, aber die Welt war es wohl und neben den Nachbarn hier im Ort gab es gewiss Nachbardörfer, auch dort gab es Berge, Sümpfe und Wälder und überall dort konnten Schlösser, Burgen und Festungen im Verborgenen liegen und auf unerschrockene Wanderer warten. S. musste nur bereit sein, hungrig und frierend, zerlumpt und schmutzig, weiterzugehen, immer weiter, ob geradeaus, im Zickzack oder kurvig war gleichgültig, bloß nicht im Kreis, das wäre fatal. Bald musste er auf jemanden stoßen, der ihn aufnahm und versorgte, das geboten die Gesetze der Wahrscheinlichkeit. Bei K. hatte er gehofft, hatte Anfänge von Sympathie entdeckt, zaghaft und sorgsam hinter dem harten Äußeren, den harten Äußerungen verborgen. Dennoch blieb er unsicher, wie hilfreich K. ihm bei seinen Plänen sein konnte, noch gar, ob er ein Freund werden würde. Derzeit war S. noch offenkundig verdrossen, ob des rüden Abgangs von K. und wegen des penetrant schlechten Wetters hier im Dorf. Hoffentlich beruhigte sich das Wetter, morgen oder übermorgen vielleicht, dann klarte es auf und die Sonne würde die Kälte vertreiben. Dann würde S. weitersehen, ein nächstes Gespräch, ein nächstes Reiseziel in der Ferne oder der Nähe, ein weite Welt wartete auf ihn. Alles war offen, aber eines war fest: sein Unwille seßhaft zu werden; selbst in den ersehnten Schlössern wollte er sich nur gründlich umsehen, ein paar Tage deren Luxus genießen, mehr aber nicht, dann zöge es ihn weiter, wieder hinaus. Kein Meister würde ihn binden, kein Ort sollte in fesseln und keine Macht durfte ihn verlocken. Das gelobte S., klopfte sich den zentimeterdicken Schnee von Mantel, Hut und Hose und dreht daraufhin K.s. Haustür den Rücken zu, nicht barsch, ohne Zorn, wieder frei von jedem Groll und das obwohl ihm K. genau diese Tür vor wenigen Minuten vor der halb erfrorenen Nase zugeschlagen hatte, just nachdem die beiden eine Ewigkeit zwischen Tür und Angel geredet hatten und S. schon mit einer Einladung und einem bequemen Nachtlager kalkuliert hatte. Es war spät geworden und die Nacht wurde trotzdem nicht kürzer, der Wind, der Schnee und die Kälte erfrischten ihn, luden ihren intimen Freund S. ein, zu einer weiteren langen Nacht in einem weiteren namenlosen Dorf am Fuße eines beliebigen Berges und im Dunstkreis irgendeines anderen Schlosses, mit anderen Herren, ihren Dienern und den in deren Nähe unvermeidlichen Begleiterscheinungen: Bürokratie und Beamtentum, Bigotterie und Banalität.

Bis hierhin durchgehalten? Meinen Respekt dafür und wärmste Grüße nach da draußen, Euer Satorius

Poesie wider Ernst und Sinn

Dunkel war’s, der Mond schien helle,
Schneebedeckt die grüne Flur,
Als ein Auto blitzesschnelle
Langsam um die Ecke fuhr.

 

Drinnen saßen stehend Leute
Schweigend ins Gespräch vertieft,
Als ein totgeschossner Hase
Auf der Sandbank Schlittschuh lief.

 

Und der Wagen fuhr im Trabe
Rückwärts einen Berg hinauf.
Droben zog ein alter Rabe
Grade eine Turmuhr auf.

 

Ringsumher herrscht tiefes Schweigen
Und mit fürchterlichem Krach
Spielen in des Grases Zweigen
Zwei Kamele lautlos Schach.

 

Und auf einer roten Bank,
Die blau angestrichen war
Saß ein blondgelockter Jüngling
Mit kohlrabenschwarzem Haar.

 

Neben ihm ’ne alte Schachtel,
Zählte kaum erst sechzehn Jahr,
Und sie aß ein Butterbrot,
Das mit Schmalz bestrichen war.

