Monthly Archives: März 2019

Wochenendlektüren Nr.2 – XS1: S. 6-10/~53 [Update 2.3]

Ein neues Wochenende bedeutet von nun an bis in alle Ewigkeit, korrigiere: bis zu meiner Endlichkeit oder bis mir die originalen Texte ausgehen, dass ich Euch einen neuen Texthappen zum Fraß vorwerfe. Was zunächst nach derber Metapher klingt, ist sachlich gar nicht so falsch, ist doch jeder Text Nahrung für den Geist; und da ich Euch hier frugale Hausmannskost zum lesenden Verzehr anbiete, also keinerlei kulinarischen Feinkost-Anspruch erhebe und der Text gratis und per Internet zu Euch kommt, erlaube ich mir gutmütig, bescheiden und gelassen, ihn Fraß zu nennen.

Sicherlich gehaltvoller als TFF, aber dennoch kein TSF machen die Wochenendlektüren definitiv gut satt und sind dabei relativ rasch aufgefressen. Keine Sorge, zu Schweinen stempel ich Euch aller Metaphorik zum Trotz dadurch nicht, schlimmstenfalls zu kultivierten Affen, deren Hunger nach geistiger Nahrung sie, also uns, letztlich zu Menschen macht.

Bevor ich mich weiter ästhetisch wie sachlich um Kopf und Kragen schreibe, lesen wir nun also weiter, wie es dem Cyborg Xaver Satorius auf seinem Rückweg zur Erde ergeht; folgen wir somit weiter seinen weitgehend inneren Monologen, den Reflexionen und Berichten des mit ihm gebrochen-verschmolzenen Erzählers.

Lasst es gut Euch schmecken, ob Fraß oder Feinkost, Euer Satorius


(…) 1. Zugang XS – Schwere Ausnahmefehler im System

Halt, befahl er sich nach einiger Zeit, das konnte, das musste er doch auch so schaffen – Technose, pah! Der Muskeltonus und seine willentliche Beeinflussung waren hier der Schlüssel. Neben Puls, Blutdruck, Atmung, war er grundlegender Parameter jedweder Körpermodifikation. Folglich musste der neue Mensch auch zunächst lernen, seinen nichtaugmentierten Körper bewusst zu fokussieren und zu manipulieren. Danach kamen diverse Sicherheitsinstruktionen und lange Lektionen in Technologie und Grundlagenwissenschaft. Erst dann wurde augmentiert. Allesamt waren wohlbekannte und womöglich hilfreiche Informationen, die seinerzeit in seiner Ausbildung Grundkursinhalte gewesen waren. Im Gros waren diese Fertigkeiten und Konzepte historische Errungenschaft der ersten Grinder-Generationen, deren Pionierarbeit auf dem Gebiet der Augmentierung noch mit der frühmodernen Zeitrechnung nach Christus datiert worden war. Der Weg zur Lösung, wenn es denn überhaupt einen gab, war somit klar: Er musste an die Wirbelsäule und die sie umgebende Muskulatur heran, im richtigen Rhythmus die richtigen Muskelpartien bearbeiten. Also legte er nunmehr planvoll los und spürte dabei auf der Strecke die Wirbelsäule entlang etliche kleine Wölbungen und sieben Wülste, glitt mit seinen Fingern darüber hinweg und massierte um die Kanten der Objekte herum, die unter der runzeligen Haut verborgen lagen; dabei fand er dort alles wie erwartet, jedes Augmentat war genau da, wo es sein sollte, wenn sie auch teilweise funktionslos waren. Im Geist wies er jedem Objekt, auf das er stieß, Funktion und Spezifikation zu – verband sich damit, versank meditativ darin. Solcherart aktiv saß er da, von außen verrenkt, nach innen versenkt, und rang mit seinem Körper um die Vorherrschaft über den Augenblick; litt bisweilen unter Leidenschaften, die ihm sonst nicht zur Last fielen; massierte nunmehr wieder beidhändig, mit mehr und mehr kleinen Erfolgen seine Wirbelsäule hoch und runter.

Was dort, im gesamten Rücken, seit Stunden an Verspannung gewachsen war, war nicht nur technotischen Ursprungs, sein Kreuz war einfach ein sensibler Gradmesser für sein derzeitiges Seelenheil und entsprach damit leider proportional dem Maß an Veränderung, das seine Lebensqualität neuerdings strapazierte. Eine epochale Entwicklung, eine aktuelle Neuerung sowie der erlebte und erlittene, akute Zustand spielten in diesem Drama die drei Antagonisten seines Glücks. Die persönliche Katastrophe, seine Kündigung und der anschließende Umzug, war ehrlicherweise durch ihn selbst verschuldet gewesen, indem er seinen Rausschmiss, mehrfach angemahnt, langfristig provoziert hatte. Nicht verantwortlich war er hingegen für das derzeitige Technikversagen. Alles aber kam zur Unzeit zusammen, überlastete ihn: Seine dünne Seelenhaut spannte, riss von den Rändern her langsam ein, riss Sekunde für Sekunde tiefer ein, weiter auf, und zerriss dabei Nanometer für Nanometer. Anarchie tobte allenthalben, wo sonst Algorithmen schalteten und Technokratie waltete; natürliche Resilienz erschöpfte sich, wo sonst artifizielle Intelligenz assistierte und tagtäglich das Bewusstsein stabilisierte, modifizierte und optimierte. Er aber drehte gerade einfach nur durch, war nunmehr bereits heftigst durchgebrannt und offen eingestanden total am Ende mit beinahe allem, was physisch, psychisch und augmental am Ende sein konnte. Der vollständige Systemabsturz drohte – leichte, mittlere und schwere Ausnahmefehler wüteten bereits seit über eineinhalb Stunden überall im System des komplexen Mensch-Maschine-Hybrids, der sich selbst wie selbstverständlich einen solitären, soliden Namen samt Identität zusprach; und das, obwohl er, mehr noch als die meisten, wenn nicht alle Mitreisenden weit mehr war als nur Eines, keine Monade, sondern Multitude. Trotzdem war seine Ich-Repräsentanz …

Sein Gedankengang brach jäh ab; er wurde plötzliche rüde von rechts angestoßen und der Urheber des Übergriffs, sein bisher duldsamer Sitznachbar, knurrte halblaut zu ihm herüber: „Langsam reicht es mir mit Ihnen! Sie rauben mir und den anderen Reisenden den letzten Nerv – holen sie sich verdammt nochmal Hilfe vom Personal oder kommen sie sonst wie klar.“

Nachdem er unwirsch gestöhnt und die Augen aufgeschlagen hatte, sah er einem feisten Kerlchen ins verschwitzte, stoppelige Schweinsgesicht, erkannte auch ohne augmentale Unterstützung mit wenigen geschulten Blicken, dass er hier einen nachgeborenen, nicht mal fünfzehnjährigen Normalmenschen neben sich hatte. Vermutlich hatte das Menschlein vorhin nicht zugehört, als die Fluggesellschaft vorab um Verständnis für die zu erwartenden Ausfälle unter den augmentierten Passagieren gebeten hatte, sowohl bei den Opfern als auch bei den mittelbar betroffenen Mitreisenden. Wissend um seine Überlegenheit und sein Recht, trotz aller Barbarei noch immer in sich ruhend, erwiderte der Neumensch gelassen, mit stechendem Blick musternd und in kratzigem Bariton intoniert: „Wenn sie die alte Zeit erlebt hätten, junger Mann, dann würden sie mir nicht nur Respekt, sondern sogar Ehrfurcht entgegenbringen – aber Anerkennung ist das Brot des Pöbels, und ich bin satt …“

Die erst perplexe, dann empörte Erwiderung des Nebenmannes nahm er schon nicht mehr wahr, ebenso seine zuletzt wiederum rüden, aber immerhin nur noch verbalen Ausfälle, die mitunter sogar Beifall erheischten. Er hatte sich abermals abgeschirmt. Wenn er weder auf seine Module bauen konnte, noch in seine Hyperrealität einzutauchen vermochte, was blieb da von ihm übrig: War er jetzt noch Xaver S. oder umgekehrt nicht sogar vielmehr er selbst? Das war ein spannender Fragenkomplex, den er später definitiv mit Aristokraton, Friederich und Matrina erörtern wollte. Unterdessen wollte er sich wenigstens sensorisch so gut abschirmen, wie er durch Introspektion und Imagination plus Unterstützung durch ein paar funktionale Augmentate eben vermochte. Er hatte also rasch seine Pforten der Wahrnehmung geschlossen, bestätigt in all seinen Vorurteilen über die Mitwelt und Vorbehalten gegen die Außenwelt; seither konzentrierte er sich und entfloh derart den sozialen Querelen und körperlichen Qualen zugleich. Dass er sich stattdessen in assoziative Reflexionen hinein auflöste und somit nur durch Isolation und Zerstreuung entkam, war ihm gleichgültig – Hauptsache, er gelangte in die gnädigen Gefilde seines Geistes.

Es gelang ihm rasch: Samtene Schwärze umfing ihn, ersetzte die verhalten noch nachglühenden, prismatisch zuckenden Stroboskoplichter des Schmerzes; angespannte Ruhe löste unruhige Anspannung ab. Er war offen und neugierig trotz seines Separatismus, sperrte sich nicht nur ein, sondern vor allem umgekehrt die anderen Menschen aus, aber er hieß gelegentlich Gäste willkommen. Der Barbar von eben hatte eine Grenze überschritten, disqualifizierte sich für die Gewährung von Gastfreundschaft. Es gab leider ungastliche Zeitgenossen. Einen bitteren Nachgeschmack hinterließ das Erlebte deshalb dann aber doch; jedoch schätzte er diesen Typen und seinesgleichen da draußen derart gering, dass er sich distanzieren konnte.

