Daily Archives: 7. April 2019

DS-GVO/Fakt gegen QualityLand/Fiktion – 1:0

Faktische Fiktionen und fiktionale Fakten – Gesetze und Geschichten, temporale und kausale Wirrungen: Wie hätte es gewesen sein können, bevor die Welt geendet sein würde, womit sie sich – genug der temporalen Konsequenz – endgültig zwischen Tragödie oder Komödie entscheiden müsste? Aus und vorbei, der Vorhang fällt! Zivilisatorisch eingefärbt landen wir sogleich beim klassischen Gegensatzpaar von Utopie und Dystopie. Synthetisch nunmehr beides vermischend enden wir im konfusen Komplex aus fiktional entwerfender Literatur und faktisch wirksamer Politik, die so abstrakt und kontrastierend betrachtet, einer rationalen wie zugleich regulatorischen Verschränkung von Fakt und Fiktion gleichkommt. Getreu der lateinischen Wurzeln und sprachpragmatischen angepasst, verstehe ich unter „Fakt“ (Ignorierend die schöpferischen und damit eben künstlichen bis künstlerischen Aspekte, wie auch die kulturell bis intersubjektiv und historisch variablen Anteile) eine feststehende Tatsache im Indikativ und unter „Fiktion“ (Ganz davon zu schweigend, dass Geschichte, Politik, Wirtschaft, Lebensvollzug insgesamt womöglich, ziemlich wirklich sind) eine gestaltete Vorstellung im Konjunktiv – „ist und war so“ trifft auf „hätte, wäre, sei, könnte, sollte, dürfte gewesen sein“.

Möglichkeit und Wirklichkeit prallen in diesen Begriffen, wenn man es darauf anlegt, ambivalent und brisant aufeinander. Ein Phänomen, das unter anderen Vorzeichen kürzlich zur zeitgenössisch beliebten Sportart avanciert, weshalb ich mich hier zu Anfang gleich und gänzlich von der infantilen Debatte um rund um Fake!-News?! distanzieren möchte, mir geht es um etwas anderes, etwas konstruktiveres: Konkret trifft mit und in diesem Artikel der durchweg dystopische, durchaus tragisch-komische Entwurf in Romanform, geschrieben von Marc-Uwe Kling, der wortwitzig bis gegenwartskritisch eine Zukunft Deutschtlands als QualityLand porträtiert, also nicht zufällig auf die durchaus alltagswirksame, geradezu aufdringliche EU-Gesetzgebung namens DSGVO = Datenschutzgrundverordnung.

Wodurch die beiden so unterschiedlichen Textformen wesentlich verbunden werden, wird durch den Anfagnsimpuls, einen Passus aus besagtem Roman, zuerst eindrucksvoll veranschaulicht und damit als Thema maximal konkretisiert: Daten und digitales Leben sowie vor allem die Frage nach der persönlichen Kontrolle über beides. Genau diesen Bereich will der zweite Schreibanlass im Rahmen einer europäischen Gesetzgebung nun endlich umfassend regulieren: Datenschutz respektive Datenautonomie.

Nur ein intimier Kenner von Fakten und Fiktionen könnte ohne dieses Vorwort dem Titel dieses Artikels Sinn entlehnen: Was hat ein in die Kritik geratenes, leider nie so recht vollendetes Staatenkonglomerat wie die EU mit einem Roman zu schaffen, gar zu streiten? Gehört nicht überhaupt die Politik ins Reich der Fakten, wohingegen die Literatur klar dem Dunstkreis der Fiktion angehört? Auf den ersten Blick mag das so erscheinen: fragwürdig, konfus; auf den zweiten Gedanken hin wird die innige Verbundenheit beider Begriffe offenbar: Fakten erzwingen neue Fiktionen, Fiktionen formen neue Fakten, ad infinitum.

Derart miteinander vermittelt sind Fakt und Fiktion rasch abstrakt versöhnt und innig verbunden, kommen wir damit nun langsam wieder zurück zum betitelten Wettstreit, dem konkreten Kontext und vor allem dem Gegenstand des Disputs: Eine EU-Gesetzgebung tritt proaktiv gegen eine (nicht nur legislative) BRD-Dystopie an. Bei dieser witzigen, aber wahnsinnig zugespitzten Zukunftfantasie geht es vor allem um den gemeinsamen Gegenstand: Daten und nochmals: Daten.

Gold der Moderne nennen sie manche unserer Zeitgenossen vollmundig; ich nenne sie einfach nur Spuren im Speicher. Dasjenige, was wir hinterlassen, auf unseren digitalen (seltener, aber im überwachten Post-Terror-Westen nicht zu vergessen auch: analogen) Wegen, Umwegen und Abwegen. Individuelle Informationen überall, persönliche Daten zuhauf und diese sind jedenfalls in der anonymen Summe und allenfalls auch individuell einiges wert in einer Welt, wo Werbung  und Wissen, Kommunikation und Isolation, reales und digitales Leben als zuvor klare Gegensätze pragmatisch wie wohl auch ontologisch zunehmend verwischen. Wobei hiermit gleichsam die Begriffe der altvorderen Philosophie an ihre Grenzen kommen.