 

Oben auf dem Apfelbaume,
Der sehr süße Birnen trug,
Hing des Frühlings letzte Pflaume
Und an Nüssen noch genug.

 

Von der regennassen Straße
Wirbelte der Staub empor.
Und ein Junge bei der Hitze
Mächtig an den Ohren fror.

 

Beide Hände in den Taschen
Hielt er sich die Augen zu.
Denn er konnte nicht ertragen,
Wie nach Veilchen roch die Kuh.

 

Und zwei Fische liefen munter
Durch das blaue Kornfeld hin.
Endlich ging die Sonne unter
Und der graue Tag erschien.

 

Dies Gedicht schrieb Wolfgang Goethe
Abends in der Morgenröte,
Als er auf dem Nachttopf saß
Und seine Morgenzeitung las.

 

AnonymusDunkel war’s, der Mond schien helle (1898)

Quanzland + Terror-TFF & ein (fast viel) zu langes P.S.

Was ist eigentlich aus dem nicht ganz namenlosen [D.Q.] Gedanken-Terrorist geworden, der zu Beginn unserer Reise so präsent war: mundtot, verbittert, geschnappt, gar tot oder sogar zur Staatstreue bekehrt?

Seine Aktionen jedenfalls haben im letzten Jahr für ernstliche Aufregung in Quanzlands Öffentlichkeit gesorgt, soviel ist gewiss; jedoch ist er in den letzten Monaten zurückhaltender geworden, soviel steht ebenso sicher fest. Vielleicht nutzt sich sein Medium ab, werden die Menschen in ihrem Trott durch Textbomben nicht mehr aufgerüttelt, weder irritiert, noch inspiriert, eventuell haben sich die Bürger sattgegessen am kritisch zu verdauenden Text-Fast-Food oder sie wurden zuerst nur von dessen Neuheit wie modisch angezogen, letztlich dann aber von der politisch-existenziellen Note der Textauswahl abgeschreckt – man und besonders ich weiß es nicht.  

Mit seinen subversiven Zitaten hatte D.Q. fast im Alleingang die anfänglich boomende Kategorie des Text-Fast-Foods gefüllt. Ich wurde beinahe täglich von Texten angesprungen, die überall im Alltag auf willige und unwillige Passanten lauerten: in den Straßen, den Orten des öffentlichen Lebens, in Dokumenten und Sendungen, auf Bildern und Plakaten, besonders aber im digitalen Dschungel des Internets. Überall traff man auf Gedankenbomben, unweigerlich fast; aber dann, nach der ersten Furore legte sich Schritt für Schritt das Interesse und die Aufmerksamkeit, jeweils einen Schritt dannach fuhr der Terrorist – so die offizielle Sprachregelung – sein Engagement zurück. Zunächst subtil und qualitativ, dann merklich und quantitativ. Schwacher, schlechter und weniger – in dieser Reihenfolge geschah der Rückzug der Textfragmente und ihres Urhebers aus dem öffentlichen Raum.

Die staatlichen Organe gehen derzeit mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon aus, dass es sich um einen Einzeltäter handelt; oder, um es mit einem Zitat von einem Regierungssprecher zu sagen, das zweifach eindrücklich ist, sowohl für die öffentliche Atmosspähre in meiner neuen, alten Heimat als auch für die weitere Geschichte unseres inoffiziellen Mitarbeiters, der soviel Text zu dieser Seite beigetragen hat, dass ich ihn mit aller staatsbürgerlich-ironischen Distanz so betiteln möchte. : 

Sehr geehrte Mitbürger von Quanzland,

 

Unsere gründlichen und großangelegten Ermittlungen weisen zweifelsfrei auf eine Einzeltäterschaft des Terroristen hin. Eine rasch eingesetzte Terror-Sondereinheit aus den fähigsten Mitarbeitern von Wächterpolizei und Administration hat unermüdlich im Geheimen für unsere Sicherheit gearbeitet und erst kürzlich ihren neuesten Ermittlungsbericht in Auszügen vorgelegt. Neben den Fakten, die eine Einzeltäterschaft beweisen, finden sich darin beruhigende Terror-Zahlen und ein erfreulicher Terror-Trend: weniger Anschläge durch den Täter und weniger Akzeptanz seiner verqueren Meinungen durch die Bürger. Dafür liefern die letzten Ausgaben des Faktenbuchs zur Lage der öffentlichen Meinung, welches vom Statistikkonzil in Zusammenarbeit mit dem Bereirat zur Pfelge der Meinungslandschaft vierteljährlich herausgegeben wird, weitere eindrucksvolle Belege

.