Kurz darauf kam er auch ohne allzu viel höheren Technologieeinsatz wieder zur Ruhe; Puls, Blutdruck und Tonus normalisierten sich. Die Muskeln hatte er neuerlich paralysiert – zur Sicherheit ebenso wie zum Energiesparen. So erholsam durfte es bleiben und er könnte so sogar etwas aus der besonderen Situation mitnehmen. Er würde die Gelegenheit beim Schopfe packen, wie man früher wohl gesagt hatte; die kognitive Bilderflut jedenfalls war ein positiver, wenn auch nur kurzweilig unterhaltsamer Effekt. Sein Denken war so viel bunter und lebendiger, deshalb eben auch impulsiver und chaotischer, ein unbekanntes Wunderland, das zu Abenteuern einlud. Und er war begierig, dieses wilde Bewusstsein zu erforschen, also vertiefte er sich in seinen Geist. Gedankenkaskaden begannen, reflektierten über dies und das, sedierten und fixierten ihn letztlich in narzisstischer Nabelschau über seine aktuelle Lage: Entgegen seinem Temperament und konträr zu fast allen bewusst kultivierten Gewohnheiten musste er nun handeln, sich bewähren, arbeiten, in der wirklichen Welt da draußen mit großen Schritten vorankommen. Herausgefordert wurden zugleich seine Sesshaftigkeit, der Hang zu Kontemplation und Gemütlichkeit, insgesamt zur Einkehr und Klausur im Guten, aber auch die Neigung zu Trägheit, Zerstreuung, Weltflucht im Schlechten. Insbesondere die lästig-liebe Abhängigkeit von der Hyperrealität wurde nunmehr brisant. Denn auch er war dieser Sucht erlegen wie viele andere Hyperjunks vor ihm und nur noch wenige Maschinenmenschen mit ihm. Das Gestell seiner Persönlichkeit, das gesamte Konstrukt seiner Welt war dieser Tage instabil geworden, geriet zunehmend ins Wanken, wurde ebenso fraglich wie fragil, wie es seine Identität und seine Perspektiven derzeit waren: Xaver Satorius – „einfach nur Xaver S.“, wie er sich selbst stets und durchaus nicht unaffektiert vorzustellen pflegte, befand sich seit nunmehr fünf Tagen auf einer Reise ohne Rückkehr. An deren Ziel, so hoffte er inständig, würde ein neues Zuhause auf ihn warten, ihm vielleicht sogar eine echte, neue Heimat erwachsen. Ob sein aus der Not heraus sturzgeborener Plan letztlich überhaupt aufging, und auf welche Dauer er daraufhin tragen würde, wie lange er also wenigstens ein Dach über dem Kopf, Essen und Wartung haben würde, blieb abzuwarten. Alles war jedenfalls im Umbruch, seit seinem erzwungenen Aufbruch, der Rausschmiss aus der a.u., der seinerseits ebenso lange überfällig gewesen war, wie er widerspenstig von ihm hinausgezögert und verdrängt worden war. Die Ära der Weltflucht, die Phase seines lunaren, dort zumeist hyperrealen Exils war nun also endgültig vorüber und er war auf dem Heimweg. Dieser Weg führte ihn zurück auf die Erde, geleitete ihn sogar zurück in seine alte Heimatregion auf der großen und weiten, tödlichen, engen und kleinen Heimatwelt.

Trotz aller Fährnisse und Strapazen, die ein Unternehmen vom Kaliber eines interplanetaren Umzugs, insbesondere unter den herrschenden Umständen, mit sich brachte, gab es am Ziel vielleicht viel zu gewinnen. Ihn, den beinahe abgeschlossenen m.u., den magister universalis, lockte die Gelegenheit auf private Anstellung, was dieser Tage weiterhin und weithin eine einschlägige Anwendung seiner Wissenschaft war. Aus dem verschrobenen Universalgelehrten sollte ein universell einsetzbarer Lehrer für die zahlungskräftige Kundschaft werden. Denn wer in Theorie und Praxis von Augmentologie, Psychologie und Hyperdesign derart kompetent und derart involviert war, der war effektiv in nahezu allen kognitiven Tätigkeitsbereichen versiert – alles bloß eine Frage der Technik und der Daten. Als vollaugmentierter Cyborg war er überall flexibel und instantan angelernt, besser als jeder Rechner und jeder reinmenschliche Mitbewerber, ein vollendeter Neumensch eben. Viele der wenigen überlebenden Neumenschen, die wenigsten davon fast-m.u. wie er, endeten deshalb in den Verwaltungen, den Planungsstäben, den Weiten und Untiefen des Managements und dort, wo heutzutage sonst noch komplexe Denkarbeit zu leisten war, also meist im Dunstkreis der Macht von Militär und Kapital. Bei dieser Alternativlage wurde er lieber harmloser Lehrer, vielleicht eine Art Mentor und Berater in Augmentatangelegenheiten bei irgend einem mittleren Bonzen. In dieser komischen kosmischen Situation war das die bessere Wahl, denn so bot sich ihm trotz aller Unbilden die Chance, mit Glück und Geschick in die besten Häuser Zentraleuropas zu gelangen. Und bekäme er beruflich dorthin tatsächlich Zugang, ein Fuß in die Tür, gelänge ihm also wirklich der Zutritt zu den Palästen der Reichen und Mächtigen, dann wäre er in seiner beruflichen Laufbahn mal eben so die Schritte vom brotlosen Akademiker hin zum lukrativen Selbstunternehmer gegangen.

Diesen letzten Schritt, das hehrste berufliche Ideal in ferner Zukunft, visualisierte er buchstäblich und in bunten Bildern, und zwar weit häufiger und intensiver als nötig und augmental angeraten. Denn selbstkritische, offene und notwendig auch mal negative Töne, seien sie noch so angemessen und berechtigt, waren nunmehr tabu. Diese Art der Kognition war gemäß Xayas Prioritätensetzung und Matrinas Assistenz zu Folge aktuell strikt untersagt, auch wenn Friederich, hier notgedrungen als Negativdenker, und überraschenderweise auch Gogol und hoFFmaNN da anderer Ansicht gewesen waren und Aristokraton eine Mediation zwischen beiden Lagern versucht hatte und dabei gescheitert war; Brigitte hingegen hielt sich konsequent heraus, wurde sie doch von den anderen Sechs sowieso meist nicht für voll genommen, obwohl sie stimmberechtigtes Mitglied des Konzils war. Die Entscheidungsphase war nur kurz gewesen, wurde aber ergebnisoffen durchgeführt, während der laufenden Umsetzungsphase galten jedoch andere, strikte Direktiven für Xavers Bewusstsein, Xavers Verhalten, Xavers erweiterten Selbstentwurf. Wobei all der hochtechnologische Hokuspokus im Moment dahin war, aus, vorbei; er war sich existenziell gänzlich selbst überlassen, konnte wild und dysfunktional daherdenken.

So sein, wie Gene, Sozialisation, Charakter, Leben und Zufall ihn prägten, kam selten vor und war immer wieder ein Abenteuer für ihn. Allerdings differierte von Mal zu Mal weniger, war weniger anders als zuvor. Assistierte, manipulierte und potenzierte Lebenszeit höhlte jeden Widerstand aus; sie überwanden sogar Abkunft und Herkunft, bot der Vergangenheit die Stirn und eroberten stetig ihr Reich. Der klassische Faust ließ sich dionysisch gehen, wurde zum Satyr und tanzte. Welch ungesunde und bittersüße Freiheit, welch wachsheiße Willkür der Ideen, dachte er noch knapp, bevor er, von den Tropen und Denkumwegen nur noch milde angetan und nur noch mäßig überrascht, abermals sein ursprüngliches Thema fokussieren konnte und damit in Ansätzen stringent seinen mentalen Faden wiederfand:

Über die üblichen Anforderungen an einen Bewusstseinsformer hinaus, wie er und seinen wenigen Kollegen sich gemeinhin selbst nannten, käme ihm bei seiner anvisierten Anstellung zusätzlich und verstärkt die pädagogisch-didaktische Doppelrolle eines charakterlichen Erziehers und intellektuellen Mentors zu. Das entsprechende Stellenangebot war hinreichend klar formuliert gewesen: Er würde weitreichend in seinem Bereich verantwortlich sein, organisierte und observierte Schulung und Ausbildung seiner zukünftigen Zöglinge direkt vor Ort sowie in hyperrealen Simulakren. Die Arbeit würde auf höchstem technologischen Niveau stattfinden und erforderte zudem eine intime Kenntnis der geläufigen Augmentat-Modelle, insbesondere ziviler, wie auch zum Teil militärischer Herkunft und Funktionsart. Zudem wurden Kompetenzen in Installation, Modifikation und Wartung von Hardware sowie der Instruktion und Optimierung von Soft- und Wetware gefordert. Damit würde sich gegenüber seiner Akademiezeit wahrscheinlich nicht einmal eine ernsthafte Verschlechterung seines häuslichen Umfeldes und technologischen Umgebungsniveaus ergeben, was ein enorm wichtiges Kriterium für jeden Neumenschen war; würde er doch ehrlicherweise in der Wildnis oder in Armut lebend elendig zugrunde gehen. Die deshalb ebenso notwendige wie offene Konkurrenz ums berufliche wie wirkliche Überleben war immerhin ein leichter Wettkampf für ihn, war seine Art doch eine begehrte Minderheit, eine richtiggehende Rarität auf dem solaren Arbeitsmarkt. Er war also definitiv eine humane Ressource erster Güte, zusammen mit den anderen, derzeit schätzungsweise wohl wenigen Zehntausend, somit insgesamt vom Aussterben bedrohten Alt-Neumenschen – Neuaugmentierte blieben weiterhin im Direktvergleich in allen relevanten Leistungswerten weit hinter ihren Ahnen zurück.

Wir sind die Roboter!

Manchmal ist das Alte wertvoll, die Vergangenheit doch nicht so vergänglich und der Blick zurück auf wohlig-warme Weise nostalgisch-sentimental. Diesem Motto getreu gebe ich einem selten gepflegten Konservatisimus Raum und die Ehre, schwelge in der Liebe zur Tradition und ergötze mich an Gewohntem; gebe also formal Gutenberg und seinen Blöcken kurzzeitig den Laufpass und komme inhaltlich sodann rasch zum Gegenstand des heutigen TFF: meinem – wie zuvor anderer Stelle erstmals erwähnten – Lieblingsroman. Diese Trilogie ist eine wahre Schatzkiste voll literarischer Artefakte, bezaubernd in seiner Form und bereichernd in seinen Inhalt, zugleich schöner Schein und wahres Wort.

Illuminatus! kehrt also wieder Mal zurück nach Quanzland, avanciert damit sowohl als Werk zum rezeptiven Rekordhalter, wie auch einer der beiden Co-Autoren, der hochverehrte und vielgelesene Robert Anton Wilson, das als bisher mit Abstand meistzitierter Autor tut.

