Monthly Archives: Dezember 2015

Vom unglaublichen Prolog ins verspätete Jubliäum: 1 Jahr Quanzland!

Leere Gänge, ausgeschaltete Rechner mit düstertoten Bildschirmen, unbeschriebene Whiteboards und die Abwesenheit von allem Menschlichen prägen die Atmosphäre. Staub von mehreren Monaten, der rasch auf Millimeterdimension angewachsen ist, bedeckt alle freien Oberflächen und rundet zusammen mit der muffigen, sauerstoffarmen Luft, die schwer durch die Redaktionsräume wabert, die fatale Stimmung ab. Pflanzen gibt es hier keine, aber selbst wenn, wären sie bis jetzt gewiss vertrocknet und währenddessen jämmerlich eingegangen. Selbst die üblichen tierischen Hausbesetzer sind derweil verschieden: Vertrocknete Spinnen, tote Fliegen und exotischere, aber namenlose Insekten liegen über Böden und Möbel verstreut umher, sogar die vitale Kolonie an Silberfischen, deren Residenz in den Sanitärräumen ewig und unerschütterlich zu sein schien, ist unterdessen ausgestorben.

Was ist hier bloß geschehen, wo doch noch vor wenigen Monaten das Leben tobte, schier pulsierte und kreativer Unsinn unablässig produktiven Sinn jagte?

Es hat sich eine unglaubliche Geschichte ereignet. Anstatt einem schlichten, überraschungsarmen Reisebericht über einen schlimmstenfalls exzessiv ausartenden Betriebsausflug der Metatext-Redaktion müssten wir nun eine literarisch wilde Mischung aus Roadtrip, Robinsonade und Geheimdienst-Thriller erzählen, wollten wir den öden Zustand unsere Büroräume mitsamt unserer langen Abwesenheit erklären. Aber aufgrund des letzten Aspekts, der Verwicklung geheimdienstlicher Instanzen, sind uns leider Hände, Zungen und bisweilen gar Synapsen gleichermaßen gebunden. Nur soviel, bevor wir zum lange überfälligen Jahresjubiläum von Quanzland voranschreiten:

Unsere Geschichte begann am 2. Oktober im Flughafen Frankfurt Hahn, führte uns über den Atlantik ins sogenannte Land der unbegrenzten Möglichkeiten und dort zuerst ins Mekka der vergnügungssüchtigen Hedonisten, ins fabelhafte und schreckliche Las Vegas. Von den zwei Wochen unseres Trips sollten lediglich die ersten zwei bis drei Tage dort verbracht werden, bevor wir zu weiteren Stationen in den USA, Kanada und Mittelamerika weiterreisen wollten, aber alles kam anders, und zwar gewaltig. Glücksspiel und andere zwielichtige Aktivitäten hatten bereits nach zwei wilden Nächten und im Kater verschlafenen Tagen enorme Löcher in unsere an sich reichlich gefüllte Reisekasse gerissen. Dann kam einer der Redakteure auf noch zwielichtigere Ideen, wie wir diesen Zustand ändern könnten, und das Übel nahm seinen fantastisch-finsteren Lauf. Zwei Tage später befanden wir uns außer Landes in einem freundlichen Internierungslager und lernt neue Seiten und tiefe Abgründe kennen, bei uns und unseren Betreuern. Von diesem Zeitpunkt an werden die Erfahrungen von uns zwölf Handlungsreisenden so unterschiedlich, kontrovers und unzusammenhängend, dass wir uns nur noch auf wenige Stichworte und Wegmarken verständigen können: Ein Aufstand im Lager; Flucht und Rückkehr in die Zivilisation; ein Besuch in der deutschen Botschaft in Karakas; abermals ein Flug, der in einem nicht ganz zufälligen Absturz im Golf von Mexiko endete; sodann das vieltägige Überleben auf einer Rettungsinsel und das Anlanden am Strand einer namenlosen Insel, wo der mehrwöchige Aufbau überlebensfähiger Strukturen unter karibischer Sonne glückte; schließlich die Erkenntnis, nicht alleine auf dem Eiland zu sein, mit dem anschließenden Wunsch, doch wieder alleine sein zu wollen; schamanistische Rituale, exotische Drogen, schmerzhafte Träume und fröhliche Traumata sowie abermaliges, haarscharfes Entrinnen; schlussendlich die Flucht auf einem selbstgezimmerten Floß, die zur Rettung durch das weltbekannte Kreuzfahrtschiff AIDA führte; letztlich und unvermeidlich schlossen sich Quarantäne, Krankenhaus und viele Gespräche mit illusteren Behörden und deren eifrigen Beamten an. Am Ende gab es die offizielle Version unserer Erzählung, die narrativ vergleichbar lückenhaft ist, wie wir sie hier zum Besten geben. Mehr Details zu nennen ist unnötig, ist gefährlich, wird tunlichst unterlassen und bildet den Stoff für spannende Tagebucheinträge.