Eingeschüchtert durch die Brillianz unseres Ermittlungs- und Regierungsapparates und vor allem frustriert durch die Zuversicht und Loyalität der Bevölkerung unseres starken Landes, zieht sich der rücksichtslose Terrorist feige und verschlagen wieder in die dunklen Winkel zurück, aus denen er vor gut neun Monaten gekrochen kam. Ohne die unzählbar vielen und unschätzbar wertvollen Hinweise, die Beweismittel und Aktionen besogter Quanzländer wäre diese Bedrohung der staatlichen Sicherheit nicht so beherzt abgewendet worden. Deswegen möchten sich die gesamte Administration und alle Mitarbeiter der Wächterpolizei ausdrücklich bei den Unmengen ziviler Helfern bedanken.

 

Der einzige Wermutstropfen in dieser Hinsicht bleibt trotz aller Erfolge der letzten Monate weiterhin die ungeklärte Täterschaft. Zöge sich der Terrorist sich nicht zurück, wäre zwar auch das sicher nur noch eine Frage von Wochen, aber er droht allen Ernstes ungestraft davonzukommen. Leider konnte daher bisher auch Niemand in den Genuss der großzügigen Belohnung kommen. In weiser Voraussicht hatte unsere großartige Administration, geheim beraten durch die Terror-Sonderkommision, zackig ausgeführt durch die Wächterpolizei, einen Bonus auf das individuelle Jahresgrundeinkommen als Terror-Kopfgeld ausgesetzt.

 

Nun, da trotz einer dankenswerten Flut an Meldungen und Anzeigen von Ihnen allen da draußen, ein leidlich geschickter Einzeltäter uns alle weiterhin narrt, hat sich die Administration heute überraschend dazu entschlossen, ihren Dank gegenüber den wachsamen Mitbürgern auch finanziell auszudrücken. Im Rahmen ein staatlichen Lotterie können Drei der 50 hilfreichsten Beiträge einen 20%-Bonus für ihr nächstes Jahrsgrundeinkommen erwarten. Aber nicht nur das, allen 50 wird ein sicherer Bonus von 5,23% zugebilligt. Denn Sie, geliebte Mitbürger sind das Volk, das mit seiner Treue und seinem Engagement Quanzland zu einem so guten und schönen Ort machen.

 

Ein Hoch auf uns, ein Hoch auf Quanzland!

 

Regierungsproklamator Klaus-Eduard von Doberstädten (1968 – ), Transskript der Regierungserklärung vom 19.09.2015 [Die ähm, wie sie wissen, sozusagen, quasi, etc.-Schleifen wurden gegenüber dem tatsäclichen Vortrag im Transskript gutmütig zugunsten von Leserschaft und Lesbarkeit entfernt – es war wirklich grausam, ehrlich!]

Das, lasse ich – zunächst sprachlich nichtsagend innehaltend – kurz ausklingen – und kommentiere es dann auch nicht weiter, denn es spricht für sich selbst, klar und deutlich. Zudem verlöre der Kontrast zum Folgenden noch weiter an rhetorischem Glanz, zögerte ich ihn noch länger heraus.

In sproadisch wiedererwachter Quanzland-Perspektive präsentiere ich eine der rar gewordenen Gelegenheiten. Sie läuft dem sogenannten erfeulichen Terror-Trend zuwider. Sie ist ein prächtiges Exemplar von terroristischem Text-Fast-Food alá Anonymus – endlich wieder bissig wie früher, klar im Ausdruck und in der Form, ein ungleicher, aber gleichsam kritischen Dialog zwischen utopischen Weitdenkern:


 

Unsere Postulate waren also falsch, man müsste alles ganz von vorne beginnen. Doch wir leiden an einem schrecklichen Mangel an Vorstellungskraft. Es fällt uns immer schwerer, für uns andere Lebensmöglichkeiten in Betracht zu ziehen. Wir sind gleichsam geistig paralysiert. […] Wir lassen unsere kostbarste Ressource verkümmern: nämlich die Fähigkeit der Seele, von einer Idee verwandelt und vervollkommnet zu werden.