Das Motiv, vielleicht gar der Archetyp, des Roboters war Anlass für Artikel und rein-recherchierende Relektüre des Romans und führt seinerseits, sticht vielmehr, mehr noch als die vormalige, erste Impression zweifach tief heinein und damit mitten ins Nervenzentrum der Erzählung, trifft zumal ihre neuralgischen Punkte, ihre thematisch-stofflichen Kraftlinien: Mystik und Wissenschaft, fiktional verbunden, versöhnend und verstörend, faktisch und praktisch als Position und Parodie munter changiert, meist als Esoterik zwischen, seltener als Exoterik durch die Zeilen dargeboten.

Im Prinzip ist die latent vermittelte Weisheit so simpel wie potenziell persönlich folgenreich: Wir alle tragen Mechanisches in uns, besitzen, bestehen aus starren Strukturen, die Zeit, Entropie und Zufall trotzen; dabei ist individuell egal, aber prinzipiell nicht trivial, ob wir diese Sedimente des Seins im wilden Strom des Werdens nun als Natur, Kultur, Sprache, Ideologie oder Utopie konkretisiert. Wir alle wählen aus, stanzen aus dem unendlichen All immer nur unseren endlichen, kleinen Schablonen aus, bestimmen und werden bestimmt, konstruieren und sind konstruiert, sind Subjekt und Objekt im Aktiv wie im Passiv. Wenn wir diese Wahrheit von der Relativität der Welt zunächst einmal erfahren und reflektiert haben, ist jedoch nur der erste Schritt getan; denn damit haben wir uns nur die (angelbich für manche, sogar die meisten Menschen verborgene) Prämisse des Daseins erhellt, aus der heraus eine m.E. effektiv-unendliche Folge an weiteren Schritten mündet – Aufklärung eben, als erster Schritt aus der Unmündigkeit. Die weiteren Schritte führen das Individuum immer weiter hinaus aus der Finsternis des homogenen Kreises und hinein ins Licht der heterogenen Linie, Etappe für Etappe näher zum Ziel, Stufe für Stufe hinauf zum höchsten Ideal, der vollkommenen Perfektion, welches mythisch-religöse Nomen oder rational-methodische Substantiv dieses Höchste dann auch immer bezeichnen mag. Nicht nur die Erkenntnis von Gutem und Bösem, sondern die Lust am Fortschritt und die Suche nach (weltlicher) Wahrheit haben die Menschen aus dem Paradies herausgetrieben und angestalchelt, seine eigene(n) Geschichte(n) zu schreiben: Das vormalige Tier, das erst Mensch wurde, will letztlich Gott gleichen; Schöpfer nicht nur seiner Selbst und seiner eigenen Welt sein und bleiben, sondern die wirkliche Welt der Objekte, Daten und informationen verändern – oder in den Worten des TFF, zuerst den inneren Roborter kontrollieren und sodann die äußeren Roboter programmieren.

Fern jeder Robotik, einfach nur wild und lebendig wachsend grüßt, Euer Satorius


Du siehst aus wie ein Roboter, sagte Joe Malik in San Francisco, in einem perspektivisch verzerrten Zimmer, in völlig verdrehter Zeit. Ich meine, du bewegst dich und gehst wie ein Roboter.

 

Bleib dabei, Mister Wabbit, sagte ein junger, bärtiger Mann mit düsterem Lächeln. Manche Tripper sehen sich selbst als Roboter. Andere sehen den Führer als Roboter. Bleib bei dieser Perspektive. Ist es eine Halluzination, oder ist es die Erkenntnis von etwas, das wir normalerweise unterdrücken?

 

Warte, sagte Joe. Ein Teil von dir ist wie ein Roboter. Aber ein anderer Teil von dir ist lebendig, wie etwas Wachsendes, ein Baum oder eine Pflanze…

 

Der junge Mann lächelt, sein Blick gleitet nach oben, zum Mandala, das unter die Decke gemalt ist. Well? fragt er. Glaubst du, das ist eine verständliche, poetische Kurzschrift: dass ein Teil von mir mechanisch ist wie ein Roboter und ein Teil von mir organisch wie ein Rosenbusch? Und was ist der Unterschied zwischen dem Mechanischen und dem Organischen? Ist der Rosenbusch nicht eine Art Maschine, die vom DNS-Kode benutzt wird, um mehr Rosenbüsche zu produzieren?

 

Nein, sagt Joe. Alles ist mechanisch, aber Menschen sind anders. Katzen besitzen eine Anmut, die uns verlorengegangen ist, oder zumindest teilweise verlorenging.

 

Wie glaubst du, haben wir sie verloren ?

 

 

Robert Anton Wilson (1932 – 2007) & Robert Shea (1933 – 1994), Illuminatus! Das Auge in der Pyramide – Band 1 (Der dritte Trip, oder Binah; 1977)


Tage, und George fand sich ohne jede Leidenschaft grübelnd, ohne Hoffnung oder Kummer oder Selbstgefälligkeit oder Schuld; wenn nicht völlig egolos oder in vollem Darshana, so dann doch wenigstens ohne jenes gierige und flammende Ego, das entweder nackten Tatsachen entsprang oder sich vor ihnen zurückzog. Er betrachtete seine Erinnerungen und blieb unbewegt, objektiv, in Frieden. Er dachte an Schwarze und Frauen und ihre subtile Rache gegenüber ihren Meistern; an Sabotageakte, die sich als solche nicht klar zu erkennen gaben, weil sie die Form von Gehorsamsakten annahmen; er dachte an die Shoshone-Indianer und ihre derben Witze, den Witzen und Scherzen unterdrückter Menschen überall so ähnlich; er sah plötzlich die Bedeutung des Aschermittwochs und der Saturnalien sowie der Weihnachtsparty in den Ämtern und den Büros und all die anderen beschränkten, genehmigten, strukturierten Gelegenheiten, bei denen Freuds Wiederkehr des Unterdrückten erlaubt war; er erinnerte sich aller Situationen, in denen er sich gegen einen Professor, einen Vorgesetzten, einen Bürokraten aufgelehnt hatte, oder, noch weiter zurückliegend, gegen seine Eltern, indem er auf die Gelegenheit wartete, in der er, dadurch, daß er haargenau das tat, was ihm aufgetragen wurde, eine mittlere Katastrophe hervorrief. Er sah eine Welt von Robotern, die starr auf den von oben vorbestimmten Pfaden ein-hermarschierten, und jeder Roboter besaß ein Stückchen Leben, war irgendwo ein bißchen menschenähnlich und wartete auf seine Gelegenheit, seinen eigenen Schraubenschlüssel irgendwann einmal in die Maschinerie zu werfen. Er sah schließlich, warum alles in der Welt fehlzuschlagen schien und die Situation Normal so All Fucked Up war. «Hagbard», sagte er langsam. «Ich glaube, ich komme dahinter. Die Genesis verläuft genau rückwärts. All unsere Probleme nahmen ihren Anfang beim Gehorsam, nicht beim Ungehorsam. Und die Menschheit ist noch gar nicht geschaffen worden.»

 

Hagbard, mehr denn je falkengesichtig, sagte sorgsam: «Du näherst dich der Wahrheit. Geh jetzt ganz vorsichtig, George. Die Wahrheit ist nicht, wie Shakespeare es sagen würde, wie ein Hund, den man in seine Hütte prügeln kann. Wahrheit ist ein Tiger. Geh jetzt ganz vorsichtig, George.» Er drehte sich in seinem Stuhl und zog aus der Schublade seines modernen, dänischen, quasi marsianischen Schreibtisches einen Revolver. George sah zu, so kühl und allein wie ein Mann auf dem Gipfel des Mount Everest, wie Hagbard die Trommel öffnete und auf die sechs Kugeln darinnen zeigte. Dann schloß er die Trommel und legte den Revolver vor sich auf die Schreibunterlage. Hagbard sah die Waffe nicht weiter an. Dieselbe Szene wie mit Carlo wiederholte sich da, doch blieb Hagbards Herausforderung unausgesprochen, aphoristisch; sein Blick verriet nicht einmal, daß ein Wettkampf begonnen hatte. Die Waffe glitzerte unheilverkündend; im Flüsterton sprach sie von all der Gewalttätigkeit und Heimlichkeit auf dieser Welt, von Verrat, der von Medici bis Machiavelli unge-träumt geblieben war, von Fallen, die für unschuldige Opfer aufgestellt worden waren; er schien den Raum mit der Aura seiner Gegenwart anzufüllen, und ja, er barg in sich sogar die subtilere Drohung, die von einem Messer ausging, der Waffe der Leisetretenden, oder der Peitsche in den Händen eines Mannes, dessen Lächeln zu sinnlich ist, zu intim, zu wissend; mitten in Georges so absolute Ruhe war sie eingedrungen, unentrinnbar und unerwartet wie eine Klapperschlange im Laufe eines Nachmittags an einem so süßen Frühlingstag in der Welt gepflegtestem und künstlichstem Garten. George konnte das Adrenalin in seinem Blutstrom pulsieren hören; sah das «Aktivationssyndrom» seine Handflächen feucht werden lassen, seinen Herzschlag zunehmen, sein Sphinkter sich um einen Millimeter weiten; und immer noch, high und cool auf seinem Berg, fühlte er: nichts.

 

«Der Roboter», sagte er, und sah dabei Hagbard an, «ist leicht durcheinander.»

 

«Leg deine Hand nicht in dieses Feuer», warnte Hagbard, unbeeindruckt. «Du wirst dich verbrennen.» Er guckte, er wartete; George konnte seinen Blick nicht von diesen Augen lösen, und dann sah er in ihnen jenen belustigten Ausdruck von Howard, dem Delphin, die Verachtung seines Grundschuldirektors («Ein hoher IQ rechtfertigt weder Arroganz noch Ungehorsam»), die verzweifelte Liebe seiner Mutter, die ihn niemals hatte verstehen können; die Einsamkeit Nemos, seines Katers in jenen Kindertagen; die Bedrohung durch Billy Holtz, dem Stärksten seiner Klasse, und die totale Andersartigkeit eines Insekts oder einer Schlange. Mehr noch: er sah das Kind Hagbard, stolz wie er selbst auf seine intellektuelle Überlegenheit und ängstlich wie er selbst vor der Bösartigkeit dümmerer aber stärkerer Klassenkameraden, und dann den ganz alten Hagbard, Jahre von hier, mit Falten am Hals wie ein Reptil, aber noch immer mit dem Ausdruck einer endlosen, suchenden Intelligenz. Das Eis begann zu schmelzen; der Berg stürzte in einem Aufschrei von Protest und Trotz in sich zusammen; und George wurde den Strom hinabgetragen, den Stromschnellen entgegen, wo der Gorilla brüllte und die Maus rasch dahinlief, wo der Saurier seinen Kopf aus tertiärem Blätterwerk hob, wo das Meer schlief und die DNS-Spirale sich rückwärts dem Aufblitzen zudrehte, das jetzt diese Helligkeit, dieses Licht, verursachte, dieses Wüten, das ewige Wüten gegen das schier unmögliche Sterben des Lichts, dieses Sturms und dieser Zentrierung.