Insgesamt wurden so aus den 14 geplanten Tagen Betriebsausflug 77 ungeplante, ungeahnt abenteuerliche Tage der Odyssee, die sicher keiner von uns jemals wieder vergessen wird. Auch wenn einige der Kollegen seither psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen müssen, unsere Körper bis an ihrer Grenzen belastet und ausgezehrt wurden, so geht es nun allen 12 Redakteuren gesundheitlich wieder gut genug, um die Arbeit wieder aufzunehmen; zumal wir nun alle einige ruhige Tage mit unseren Familien verbringen durften.

Das alles bildet einen außergewöhnlichen Prolog zum Eigentlichen des Texts. Der urspüngliche Anlass für diesen Beitrag liegt nunmehr zwar über zwei Monate (15.10) in der Vergangenheit, nichtsdestotrotz sollte er nun endlich gebührend beschrieben und textuell gefeiert werden. Dabei geschieht der erste Schritt in Richtung einer Tradition, wenn die Katergorienübersicht aus dem Halbjahres-Fest-Artikel ihre erste Wiederkehr hat:


Herzlichen Glückwunsch zum 1. Geburtstag von Quanzland!

wünscht die gesamte Metatext-Redaktion


Thema (+0)       Anzahl der Beiträge: 99 (+99)       Format  (+2)

Denkwelten   32 (+7)

Text-Fast-Food   48 (+27)

NEU: Lyrik-Alarm   10 (+10)

Rätsel-Runde   1 (0)

Fiktionale Kleinode   70 (+46)

NEU: Originale   21 (+21)

Lichtrausch   28 (+24)

Quanzland-Zeitgeschehen   10 (+3)

Kulinarik    16 (+9)

Metatext   8 (+3)

Diskurse der Nacht   14 (+12)


Es hat sich viel getan und einiges entwickelt in Quanzland. Satorius sorgt brav und mal mehr, mal weniger fleißig für Inhalte und wir verwalten sein kreatives Chaos, bringen das in Ordnung, was er im fortlaufenden Blog produziert, schaffen dort Übersicht, wo diese verloren zu gehen droht. Wenn nötig schaffen wir auch neue Themen oder heben neue Formate aus der Taufe. Mit Lyrik-Alarm und Originale ist das im letzten Halbjahr gleich zweifach geschehen. Beide Schöpfungen reagieren auf Satorius sprunghafte Interessenlage, von der einzig abhängt, was, wie und wann wächst oder stagniert.

Kräftigen Aufschwung hat der ästhetische Bereich zu verbuchen. Literarische und bildende Meisterwerke und Machwerke laufen den anderen Themen den Rang ab, womit Wissenschaft, Philosophie und Politik etwas ins Hintertreffen geraten sind. Viele Zeilen guter Literatur wurde zitiert und noch mehr Zeilen eigener Gehversuche in noch nicht so guter Literatur unternommen. Aktivität und Passivität stehen hier in harmonischem Verhältnis, wenn nun noch Filme und Serien, Brett- und Computerspiele, Musik gar ein Platz bekämen, würde unser werter Herr Autor uns verzücken, aber rechnen wir damit? Nein!