 

[…]

 

Die Perspektive einer Welt ohne Politik ist Träumerei. Es ist für uns eine Notwendigkeit, uns in politischen Gemeinwesen zu organisieren. Meine Sorge ist es nicht, der Politik zu entkommen, sondern zu ihr zurückzukommen, in einem Moment, in dem Europa dazu tendiert, sie aufzugeben.

 

Pierre Manent (1949 – ), Gespräch unter dem Titel „Wer hat Angst vorm Fortschritt?“ In: Philosophie Magazin Nr. 01/2015 (Dezember/Januar), S. 36f.


Ich bin sehr skeptisch hinsichtlich der Idee der Bildung neuer politischer Gemeinwesen als Ausweg für die Globalisierung. Zunächst, weil ich nicht glaube, dass man der Globalisierung entkommen kann. Dann, weil mir Politik nicht als ein Ausweg erscheint.

 

[…]

 

Wenn der Staat verschwindet, kommt möglicherweise der Kannibalismus wieder in Mode. Ich bin mir nicht sicher, aber möglich wäre es. Um den Kannibalismus zu verhüten, reicht allerdings ein minimaler Staat. Ich billige ihnen zu, dass nicht alle staatlichen Organe Unheil bringen, doch die Gefahr ist größer, wenn sie einen gigantischen Staat haben. Wenn sie in Frankreich den Staat von 55 Prozent des Bruttoinlandsproduktes auf 15 Prozent reduzieren würden wie in Singapur, wäre das bereits ein großer Fortschritt. Von 15 auf 0 Prozent zu gehen wie in Somalia, wäre ein Fehler. Es ist alleine eine Frage des Maßes!

 

[…]

 

Es kommt mir so vor, als gab es zumindest am Ursprung des Projekts der Moderne eine sehr klare Vision von der Zweckbestimmtheit des Fortschritts. […] Im Vergleich dazu würde unser derzeitiger Geisteszustand eher in den Bereich „epikureischen Hedonismus“ fallen: Wir glauben, dass alles untergehen wird, und wir wollen bloß essen, trinken und fröhlich sein vor dem Ende der Welt. 

 

Peter Thiel (1967 – ), Gespräch unter dem Titel „Wer hat Angst vorm Fortschritt?“, in: Philosophie Magazin Nr. 01/2015 (Dezember/Januar), S. 37ff.

P.S.: Falls sich jemand darüber wundert, hier keine Erwähnung des einjährigen Jubiläums [Impressum vom 15.10.14 & erster Beitrag am 16.10.14] zu finden, das überlasse ich der derzeit ungewiss verschollenen Metatext-Redaktion. Diese seltenen Feierlichkeiten sind üblicherweise ihre Plattform und der unglückliche Unfall war sicher nicht ihre Schuld. Ja, richtig gehört, ein Unfall – die armen Teufel waren auf ihrem Betriebsausflug mit einem Kreuzfahrschiff unterwegs und havarierten während sie in Bermuda-Shorts und Hawaiihemd ihren Urlaub genossen. Von der Karibik, durch den Panamakanal, hinein in den Pazifik sollte die Reise gehen; sie endete tatsächlich bereits vorher. Bevor ich das PS endgültig entehre, der langen Geschichte zu kurzes Ende: Die Rettung ist so gut wie gewiss, die Rückkehr ebenso, aber ungewiss.

Teil 6 – Resümee, Etappenziel und Ende

Ruhe und Frieden

Sechster Teil: Seiten 17 – 21

Was hatte sie bisher zusammengetragen? Selbstsorge und Sparsamkeit fielen ihr rasch ein; dann, nach einigen Sekunden, Stärke – und ja, was noch – bevor sie mental verkrampfte, entspannte sie sich bewusst mit ein paar tiefen, ruhigen und vollen Atemzügen. Genau, das waren sie: Autonomie, Erfahrungswissen und Übersicht. Oder fehlte doch noch etwas? Noch einmal kurz und knapp in schneller Folge: Selbstsorge, Sparsamkeit, Stärke, Autonomie, Erfahrungswissen, Übersicht. Ach, die Pragmatik war ihr entfallen, also das alles und Pragmatik.