An den neuen Phänomenen, die munter aus der Weltgeschichte auftauchen, sollt ihr Euch messen, sie erklären, ihr lieben Wissensschaffner und -schaftler, womit der Haufen an mehr oder minder zuständigen Wissenschaften (Philosophie, Psychologie, Soziologie, Kultur- und Medienwissenschaft, Informatik, Ökonomie, etc. pp.) gemeint und zur Erkundung, Beoabachtung, Messung, Modellierung sowie schließlich der Bildung und Integration neuer Theorie aufgefordert sein soll. Ob das unterdessen auf interdisziplinärem Weg oder in Konkurrenz zueinander geschieht, mag ich nicht oraklen. Klar ist hingegen jedenfalls, dass eine adäquate und umfassende Aufarbeitung der zivilisatorischen Geschehnisse seit Erfindung der zuletzt vernetzten (Heim-)Computer im Laufe des 20. und noch verstärkt im 21. Jahrhundert noch aussteht. Auch wenn ich ehrlicherweise schon lange in keiner universitären Bibliothek war und ebenso einen Rechereche-Marathon in der einschlägigen Richtung gescheut habe, entdecke ich bisweilen auf meinen Streifzügen durch die Medienlandschaft zumeist nur partikulare und spezifische Fragen nach Einfluss und Modus von (Informations-)Technik. Heim- und Körpertechnologien prägen den modernen Menschen, zunehmend autonomer verändern Algorithmen die Gesellschaft und schreiben die Geschichte der Menschheit weiter, neu und hoffentlich nicht um

Die Cyborgisierung findet definitiv und unlegbar statt; sie rücken uns auf den Leib, kommen immer näher und werden unsere intimsten Weggefährten, all die tollen Maschinen, Rechner, Geräte und smarten Devices: Das Smartphone ist da, wo sonst nur Eros die Regeln schreibt, in der Hand, am Hintern, nahe am Mund. Die Medizintechnologie, die Alchemie der Pharmakologen und allerlei exotische Abartigkeiten (Mikroplastik, Hormone, Phthalate, etc.) tummeln sich, zumal als uneingeladene Gäste in unserem Organismus. Die hoffentlich meisten Technologien erhalten und erleichtern, verbessern und verlängern unser Leben, manche Innovationen hingegen bewirken Gegenteiliges. Unser Dasein ist unterdessen auf nahezu allen Ebenen des Alltags wenigstens semi-artifiziell geworden. Kulturell und damit künstlich bis technisch werden wir modernen Menschen schon von Kindesbeinen an aufgezogen, wenn selbst schon das ungeborene Kind bereits durch Medizintechnologie in vielfältigster Form bearbeitet, gemessen, diagnostiziert und therapiert oder gar erzeugt wird; aber das ist nur eine mögliche Assoziation als kurzer Spontan-Beleg für diese an sich triviale Behauptung, die wohl vielmehr eine allgemein akzeptierte Beschreibung unserer Lebenswelt sein dürfte

Breiter und etwas tiefer gedacht sind die Wunder und Abgründe der Informationstechnologie in unserem heutigen Alltag nur die Spitzen vieler verborgener, historischer Eisberge, bloß ein neues Kapitel im Buch der menschlichen Zivilisationsgeschichte, nunmehr gespickt mit perfekt animierten Bildern und effektvoll dargestellt mit den subtilsten sowie den krassesten Mitteln. Gleichwohl bleibt die Kulturgeschichte der Technisierung von Leib, Gesellschaft und Alltag, die Umgestaltung der Natur durch die Kultur eine Konstante in der menschlichen Zivilisation. Wobei wir trotzdem von einer qualitativen Konstante sprechen, die aber quantitativ historisch keineswegs immer konstant geblieben ist. Es gab Stillstand und Rückschrittee, aber heute geht es stetig voran, bergauf und dabei ereignet sich alles immer schneller: Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft, Politik beschleunigen, multiplizieren, potenzieren sich. Eine an sich unendliche Welt wird nochmals komplizierter und nicht nur in diesem anthropologisch-epochalen Kontext hängen, hinken Wissenschaftler, Manager, Politiker somit epistemisch wie praktisch, tragisch und unentrinnbar zugleich, dem Sprint der globalisierten Zivilisation hinterher.

Der Künstler hingegen freut sich über diesen Zustand der Überforderung, kommt somit doch der Literatur mit ihren fantastischen Möglichkeiten der Spekulation und Illustration eine Abart von Mitverantwortung dafür zu, zu zeigen, was sein kann, zu verwerfen, was nicht sein soll, zu entwerfen wie es besser, gerechter, schöner sein könnte. Je schneller und heftiger die Zukunft die Gegenwart mit Möglichkeiten bombardiert, desto eher versagen die Mittel und Medien der Vergangenheit von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft.

Das Tagteam macht’s m.E.! Denn im besten Fall vermählen sich Fakt und Fiktion dergestalt, dass viele ausgefeilte Fiktionen späterhin neue Fakten hervorbringen. Denn nur so handelt der Mensch perspektivisch, planvoll und samit politisch, indem er Faktisches beschreibt und modelliert, um daraufhin zu verändern, zu prognostizieren und zu projizieren, zu fantasieren und zu selbsterfüllend zu fabrizieren, sich die (zukünftige) Welt – wie Marx in der Folge Hegels, betonte – durch Arbeit anzueigenen.

Abstraktionsgefahr – STOP! Um also abrupt anzuhalten und da aufzuhören, wo es unschön untief wird, somit einen viel zu komplexe Diskurs gnädig wieder ruhen zu lassen und ihn damit nur insoweit für Euch anzudenken, Euch nur soweit anzuregen wie gerade nötig, komme ich zum Anfang und damit dem Gegenstand des Artikels zurück: Den Effekten und Verwerfungen der allerneusten Heraus- und vielleicht Überforderung des Menschengeschlechts durch seine ungezügelte Technikfreude: Die polternden, allzu neugierigen Geister, die wir gerufen haben und nun nicht mehr gebannt bekommen. Zuallererst denke ich hierbei selbstredend an Facebook, Google, Amazon, Paypal; aber auch DB, Post, AOK, BRD sind nicht ohne; letztlich sind REWE, McDonalds, Aral und selbstverständlich Payback gemeint. Überall werden Daten gesammelt und manipuliert, wobei sich wohl nur die wenigsten von uns sich fürsorglich um ihre diesbezüglichen Daten kümmern, wer verwischt schon seine Spuren gründlich genug, um nicht tagtäglich einem nicht nur hellen, sondern gleichsam grellen Licht in der Infomationsmatrix der Datenströme zu gleichen.