Desweiteren ist erfreulich, berichten zu können, dass Satorius sich indes ins Zwielicht der Politik getraut und damit den Diskursen der Nacht erste ernsthafte Aufmerksamkeit geschenkt hat, wenn er auch die regelmäßige, originelle bis originale Textproduktion in dieser Kategorie noch immer schuldig bleibt. Wenn Sie wüssten, wie viele Diskussionen Satorius entert und in politische Gewässer lenkt, wie viele Artikelvorschläge und Eingaben er in dieser Richtung macht, nur um sie dann doch links oder höchstselten auch mal rechts liegen zu lassen. Wir bestärken ihn weiterhin konsequent und sind felsenfest davon überzeugt, dass auch das kleinste Wort, der nichtigste Gedanke, der bescheidenste Impuls es verdient hat gedacht, geschreiben und veröffentlich zu werden, mag er gelesen werden, mag er Wirkung entfalten oder auch nicht. Besonders in politischer Hinsicht ist diese kommunikative Offenheit und Signalfreude die entscheidente Komponente, ohne die demokratisch-diskursive Öffentlichkeit nicht denkbar, nicht praktikabel ist. Digitale Bürgerinitiativen sind ein mächtiges Phänomen geworden und damit eine massive Stütze für unsere Erbauungsversuche des politisch irgendwie desillusioniert und mutlos wirkenden Satorius. Ignoranz, Bequemlichkeit und Privatismus, die Rede vom Neo-Biedermeier kursiert bereits, machen sich unabhängig von Alter und Status unter den Staatsbürgern breit, möchte man passimistisch meinen. Angesichts von Weltklimagipfel und Flüchtlingskrise, Terrorismus und Pegida sowie vermeintlich multilateral gewordener internationaler Politik, die aus allen Fugen zu greaten droht, gibt es reichlich brandheiße Themen, die breit diskutiert, vielschichitig perspektiviert und gründlich deliberiert werden sollten. Also weiter so und dranbleiben an den Diskursen der Nacht. Wir beschließen diese wunschgeleitete Ausschweifung ein wenig populär-Kantisch mit dessen emanzipativen Ermunterung: Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!

Die Häufigkeit der Beiträge korreliert auffällig mit unseren Motivationversuchen bei Satorius und ist demnensprechend eingebrochen, seit wir verschollen gewesen waren. Dieser Fakt überdeckt jedoch den vermutlichen Hauptgrund für die Schreibunlust unseres Autoren, eine Entwicklung oder besser Nicht-Entwicklung im ersten Jahr von Quanzland: ein eklantanter Mangel an Ressonanz und keinerlei Kommunikation – von wegen Web 2.0. Der traurige Tiefpunkt für unser Team rund um den tragischen Protagonisten in unserer Mitte war dann erreicht, als sich herausstellte, dass die wenigen zunächst seltsam anmutenden, aber dennoch dankbar angenommen Kommentare von englischsprachigen Rezipienten bloßer „Bullshit“ waren. So nannte es einer der Redakteure in einem impulsiven Ausbruch. Vorangegangen war dem eine Phase explosionsartiger Schwämme von ziemlich allgemein und generisch geschriebenem Lob in Form von Kommentaren zu diversen Artikeln von Satorius. Alle hatten wir uns immer darüber gewundert, warum eine in zum Teil hochidiomatischem Deutsch verfasste Seite so stetig Schmeicheleien in englsicher Sprache erfährt. Nachdem die ersten 20 Exemplare noch so einzigartig gewesen waren, dass sie emsig beantwortet und anerkannt worden waren, enthüllte die dreistellige, zuletzt nur noch plumpe Masse an Like-Spam das Wesen hinter den anfangs noch unterschiedlichen Ereignissen: Gefälschte Vernetzung durch Streuung von Backlinks, einzig um bessere Platzierungen der eigenen Seite zu erzielen – Pfui! Mit diesem nachträglichen Wissen verpuffte nun auch die Plausibilität der ersten Komplimente vollends und der motivierende Glaube, dass wenigsten annoyme Mitmenschen zaghaft begännen, sich auf Quanzland zu tummeln, war zerschlagen. Danach machten sich Ernüchterung und Unlust breit, zumal die unablässigen Kommentar-Attacken nur durch eine Erhöhung der Hürden für eine Kommunikation auf Quanzland unterbunden werden konnten. Wo so schon niemand geschreiben hat, können das jetzt nur noch registriete und angemeldete Nutzer. Wir mögen uns damit wiederholen, aber wir tun es nunmehr (pseudo-)öffentlich: Kopf hoch Satorius, der Selbstzweck heiligt deine Text-Taten allemal und lieber aufrichtig ungelesen als unaufrichtig geil auf bloße Backlinks.