 

Gut erinnert, lobte sie sich – aber genug davon, es gab nun wichtigere Aufgaben. Sie musste rasch weiter, sonst würde aus einem zu langen Weg, eine zu kurze Nacht. Sie war entschlossen und lief abermals los. Nicht jedoch ohne die letzten Meter des sicheren Hochplateaus für abschließende Gedanken zu ihrem Ordnungssystem zu nutzen.

 

Die fünfte und letzte Gruppe forderte sie im Kampf wohl am heftigsten heraus, stellte aber für ihre Wahrnehmung, ihr Gefühl und die geistige Gesundheit eine weit geringere Belastung dar. Roboter, Androiden, Drohnen, Verteidigungsanlagen und eigenständige Kampfsysteme gab es überall dort, wo sich fette Beute machen ließ. Da nur gut gesicherte Hochtechnologie die Katastrophe überstanden und die letzten Jahrzehnte überdauert hatte, waren ihr diese Exemplare in Hinblick auf Kampfkraft mindestens ebenbürtig. Als Spitze einer brachial abgebrochenen Technikevolution übrig geblieben, musste sie in den Konflikten mit diesen Maschinen all ihr Können und große Teile ihres Arsenals einsetzen, um am Ende als Siegerin dazustehen.

 

Eine besondere Herausforderung war in solchen Situationen, klug und besonnen zu bleiben, obwohl ein schwer zu besiegender Wächter die berechtigte Erwartung auf entsprechende Reichtümer weckte. Sie neigt wahrlich nicht zu Gier, aber je besser ein Ort geschützt war, desto größer war zumeist die Belohnung. So konnte die Beute, die am Ende eines derart kritischen, nicht selten lebensgefährlichen Einsatzes stand, für sich alleine mehr Geld einbringen, als Tonnen an Standardtechnik; mehr jedenfalls als die typischen Bewohner der Lebenszonen mit einem Jahr harter Arbeit verdienen konnten. Deshalb waren ein hohes Maß an Selbstbeherrschung und ständige Risikoabwägung gefordert. Mit diesen beiden hatte sie die nächsten wichtigen Überlebensprinzipien gestreift und setzte sie ans Ende der spontan nochmals wiederholten Liste.

 

Hier draußen war wirklich was los, vermeintlich klare Klassen hin oder her, das Bestiarium war reichhaltig: Zombies, von plump bis agil; ebenso zu Biowaffen mutierte oder als solche konstruierte Tiere und Pflanzen, von verblüffend über unangenehm bis tödlich; die ursprüngliche Flora und Fauna, die auch nicht eben harmlos waren; degenerierte Psychopathen, Gesetzlose und Wilde, die im Vergleich zu Zombies und Tieren auch noch intelligent waren, sich jedoch so weit von Moral und Menschlichkeit entfernt hatten, dass mit ihnen nicht friedlich auszukommen war; zuletzt die Welt der Technik.

 

Innerhalb und zwischen diesen fünf Gruppen, deren Zweige sich ständig erweiterten, verbanden und wieder vereinzelten, hatte sich ein konfuser Wirrwarr entwickelt. Jede Todeszone war anders, jede Todeszone war gleich. Ein Team aus Biologen und Soziologen hätte viel Arbeit darin, das Chaos hier draußen mal zu analysieren und ordentlich zu klassifizieren. Sie jedoch wälzte diese Gedanken hauptsächlich aus praktischem Interesse, die Wissenschaft überließ sie anderen. Kenne deine Feinde, ihre Stärken und Schwächen, war die passende Regel, die ihr hier draußen das Überleben sicherte. Da steckten als Prinzipien doch mehr dahinter als nur Übersicht und Erfahrungswissen, aber was noch?

 

Während sie so überlegte, wurde sie sich erst erstaunt dann frustriert bewusst, dass sie zuvor nur wenige Meter gelaufen, dann langsamer geworden war und seit über einer Minute schon wieder reglos dastand. Die unzähligen Tiere, die sie nun krabbelnd, kriechend und auf sich sitzend entdeckte, waren Beleg dafür genug, aber kein Grund zur Sorge. Sie schüttelte sich ruckartig und streifte danach die übrigen Tiere, die hartnäckig weiter an ihr klebten, sorgsam und respektvoll von Xentar ab.