Genau deshalb, zum Schutz der tumben Europäer vor sich selbst und ihren Unternehmen des Vertrauens, hat die auch dafür vielgescholtene EU einen Meilenstein geworfen und reagiert mit politischen Fakten, geschaffen und manifestiert durch die DSGVO, auf all die kritischen Fragen nach dem Datenschutz, wie sie beispielsweise besagte literarische Fiktion namens QualityLand in der Breite, unterhaltsam bis anschaulich stellt. Ob die tatsächlichen Motive der Gesetzgeber tiefer und weiter gehen, zumal die ubiquitäre Videoüberwachung keineswegs direkt davon betroffen zu sein scheint, lasse ich hier ebenso offen, wie ein ausführliches ästhetisches Urteil über die literarische Fiktion, auf die alszweites sogleich die legislativen Fakten folgen.

Ich jedenfalls habe viel gelacht über die Erzählung und fühle mich zunächst sympathisch angesprochen durch die oberflächlich so gut-gemeinte Stoßrichtung des Gesetzestextes. Alles weitere wird uns die Geschichte in Form von Fakten und Fiktionen zukünftig erweisen – Spannung, Spannung, (Kinder-)Überraschung also! Derzeit steht es erstmal 1:0 für den Datenschutz unseres Datenschatzes.

Zukunftszugewandt grüßt Euch, Euer faktisch fiktionenverliebter Satorius


»Herr Arbeitsloser«, sagt Julia Nonne und versucht die Kontrolle über ihre Sendung zurückzugewinnen. »Sie behaupten, Ihr Profil sei falsch. Aber wie kann das sein?«

»Maschinen machen keine Fehler«, sagt Zeppola.

»Ihre Algorithmen«, beginnt Peter, »präsentieren uns Inhalte, basierend auf unseren Interessen.«

»Ja«, sagt der Pressesprecher von TheShop. »Es ist wirklich toll.«

»Was aber, wenn diese angeblichen Interessen gar nicht meine Interessen sind?«

»Natürlich sind das Ihre Interessen«, sagt Charles. »Ihre Interessen wurden durch zuvor aufgerufene Inhalte ermittelt.«

»Zuvor aufgerufene Inhalte, die ich nur deshalb aufgerufen habe, weil sie mir als zu meinen angeblichen Interessen passend vorgeschlagen worden waren.«

»Ja, aber diese Interessen sind doch durch zuvor von Ihnen aufgerufene Inhalte ermittelt worden«, sagt Charles.

»Inhalte, die ich nur deshalb aufgerufen habe, weil …« Peter bricht ab. »Sie nehmen mir die Möglichkeit, mich zu verändern, weil meine Vergangenheit festschreibt, was mir in Zukunft zur Verfügung steht!«

»Ich bin Level 9«, sagt Peter.

»Das tut mir leid für Sie.«

»Ein Nutzloser …«, sagt Charles.

»Ganz genau! Ein Nutzloser, dem nur der Weg eines Nutzlosen angeboten wird. Meine Möglichkeiten gleichen einem Fächer, den sie mit jedem meiner Klicks immer weiter zuklappen, bis ich nur noch in eine Richtung gehen kann. Sie rauben meiner Persönlichkeit alle Ecken und Kanten! Sie nehmen meinem Lebensweg die Abzweigungen!«

»Das haben Sie aber schön auswendig gelernt«, sagt Erik Dentist.

»81,92 Prozent unserer Nutzer treffen ungern große Entscheidungen«, hört man Zeppolas Stimme.

»Aber dass man etwas nur ungern tut«, ruft Peter, »heißt doch nicht, dass man darauf verzichten kann! Ihre Algorithmen schaffen um jeden von uns eine Blase, und in diese Blase pumpen Sie immer mehr vom Gleichen. Sehen Sie darin wirklich kein Problem?«

»Nicht, wenn jeder dadurch bekommt, was er möchte«, sagt Patricia.

»Aber vielleicht möchte ich lieber etwas anderes.«

»Niemand zwingt Sie, unsere Angebote zu nutzen oder sich an unsere Vorschläge zu halten«, sagt Erik.

Peter muss lächeln. »Niemand«, murmelt er. »Genau. Niemand zwingt mich. Ist das nicht so, Zeppola? Niemand zwingt mich.«

Zeppola antwortet nicht. Und Niemand [@Satorius: Sein sog. persönlicher Assistent, eine Art digitaler Freund und Helfer] bleibt stumm.

Peter steht auf. Und plötzlich ist es nicht mehr Kikis Plan, dass er hier ist. Es sind nicht mehr die Gedanken des Alten, die er ausspricht. Es ist sein Plan. Es sind seine Gedanken.

»Schon immer«, sagt er, »haben Menschen dadurch gelernt, und nur dadurch, dass sie mit anderen Meinungen, anderen Ideen, anderen Weltbildern in Kontakt kamen.«

»Worauf wollen Sie hinaus?«, fragt Julia.