 

«Hagbard …» sagte er zum Schluß.

 

«Ich weiß. Ich kann es sehen. Fall jetzt nur nicht in jenes andere Ding zurück. Das ist der Irrtum der Illuminaten.» George lächelte schwach, noch immer nicht völlig in die Welt der Worte zurückgekehrt. «<Esset und ihr werdet sein wie Gott>?» sagte er.

 

«Ich nenne das den Non-Ego-Egotrip. Natürlich ist das der größte Egotrip, den es gibt. Jedermann kann ihn lernen. Ein zwei Monate altes Kind, ein Hund, eine Katze. Aber wenn ein Erwachsener ihn entdeckt, nachdem ihn Gehorsam und Unterwürfigkeit über Jahre oder Jahrzehnte hinweg in ihm ausgelöscht haben, kann das, was sich einstellt, furchtbar wirken. Deshalb sagen die Zen Roshis: <Einer, der erhabene Illumination erlangt, ist wie ein Pfeil, der direkt in die Hölle fliegt.> Vergiß nicht, was ich dir über gebotene Vorsicht gesagt habe, George. Du kannst jeden Moment aufhören. Es ist toll dort oben, und du brauchst ein Mantra, um dich davon fernzuhalten, bis du weißt, wie du dich dort bewegen mußt. Hier ist dein Mantra, und würdest du die Gefahr kennen, in der du dich befindest, würdest du es mit einem Brandeisen brutal in dein Hirn einbrennen, um sicherzugehen, es niemals zu vergessen: Ich bin der Roboter. Wiederhole es.» «Ich bin der Roboter.»

 

Hagbard machte ein Gesicht wie ein Pavian, und George lachte wieder; endlich. «Wenn du mal Zeit hast», sagte Hagbard, «wirf mal einen Blick in mein kleines Buch, Pfeif Nicht, Wenn Du Pißt … Exemplare davon gibt es auf dem ganzen Schiff. Das ist mein Egotrip. Und halt dir immer vor Augen: du bist der Roboter und niemals wirst du etwas anderes sein. Natürlich bist du auch der Programmierer, und sogar der Meta-Programmierer; doch das ist eine andere Lektion, für ein anderes Mal. Jetzt genügt es, daß du dich des Säugetiers, des Roboters erinnerst.» «Ich weiß», sagte George. «Ich habe T. S. Eliot gelesen, und jetzt verstehe ich ihn. <Demut hat kein Ende.>» «Und Menschheit ist erschaffen. Das … andere … ist nicht menschlich.»

 

George sagte dann: «So bin ich also angekommen. Und da ist nichts als ein weiterer Startplatz. Der Anfang eines anderen Trips. Eines härteren Trips.»

 

«Bei Heraklit lautet das so: <Das Ende ist der Anfang.»> Hagbard stand auf und schüttelte sich wie ein Hund. «Ich denke, ich sollte jetzt lieber ein wenig mit FUCKUP arbeiten. Du kannst hierbleiben, wenn du willst, oder in deine eigene Kabine gehen. Eines schlage ich dir jedoch vor, lauf nicht gleich herum und posaune deine neue Erfahrung aus. Auf diese Art und Weise kannst du es zu Tode schwatzen.»

 

 

Robert Anton Wilson (1932 – 2007) & Robert Shea (1933 – 1994), Illuminatus! Der goldene Apfel – Band 2 (Der siebte Trip, oder Netzach; 1978)

Wider die Unsichtbarkeit

Sollte es tatsächlich eifrige Stamm-Leser geben; sollte das Ganze hier nicht eine digitale Form, effektiv einsamen Narzissmus sein; sollte also insbesondere jemand an den Wochenendlektüren interessiert sein und an deren vermeintlichem Ausbleiben Anstoß nehmen, dann möchte ich diejenigen hiermit (ver-)trösten: Dieses und letztes Wochenende wurden ältere, bereits publizierte Texte in stark überarbeiteter Form aktualisiert, was aber angesichts der Blog-Chronologie im Verborgenen von Statten gegangen ist.

Sobald dieses erste Kapitel über Xaver S. Woche für Woche á 5 Seiten, letztlich vollständig aktualisiert worden sein wird, eventuell auch früher und damit parallel, geht es weiter mit der Version 1.0 von Yin & Yang.

Bis bald liebe Stamm-, Gelegenheits- und Nichtleser, Euer derzeit männerverschnupfter Satorius

P.S. @ Metatext-Redaktion: Wir haben den Wunsch unseres werten Herrn Autoren technisch und konsequent verwirklicht, womit wir die Updates der älteren Wochenendlektüren auf eine Zeitreise hinein ins Jahr 2019 geschickt und damit in ihrer konfusen Chronologie bereinigt haben.

Wochenendlektüren Nr.1 – XS1: S. 1-5/~53 [Update 2.3]

Am Wochenende ticken die Uhren anders. Da hat man Zeit, hat Muse und reichlich Gelegenheit für Kurzweil. Zeit also auch, um mal wieder ganz gediegen zu lesen. Und was bietet sich für die wochenendliche Schmökerei besser an als eine ordentliche Portion gut abgehangenes Text-Slow-Food, zumal es sich dabei auch noch um echte Originale handelt. Serviert werden die üppigen Portionen als bekömmliche Ration von je fünf Seiten pro Wochenende: Willkommen also in der ersten Ausgabe der Wochenendlektüren, einer Kombination aus TSF und Original in Serie und unter neuem Namen, innerhalb derer verschiedene Prosatexte veröffentlicht und zur Diskussion gestellt werden.

Den Anfang macht heute eine bereits vormals hier und sogar zweifach abgedruckte Geschichte, jedoch in einer so stark überarbeiteten Version, dass die urspünglichen beiden Entwicklungsstadien dieses Textes im direkten Vergleich alt und einfach aussehen. Eine literarische Skizze von einst entwickelt sich Schritt für Schritt zu einem Panorama, die Figuren werden lebendiger, Geschehen und Handlung stimmiger, die Sprache konsequenter und kompromissloser, was jedoch der Lesbarkeit nicht immer zuträglich ist. Dafür lernen wir einen stringent inszenierten Cyborg-Gelehrten kennen, dessen Leben aus den Fugen gerät und der dabei wider Willen zum Brennpunkt der Ereignisse in einer möglichen Zukunft einer solaren Menschheit wird. Es hätte so gewesen sein können steht sowohl als Arbeitstitel wie auch als Credo über dem literarischen Experiment, dessen erster von sieben Zugängen den Neumenschen Xaver S. ebenso porträtiert wie er die größeren Zusammenhänge und Hintergründe der fiktiven Zukunft darstellt und reflektiert.

Zukünftig werden mit wöchentlich fünf Seiten andere assoziierte Texte kapitelweise folgen: Inhaltlich anders gelagert, formal, funktional und sprachlich höchst divers wie different hierzu, führen neben Xaver S. (XS) sechs weitere Zugänge hinein in die vielfältige, postutopische Science-Fiction-Welt. Wir treffen auf die Zwillinge Yin & Yang (YY); begegnen der Schatzjägerin Alice Aqanda (AA); lernen Kjotho (KJ), den Regenten von Gor Thaunus, sowie die dort de facto herrschenden Oligarchen kennen; begleiten ein tierisches Trio (TVB), die Ente Trudie, den Raben Balthazar und den schwarzen Schwan Valerian auf ihrem politischen Trip; erleben das Drama rund um die Psychedeeler (PD), eine exzentrische Piratencrew, und nehmen Anteil am Leben und Leiden des Vektoren #42.3 (V8).

Nun aber eine gute erste Wochenendlektüre, Euer Satorius


1. Zugang XS – Schwere Ausnahmefehler im System

Mit jedem Tage und von beiden Seiten meiner Geistigkeit, der moralischen und der intellektuellen, näherte ich mich so ständig jener Wahrheit, durch deren teilweise Entdeckung ich zu einem so fürchterlichen Schiffbruch verdammt worden bin: daß der Mensch in Wahrheit nicht eins, sondern wahrlich zwei ist. Ich sage zwei, weil der Status meiner eigenen Erkenntnis nicht über diesen Punkt hinausgeht. Andere werden folgen, andere werden mich auf dieser gleichen Linie überflügeln. Ja, ich wage anzunehmen, daß die Menschheit sich schließlich bewußt werden wird eines ganzen Gemeinwesens vielfältiger, inkongruenter und unabhängiger Existenzen.