 

Dass nur noch ein paar Meter Strecke vor ihr lagen, vermutete sie sodann und ging kräftigen Schrittes weiter. Dabei bahnte sie sich mühsam ihren Weg durch Gestrüpp und tief hängendes Astwerk. Ohne Muskelverstärkung stellte sich ein Spaziergang durch die Wildnis als anstrengender heraus, als sie gedacht hätte. Vorhin war ihr das nicht aufgefallen, obwohl die Strecke kaum anders gewesen sein konnte. Nur Schritt für Schritt kam sie voran.
Ihre weitschweifigen Überlegungen waren zuvor an einem toten Punkt angekommen, von diesem aus hatte sie nicht mehr weitergedacht – genug des Nachdenkens, gelobte sie sich abermals. Eben hatte sie sich dem Rand des Plateaus bis auf weniger als einen Meter genähert, ihn noch immer nur erahnend.

 

Ohne den Helmscheinwerfer wäre es gefährlich geworden, denn der dichte Pflanzenteppich verhinderte jeden Überblick, hing sogar lose merklich über den Abgrund hinaus. So aber war sie rechtzeitig stehengeblieben. Nun blickte sie in den metertiefen Abgrund, anstatt ihn nur zu ahnen. Gute vier Meter ging es an dieser Stelle fast senkrecht hinab und jetzt sah auch wieder den Baumriesen, der ihr vorhin als Orientierung gedient hatte.

 

Damit an ihrem ersten Etappenziel auf dem Rückweg angekommen, stemmte sie sich gegen einen jungen aber kräftigen Baum – vielleicht eine Morlaeiche? Sie umschlang ihn und lehnt sich leicht über den Abgrund. Trotz der geschlossenen Rüstung, spürte sie die raue Rinde, roch den süßen Duft der verschlossenen Blüten zu ihren Füßen. Darunter mischte sich der herbe Geruch frischen Harzes. Die zuvor so aufdringlichen Geräusche der Tierwelt wurden nun durch den Wind übertönt, der hier oben insgesamt und besonders hier an dieser Stelle sehr kräftig war. Er pfiff laut durch die kaum drei Meter breite Schneise zwischen den zwei Wäldern, welche durch einen wüsten Streifen und den felsigen Abhang voneinander getrennt wurden.

 

Dahin war ihr kaltes Interesse an einem bloßen Namen für diesen Baum, beendet ihr Sinnieren über Prinzipien und ihr Abdriften in schöne und hässliche Erinnerungen. Sie betrat gleich den steinigen Boden der Realität, die Friedenszeit war beinahe vorüber und vor ihr lag unbestimmt viel Weg. Der Preis für diese selbst verschuldete Verspätung würde ein zweifacher sein: weniger Schlaf und mehr Energieverbrauch.

 

Nun schaltete sie das künstliche Licht wieder aus und zog sich noch weiter hinauf in den überhängenden Baum. Über ein paar dünne Äste gelangte sie rasch in die knapp fünf Meter hohe Krone. Hier oben stand der Baum schon über einen Meter schräg über dem damit noch tieferen Abgrund. Die Aussicht von hier über die Bergflanke hinweg in das nächste Tal und die Ferne war beeindruckend:

 

Der Mond brach mehrfach kurz durch die Wolken, die eilig über den Nachthimmel glitten. Sie konnte den dunkel vor ihr liegenden Wald kilometerweit überblicken; Nebelbänke zogen hier und da träge über ihn hinweg, schlängelten sich zwischen den vereinzelt stehenden Baumgiganten hindurch. Einzelheiten konnte sie dabei keine ausmachen, wie auch. Wo die Schlaglichter des beinahe vollen Mondes hinfielen, entsponnen sich fantastische Bilder, erkennen aber konnte sie nichts.