»Etwas lernen kann man nur, wenn man auf etwas stößt, was man noch nicht kennt. Das müsste doch selbstverständlich sein! Und jetzt kommen Sie und sagen mir, es ist kein Problem, wenn Menschen nur noch mit ihrer eigenen Meinung bombardiert werden?« Peter wendet sich zum Studiopublikum. »Alles, was jeder von uns hört, ist nur noch ein Echo dessen, was er in die Welt hinausgerufen hat.«

»Schon vor dem Internet«, sagt Erik, »haben die Menschen Medien bevorzugt, die ihre eigene Meinung widerspiegelten.«

»Ja, aber da wussten die Menschen immerhin noch, dass ihnen die Welt durch eine bestimmte Brille präsentiert wurde. Sie aber geben Objektivität vor, wo gar keine ist!«

»Unsere Modelle sind objektiv«, hört man Zeppola sagen. »Kein Mensch macht sich an unseren Zahlen zu schaffen.«

»Pah«, sagt Peter. »Modelle sind auch nur Meinungen, die sich als Mathematik verkleidet haben!«

»Ich verstehe sein Problem einfach nicht«, sagt Patricia. »Wir machen doch nichts Falsches. Wir bringen Körperbewusste mit Körperbewussten zusammen, Gläubige mit Gläubigen, Workaholics mit Workaholics …«

»Und Rassisten mit Rassisten!«, ruft Peter.

»Ja und? Auch Rassisten brauchen Liebe! Wahrscheinlich brauchen sogar gerade Rassisten Liebe.«

»Wow. Mir wird ganz warm ums Herz. Zum Glück gibt es Ihre Unternehmen. Sonst wäre es für Rassisten sicherlich viel schwieriger, sich zu befreunden und zu vernetzen.«

»Jeder braucht Freunde«, sagt Patricia.

»Und Ihre Algorithmen tragen netterweise sogar noch dafür Sorge, dass das Weltbild dieser Rassisten nicht mehr in Frage gestellt wird! Vielmehr wird es konstant bestätigt. Zum Beispiel durch zu rassistischen Interessen passender Nachrichtenselektion.«

»Wir sind kein Medienunternehmen«, wirft Erik ein. »Für die Nachrichten können Sie uns nicht verantwortlich machen!«

»Durch Empfehlungen für patriotische Musik oder Filme«, fährt Peter fort. »Sogar durch Produktvorschläge! Kunden, die diesen Baseballschläger gekauft haben, kauften auch diesen Brandbeschleuniger! Ihre Personalisierungs-Algorithmen verpassen jedem eine Gehirnwäsche durch eine ungesunde Dosis seiner eigenen Meinung!«

»Das ist Ihre Meinung«, sagt Patricia.

»Zudem glauben die Bewohner dieser Meinungsinseln irrigerweise, dass ihre Meinung der Meinung der Mehrheit entspricht, weil ja alle, die sie kennen, so denken! Also ist es auch okay, Hasskommentare zu schreiben, weil ja alle, die sie kennen, Hasskommentare schreiben. Und es ist okay, Ausländer zu verprügeln, weil alle, die sie kennen, davon reden, Ausländer verprügeln zu wollen.«

Patricia Teamleiterin lacht. »Das ist jetzt aber alles sehr hypothetisch.«

»Hypothetisch?«, fragt Peter. »In Ihrer Filterblase geht es anscheinend nur um Einhörner, Regenbögen und Katzenfotos!«

»Was haben Sie denn gegen Katzenfotos?«, fragt Patricia pikiert. Auch Teile des Publikums sind empört.

»Was verlangen Sie eigentlich?«, fragt Erik. »Haben Sie eine Idee, was passieren würde, wenn wir die Algorithmen abschalten? Das totale Chaos wäre die Folge. Es gibt so viel Content. Kein Mensch ist fähig, diese Masse zu überschauen.«

»Ich verlange nicht, dass Sie alles abschalten«, sagt Peter. »Aber Sie sollten uns Kontrollmöglichkeiten geben! Ich will, dass ich die Algorithmen steuere, und nicht, dass die Algorithmen mich steuern! Ich will mein Profil einsehen können, und ich will es korrigieren können. Ich will nachvollziehen können, was mir warum vorgeschlagen oder vorenthalten wird.«

»Das ist unmöglich«, sagt Zeppola. »Der Aufbau unserer Algorithmen ist ein Geschäftsgeheimnis.«

»Na klar, wie praktisch.«

»Unsere Produkte …«, beginnt Erik.

»Ich!«, ruft Peter aufgebracht. »Ich bin Ihr Produkt!«

»Sie – sind unser Kunde«, sagt Erik.

»Nein«, sagt Peter. »Ihre Kunden sind die Konzerne, die Versicherungen, die Parteien, die Lobbygruppen, an die Sie meine Aufmerksamkeit und meine Daten verscherbeln. Ich bin nicht Ihr Kunde. Ich bin nur das Produkt, mit dessen Verkauf Sie Ihr Geld verdienen! Es wäre ja alles nur halb so schlimm, wenn ich tatsächlich Ihr Kunde sein dürfte. Es wird Zeit, dass Sie sich eingestehen, dass Ihre Jagd nach immer noch mehr Werbeeinnahmen längst das ganze Netz vergiftet hat! Ihre Art von gratis kommt uns alle teuer zu stehen!«

»Ich bin mir sicher«, sagt Patricia, »dass die meisten Menschen froh darüber sind, unsere Services kostenlos …«

»Ich will mein Profil löschen können, wenn es mir beliebt!«, wirft Peter ein. »Das ist mein Leben. Meine Daten! Sie haben kein Recht daran.«

»Das ist nicht korrekt«, sagt Zeppola. »Die Verordnung 65 536 – mit absoluter Mehrheit vom Parlament bestätigt – gibt uns sehr wohl das Recht an deinen Daten. Schließlich haben wir sie gesammelt. Nicht du.«

»Das ist doch alles Quatsch hier«, ruft Charles Designer. »Der Typ hat ja noch nicht mal einen Beweis vorgelegt, dass sein Profil tatsächlich nicht stimmt!«

Peter holt einen rosafarbenen Vibrator in Delfinform aus seinem Rucksack und knallt ihn auf den Tisch.

