Daily Archives: 17. Mai 2016

Schwermütiger Lyrik-Alarm

Ich mag Nietzsche, stillistisch fast durchweg, inhaltlich in Teilen, aber die Verse an die Melancholie fühlen sich nicht nur unangenehm an, sondern sie klingen ebenso, holpern und schlingern in weiten Passagen. Ob das gewollte Formvollendung oder ungewollter Textunfall ist, bleibt offen für tiefere Analyse und läd ein zur Interpretation. Ich jedenfalls vertiefe nur, was mich zu fesseln vermag und das ist nicht Nietzsches Hymnus an die düstere Göttin des Schwermuts aus dem Jahr 1871.

Dieses schwerfällige Gedicht eines ansonsten herausragenden Formenschmieds stand im Zentrum eines der sehr rar gewordenen Gedankenanschläge des weiterhin unbekannten Text-Terroristen. Dieser scheint den Willen zum Widerstand entweder verloren oder in andere (noch) unsichtbare Bahnen gelenkt zu haben. Quanzland hat nunmehr derart brisante innen- wie außenpolitische Probleme zu meistern, da konnte der zuvor so präsente Rebell kaum noch mit öffentlichem Interesse für seine Subversionen rechnen, zumal seine Protest-Aktionen zuvor schon seltener und insgesamt unambitionierter geworden waren.

Ich bezweifle nachdrücklich, dass er mit dieser Textauswahl ernstzunehmende Leserzahlen oder gar überzeugte Anhänger gewinnen wird, gebe ihm in meiner Rolle als Multiplikator aber gerne die Chance dazu. Denn wer weiß schon, was im perversen Hirn eines Staatsfeindes Abstruses vorgeht, nachdem er eine pubilizistische Pleite nach der anderen zu verarbeiten hatte, hat und haben wird: Wird er zukünftig wieder neuen Mut schöpfen und wie erfolgreich wird er mit was zurückkehren? Hat er sich unterdessen radikalisiert und neigt deshalb erstmalig zu physischer Gewalt statt wie bisher nur zu psychischer Penetranz? Was soll das Ganze eigentlich bringen, sind das nicht vergebliche Mühen in einem Land wie unserem? Warum nicht mal was populäreres, was auch der kleine Mann verstehen kann?

Mit einer Reihe Fragezeichen zum Abschied winkend, Euer Satorius


An die Melancholie

 

Verarge mir es nicht, Melancholie,
Daß ich die Feder, dich zu preisen, spitze,
Und daß ich nicht, den Kopf gebeugt zum Knie,
Einsiedlerisch auf einem Baumstumpf sitze.

 

So sahst du oft mich, gestern noch zumal,
In heißer Sonne morgendlichem Strahle:
Begehrlich schrie der Geyer in das Thal,
Er träumt vom todten Aas auf todtem Pfahle.

 

Du irrtest, wüster Vogel, ob ich gleich
So mumienhaft auf meinem Klotze ruhte!
Du sahst das Auge nicht, das wonnenreich
Noch hin und her rollt, stolz und hochgemuthe.

 

Und wenn es nicht zu deinen Höhen schlich,
Erstorben für die fernsten Wolkenwellen,
So sank es um so tiefer, um in sich
Des Daseins Abgrund blitzend aufzuhellen.

 

So saß ich oft, in tiefer Wüstenei
Unschön gekrümmt, gleich opfernden Barbaren,
Und Deiner eingedenk, Melancholei,
Ein Büßer, ob in jugendlichen Jahren!

 

So sitzend freut‘ ich mich des Geyer-Flugs,
Des Donnerlaufs der rollenden Lawinen,
Du sprachst zu mir, unfähig Menschentrugs,
Wahrhaftig, doch mit schrecklich strengen Mienen.

 

Du herbe Göttin wilder Felsnatur,
Du Freundin liebst es nah mir zu erscheinen;
Du zeigst mir drohend dann des Geyers Spur
Und der Lawine Lust, mich zu verneinen.

 

Rings athmet zähnefletschend Mordgelüst:
Qualvolle Gier, sich Leben zu erzwingen!
Verführerisch auf starrem Felsgerüst
Sehnt sich die Blume dort nach Schmetterlingen.

 

Dies Alles bin ich – schaudernd fühl‘ ich’s nach –
Verführter Schmetterling, einsame Blume,
Der Geyer und der jähe Eisesbach,
Des Sturmes Stöhnen – alles dir zum Ruhme,

 

Du grimme Göttin, der ich tief gebückt,
Den Kopf am Knie, ein schaurig Loblied ächze,
Nur dir zum Ruhme, daß ich unverrückt
Nach Leben, Leben, Leben lechze!

 

Verarge mir es, böse Gottheit, nicht,
Daß ich mit Reimen zierlich dich umflechte.
Der zittert, dem du nahst, ein Schreckgesicht,
Der zuckt, dem du sie reichst, die böse Rechte.