Robert Louis (Balfour) Stevenson (1850 – 1894), „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ (1886)


„Die fehlerhafte und Unglück bringende Auffassung, als sei ein Mensch eine dauernde Einheit, ist Ihnen bekannt. Es ist Ihnen auch bekannt, daß der Mensch aus einer Menge von Seelen, aus sehr vielen Ichs besteht. Die scheinbare Einheit der Person in diese vielen Figuren auseinanderzuspalten gilt für verrückt, die Wissenschaft hat dafür den Namen Schizophrenie erfunden. Die Wissenschaft hat damit insofern recht, als natürlich keine Vielheit ohne Führung, ohne eine gewisse Ordnung und Gruppierung zu bändigen ist. Unrecht dagegen hat sie darin, daß sie glaubt, es sei nur eine einmalige, bindende, lebenslängliche Ordnung der vielen Unter-Ichs möglich. Dieser Irrtum der Wissenschaft hat manch unangenehme Folge, sein Wert liegt lediglich darin, daß die staatlich angestellten Lehrer und Erzieher sich ihre Arbeit vereinfacht und das Denken und Experimentieren erspart sehen. Infolge jenes Irrtums gelten viele Menschen für ’normal‘ ja für sozial hochwertig, welche unheilbar verrückt sind, und umgekehrt werden manche für verrückt angesehen, welche Genies sind. Wir ergänzen daher die lückenhafte Seelenlehre der Wissenschaft durch den Begriff, den wir Aufbaukunst nennen. Wir zeigen demjenigen, der das Auseinanderfallen seines Ichs erlebt hat, daß er die Stücke jederzeit in beliebiger Ordnung neu zusammenstellen und daß er damit eine unendliche Mannigfaltigkeit des Lebensspieles erzielen kann. Wie der Dichter aus einer Handvoll Figuren ein Drama schafft, so bauen wir aus den Figuren unsres zerlegten Ichs immerzu neue Gruppen, mit neuen Spielen und Spannungen, mit ewig neuen Situationen. Sehen Sie!“

Hermann Hesse (1877 – 1963), „Der Steppenwolf“ (1927)


Man starrte ihn an. Dabei saß der graue, alte Mann derzeit einfach nur ruhig da und wirkte, als schliefe er tief und traumverloren. Seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht war glatt und er wirkte totenstarr. Nur wer genau hinsah, konnte ein minimales Zucken erkennen. Im fahlen, faltigen Gesicht verrieten es nur die Augen, auch wenn die Lider wie die übrige Muskulatur körperweit paralysiert waren: Die Augäpfel rollten unter der künstlich stabilisierten Mimik wild umher. Unablässig, aber weitgehend unsichtbar sprangen die blassblauen Iriden chaotisch hin und her; unstet, rasch und irritierend erratisch. Dabei weiteten sie sich, zogen sich wieder zusammen, der permanenten Dunkelheit scheinbar zum Trotz. Ein verborgener Widerspruch, ein störendes Detail das Wissenden vieles verraten hätten. Aber sie wussten es nicht, sahen es nicht; ahnten, argwöhnten es allerhöchstens. Verstehen würden sie es keinesfalls.

Neugierige bis verwunderte, bisweilen milde belustigte und häufiger nunmehr auch ärgerliche, jedenfalls kaum noch verstohlene Blicke streiften ihn, trafen ihn und blieben an ihm haften. Er bot ihnen Nahrung, lieferte ihnen den Stoff für ihr peinlichesu Mitvergnügen und taugte ideal als Objekt für sie, seine sogenannten Mitmenschen, hier und heute genauer Mitreisende. Man war bedürftig dieser Tage, denn viel Leid herrschte unter den Menschen; die Last der älteren und neueren Geschichte war kaum noch zu ertragen. Man war also dankbar für ein scheinbar so wehrloses Opfer, eine abnorme Ablenkung. Denn sie verzehrten sich schier nach Zerstreuung, nach simpler Ablehnung, danach, all das Falsche in ihnen und um sie herum zu kanalisieren, zu fokussieren und zuletzt zu projizieren, nach draußen, möglichst weit weg von sich. Heute wählten sie ihn als Objekt dafür aus; er bot sich an, hatte sich sogar ehrlicherweise förmlich aufgedrängt. Dabei war das, was er tat, weder verboten, noch lag es überhaupt in seiner Verantwortung, was hier mit ihm geschehen war, weiterhin geschehen würde.

Er litt unter einer Serie schwerer Systemfehler; aber auch das würden die wenigsten von ihnen überhaupt erkennen, geschweige denn anerkennen. Er wiederum sagte es ihnen nicht, fragte sie auch nicht nach Hilfe, beschwerte sich sogar bisher beim Personal nicht mal über seinen Zustand. Dabei unterlag die Sicherheit der Fluggäste logischerweise fremder Verantwortung und die Verantwortlichen wussten schließlich genauestens über seine Situation Bescheid; kannten die für seinen besonderen Fall geltenden Sicherheitsstandards. Sollte er also tatsächlich durch ein tumbes Unterlassen der Betreiber einen chronischen Schaden davontragen, außer derzeit weiterhin nicht eben angenehmer Reflexion ausgesetzt und diverser Symptomatik unterworfen zu sein, würde er charakterliche Milde und kultivierten Pazifismus fahren lassen. Er war nur ihretwegen so heftig gestört, total dysfunktional und nicht nur deshalb ziemlich gestresst. Sollten sie doch allesamt, die Mitarbeiter der Korporation ebenso wie die anonymen Mitmenschen, sich selbst wiedererkennen an ihm, gnadenlos in ihrer Widerwärtigkeit durch ihn gespiegelt. Er unterdes ließ sich nicht beirren, weder in seinen Prinzipien noch in seinen persönlichen Präferenzen und Paradoxien. Mit ihren törichten Meinungen über seinen Zustand zeigte sich der ihre umso eindrücklicher und damit untrüglicher. Ängste und Ambitionen brachen sich an ihm, bündelten sich um ihn herum und verliehen ihm hässliche Attribute: krank, gestört, gefährlich, bestenfalls noch dubios oder mysteriös. Er hingegen blieb sich auch praktisch treu: Ignorierte sie, größtenteils und wenn möglich technisch assistiert, indem er völlig in seine eigene Welt eintauchte oder wenigstens die allgemein verbindliche Außenwelt gründlich verzerrte, sie willkürlich manipulierte und somit bedarfsgerecht zurechtstutzte.

So gut es eben ging und so lange es gut ging, tat er das; aber dann gab es immer wieder diese kleinen und größeren Abstürze. Schwere Systemfehler solchen Ausmaßes hatte er seit Jahren nicht mehr ertragen müssen, nicht mal bei den regelmäßig heftigen Sonnenstürmen ging es ihm derart miserabel. Wie von gefräßigen Käfern, die sich gierig durch Silizium, Kunststoffe, Metalle und Fleisch fraßen, wurde er von Bugs überrannt, übermannt und von innen heraus lahmgelegt; seine neuronalen Netze litten effektiv seit kurz dem Start unter allerlei Interferenzen, insbesondere die vielen komplexen höheren Augmentate. Dabei drängte sich ihm, dem kühlen, sachlichen Denker, dieser ekelhaft lebendige Vergleich auf, obwohl er den letzten echten Käfer vor mehr als einem Jahrzehnt gesehen hatte. Er war kurz erstaunt über den Bilderreichtum und die Blumigkeit seines Denkens, verbuchte es dann aber als weiteren Effekt von Deaktivierung und Einsamkeit. Denken in Metaphern war ihm im Normalfall fremd. Mehr noch, er verachtete alle Tropen, sah in ihnen Verwirrungen und Spielereien des Denkens. Aber er riskierte es, dem aktuellen Drängen der rechten Hemisphäre nachzugeben; wollte dabei aus dem ungewollten Zustand wenigstens etwas über sich selbst lernen, sein rohes Ich erleben, bar jeder Assistenz und Modifikation wild denken und zugleich suboptimal existieren.

Jene Situation fußte auf einer Fehlerserie, welche den hyperrealen Weltenwanderer fesselte und band, ihn gnadenlos in die Konsensrealität zurückwarf; hineingepresst in das blasse Abbild, das von ihrem einst so leuchtenden Urbild noch übriggeblieben war: Ein goldenes Zeitalter war in tiefste Finsternis hinabgestürzt; so nostalgisch überzogen urteilte nicht nur er, so oder so ähnlich dachten die meisten seiner Zeitgenossen. Dass alles zu Bruch gegangen und total schief geraten war, war einer der wenigen unstrittigen Allgemeinplätze im Sonnensystem. Sonst hingegen war man sich in Wenigem derart einig; denn es herrschte Zwietracht und die vier Reiter marodierten, errichteten ihre Reiche in den Ländern der Sterblichen.

Dazwischen also, wenn er unweigerlich in diese Realität zurückfiel, abstürzte und hier bruchlandete, schützte er sich sensorisch so gut und so weit es ebengerade ging; denn immerhin, viele der makroskopischen Augmentate funktionierten noch leidlich zuverlässig. Aber das half alles nichts: Er brannte durch, weshalb sein sonstiges Verhalten immer wieder auffällig und tatsächlich abnorm gewesen war. Sein bisheriges Gebaren war bestenfalls noch affektiert zu nennen, schlechterdings wirkt es ungesund und widernatürlich, schlichtweg gestört. Er degenerierte körperlich, so viel war klar, und alle konnten sie seinem sukzessiven Verfall beiwohnen. Immer wieder aufs Neue, selten aufs Gleiche eskalierte sein Körper seit Beginn des Fluges. Er ekelte sie an, faszinierte sie damit zugleich, erregte Aufsehen und Abscheu gleichermaßen.

Es herrschte Chaos in ihm; Entropie zerfaserte, zerfranste, zerfräßte seinen Kosmos, sein Selbst deflagrierte: existenziell, physisch und psychisch, augmental wie hyperreal. Er litt, konnte nicht mehr, irrte mental wahllos umher. Stress, ein für ihn seltener Zustand, griff um sich. Dissoziative Anfänge stürzten hinab in assoziative Verwirrung und kulminierten dann irgendwann in den Fängen nostalgischer Melancholie. Gedankenschimären galoppierten, durchwaberten Schleiern gleich sein entfesseltes, unruhiges Bewusstsein und marterten in Summe mit handfesten Schmerzen seine kaputte Konstitution. Die Käfer wühlten sich unterdessen durch sein Abdomen, labten sich an den diversen Organen, folterten ihn in seiner eigenen Haut. Der Schmerz hämmerte als vielfarbiges Stroboskop. Er wanderte im Zwielicht. Unentwegt blitzten Erinnerungen und Erwartungen auf, abrupt, verbanden sich und drifteten davon, gemeinsam zwar, doch wahllos durcheinandergewürfelt. Sein sonst kontinuierlich und optimal unter Kontrolle gehaltener Leib nutzte den Ausnahmezustand ungehemmt aus. Das wilde Fleisch trumpfte auf, protzte mit sonst regulativ kompensierten Fehlern, erging sich in Marotten und Makeln. Es tat also schlicht, was es sonst nicht konnte, und überschüttete ihn schon seit einer subjektiven Ewigkeit – die sich objektiv auf exakt 95 Minuten, genau 17 Sekunden und gerundete 357 Millisekunden belief – mit einer exquisiten Auswahl an mitunter quälenden Symptomen. Physisch überwogen dabei bisher Juckreiz, Übelkeit, Kopf- und Gliedschmerzen, aber mit nahendem Niesen und beginnendem Augentränen kündigten sich gerade zwei Neuerungen in der gleichfalls unerwünschten wie unangenehmen Reihe an Leiden an. Früher hatte man dieses an sich unspezifische Syndrom als Technose beschrieben; damit meinte man einen instabilen Zustand, der sich bei Neumenschen aus unterschiedlichsten Gründen einstellte. Insbesondere nach dem Versagen eminenter Kernkomponenten trat gewiss Technose auf. Die Körper der durch und durch technisierten Menschen kannten kein autarkes Gleichgewicht, hatten in vielerlei Hinsicht verlernt, selbstständig zu funktionieren, zu leben, waren damit unfähig zur Homöostase geworden und kollabierten deshalb verschiedentlich. Dennoch waren Neumenschen langfristig robuster, langlebiger und leistungsfähiger, sodass der lebenslange Anreiz hoch genug gewesen war, die mitunter und nur mit Pech lebensbedrohlichen Risiken einzugehen. Nun erlebte er diese Kalamitäten am eigenen Leib, zahlte stellvertretend den Preis für den technologisch erzwungenen Evolutionssprung der Menschheit.