Marc-Uwe Kling (1982 – ), QualityLand (2017; Die Beschwerde)


Datenschutz-Prinzipien der DSGVO

  1. Verarbeitung „nach Treu und Glauben“
    Anders formuliert: Handeln Sie nach gesundem Menschenverstand. Jemand anderes sollte nachvollziehen können, warum Sie unter den gegebenen Umständen so gehandelt haben. Fragen Sie sich, ob jemand anderes ihr Handeln als zuverlässig, aufrichtig und rücksichtsvoll beschreiben würde.
  2. Transparenz
    Handeln Sie nicht heimlich und ohne Wissen derjenigen, deren Daten Sie verarbeiten. Ihre Datenschutzerklärung muss klar darlegen, wie und zu welchem Zweck Ihr Unternehmen Daten verarbeitet.
  3. Zweckbindung
    Sie dürfen personenbezogene Daten nur für klar und eindeutig festgelegte, legitime Zwecke erheben – das heißt nicht „auf Vorrat“, frei nach dem Motto „falls wir sie irgendwann mal brauchen“.
  4. Datenminimierung
    Grundsätzlich sollten Sie möglichst wenig personenbezogene Daten sammeln, also nur genau in dem Umfang, der notwendig ist, um sie zweckgemäß zu verarbeiten.
  5. Richtigkeit
    Personenbezogene Daten sollten sachlich richtig und ggf. aktuell sein. Wenn Sie wissen, dass bestimmte personenbezogene Daten falsch oder nicht mehr aktuell sind, sind Sie verpflichtet, diese unverzüglich zu korrigieren oder zu löschen.
  6. Speicherbegrenzung
    Personenbezogene Daten müssen so gespeichert werden, dass die betroffene Person nur solange mittels dieser Daten identifiziert werden kann, wie nötig. Das heißt, nur solange diese Daten wirklich gebraucht werden.
  7. Integrität und Vertraulichkeit
    Personenbezogene Daten müssen sicher gespeichert werden. Das bedeutet zum Beispiel, dass nur diejenigen Zugriff auf sie erhalten, die diesen Zugriff wirklich benötigen. Darüber hinaus muss sichergestellt sein, dass keine Daten verloren gehen oder aus Versehen weitergegeben werden. Ihr Unternehmen ist in der Pflicht, geeignete Vorkehrungen zu treffen, um dies zu verhindern.
  8. Rechenschaftspflicht
    Ihr Unternehmen ist nicht bloß zur Einhaltung dieser Grundsätze verpflichtet. Sie müssen auch jederzeit gegenüber Kunden, Behörden und Mitarbeitern nachweisen können, dass Sie diese Grundsätze einhalten.

Die Europäische Union (1951 – ), VERORDNUNG (EU) 2016/679 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung; Direktlink zum offiziellen Dokument)

Wochenendlektüren Nr.3 – XS1: S. 11-15/~53 [Update 2.3]

Heute betone ich mit der Veröffentlichung der dritten Wochenendlektüren die dritte Silbe des Wortes: „END“. Während sich das Ende der Woche dem Ende zuneigt, übergebe ich Euch die nächsten fünf Seiten von Xavers Geschichte; ich übereigne Euch damit meine fantastischen Worte und überlasse es eurer Fantasie der Welt Farbe, Weite und Tiefe zu verleihen.

Noch jedoch bleibt alles weiterhin recht rational und abstrakt, denn er ist mental reichlich verstiegen, lebt nur in seinem Kopf, der derzeit so verbuggte Cyborg. Dessen Leben ist kürzlich genug mit dem Motiv „Ende“ penetriert worden und wird es weiterhin werden. Bald, aber noch nicht sofort, kommt sogar die Stunde der Wahrheit, nach der höchst plastischen Innenwelt kommt die Außenwelt erstmalig zur Erscheinung. Bis dahin bleibt das Buch erzählperspektivisch im Kopf des Neumenschen und manifestiert sich beim Lesen des folgenen Texthappen in unserem Kopf, denkt, berichtet, kommentiert und reflektiert durch uns. Aber genug ge…