Zum Abschluss möchten wir uns noch selbst digital auf die Schulter klopfen: Ein Kreisbogen schließt sich, denn zu den neuen Errungenschaften auf kategorieller Ebene – Originale & Lyrik-Alarm – die Anlass für die anfängliche Rede von Ordnung und Übersicht waren, gesellen sich noch zwei neue Unterseiten, die Übersichtlichkeit in Reinform zelebrieren und daher notwendig mit der Blogstruktur brechen müssen. Zum einen haben wir eine Archivseite für die mittlerweile 22 Koch-Rezepte geschaffen, da die Vertreter der Gattung Kulinarik ansonsten sicher in den Tiefen des Blogs unsichtbar geworden und damit verloren gegangen wären. Zum zweiten haben wir die Meistergalerien des Lichtrausches eröffnet, womit wir auf das rasante Anwachsen der Beiträge in der Kategorie Lichtrausch reagiert haben. Wer durch diese lichten Hallen der bildenden Kunst schlendert, bekommt nun auf intuitive Weise eine direkten Zugang zu jenen Künstlern, die Satorius sich mehrfach, genauer dreifach, vorgenommen hat.

Blog und (Web-)Seiten wachsen miteinander, wachsen dabei zusammen, ganz so wie es sein soll. Wie immer, wie überall im Leben herrschen auch hier in diesem Prozess Licht und Schatten. Da wir, da Satorius definitiv ein Kind der Nacht ist, sollte uns aber die gelegentliche Dunkelheit nicht schrecken, sondern im Gegenteil dazu einladen, sich ihr anheimzugeben, tief in sie einzutauchen und darin die Kraft der Muße zu suchen. Auf voran, weitere Runden quer durch Quanzland, rundherum und darüberhinaus, warten auf uns hier drinnen und Euch da draußen, wer auch immer, wo auch immer, wann, wie, warum auch immer ihr seid.

Bis bald mit ehrenvoller Verneigung und in der Hoffnung auf echte Kommunikation, Ihre Metatext-Redaktion

Er und sie schon wieder: Hiob und die Religion

Einladung und Warnung zugleich, soll dieses kleine Intro zum Roman Hiob von Joseph Roth (Direktlink) sein. Eine doppelte Warnung möchte ich vorab aussprechen, eine davon durch und eine zweite über den primären Text. Dieser warnt erstens insgesamt hochsensibel und nachfüllbar vor den Tücken einer religiöser Existenz in den Wirren von Krieg, Flucht und Verfall. Zweitens gilt zu bedenken, dass mit jedem der vier Text-Filets die Gefahr steigt, sich den Spannungsbogen der sehr lesenswerten Erzählung gründlich zu verderben. Vom Konsum weiterer Textpassagen nach dem ersten Happen Text-Slow-Food rate ich also all jenen ab, die dazu neigen ganze Bücher vollständig zu lesen; der Rest bekommt den Roman über einen einfachen Mann in vier resümierenden, äußerst dichten Passagen zum Direktverzehr dargeboten.

Tagesaktuelle, vielleicht gar zeitlose Themen umkreist die Familiengeschichte der Singers: Verlust der Heimat als äußere Migration, Verlust von Glauben und Identität als innere Migration, der Zerfall der Familie in einer komplexen Welt und nicht zuletzt eine tiefe Einsicht in die jüdische Lebenswelt durch die Facette des orthodoxen Ostjudentums. Ob Mendel Singer aus Wolhynien oder die Tausenden Hilfesuchenden vor den Toren Europas, wichtig ist das Gegenüber und dessen Gastfreundschaft.

All denen, die wie die Made im Speck sitzen und dabei um ein klein bisschen von ihren Wohlstandsspeck fürchten, während sie andererseits Geld für Diätprodukte, Wellness und sporadische Fitnessstudiobesuch verfeuern, sei klar gesagt: ihr stinkt! Ein jüdischer Existenz-, Familien,- und Migrationsroman empfiehlt sich selbstredend mit den folgenden Zeilen, besonders auch denen, die keinen Blick für gloabale wie historische Relationen ihr eigen nennen – dürfen, können, wollen, brauchen, müssen, mögen.