Vermutlich würde er also gleich wieder zum Blickfang aller werden. Ganz so, als ob er ein grotesker Clown in einem Zirkus der Absonderlichkeit wäre, der hier, in der nüchternen Sachlichkeit der Kabine, für den gemeinen Pöbel seine bizarren Kunststücke aufführte. Eine Posse für den Pöbel, dargeboten von einem Narren, der sich seit langem schon zum Magier gewandelt wähnte. Er hatte ein Faible für alte Esoteriken und spielte deshalb gerne mit solchen kuriosen Weltbildern; pflegte so den Umgang mit vormodernen Gedankengebäuden, jonglierte und kokettierte dabei munter mit ihren Begriffen und persiflierte rundheraus ihre kruden Ideologien – Tarot und die große Arkana beispielsweise.

Nunmehr reagierte er, deaktivierte per Mentalbefehl die künstliche Paralyse seiner Muskulatur, sonst würde er sich beim nächsten Technose-Schub womöglich unnötige Zerrungen, Hämatome oder dergleichen Ärgernisse zuziehen. Denn, was jetzt genau kommen würde, wusste er nicht und auf die üblichen Notfallmechanismen zur Schadensprävention wollte er sich hier und heute definitiv nicht mehr verlassen.

Schon passierte es; er stöhnte sofort laut auf; nieste daraufhin heftig, herzhaft, mehrfach: „Argh … Haaattschuu! … Haatschiiii! …“, so und ähnlich ging es die nächsten Minuten weiter. Glieder zuckten wild und Körpersäfte flossen ungehemmt, wurden daraufhin umständlich, dennoch effektiv beseitigt. Die ganze Zeit über ließ er seine Lider vor den salzdurchtränkten Augäpfeln, all den ungezügelten Tränen zum Trotz, weiterhin tunlichst geschlossen – diese anonymen Blicke! Sie sollten ihn eigentlich nicht interessieren, plagten ihn jetzt aber trotzdem zunehmend.

Die vielen Ionen in der unregulierten, natürlichen Tränenflüssigkeit schadeten einigen Augmentaten in den beiden Auge; aber was sollte er denn anderes tun als warten, hoffen und weiterhin befehlen. Entsprechend begannen die Augen nun auch spürbar zu schmerzen. Soweit es machbar war, leitete er den Überschuss an Tränenflüssigkeit über einen flexiblen Beipass in seinen Magen um, tat vom Nötigen damit aber nur das soeben und eingeschränkt Mögliche. Eigentlich müsste er jetzt eine gründliche Spülung der Augen vornehmen, ein neues Fluid herstellen und dieses letztlich applizieren, aber er war in seiner Körperkontrolle massiv eingeschränkt. Warum so kompliziert, rief er sich pragmatisch zur Räson und tat, was die Normalmenschen in solchen Fällen auch taten: Im Gegensatz zu ihnen weiterhin vom Außen isoliert, taub und blind, jedoch nicht mehr lahm, wischte er sich kurzerhand die überschüssigen Tränen einfach mit dem Ärmel seiner Adora weg, wobei das multifunktionale Nanitengewebe die Flüssigkeit zum Gros resorbierte und nahezu 100% der Materie für Xaver wiederverwertete.

Inzwischen hatte sein rebellischer Körper begonnen, hemmungslos zu jucken; dementsprechend kratzte er ihn unerbittlich. Versuchte es zunächst, dabei plump scheiternd, durch den mehr als solid zu nennenden Werkstoff der mehr als nur funktionalen Kleidung hindurch. Direkt aus der Starre heraus und gleich mal richtig tief rein in den Slapstick, dachte er nebenbei in einer Mixtur aus Selbstironie und ungewohnter Scham. Sollte er sich nun schlicht wieder sedieren und damit vor der Situation kapitulieren? Nein, er würde sich wehren! Also akzeptierte er den Zustand, dachte kurz nach und fuhr sodann mit der Hand durch die Ärmel unter die beigen Nanofasern seiner Kleidung, einer Tracht, die einer Mönchskutte gleich locker um seinen Körper fiel. Das intelligente Material weitete sich, sobald er in es hineingriff – es funktionierte also immerhin etwas. Der Juckreiz sprang unterdessen, als wollte er ihn verhöhnen, also disponierte er um. Er jagte ihn und kratzte, zaghaft und zerstreut zuerst, fixierte sich dann aber auf seinen Nacken. Seine Körperwahrnehmung transformierte schlagartig, Juckreiz unterlag heftiger Verspannung, krampfartig ansteigend. Dorthin, wo ihr Epizentrum lag, konnte er glücklicherweise gut mit seiner linken Hand gelangen; die Rechte hingegen war zwischenzeitlich taub geworden und deshalb derzeit nur mäßig hilfreich. Dergestalt gehandikapt massierte er sich noch eine Weile mit der Linken weiter – emsig, aber erfolglos; malträtierte dann zunehmend eine Stelle, weiter oben direkt am Haaransatz und rieb vehement dort, wo Juckreiz wieder die Oberhand zu gewinnen schien. Sollte er doch seine Nervenenden ausschalten, es zumindest optimistisch nochmals versuchen, das Problem augmental in den Griff zu bekommen? Es gab immerhin praktisch unendlich viele Optionen und Modifikationen, die er ausprobieren konnte, dazu bedurfte er nicht zwingend der Assistenz durch seine sieben Module oder gar des Zugangs zur Hyperrealität.

Das deutsche Wahlsystem, seine Tücken und die latente Lust am Politikverdruss



Mein erstes Mal quasi, mein erster bescheidener Beitrag zur politischen Bildung, ganz sachlich und nüchtern, ohne Kunst (und zunächst ohne Verben), aber mit ganz viel Information und einer ordentlichen Portion Kritik!

(@Metatext-Redaktion: FreudianFakeNews! Sachlich falsche Aussage unseres werten Autoren, da dessen verdrängter Anspruch, politisch zu sein und politisch zu bilden, vor einigen Jahren mehrfach in Beiträgen auftauchte und latent immer wieder durchscheint. Zumal die „Diskurse der Nacht“ eine eindeutige Sprache sprechen. Kurios!)

Das politische System der BRD, insbesondere dessen Wahlrecht, also steht heute zur Debatte, soweit, so (un)klar. Ob diese Themen bei Euch vitales Allgemeinwissen sind oder als angestaubter Schulstoff dahinsiecht – sei’s drum, ich erkläre es mal eben ungefragt: Verhältnis- plus Mehrheitswahlrecht, zwei Stimmen, die erste davon für die Personenwahl vor Ort im Wahlkreis, die zweite sodann für die (gefühlt je Partei ab Listenplatz zwei bis fünf abwärts effektiv „anonyme“) Listenwahl, verleihen dem Wähler Macht und Einfluss. Denn hierzulande ist das Volk der Souverän und übt diese Rolle vornehmlich aus, indem es seine Repräsentanten in allgemeiner, freier, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl in den Berliner Bundestag wählt. Dort angekommen stellen die Gewinner, nach dem mittlerweile fast postideologischen (AFD und Linke mal ausgeklammert) Koalitionsgeschacher, das mitunter 20% der Legislaturperiode verschlingen kann, die Regierung, bestehend aus vielen Ministern und einem Kanzler. Neben dieser Exekutive beherrscht die Siegerkoalition in der Regel auch die Legislative, das tut sie durch einfache Mehrheit (>50%) im Parlament mithilfe von Gesetzgebung. Damit werden zwei von drei Gewalten direkt dem Wirken von Parteien bzw. der gleichen Koalitionsparteien ausgeliefert und die effektive Regierungsarbeit im Sinne des KgV der jeweilien Wähleraufträge und Wahlprogramme kann losgehen. Das Regieren geht solcherart weiter, bis in gut drei bzw. knapp vier Jahren wieder gewählt wird oder ein außergewöhnliches Ereignis eintritt.

Beispielsweise und nicht unwahrscheinlich kann ein effektiver Ungehorsam von Parlamentariern gegen die Praxis der sog. Fraktionsdisziplin und damit eine Ausübung der verbrieften Freiheit zur Gewissensentscheidung passieren oder eine fragile Koalition zerbricht an persönlichen Streitigkeiten oder ebensolchen Verfehlungen, woraufhin die Misstrauensfrage positiv beantwortet würde; eher unwahrscheinliche Gründe für vorzeitige Neuwahlen hingegen könnten Krieg, Revolution, Attentate oder Apokalypsen sein.

Schlimmstenfalls jedoch, weil sowohl tragisch als auch komisch, herrscht irgendwann eine „Demokratie, ohne Demos“ (leider vermag ich nicht mehr zu zitieren, von wem diese griffige Parole stammt), was schlichtweg bedeuten würde, dass Wahltag ist und niemand mehr hingeht. Auch wenn es ganz so schlimm wohl absehbar nicht kommen wird, aber gefühlt greift Politikverdrossenheit tendenziell bereits dieser Tage um sich und greift nach dem Herz jeder Demokratie – der Lust der Bürger an (Selbst-)Regierung. Wie komme ich dazu? Die Wahlbeteiligung bei der letzten Bundestagswahl betrug 75% und liegt regelmäßig unter 50% bei kommunalen sowie europäischen Urnengängen; Verschwörungswahn und postmoderne Verwirrung, Individualismus und Separatismus, Neo-Biedermeier und selektiver, manipulativer Medienkonsum sägen am Vertrauen gegenüber dem Politiker für sich und dem System der Politik an sich; Finanzkapitalismus, Globalisierung, Lobbyismus, Angst um den Arbeitsplatz und vor sozialem Abstieg lassen den marxschen Primat der Ökonomie vor der Politik als nicht eben unplausibele Einsicht erscheinen; der globale Siegeszug der Demokratie ist vorbei, Autokratie, Populismus und Fanatismus trump(f)en auf; zuletzt und vor allem erlebe ich Politikunlust bis Tabuisierung in vielen sozialen Milieus meiner eigenen Lebenswelt, seit Jahrzenten, hautnah und unsympathisch – die Zahl der Menschen, mit denen ich gepfelgt über Politik sprechen kann, ist klein, die Gelegenheit rar, in meiner Herkunftsfamilie herrscht ein thematisch einschlägiges Redeverbot gar, über das ich mich selbstredend notorisch hinwegsetze.