Kurz und knapp, ohne allzuviel Schnick-Schnack und Papperlapapp, Euer Satorius


(…) 1. Zugang XS – Schwere Ausnahmefehler im System

Es hatte ja schon zuvor kaum leistungsfähigere Augmentate gegeben, aber dieser Tage waren seine perfekt gewarteten, optimal kalibrierten und ideal integrierten a.u.-Augmentate eine absolute Ausnahmeerscheinung. Auf diesem technischen Faktum hatte er sich, wie er nun schmerzlich erfahren hatte, zu lange ausgeruht. Sein – nunmehr: ehemaliger – Arbeitgeber war die academia universalis oder kurz a.u., ausgedrückt als Punkt-Akronym, wie man es dort liebvoll zelebrierte und übertrieben kultivierte. Die Institution solaren Ranges war gleichermaßen seine technologische Amme wie Ort seiner privaten und professionellen Vergangenheit. In Relation zu ihrer Macht und den anderen relevanten Gruppierungen war die a.u. erstaunlich unbeschadet aus den Wirren der jüngeren Historie hervorgegangen. Trotz des Technologiesterbens verfügte man dort über einen beträchtlichen Anteil am verbliebenen Bruchteil intakter Alttechnologie und hatte überdies große Fortschritte in der Wiederaneignung des früheren Technologieniveaus erzielt. Eine trotz aller Verschleierungsversuche und vormaliger Diskretion leider weithin bekannt gewordene Tatsache, die dementsprechend häufig Anlass für Gerüchte und Argwohn gab. Auf diesem Boden wuchsen die Theorien nicht nur in der Verschwörungsszene seit Langem wild, wucherten und trieben alsbald prächtige Blüten: Von offener und verdeckter Bewusstseinskontrolle war die Rede, dabei fantasielos, manipulierte Augmentate und Daten verdächtigend, bis kreativ, eine gezielte Veränderung des Mikrobioms oder Hirnphysiologie vermutend. Von Supersoldaten, Mutanten, Klonwesen und Cyber-Magiern wurde ebenso gemunkelt, wie Außerirdische und mächtige KI’s zu den Kunden der a.u. gezählt wurden. Das Meiste davon war Spinnerei, wie Xaver trotz seiner lediglich mittleren Sicherheitsfreigabe zu wissen vermeinte, nur das Wenigste annäherungsweise zutreffend, zumal unter sachlichen und damit unspektakulären Nomen. So war er selbst lebender Beweis in Richtung KI und Cyber-Magier, würde er als Augmentat-Träger der 6. Generation im 67. Rang doch allen Menschen und sogar vielen Neumenschen als wunderliches Meisterwerk erscheinen, wenn sie seiner zunächst unsichtbaren Fähigkeiten und Fertigkeiten denn je ansichtig wurden, was recht selten geschah. Wer bei der academia tätig war, lebte zurückgezogen und arbeitete in der Stille, an vielen versteckten und wenigen öffentlichen Orten überall im Sonnensystem, auf und unter der Erde.

Aber er war raus! Trotz aller technischen Perfektion war er in Ungnade gefallen, war ihm zuletzt gekündigt und er damit fast zeitgleich aus seinem Exil geworfen worden. Garret und Aurelia, seine Mentoren und Vorgesetzten hatten bisher nicht mal den Schneid und den Anstand gehabt, sich ihm zu erklären oder auch nur irgendwie persönlich von ihm zu verabschieden; allzu viel zu erklären, zu begründen gab es leider ehrlicherweise nicht, denn er war schuldig, war sehenden, suchenden Auges auf dem schmalen Grat zwischen Kündigung und weiterer Duldung seiner Allüren entlang getanzt. Er tat soeben, was er tun musste; arbeitete aber ohne Ambition und Innovation, zumeist jenseits der gesetzten Fristen und diesseits des regulären Tagesarbeitspensums. Liederlichkeit, Ineffizienz und Perspektivlosigkeit wurden ihm primär zum Vorwurf gemacht. Und er hat es gehört, genickt und nicht gehandelt. Mahnung nach Mahnung war ergangen und dann kam die Kündigung.

Wie wohl sein neuer Arbeitgeber technologisch im Detail ausgestattet sein würde? Darüber hatte er sich, die allgemeinen Angaben in den diversen Ausschreibungen hin oder her, schon vielfach Gedanken gemacht, sich die Hardware in hellen und hellsten Farben ausgemalt; wobei ihm hierbei wirklich nur der spekulative Modus faktenbasierter Fiktion als Heuristik übrigblieb, da die notwendigen Fakten allesamt Informationen von strategischem Wert waren und damit in Krisen- und Kriegszeiten streng geheimgehalten wurden. Er konnte somit nur auf Basis minimaler Datenbestände extrapolieren, was zwangsläufig eine heftige Varianz der Prognostik und ihrer Qualität bedeutete. Zugegeben, er war also, was selten genug vorkam, im Unklaren über die nahe Zukunft, war deshalb gespannt, geradezu nervös. Denn er sah einer unsicheren Zeit entgegen und wurde wirklich wie real herausgefordert. Vielleicht, so dachte er nun wieder munter weiter – trotz aller neuen Freiheiten zum Pessimismus ganz gemäß augmentaler Direktive manisch-positiv gefärbt – würde er irgendwann, viel später und viel weiter hinten auf dem gerade erst eingeschlagenen Weg sogar zum intimen Vertrauten eines seiner wahrscheinlich später nicht unbedeutenden Schüler avancieren; konnte so womöglich selbst Einfluss auf die solare Politik und die Geschichte der solaren Menschheit nehmen. Wenigstens, so beschied er sich nun doch nüchterner, würde er hinsichtlich der Grundbedürfnisse absolut autonom leben können. Außerdem, Macht interessierte ihn nicht mehr, weder als Mittel, noch als Zweck oder Zustand; das war lange vorbei und er hatte damals bei den Lektionen und Simulationen, wie Macht zu generieren, zu konsolidieren und zu instrumentalisieren wäre, immerhin schlimmstenfalls lediglich hyperreales Leid verursacht, tragisch im direkten Erleben, ja, aber trotz allem am Ende und rückblickend nur fiktional, simuliert, nicht faktisch und fatal – reversibel und irreal. In die Geschichtsschreibung würde er sich also hoffentlich nicht verstricken und verwickeln lassen – da wollte er ganz treuer Neo-Epikureer sein, Suchtproblem hin oder her, seine Devise lautete: Genieße dein Leben und lebe im Verborgenen! Soweit seine Prinzipien und Visionen für die nächsten Kapitel seiner Lebensgeschichte. Dass deren Erzähltempo sich derzeit merklich zu erhöhen anschickte, wollte ihm weiterhin nicht so recht gefallen. Er mochte es gelassen und gemütlich, behaglich und berechenbar, nicht hastig und heftig. Er sollte entschleunigen, Zeit und Kraft tanken.