Schonenden bis schonungslosen Lesegenuss wünscht, Euer Satorius


 

Er glaubte seinen Kindern aufs Wort, daß Amerika das Land Gottes war, New York die Stadt der Wunder und Englisch die schönste Sprache. Die Amerikaner waren gesund, die Amerikanerinnen schön, der Sport wichtig, die Zeit kostbar, die Armut ein Laster, der Reichtum ein Verdienst, die Tugend der halbe Erfolg, der Glaube an sich selbst ein ganzer, der Tanz hygienisch, Rollschuhlaufen eine Pflicht, Wohltätigkeit eine Kapitalanlage, Anarchismus ein Verbrechen, Streikende die Feinde der Menschheit, Aufwiegler Verbündete des Teufels, moderne Maschinen Segen des Himmels, Edison das größte Genie. Bald werden die Menschen fliegen wie Vögel, schwimmen wie Fische, die Zukunft sehn wie Propheten, im ewigen Frieden leben und in vollkommener Eintracht bis zu den Sternen Wolkenkratzer bauen. Die Welt wird sehr schön sein, dachte Mendel, glücklich mein Enkel! Er wird alles erleben! Dennoch mischte sich in seine Bewunderung für die Zukunft ein Heimweh nach Rußland, und es beruhigte ihn, zu wissen, daß er noch vor den Triumphen der Lebendigen ein Toter sein würde. Er wußte nicht, warum. Es beruhigte ihn. Er war bereits zu alt für das Neue und zu schwach für Triumphe. Er hatte nur eine Hoffnung noch: Menuchim zu sehn.

S. 82

 

Sieben runde Tage saß Mendel Singer auf einem Schemel neben dem Kleiderschrank und schaute auf das Fenster, an dessen Scheibe zum Zeichen der Trauer ein weißes Stückchen Leinwand hing und in dem Tag und Nacht eine der beiden blauen Lampen brannte. Sieben runde Tage rollten nacheinander ab, wie große, schwarze, langsame Reifen, ohne Anfang und ohne Ende, rund wie die Trauer. Der Reihe nach kamen die Nachbarn: Menkes, Skowronnek, Rottenberg und Groschel, brachten harte Eier und Eierbeugel für Mendel Singer, runde Speisen, ohne Anfang und ohne Ende, rund wie die sieben Tage der Trauer. Mendel sprach wenig mit seinen Besuchern. Er bemerkte kaum, daß sie kamen und gingen. Tag und Nacht stand seine Tür offen, mit zurückgeschobenem, zwecklosem Riegel. Wer kommen wollte, kam, wer gehen wollte, ging. Der und jener versuchte, ein Gespräch anzufangen. Aber Mendel Singer wich ihm aus. Er sprach, während die andern lebendige Dinge erzählten, mit seiner toten Frau. »Du hast es gut, Deborah!« sagte er zu ihr. »Es ist nur schade, daß du keinen Sohn hinterlassen hast, ich selbst muß das Totengebet sagen, ich werde aber bald sterben, und niemand wird uns beweinen. Wie zwei kleine Stäubchen wurden wir verweht. Wie zwei kleine Fünkchen sind wir erloschen. Ich habe Kinder gezeugt, dein Schoß hat sie geboren, der Tod hat sie genommen. Voller Not und ohne Sinn war dein Leben. In jungen Jahren habe ich dein Fleisch genossen, in spätern Jahren habe ich es verschmäht. Vielleicht war das unsere Sünde. Weil nicht die Wärme der Liebe in uns war, sondern zwischen uns der Frost der Gewohnheit, starb alles rings um uns, verkümmerte alles und wurde verdorben. Du hast es gut, Deborah. Der Herr hat Mitleid mit dir gehabt. Du bist eine Tote und begraben. Mit mir hat Er kein Mitleid. Denn ich bin ein Toter und lebe. Er ist der Herr, Er weiß, was Er tut. Wenn du kannst, bete für mich, daß man mich auslösche aus dem Buch der Lebendigen. Sieh, Deborah, die Nachbarn kommen zu mir, um mich zu trösten. Aber obwohl es viele sind und sie alle ihre Köpfe anstrengen, finden sie doch keinen Trost für meine Lage. Noch schlägt mein Herz, noch schauen meine Augen, noch bewegen sich meine Glieder, noch gehen meine Füße. Ich esse und trinke, bete und atme. Aber mein Blut stockt, meine Hände sind welk, mein Herz ist leer. Ich bin nicht Mendel Singer mehr, ich bin der Rest von Mendel Singer. Amerika hat uns getötet. Amerika ist ein Vaterland, aber ein tödliches Vaterland. Was bei uns Tag war, ist hier Nacht. Was bei uns Leben war, ist hier Tod. Der Sohn, der bei uns Schemarjah hieß, hat hier Sam geheißen.In Amerika bist
du begraben, Deborah, auch mich, Mendel Singer, wird man in Amerika begraben.«

