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Wochenendlektüren Nr.6 – YY1: S. 2-5/~34 [Version 1.2]

Pflicht oder Lust, was sollte das Schreiben, ja mehr noch, das Leben anleiten? Ist eine Handlung authentischer, womöglich sogar moralischer, die aus positiver Neigung alá „Ja, darauf habe ich richtig Bock!“ getan wird oder eher diejenige, welche innerhalb eines vernünftigen Wertesystems erwogen und abschließend pflichtbewusst getroffen wird, wenn nötig im Unterschied zu erstgenanntem Hedonismus auch negativ alá „Wäre zwar geil, ist aber unklug oder gar ungerecht – also: Nein!“ bzw. „Eigentlich keine Lust, aber muss halt, deshalb: Ja!“?

Dieser Fragekomplex klingt nicht nur groß, er ist philosophiegeschichtlich epochal und auch psychologisch noch unabgeschlossen, wenn nicht unabschließbar. Ich komme darauf und drehe mich darum, weil ich in puncto Blog für sich und Schreiben an sich häufig zu trägem Hedonismus neige. Hierbei und ganz im Gegensatz zu anderen Bereichen des Lebens, die weniger ästhetisch und fakultativ sind, vermag ich kaum eine Pflichtethik anzuerkennen und anzuwenden. Warum auch, geht es hierbei, hierin doch weder um den potentiell leidenden Anderen, das größere Glück des Kollektivs oder um Fortschritt und Perfektion …

Und schon beginne ich meine zuerst so klare Trennung zwischen Lust und Kunst auf der einen sowie Ernst und ökonomischer Politik auf der anderen Seite des ethischen Terrains anzuzweifeln. Wahrscheinlich zurecht, ist doch ein naiver Hedonismus selten ein guter, weil erfolgreicher Lebensberater – trotzdem, begehre ich sodann wieder auf und beharre zuletzt: Ich schreibe nur, wenn ich Zeit und Lust, Muße und Muse habe.

Jetzt ist ein solcher Moment, heute ein solcher Tag. Also macht euch auf ein paar frische Inhalte gefasst. Den Anfang macht altbewährtes und neu überarbeitetes Material vom literarischen Dilettanten in mir. Es geht dabei heute zunächst weiter mit Yin & Yang (YY) in der zukünftigen Sklavenhalterstadt Gor Thaunus; währendessen wartet Xaver S. (XS) weiterhin im Erdorbit auf seine Landung und damit Fortsetzung; Alice Aqanda (AA) harrt gelassen im Grünen ihrer lange überfälligen Aktualisierung; von der noch ausstehenden Bekanntschaft mit Kjotho (KJ), dem tierischen Trio Trudie, Valerian und Balthazar (TVB), den Psychedeelern (PD) und dem noch namenlosen Vektoren (V8) nicht ganz konsequent geschwiegen.

In dieser Richtung kann also, das wollte ich oben just mal angedeutet haben, noch viel passieren; weswegen das Format Originale und die verbundenen Formate und Themen im Gegensatz zu manch anderem Aspekt von Quanzland und trotz aller hedonistischen Latenz und Leere eine rosige Zukunft haben. Am schlimmsten steht es dabei derweil um die „Kulinarik“ und die „Wilden Trips“ – erstere siecht modrig dahin, zweitere warten weiterhin auf Wachstum.

Nun also zum nächsten Streich, der mit Lust geführt und mit Grüßen komplettiert wird, Euer Satorius


1. Zugang YY – Gor(e)

Mit Yang ist heute kaum was anzufangen, der döst schon eine ganze Weile nur so vor sich hin oder tut jedenfalls erfolgreich so als ob – vielleicht nur, um mir im richtigen Moment dazwischenfunken und damit die Show stehlen zu können. Ich kenne mein Bruderherz nur zu gut, aber hier gibt es erstmal nichts zu stehlen. Mit meiner Eröffnung will ich auch üben, so cool, schlagfertig und selbstsicher zu wirken, wie er es ist und ich es nicht wirklich bin. Wie auch, in die Rolle einer Sache gezwungen, bloßes Eigentum, ist sowas wie echtes Selbstbewusstsein ein krasses Kunststück. Erst recht fällt es mir heute Abend schwer, eine Stunde nach dem Ende meiner erst achten Tagschicht in allerhöchstem Hause. Nach der ersten Woche in meiner neuen Funktion als Hausdienerin bin ich offen gestanden reichlich daneben, ziemlich übellaunig und noch fertiger mit der Außenwelt als schon zuvor – weit mehr und auf eine andere Art, als ich anfangs gedacht habe. Ich komme mir klein und wertlos vor, nichtig.