Glücklicherweise, kann man allen- und jedenfalls hoffen, gibt es gegenläufige Tendenzen und ambivalente Zukunftstrends, die ich hier aber aus rhetorischen Gründen unterschlage und performativ nur der Fairness halber pauschalisiert erwähne. Ach und ja, immerhin der drohende globale Umweltkollaps schafft es zunehmend und nachhaltig, die Menschheit zu aktivieren. Es geht hierbei aber ausdrücklich nicht um hehre politische Ideale, sondern um Sicherheit, ums Überleben und die schönde Stillung der eigenen, zukünftigen Grundbedürfnisse und Lebensgrundlagen.

Kommen wir von den spekulativen Höhenflügen über die politische Weltgeschichte hinweg zurück, wieder herauf aus den analytischen Niederungen der lebensweltlichen Demokratiekritik und insgesamt zurück zum Artikelanlass, dem politischen (Wahl-)System, das unser verfassungsmäßig garantiertes Mittel und generelles Medium der Politik ist: Dabei ist – zu allem Überfluss beim politischen Verdruss – die Sache mit dem Wählen im Detail dann doch nicht so einfach, so unschuldig; denn die Logik des Wahlsystems kann bisweilen sogar paradoxe Resultate zeitigen und auf den Schwachsinn mit den Überhangmandate will selbst ich bei aller Politik- und Schreiblust nicht mehr erklärend eingehen.

Es grüßt, diskursiv umnachtet und politisch erhellend, Euer Satorius


Die Verteilung der Mandate auf die Parteien entsprechend dem Verhältnis der Summen der Wählerstimmen darf im Grundsatz nicht dazu führen, dass die Sitzzahl einer Partei erwartungswidrig mit der auf diese oder eine konkurrierende Partei entfallenden Stimmenzahl korreliert (Effekt des negativen Stimmgewichts). Es ist zwar ohne Weiteres einsichtig, dass als mathematisch unausweichliche Folge eines jeglichen Verteilungsverfahrens (vgl. dazu BVerfGE 95, 335 <372>) einzelne Stimmen sich nicht zugunsten einer Partei auswirken können. Ein Sitzzuteilungsverfahren, das ermöglicht, dass ein Zuwachs an Stimmen zu Mandatsverlusten führt, oder dass für den Wahlvorschlag einer Partei insgesamt mehr Mandate erzielt werden, wenn auf ihn selbst weniger oder auf einen konkurrierenden Vorschlag mehr Stimmen entfallen, widerspricht aber Sinn und Zweck einer demokratischen Wahl (vgl. BVerfGE 121, 266 <299 f.>). Solche widersinnigen Wirkungszusammenhänge zwischen Stimmabgabe und Stimmerfolg beeinträchtigen nicht nur die Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der Parteien, sondern verstoßen auch gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl, da es für den Wähler nicht mehr erkennbar ist, wie sich seine Stimmabgabe auf den Erfolg oder Misserfolg der Wahlbewerber auswirken kann (BVerfGE 121, 266 <307>).

Bundesverfassungsgericht, Urteil des Zweiten Senats vom 25. Juli 2012 – 2 BvE 9/11 – Rn. (1-164), S. 86 (Direktlink)


Das Wahlsystem, in dem Elemente der Verhältnis- und der Mehrheitswahl über drei Ebenen (Wahlkreis, Land, Bund) kombiniert werden, ist insbesondere durch die anfallenden Überhangmandate wenig durchsichtig. Zudem motiviert es wegen der starren Kandidatenlisten Kandidierende sowie Wählerinnen und Wähler weit weniger zur Beteiligung, als dies in einer vitalen Demokratie wünschenswert wäre. Angesichts dieser fundamentalen Mängel des geltenden Wahlsystems und der gewachsenen Distanz zwischen Bevölkerung und Staat erscheint eine demokratische Wahlreform überfällig. Diese könnte ein erster Schritt dazu sein, verlorengegangenes Vertrauen in die repräsentative Demokratie wiederzugewinnen. Eine Chance hierzu bietet sich dadurch, dass das Bundesverfassungsgericht den Deutschen Bundestag aufgefordert hat, das Bundeswahlgesetz bis zum 30. Juni 2011 so zu ändern, dass keine negativen Stimmgewichte mehr entstehen können. [6] Voraussetzung einer solchen Reform wäre allerdings eine öffentliche Wahlsystemdiskussion. Die Bundestagsparteien behandeln die Problematik aber offensichtlich bisher so geheim wie möglich, mit dem Ziel, mit minimalen wahlrechtlichen Reparaturen über die Runden zu kommen; ja, allem Anschein nach fürchten sie eine öffentliche Diskussion über Wahlrechtsfragen. Die Sensibilität der Bevölkerung und der Medien für das problematische Verhältnis zwischen Bürgerinnen und Bürgern und dem Parteienstaat ist allerdings gewachsen. Zudem besteht ein Interessenkonflikt zwischen den Parteien darüber, wie negative Stimmgewichte beseitigt werden sollen: Während insbesondere CDU und CSU von der Erhaltung von Überhangmandaten profitieren, werden die anderen Parteien durch Überhangmandate benachteiligt. An diesem Interessenkonflikt scheiterte im Frühjahr 2009 der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, das Problem durch die bundesweite Verrechnung von Überhangmandaten mit Listenmandaten derselben Partei zu lösen. [7] Umgekehrt treffen unionsnahe Optionen auf breiten Widerspruch, unverbundene Landeslisten einführen zu wollen, so dass keine negativen Stimmgewichte mehr anfallen, aber alle Überhangmandate erhalten bleiben. Hiermit wären nämlich nicht nur alle kleineren und mittleren Parteien benachteiligt; auch das auf die Annahme eines Staatsvolks gegründete Staatsverständnis der Bundesrepublik würde in Frage gestellt. Zudem ergäben sich andere normative und organisatorische Probleme, etwa mit Bezug auf die Handhabung der Fünfprozenthürde der Stimmenverrechnung. Ähnliche Probleme stellen sich Kompromissentwürfen einer schonenden Problemlösung. [8] Diese schließen negative Stimmgewichte nicht völlig aus, erfüllen insofern also nicht die Auflage des Bundesverfassungsgerichts, produzieren aber neue normative Komplikationen: So würde etwa nicht mehr jeder Wahlkreis durch den jeweiligen Wahlsieger im Parlament repräsentiert. Das Bundeswahlgesetz sollte daher nicht nur reformiert werden, um neues Vertrauen in den demokratischen Staat zu gewinnen; es geht auch darum, ein normatives und wahlrechtspolitisches Chaos zu vermeiden.
6. Vgl. www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/cs20080703_2bvc000107.html (2.12.2010).
7. Bundestagsdrucksache 16/885, online: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/16/118/1611885.pdf (2.12. 2010).
8. Vgl. Kai-Friederike Oelbermann/Friedrich Pukelsheim/Matthias Rossi/Olga Ruff, Eine schonende Verbindung von Personen- und Verhältniswahl zum Abbau negativer Stimmgewichte bei Bundestagswahlen. Institut für Mathematik, Universität Augsburg 2010, online: http://opus.bibliothek.uni-augsburg.de/volltexte/2010/1636/pdf/mpreprint_10_011.pdf (2.12.2010).

Volker von Prittwitz (1950 – ), Hat Deutschland ein demokratisches Wahlsystem? (Direktlink; vom 18.01.2011)

Astro(nomie)-Trip

Wer sind wir schon wir winzigen Menschlein? Nichts und nichtig, verglichen mit der Unendlichkeit des uns umgebenden Alls! So unbedeutend und zugleich zerbrechlich, sterblich und bedürftig zumal, dass starkes Selbstvertrauen und jedwede (meist verdeckte, versteckte) Form des Narzissmus wie heftigste Realitätsverleugnung daherkommen. Kosmisch gesehen sind wir „Firlefanz“, wie ein Freund kürzlich treffend bemerkte, Tand,  oder aber freundlich-positiv im Gegenteil ausgedrückt: Ornament, Zierde, Singularität – in Größe, Mächtigekeit und degleichen Machokategorien aber sind und bleiben wir die Opfer der kosmischen Hackordnung.

Dennoch, genau deshalb, wegen Einzigartigkeit, Vielfalt, Vergänglichkeit, Veränderlichkeit, Freiheit und Kreativität sind unsere Existenzen wenn auch winzig, zugleich so unglaublich kostbar, ist insbersondere auch Liebe zum Leben, der Eros Freuds, mehr als ein dahingesäuselte Leerformel. Ob diese tiefe Wertschätzung sich selbst, seinen Freunden, der Familie oder gar der Menschheit gilt, ist hierbei höchstens zweitrangig, denn all diese Formen der (potentiellen) Brillanz erhebt uns über jede bloße Quantität. In der Singularität eines jeden Menschenlebens liegt eine der unermesslichsten Qualitäten. Wir sind zudem physisch-psychische Doublette, ein aus elementarem Stoff(-gemisch) zusammengesetzes Ding, das potentiell aus den gleichen Atomen – vertraut man denn dem Model der modernen Physik bis hinuter auf die ontologischen-existenzielle Ebene – besteht wie all die anderen Entitäten der belebten und unbelebten Natur um uns herum: Steine, Sand, selbst die Sonne, zugleich Staphylokokken, Salamander und Sojaschnitzel und so weiter…

Genug geschleimt, jetzt reicht es, schluss mit dem Narzissmus! Schluss also mit der sanften Seelenmassage, zurück zum realistisch-faktenharten Eingangston: Wir sind aus Sternenstaub – ja! So lyrisch schön und zugleich naturwissenschaftlich zutreffend diese Aussage auch sein mag, so ethisch unermesslich, neural komplex und ontologisch hervorragend (intelligentes) Leben auch immer sein mag, wir sind: bloßer Staub. Verglichen mit den abstrakten, unvorstellbar gigantischen Dimensionen dessen, was zuvor die Philosophen noch schwärmerisch und nach ihnen nun auch die modernen Wissenschaftler tendenziell nüchtern-elegant Universum oder Kosmos genannt haben, sind wir aus nur Marginalien, kleine Lichter in einem Meer aus strahlenden Sternen, in einem Ozean aus gleißenden Galaxien und – hier bricht zwangsläufig jeder Hauch von Poesie – in einer Masse an (Super- & Mega-)Haufen.