S. 91f.

 

Er saß in einem breiten, ledernen Lehnstuhl, die Mütze aus schwarzem Seidenrips hatte er über die Knie gestülpt, sein Regenschirm lehnte, ein treuer Gefährte, neben dem Sessel. Mendel blickte abwechselnd auf die Menschen, die gläserne Tür, die Zeitschriften, die Verrückten, die draußen immer noch vorbeizogen – man führte sie zum Bad –, und auf die goldenen Blumen in den Vasen. Es waren gelbe Schlüsselblumen, Mendel erinnerte sich, daß er sie daheim auf den grünen Wiesen oft gesehen hatte. Die Blumen kamen aus der Heimat. Er gedachte ihrer gern. Diese Wiesen hatte es dort gegeben und diese Blumen! Der Friede war dort heimisch gewesen, die Jugend war dort heimisch gewesen und die vertraute Armut. Im Sommer war der Himmel ganz blau gewesen, die Sonne ganz heiß, das Getreide ganz gelb, die Fliegen hatten grün geschillert und warme Liedchen gesummt, und hoch unter den blauen Himmeln hatten die Lerchen getrillert, ohne Aufhören. Mendel Singer vergaß, während er die Schlüsselblumen ansah, daß Deborah gestorben, Sam gefallen, Mirjam verrückt und Jonas verschollen war. Es war, als hätte er soeben erst die Heimat verloren und in ihr Menuchim, den treuesten aller Toten, den weitesten aller Toten, den nächsten aller Toten. Wären wir dort geblieben, dachte Mendel, gar nichts wäre geschehen! Jonas hat recht gehabt, Jonas, das dümmste meiner Kinder! Die Pferde hat er geliebt, den Schnaps hat er geliebt, die Mädchen hat er geliebt, jetzt ist er verschollen! Jonas, ich werde dich nie mehr wiedersehen, ich werde dir nicht sagen können, daß du recht hattest, ein Kosak zu werden. »Was geht ihr nur immer in der Welt herum ?« hatte Sameschkin gesagt. »Der Teufel schickt euch!« Er war ein Bauer, Sameschkin, ein kluger Bauer. Mendel hatte nicht fahren wollen. Deborah, Mirjam, Schemarjah – sie hatten fahren wollen, in der Welt herumfahren. Man hätte bleiben sollen, die Pferde lieben, Schnaps trinken, in den Wiesen schlafen, Mirjam mit Kosaken gehn lassen und Menuchim lieben.

S. 93f.

 

»Ich will mehr verbrennen als nur ein Haus und mehr als einen Menschen. Ihr werdet staunen, wenn ich euch sage, was ich wirklich zu verbrennen im Sinn hatte. Ihr werdet staunen und sagen: Auch Mendel ist verrückt, wie seine Tochter. Aber ich versichere euch: Ich bin nicht verrückt. Ich war verrückt. Mehr als sechzig Jahre war ich verrückt, heute bin ich es nicht.«
»Also sag uns, was du verbrennen willst!«
»Gott will ich verbrennen.«
Allen vier Zuhörern entrang sich gleichzeitig ein Schrei. Sie waren nicht alle fromm und gottesfürchtig, wie Mendel immer gewesen war. Alle vier lebten schon lange genug in Amerika, sie arbeiteten am Sabbat, ihr Sinn stand nach Geld, und der Staub der Welt lag schon dicht, hoch und grau auf ihrem alten Glauben. Viele Bräuche hatten sie vergessen, gegen manche Gesetze hatten sie verstoßen, mit ihren Köpfen und Gliedern hatten sie gesündigt. Aber Gott wohnte noch in ihren Herzen. Und als Mendel Gott lästerte, war es ihnen, als hätte er mit scharfen Fingern an ihre nackten Herzen gegriffen.

S. 97f.

Joseph Roth (1894 – 1939), Hiob. Roman eines einfachen Mannes (1930)

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Albrecht Dürer (1471 – 1528)

Meister der Offenbarung


Zufallsimpression


Gesamtverzeichnis


Zeitspur

Albrecht Dürer (1471 – 1528), Die vier apokalyptischen Reiter (1498; Holzschnitt)


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Albrecht Dürer (1471 – 1528), Der heilige Hieronymus im Gehäus (1514; Kupferstich)


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Albrecht Dürer (1471 – 1528), Melancholia I (1514; Kupferstich)