Ergo meditierte er, mündete sein Denken in eine kurze mentale Stille; sein Bewusstsein zentrierte sich; er begab sich dergestalt ins natürliche Auge des technologischen Sturms: Das All in sich spüren, den Atem wahrnehmen und lenken, Brahma entdecken, nichts denken und alles achtsam in sich aufnehmen, in sich vertiefen und sich auflösen. Soweit die Ideale, und der Versuch ihrer praktischen Umsetzung war immerhin zweckmäßiger, als weiter nutzlos daherzudenken und dabei simulativ seit Langem gelöste Probleme, weit vor deren Umsetzung und vor allem ohne neue Information, abermals hin und her zu wälzen, nochmals zu grübeln und letztlich womöglich sogar noch zu hadern.

Zeit verging; aber aus dem minimalen Keim des Zweifels erwuchsen schon bald bittere Früchte. Tropisch überhitzt kehrte er ins wilde Denken zurück, zerbrach damit seinen Fokus, trübte die Klarheit des Geistes; fürchtete sodann den nächsten Übergriff seiner krisengeschüttelten, fehlergeplagten Körpermaschine; wappnete sich daraufhin gegen ihren nächsten Angriff auf seinen fragilen Geist. Also flüchtete er, nicht in die Stille, sondern ins Getöse, konsequent und kompromisslos nochmals ins Reich der rasanten Reflexion: Sie waren weg, alle Sieben, und er darüber und anschließend von sich selbst ambivalent überrascht. Am Ende vermisste er sie sogar irgendwie mehr, trotz allem, als er sich das vorzustellen gewagt hatte. Frei zu sein, Freiheit zu haben, konnte eben auch Einsamkeit und Unsicherheit bedeuten; Unabhängigkeit in extremer, radikaler Form konnte Fluch statt Segen sein. Ohne seine technologische Assistenz, bar der meisten augmentalen und aller hyperrealen Optionen war er der Welt, der Physis und Aspekten seiner Psyche hilflos ausgeliefert; war frei von Technik und doch zugleich auch unfrei zu vielem, was er sonst wollte und üblicherweise konnte. Denn gerade jetzt, weiterhin, dachte es sich insbesondere ohne die Einflüsse und Einflüsterungen der sieben KI-Module entsetzlich anders, so eindimensional und monologisch, wirr und beliebig, zum Teil düster und dunkel, bildreich und netzartig, quer durch die Zeit und dem Zufall ausgeliefert. Sein Denken war tierischer und wilder, willkürlicher und spontaner geworden; geschah gleichsam in einer durchaus kreativen Reihe von Assoziationen; konkludierte wenig bis überhaupt nicht, kam aber pragmatisch, wenn auch auf mystischen, okkulten Pfaden zu analogen Schlüssen; alles insgesamt aber, seine Existenz, sein Dasein geschah entschieden strukturloser, war weniger objektiv und operant, valide und reliabel; er dachte krumm, ineffektiv und undifferenziert. Noch ertrug er es, dachte nebenbei tröstlich: Halb so wild, zur Not konnte er auf klassische Formen der Weltflucht zurückgreifen, ob wieder Meditation mit Brahma oder eventuell irgendeine Gebetsliturgie mit Allah, Manitu, Enki oder gar Gott höchstselbst, die Möglichkeiten waren Legion und er konnte improvisieren. Bald jedenfalls würde dieser Zustand überstanden sein, bald – spätestens in gut zwei Stunden, sofern er in Sachen Normalzeit noch leidlich korrekt orientiert war.

Wenig überraschend hinterließ die mehrfach, ja, simulativ sogar milliardenfach analysierte Thematik derzeit dezidiert eine andere neuronale Spur in den Windungen der betroffenen Hirnareale, wirkte irgendwo in den Untiefen seines Neokortex irgendwie andersartig. Für diese banale Bestandsaufnahme brauchte er keinerlei präzise Echtzeit-Hirnanalyse, auch keine sonst wie schlagende empirische Evidenz, er gewahrte den psychischen Prozess intuitiv, induzierte aus seinem nervlichen Nachhall retrospektiv das, was deduktiv sein über Dekaden gewachsener Wissenskomplex samt Spürsinn für psychische wie mentaltechnische Vorgänge und ihre zeroplastischen Resultate ihm diktierte. Auch wenn die meisten seiner Gedankengänge in ihrer zuvor und weiterhin realisierten Form minimal als Übertreibungen und maximal als Hirngespinste gelten mussten, blieb trotz aller Technikfreiheit die logische Folgerung am Ende des Denkweges gleich; auch ohne luzide Abwägung aller Parameter und bar der Kenntnis von Wahrscheinlichkeiten stand auch nach dem Gedankenspiel auf diesem lästigen Flug die Konklusion weiterhin felsenfest: Falls seine Zweck-Utopie fast-m.a. im großen Wirtschaftswunderland, als welche er sie nun wiederum entlarvt hatte, nicht realisiert werden konnten, wurde dennoch beinahe jede Tätigkeit in der grob anvisierten Branche astronomisch hoch honoriert. Durch eine derartig üppige monetäre Kompensation würde er gewiss darüber hinweggetröstet, kein gutväterlicher Marionettenspieler im Dienste von Humanismus, solarem Frieden und der Rückkehr der Menschheit auf den Pfad von Fortschritt und Gerechtigkeit sein zu dürfen. Zumal er durch die gesamte Aktion, sollte sie auch nur im Ansatz glücken, ganz nebenbei ein sicheres, voraussichtlich sogar herrschaftliches Dach über seinen derzeit faktisch obdachlosen Kopf bekommen konnte. Das war derzeit eine von drei absoluten Prioritäten. Was wollte, wünschte er also mehr; bei seiner Vita war selbst das wahrscheinlich erreichbare Minimum weit mehr, als er zuvor im hyperrealen Traum, im Tran auf Luna je für möglich gehalten hatte. Denn die Privatwirtschaft war ihm bis vor wenigen Tagen niemals als eine nötige Alternative, noch gar je als die derart reizvolle Perspektive erschienen, die sie nunmehr geworden war; hatte werden müssen – nach dem überfälligen Rauswurf aus der Akademie.