Außerdem sind die erbärmlichen Gestalten dort drüben kein allzu geiles Publikum für meine Ego-Show. Wenn sie mich überhaupt verstehen können, stutze ich, weil mir erst jetzt klar wird, dass hier keinesfalls jeder die Sprache der Gründer – Deutsch – spricht. Vielleicht sprechen sie Neolatein, Englisch oder sogar Solar, wobei all die anderen alten Sprachen und besonders die frühere Einheitssprache hier strikt verboten sind. Da ich keine weitere Runde Regelsurfing starten will und das Glückspiel Welche Sprache ist die richtige? einer bescheuerten Lotterie gleichkommt, bleibe ich still. Dank meines früheren Lebens spreche ich immerhin einige Sprachen, zumindest oberflächlich. Doch gibt es neuerlich wieder so viele verschiedene Sprachen, denn jeder popelige Zwergstaat will seine eigene haben. Auch wenn Deutsch die gängige Sprache in Gor und Umgebung ist, wer weiß schon, von woher die vier Typen gekommen sind. Die Fluchtwege sind bekanntlich lang und haben solares Ausmaß – fast jeder will auf die Erde zurück und dort in einer der Lebenszonen unterkommen. Wir sind zwar nur ein kleiner Vorposten irgendwo in der Wildnis, liegen aber so nahe an einer der Großen Sieben, dass hier reger Durchgangsverkehr herrscht. Auch hätten die verdammten Jägertrupps ihre Reviere mittlerweile weit nach Westen, sogar bis jenseits des Rheins ausgedehnt, so munkelt es zumindest die brühwarme Gerüchteküche in der Glasstadt, und zwar strikt auf Deutsch. Hunger drängt sich abermals auf, mein Magen knurrt vernehmlich.

Woran es auch immer liegen mag, verdränge ich meinen Körper nochmals, ob sie mich nicht verstehen können, anderweitig kaputt oder sonst irgendwie daneben sind, ich ernte weiterhin keine Reaktion auf meine tolle Ansprache. Nicht Mal die kleinste Regung dort drüben, überhaupt gar nichts. Wie die vier Gestalten in ihren sichtlich versifften Klamotten da herumlungern, gilt es hier wirklich weder jemanden zu beeindrucken, noch gibt es irgendwas zu gewinnen. Inzwischen verharren sie seit über fünf Minuten unbewegt im Eingangsbereich unseres Lagers, nachdem sich zuvor das schwere Panzertor mit einem unheilvollen Krachen fest und unwiderruflich hinter ihnen verschlossen hat. Davor war es wie immer geräuschvoll aber träge zur Seite und ebenso auch wieder zugeglitten, minutenlang in gähnender Langsamkeit und mit einem widerwärtigen Knarzen und Knirschen – nervig und spannend. Irgendeiner von den ach so tollen BeatBoyz musste zuvor also wenigstens so viel Aufmerksamkeit aufgebracht haben, das Tor zu öffnen und sie damit zu uns reinzulassen. Einfach mal so, frei nach dem Motto: Scheiß auf die Sicherheit der Wertlosen. Unsere Sicherheit bedeutet ihnen kaum etwas – das ist echt typisch. Den Rest der üblichen Prozedur, die man gelegentlich sogar mal miterleben darf, scheint man in der aktuellen Schicht kurzerhand und bequemerweise vergessen zu haben. Das ist so bezeichnend für das verstrahlte Pack.

Ich beginne nochmals herumzuspinnen, mache mir wieder allerlei Sorgen: Wer weiß schon, was die Neulinge uns hier gerade einschleppen. Myrte aus Kuppel 67 hat mir heute Morgen erst wieder grausige Gerüchte über die angeblich gebrochene Kontaminationsgrenze nicht weit im Westen direkt am Mittelrhein erzählt. Seitdem wären die bisher schon lebensgefährlichen Todeszonen noch tödlichere Orte geworden – wenn das halt stimmt, was sie berichtet hat. Es klang schon hart übertrieben und unglaublich. Yang hält Myrte, wie viele andere auch, für eine Spinnerin. Solche Gerüchte sind für ihn nur hysterisches Geschwätz von Dummköpfen oder sogar schlimmstenfalls konterrevolutionäre Propaganda.