 

Und zitternd stammle ich hier Lied auf Lied,
Und zucke auf in rhythmischem Gestalten:
Die Tinte fleußt, die spitze Feder sprüht –
Nun Göttin, Göttin laß mich – laß mich schalten!

 

Friedrich Nietzsche (1844 – 1900), Gimmelwald (Melnacholie), in: Fragmente 1869-1874 (Band 1 – Kapitel 15; 1871)

Papst besucht kranke Großmutter Europa

Solange der Papst katholisch ist, darf er den Mächtigen mächtig die Leviten lesen. Wenn dieser Papst sich auch noch einen Heiligen zum Namenspatron gewählt hat, der sogar für diesen eigenwilligen Menschenschlag noch Maßstäbe in Lebensführung und Radikalität gesetzt hatte, dann sind die Erwartungen des Agnostikers mit deistischen Einsprengseln generell recht hoch. Bekommt dieser sogar noch den Karlspreis für die Einheit Europas verliehen und darf deshalb eine Rede vor versammelter Politelite halten, dann freue ich mich auf ein rhetorisches Gewitter.

Das, was kam, war letztlich zwar kein Jahrhundertstrum, aber erwartungsgemäß ein fundamentale wie aktuelle Kritik am Gesundheitszustand der liebevoll sogenannten Großmutter Europa. Dementsprechend steinern waren während des 30-minütigen Vortrags die Mienen der Ärzte, Krankenpfleger und Gaffer, die für die Versorgung und Entsorgung der Patientin Verantwortung übernommen haben. Der anschließende, ausnahmslos stehende Beifall wirkte in Teilen bemüht und insbesondere dem Chefarzt der Intensivmedizin, Herrn Junker, war anfangs nicht sorecht nach Beifall zumute.

Sei es drum, ich verstehe den Mann auf metaphorischem Umweg: Denn wer lässt sich schon gerne während laufender Behandlung und zwischen den schweren Operationen von grau gewordenen Eminenzen mit verschwommenen Blick und zittrigen Händen sein Handwerk erklären. Wenn der Zustand der Patientin derart instabil ist, bisweilen das Koma und sogar der Exitus drohen, sind Grundsätze und Ideale der Medizin genauso funktional wie die Präferenzen und Bedürfnisse der Angehörigen nerven können. Fraglich ist dabei, ob dieses medizinische Bild auch nur im Ansatz taugt, um die Lage Europas sowie die Forderung nach neuem Behandlungsplan (Wirtschaftsmodell) mitsamt Erneuerung des Selbstverständnisses (Humanismus) angemessen zu verunglimpfen und unkenntlich zu machen?

Ich glaube doch und während ich deshalb hoffnugsfroh auf eine Genesung der alten Dame hinfiebere, verbleibe ich zugleich in tiefer Sorge um meine Lieblingsoma und wünsche ihr nur das Beste: ein gutes Ärzteteam, besonnene Angehörige und zukunftsweisende Behandlungsmethoden, gerne auch etwas unkonventionell und experimentell.

Ein Hoch auf Europas Gesundheit, Euer derzeit hinsichtlich Quanzland etwas schreibfauler Satorius


»Die gerechte Verteilung der Früchte der Erde und der menschlichen Arbeit ist keine bloße Philanthropie. Es ist eine moralische Pflicht« (Ansprache beim Welttreffen der Volksbewegungen, Santa Cruz de la Sierra, 9. Juli 2015). Wenn wir unsere Gesellschaft anders konzipieren wollen, müssen wir würdige und lukrative Arbeitsplätze schaffen, besonders für unsere jungen Menschen.

 

Das erfordert die Suche nach neuen Wirtschaftsmodellen, die in höherem Maße inklusiv und gerecht sind. Sie sollen nicht darauf ausgerichtet sein, nur einigen wenigen zu dienen, sondern vielmehr dem Wohl jedes Menschen und der Gesellschaft. Und das verlangt den Übergang von einer „verflüssigten“ Wirtschaft zu einer sozialen Wirtschaft. Ich denke zum Beispiel an die soziale Marktwirtschaft, zu der auch meine Vorgänger ermutigt haben (vgl. Johannes Paul II. Ansprache an den Botschafter der Bundesrepublik Deutschland, 8. November 1990). Es ist nötig, von einer Wirtschaft, die auf den Verdienst und den Profit auf der Basis von Spekulation und Darlehen auf Zinsen zielt, zu einer sozialen Wirtschaft überzugehen, die in die Menschen investiert, indem sie Arbeitsplätze und Qualifikation schafft.

 

Von einer „verflüssigten“ Wirtschaft, die dazu neigt, Korruption als Mittel zur Erzielung von Gewinnen zu begünstigen, müssen wir zu einer sozialen Wirtschaft gelangen, die den Zugang zum Land und zum Dach über dem Kopf garantiert. Und dies mittels der Arbeit als dem Umfeld, in dem die Menschen und die Gemeinschaften »viele Dimensionen des Lebens ins Spiel [bringen können]: die Kreativität, die Planung der Zukunft, die Entwicklung der Fähigkeiten, die Ausübung der Werte, die Kommunikation mit den anderen, eine Haltung der Anbetung. In der weltweiten sozialen Wirklichkeit von heute ist es daher über die begrenzten Interessen der Unternehmen und einer fragwürdigen wirtschaftlichen Rationalität hinaus notwendig, ‚dass als Priorität weiterhin das Ziel verfolgt wird, allen Zugang zur Arbeit zu verschaffen‘ (Benedikt XVI., Enzyklika Caritas in veritate (29. Juni 2009), 32: AAS 101 (2009), 666)« (Enzyklika Laudato si‘, 127).