Eine Kündigung kam dieser Tage, zumal in seiner speziellen Situation, einer Apokalypse gleich, machte zwar manches möglich, vor allem jedoch machte sie noch viel mehr nötig. Gleich einem kalten Neustart mit anschließendem Betrieb auf Notstrom, ob infolge eines EMP-Angriffs, Bugs oder einer Beschädigung, war der Absturz gleichsam gnädig und gewaltsam – nur das in seinem Fall eben niemand da war, um das Notstromaggregat zu stellen, zu versorgen und zu warten; geschweige denn die daran angeschlossenen Gerätschaften funktional zu halten. Wie alle Menschen musste er essen und vor allem trinken. Im Gegensatz zu der Masse an Puristen verbrauchte er jedoch ungeheure Mengen an Energie: Über die üblichen 2.500 Kilokalorien hinaus verbrauchte er noch durchschnittlich gut 6.000 zusätzlich, um die notwendigen rund 300 Watt Leistung pro Stunde für seine diversen Augmentate zu generieren und so ihre reibungslose Stromversorgung zu gewährleisten – so viel konnte und wollte niemand essen. Also bedurfte er neben der chemisch-biologischen Energieerzeugung zusätzlich einer elektrischen Stromquelle, um regelmäßig seine Speicher kabelgebundenen wieder voll aufzuladen; das war zwar nicht täglich, aber auch mit radikalen Einsparungen wenigstens wöchentlich notwendig. Zudem musste der technische Teil seines Leibes von Zeit zu Zeit gewartet sowie, wenn und wo nötig, repariert werden, wofür seltene Materialien, Ersatzteile und Verbrauchsstoffen von Nöten waren. Ihm gingen alles in allem also die lebensnotwendigen Ressourcen aus, zu rasch, denn ein Neumensch zu sein und auf längere Sicht auch zu bleiben, war sehr teuer und ziemlich aufwändig. Gewisse Kompromisse waren möglich, aber große Teile seiner Körperprozesse funktionierten nur noch mit augmentaler Assistenz, hatten sich der autarken Homöostase lange entwöhnt. Bisher wie selbstverständlich von der a.u. gewährleistet, war dieser Zustand des drohenden Mangels mitten in seine heitere Hyperrealität hereingebrochen. Bei der Abreise aus der Enklave hatte er zwar ein paar Vorräte erhalten, welche jedoch arg knapp kalkuliert waren. Trotz des morgigen, durch geringe Geldmittel leider limitierten Rastens in Frankfurt war ihm minutiös von Gougol, hoFFmaNN und Brigitte durchgerechnet worden, dass die Versorgungsgüter nur mit moderater Rationierung bis zum Zielort seiner Reise ausreichen würden. Erst dort, im Haus seines potentiell ersten privaten Kunden und damit Arbeitgebers, tief im Süden der nahegelegenen, aber aktuell nicht direkt erreichbaren Metropolregion Nordrheinland gelegen, würde er, so denn Glück und Geschick mit ihm waren, wieder eine Rundumversorgung erhalten. Er, der Neumensch, war damit zeitgleich mächtiger und ohnmächtiger, weil bedürftiger als die wenig oder überhaupt nicht augmentierte Mehrheit seiner Mitmenschen; große Kraft verursachte große Kosten. Nach der Kündigung war er nun definitiv arbeitslos und in wenigen Wochen eventuell auch noch mittel- und ressourcenlos.

Unversehens war er deshalb vor fünf Aktuell-Tagen, kurz nach Tagesbeginn aufgebrochen und hatte nach einer langen Nacht des hyperrealen Grübelns und Entwerfens einen neuen Lebensweg eingeschlagen. Dieser für ihn so erschütternde Tag hieß gemäß der Terminologie des in der a.u. weiterhin gebräuchlichen Solarions, je nach Geschmack frei wählbar, entweder numerisch-prägnant 64.01.133 oder kulturgeschichtlich-ausführlich Saturn/EU/Tradition/133; ein Datum allenfalls, das Xaver zeitlebens unangenehm in Erinnerung behalten würde, wenn er die korrespondierenden Daten nicht schlicht löschte, genauer gesprochen die verteilten Aktivitätsmuster neuronaler Erinnerungsnetze nicht nivellierte. Noch nachhaltig geschockt von der heftigen Nachricht, dem ultimativen Rauswurf mit einer Vollzugsfrist von nur einem läppischen Tag, war damals die an- und abschließende Abreise nur dank augmentaler Unterstützung relativ reibungslos verlaufen. Xaya, Matrina sowie hoFFmaNN, Brigitte war selbstredend federführend involviert gewesen, wurde aber ignoriert, hatten ihm mit ihren Fähigkeiten und Eigenschaften umfassend assistiert; wobei ihn seine drei anderen Begleiter, Aristokraton, Friederich und Gougol in jener Ausnahmesituation nur mäßig hatten unterstützen können.