 

Gebannt von diesem Schauspiel, lies sie in ihrer Vorsicht nach. Zu einem schlechten Tag kamen schlechte Erinnerungen und reichlich Versuchung, sich darin zu verlieren – Kopf hoch, morgen würde wieder ein besserer Tag, sprach sie sich gütig und tröstend zu. Danach genoss den Fernblick über das düstere Wunderland, ließ sich darin einspinnen.
Eine Böe fegte plötzlich hinab, erfasste den Baum voll; ein leises Knacken, ein lautes Krachen und alles begann zu fallen. Sie fiel.

 

In diesem Moment war unvermittelt ein Ast des jungen Baumes gebrochen, der Ast, auf dem sie bis eben gestanden hatte. Auch von den zwei Haltepunkten ihrer Hände war damit einer verloren gegangen, der verbliebene konnte ihr Gewicht kaum halten. Weniger als zwei Sekunden, dann knickte er ab und alles stürzte hinab in die Tiefe.

 

Sie hatte gut neun Meter freien Fall vor sich, bevor sie auf den spitzen Felsen am Fuß des Steilhangs aufkommen und dabei zerschmettert würde. In einem jahrelang trainierten Instinkt wollte sie mit einer simplen Geste technische Unterstützung herbeizaubern, scheiterte aber an dem störenden Astwerk, das sie auf ihrem Fall begleitete. Sie versuchte eifrig sich aus der hölzernen Umklammerung zu lösen und verlor dabei wertvolle Meter an Flughöhe. Nichts zu machen, überall um sie herum war es Grün und Braun. Zusammen mit ihr war wohl mehr als nur ein Ast über die Klippe gestürzt. Was konnte sie jetzt noch tun? Erst hoffen, dann abrollen, dachte sie noch scherzhaft, während sie sich über das Ausbleiben jeglicher Lebensfilme oder bedeutsamer Erinnerungsszenen wunderte. Ihren Tod frei von solchen Klischees zu wissen, war ein widersinniger Trost, aber ein Trost. Denn bald musste es soweit sein. Wie lange sie wohl flog, fragte sie sich besser gar nicht erst. Das war es jetzt also, lahme Fragen, mehr nicht und dann?

 

Nun kamen sie doch, die Nahtoderfahrung: Sie sah sich, von außen, gestochen scharf; kurz sogar ihren zukünftigen Aufprall auf einem steinigen Boden, der tatsächlich aber unausweichlich weiter auf sie zuraste. Sie fürchtete die brachialen Schmerzen, die sie vor der rettenden Ohnmacht noch heimsuchen, noch quälen würden. Der Schub an Erinnerungen blieb wirklich aus, stattdessen erlebte sie jedoch die langsamsten und intensivsten Sekunden und Meter ihres Lebens:

 

Jedes Atom um sie herum gewann unendliche Bedeutung. Sie wuchs, wandelte sich, wurde eine andere, sie hatte genug Aufmerksamkeit für alles: den grauen Stein, durchzogen von weißen Schlieren; die Mückenschwärme, gierig auf ihre fette Beute; den im Mondlicht purpurn schimmernden Ajaxfarn, dort unten am nahen Waldrand; auch die wenigen Todraucher, mit ihren kecken Hütten, den orangefarbenen Punkten; die Unmengen namenloser Tiere und Pflanzen um sie herum, das alles sah sie absolut klar und scharf trotz der herrschenden Dunkelheit. Sie schaute vermeintlich in das Wesen der Dinge. Nach einer Unzeit weise geworden, erblickte sie überall die Schleier der Existenz, wie sie wild flatterten und für sie durscheinend geworden waren, als sich plötzlich wieder alles änderte: Zeit und Raum forderten ihr Recht ein.

 

Aus ultimativer Achtsamkeit gerissen, glitt sie zurück, hinein in den dunklen Abgrund ihres inneren Selbst, zurück ins Gefängnis ihres fallenden Körpers. Dort wurde sie wohlig und warm empfangen, ihr Leib pulsierte schier vor Wonne, ein einziger Rausch durchströmte sie. Nicht lange war ihr vergönnt, darin zu baden, schon ebbte die Lust ab. Die Dunkelheit wurde intensiver, wurde tiefer, dichter, absorbierte sie.

 

Schon war die Stille vollkommener, als sie das jemals in einer Meditation erlebt hatte. Immer dunkler, immer glatter, immer leiser, immer steriler, immer leerer, immer weniger – schlussendlich pures Nichts.