 

Wenn wir eine menschenwürdige Zukunft anstreben wollen, wenn wir eine friedliche Zukunft für unsere Gesellschaft wünschen, können wir sie nur erreichen, indem wir auf die wahre Inklusion setzen: »die, welche die würdige, freie, kreative, beteiligte und solidarische Arbeit gibt« (Ansprache beim Welttreffen der Volksbewegungen, Santa Cruz de la Sierra, 9. Juli 2015). Dieser Übergang (von einer „verflüssigten“ zu einer sozialen Wirtschaft) vermittelt nicht nur neue Perspektiven und konkrete Gelegenheiten zur Integration und Inklusion, sondern eröffnet uns von neuem die Fähigkeit von jenem Humanismus zu träumen, dessen Wiege und Quelle Europa einst war.

 

Am Wiederaufblühen eines zwar müden, aber immer noch an Energien und Kapazitäten reichen Europas kann und soll die Kirche mitwirken. Ihre Aufgabe fällt mit ihrer Mission zusammen, der Verkündigung des Evangeliums. Diese zeigt sich heute mehr denn je vor allem dahin, dass wir dem Menschen mit seinen Verletzungen entgegenkommen, indem wir ihm die starke und zugleich schlichte Gegenwart Christi bringen, seine tröstende und ermutigende Barmherzigkeit. Gott möchte unter den Menschen wohnen, aber das kann er nur mit Männern und Frauen erreichen, die – wie einst die großen Glaubensboten des Kontinents – von ihm angerührt sind und das Evangelium leben, ohne nach etwas anderem zu suchen. Nur eine Kirche, die reich an Zeugen ist, vermag von neuem das reine Wasser des Evangeliums auf die Wurzeln Europas zu geben. Dabei ist der Weg der Christen auf die volle Gemeinschaft hin ein großes Zeichen der Zeit, aber auch ein dringendes Erfordernis, um dem Ruf des Herrn zu entsprechen, dass alle eins sein sollen (vgl. Joh 17,21).

 

Mit dem Verstand und mit dem Herz, mit Hoffnung und ohne leere Nostalgien, als Sohn, der in der Mutter Europa seine Lebens- und Glaubenswurzeln hat, träume ich von einem neuen europäischen Humanismus: »Es bedarf eines ständigen Weges der Humanisierung«, und dazu braucht es »Gedächtnis, Mut und eine gesunde menschliche Zukunftsvision« (Ansprache an den Europarat, Straßburg, 25. November 2014). Ich träume von einem jungen Europa, das fähig ist, noch Mutter zu sein: eine Mutter, die Leben hat, weil sie das Leben achtet und Hoffnung für das Leben bietet. Ich träume von einem Europa, das sich um das Kind kümmert, das dem Armen brüderlich beisteht und ebenso dem, der Aufnahme suchend kommt, weil er nichts mehr hat und um Hilfe bittet. Ich träume von einem Europa, das die Kranken und die alten Menschen anhört und ihnen Wertschätzung entgegenbringt, auf dass sie nicht zu unproduktiven Abfallgegenständen herabgesetzt werden. Ich träume von einem Europa, in dem das Migrantsein kein Verbrechen ist, sondern vielmehr eine Einladung zu einem größeren Einsatz mit der Würde der ganzen menschlichen Person. Ich träume von einem Europa, wo die jungen Menschen die reine Luft der Ehrlichkeit atmen, wo sie die Schönheit der Kultur und eines einfachen Lebens lieben, die nicht von den endlosen Bedürfnissen des Konsumismus beschmutzt ist; wo das Heiraten und der Kinderwunsch eine Verantwortung wie eine große Freude sind und kein Problem darstellen, weil es an einer hinreichend stabilen Arbeit fehlt. Ich träume von einem Europa der Familien mit einer echt wirksamen Politik, die mehr in die Gesichter als auf die Zahlen blickt und mehr auf die Geburt von Kindern als auf die Vermehrung der Güter achtet. Ich träume von einem Europa, das die Rechte des Einzelnen fördert und schützt, ohne die Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft außer Acht zu lassen. Ich träume von einem Europa, von dem man nicht sagen kann, dass sein Einsatz für die Menschenrechte an letzter Stelle seiner Visionen stand.

 

Jorge Mario Bergoglio/Papst Franziskus (1936 – ), Was ist mit dir los, Europa? (Ansprache des Papstes bei der Verleihung des Karlspreises, am 6. Mai 2016, im Vatikan)