Trotz aller unbestreitbaren Vorzüge der Erde und der sie bewohnenden Menschheit reicht bereits ein flüchtiger Seitenblick auf die realitve Skalierung unseres eigenen kleinen Planeten im kosmischen Kontext, um uns eine Lehre in Mäßigung und Demut zu erteilen. Zwei Tugenden, sehr alte Tugenden, die dieser Tage etwas aus der Mode gekommen sind, jedoch nur dann schädlich werden können, wenn man es mit ihnen moralisch übertreibt und sie predigt – Stichwort: (Welt-)Religionen. Die Tiefgläubigen unter uns sind deshalb auch gut gewappnet für die anstehende Reise, können einfach die Schönheit der Schöpfung geniesen, entdecken in ihr womöglich das Werk oder die Präsenz ihrer Konfession der Wahl oder des nachgeburtlichen Zufalls. Jeder (naive) Narzisst jedenfalls und/oder anderweitig Selbstwerbeschädigte sei hier vorsorglich sowie ausdrücklich gewarnt: Die tröstende Passage war kalkuliert platziert, von nun an wird wieder hart und heftig desillusioniert.

Zuvor aber noch eine ernsthafte Frage, eine durchaus rhetorische Frage, deren dennoch bemühte Beantwortung für Euch im Laufe dieses Artikels noch frappant bis brisant werden könnte: Wo befindet Ihr euch gerade? Eine simpel scheinende Frage, nicht wahr? Denkt kurz definitotrisch darüber nach und merkt Euch eure Antwort gut, insbesondere die Maße und Relationen, die das „Wo?–>Da!“ begleiten, und die vermutlich im Gros durch die Einheiten Meter und Kilometer oder mal mit Bezügen zur Erde oder sogar Sonne ausgefallen sein dürfen. Haltet Euch daran gedanklich fest.

Los geht’s also – bloß nicht festhalten! Hier und jetzt – wo und wann das bei Euch auch immer sein mag – beginnt der demütige Astro-Trip. Genau über eurem aktuellen Standort, knapp oberhalb unserer alltäglichen Lebenswelt starten wir, hinfort aus dem Alltag streben wir sogleich, weg von der Erde, hinaus in die Weiten des Weltalls (- ein, wie ich finde, guter Anwärter auf den Titel „Schönstes Wort der deutschen Sprache“). Wir verlassen dafür also zunächst rasch den Bereich unserer leiblich-wirklichen Sinnenumwelt – Meter Adé! Beinahe sofort, nach nur wenigen Sekunden Denkweg, landen wir fern der Anschauung bereits im reinen Denken. Dergestalt führt uns die eingeschlagene Reiseroute direkt hinein in und durch die Elfenbeintürme von Astronomie, Physik und Chemie. Eben noch standen/saßen/lagen wir im Arbeitszimmer/Bett/Wohnzimmer und fragten uns, wo wir sind oder was ich eigentlich von Euch will; vielleicht aber stellt Ihr euch auch schon vor, wie es dort droben wohl tatsächlich ist, da draußen in unserem heimischen Sonnensystem, der lieben Heimatgalaxis Milchstraße oder wagt euch noch weiter nach draußen in ein ominöses, unverschämtes und unbekanntes Universum.

Jetzt aber wirklich los und schwupps: Rocketjump! Mental rauschen wir ungehindert nach oben in den Himmel, kurz hinein in die Vogelperspektive, dann aber wird es plötzlich arg transzendent, deshalb lasse ich hier populärwissenschaftliche Grafiken für sich sprechen, deren Fund im letzten Jahr diesen Artikel hier überhaupt erst ausgelöst hat. Denn die Regionen, die wir betreten, in die wir uns wagen wollen, sind wie gesagt bloß noch vermittelt ansatzweise vorstellbar, eine nur durch Darstellung zugängliche Sphäre von Begriffen und Modellen, welche auf Messung, Gesetzen und gelehrten Spekulationen beruhen.

Bis (oder sogar ob jemals) eines Menschen Auge dieses atemberaubende All autonom erblicken wird, kann noch äonenlang leise-hallende, von fern her klingende Zukunftsmusik geduddelt werden. Derweil vergnügen wir uns mit hübschen Bildern plus klaren und erhellenden Grafiken, während wir uns unterdessen davor hüten sollten, diese Dimension wirklich verstehen, fühlen und begreiffen zu wollen. Es sei denn, wir staunen, oder, wie zuvor gespöttelt, wir erkennen in allem Folgenden das Wirken unseres Gottes, unserer Götter – dann nur zu: Euch allen wünsche ich gleichsam „bon voyage“!

1. Etappenziel: Die Grenzen unseres Heimatplaneten = Erde


Andrew Z. Colvin, Earth’s Location in the Universe (4. April, 201
Markus D., Luftschichten der Erde auf www.nfo-wetter-pohlheim.de (Link zur Originaldatei)

2. Etappenziel: Das heimische Planetensystem = Sonnensystem

Andrew Z. Colvin, Earth’s Location in the Universe (4. April, 2012)

3. Etappenziel: Die Nachbarsterne im galaktischen Spiralarm = Orion-Arm

Andrew Z. Colvin, Earth’s Location in the Universe (4. April, 2012)

4. Etappenziel: Unsere spiralarmige Heimatgalaxis = Milchstraße

Andrew Z. Colvin, Earth’s Location in the Universe (4. April, 2012)

5. Etappenziel: Unser angestammter Galaxien-Haufen = Lokale Gruppe

Andrew Z. Colvin, Earth’s Location in the Universe (4. April, 2012)

6. Etappenziel: Der Haufen der Haufen = Virgo-Superhaufen

Andrew Z. Colvin, Earth’s Location in the Universe (4. April, 2012)

7. Etappenziel: Der heimliche (Mega-)Superhaufen = Lanaikea

Andrew Z. Colvin, Earth’s Location in the Universe (4. April, 2012)

8. Etappenziel: Das Ende unserer Reise, die Grenzen der Ausdehnung (oder der Vermittlung)


Andrew Z. Colvin, Earth’s Location in the Universe (4. April, 2012

8. – 1. Die zurückgelegte Reiseroute im schonungslos ungeschönten Rück- und Überblick


http://www.astro.princeton.edu/universe/

Wow, was für ein Trip! Wenn wir, am Ziel angekommen, dann so im Nichts rumstehen, außerhalb des sich angeblich seit dem Urknall ausdehnenden Universums rumlungern, dann könnten wir hochgerechnet 70 Trilliaden (7*10²²=70000000000000000000000) Sterne gleichzeitig im Blick haben und aus selbigem verlieren. So jedenfalls das Paradigma der modernen Naturwissenschaft, keine Rede dort von Unendlichkeit, nur von super, mega, giga gigantisch großen Zahlen und Dimensionen.

Gemäß besagtem Weltbild ist die Geschichte von allem rasch erzählt, in einer exorbitanten Stauchung erzählter Zeit auf kaum eine Minute Lesezeit: Einst war alles in einem Punkt vereint – die sog. Singularität; dann passierte irgendwas seltsames, es wurde schief und krum, Zeit und Raum begannen – der sog. Urknall; in Raum und Zeit expandierte sodann die zuvor im Knall entstandene Materie, formte sich aus, erkaltete und differenzierte sich aus; bildete daraufhin nach und nach neue Formen, wie Sterne und Planeten, aber auch Schwarze Löcher und Dunkle Materie; brachte nunmehr an freundlichen Orten wie Mutter Erde (und womöglich auch dazwischen) allerlei Leben in seinen abgefahrensten Varianten und Variationen hervor; und schließlich evolutionierte alles Leben und das All expandierte glücklich bis ans Ende seiner Tage, wobei die Debatte über das Ende der Geschichte unter uns Erdenkindern derzeit offen bis kontrovers geführt wird.

Wir Sucher jedenfalls mäßigen uns demütig, werden still vor dem Antlitz des Alls und Angesichts unserer zuvor gegeben, nunmehr klein und irrelevant scheinenden Antwort auf die Frage „Wo?“; wir sind in der gefühlten und ungewissen Unendlichkeit gestrandet, sprechen von Myriaden und messen bei weitem nicht mehr in Metern, sondern in abstrakten, namenlosen Maßeinheiten. Die Äonen aber, die Zeit hingegen blieb stumm und wird das auch bleiben; wo doch schon der Raum uns derart überwältigt, würden die Untiefen der Zeit unseren Horizont wohl endgültig sprengen. Trösten wir uns also mit den warmen Worten vom Beginn, versichern uns somit gleichsam unseres Wertes, verbürgt durch unsere ganz persönliche Singularität; oder einfach dadurch, dass das All schlich unt einfach schön ist. Die Vorstellung zuletzt, dass unsagbar viele Lebewesen überall im All sich gleiche und ähnlich Fragen stellen oder nicht stellen, ist ebenfalls relativierend und kompensierend, Anker und Hafen zugleich.

Was auch immer das Weltall und der Rest im Kern auch sein mögen, gilt: Heilig sind die wortlos Staunenden, seelig noch die, die geflissentlich Gewissheit suchen, verflucht jedoch diejenigen, welche kosmische Wahrheit(en) ihr eigen nennen – ob sie Theologen, Astrologen oder Astronomen sein mögen, den Theos, Logos oder Nomos, also Gott, Sinn oder Gesetz gefunden zu haben glauben! Denn auch wenn mir die Gesetzessuche der Astro-Nomie durchaus sympathisch ist, sich zudem sehr viel mehr Mühe bei der Überzeugungsarbeit seiner Gläubigen gibt und sogar Selbstkritik übt und kultiviert, verbleibe ich in kindlichem Staunen über die große weite Welt des Weltalls – Demut und Maß hin oder her!

In agnostisch-atheologischer Neugier, Euer spätnächtlicher Sternenkucker Satorius