Dass mein Bruder derartig abstrakte Idee denken und solch heftige Worte aussprechen kann, verblüfft mich immer wieder aufs Neue. Seit er mit den selbsternannten Marxisten abhängt, überrascht er mich häufiger mit schrägen Idee aus der europäischen Vorgeschichte, die aber meist gar nicht mal so daneben sind. Dabei bin ich von uns beiden für Denken und Wissen zuständig und er, ja er, ist eher praktisch veranlagt – ein kleines, halbstarkes Männchen eben. Wow, denke ich selbstzufrieden, meine Überheblichkeit fühlt sich gut an, wäre das doch nur immer so.

Wahrscheinlich träumt mein starkes Brüderchen gerade von einem weiteren, nutzlosen Aufstand der Sklaven. Diktatur des Proletariats, wie es seine neuen Freunde nennen müssten, wenn sie mehr als nur den Namen Marx und ein paar Schlagworte irgendwo aufgeschnappt hätten. Ich kenne diese Leute in Wirklichkeit überhaupt nicht persönlich, sehe sie nur aus der Ferne und höre von ihnen aus Yangs Erzählungen. Nachdem er vor ein paar Monaten in den Minen angefangen hatte, lernte er in seiner Schicht zwei Typen – Mike und Bob – kennen und fing an, mit ihnen und ihrer Clique abzuhängen. Wie auch immer man sich freiwillig für so bescheuerte Namen entscheiden kann, ist mir rätselhaft, wo doch die Wahl des Namens eine der wenigen Freiheiten ist, die wir Sklaven hier haben. Nach allem, was ich bisher mitbekommen habe, traue ich diesen Pseudorevolutionären kaum mehr als Halbwissen über die tatsächlichen Hintergründe zu. Aber wenn man so schwer schuften muss, wie diese Typen das unter Tage, auf den Feldern und in den Schwitzbuden tun müssen, dann braucht man wohl den Irrglauben an Widerstand als eine Art der Überlebensstrategie. Sollen sie nur weiterreden und vor sich hinträumen, solang sie und damit vor allen mein Bruder Yang nicht irgendwann wieder was handfest Dämliches versuchen. Das letzte Mal war eine derbe Sauerei mit viel Geschrei, Gewalt und zu vielen Toten gewesen. Als die letzten Möchtegernrebelen es vor ein paar Jahren, nur ein paar Monate nach unserer Ankunft, mit einem Aufstand versucht hatten, haben wir am Ende ziemlich viel Platz und auf einmal sogar größere Rationen bekommen – dann doch lieber Regelsurfing, denke ich mir und horche auf.

Von der Stoa das Leben lernen oder es fahren lassen

Was immer irgend jemand gut formuliert hat, ist mein Eigentum. Auch folgendes Wort stammt von Epikur: „Wenn du nach der Natur lebst, wirst du niemals arm sein: wenn nach Wunschvorstellungen, wirst du niemals reich sein.“ Wenig fordert die Natur, die Wunschvorstellung Unermeßliches. Gehäuft werde auf dich, was immer viele Reiche besessen hatten; über eines Privatvermögens Maß hinaus bringe dich das Schicksal, mit Gold bedecke es dich, in Purpur kleide es dich, zu einem Maß an Genuß und Reichtum bringe es dich, daß du die Erde mit Marmor verbirgst, nicht nur Reichtum zu besitzen dir erlaubt ist, sondern auch, auf ihn zu treten; hinzu mögen kommen Plastiken und Gemälde und was immer irgendeine Kunstfertigekeit an Luxus hervorgrebacht hat: Größeres zu wünschen wirst du davon lernen. Naturgegebene Bedürfnisse sind begrenzt; aus trügerischem Wunschdenken entstehende wissen nicht, wo sie aufhören sollen: keine Grenze nämlich gibt es für Trügerisches. Wer einen Weg geht, für den gibt es etwas Letztes: Irrtum ist unermeßlich. Zieh dich also zurück von Nichtigem, und wenn du wissen willst, ob, was du wünschst, naturgegebener oder blinder Sehnsucht entstamme, überlege, ob es irgendwo haltmachen kann: wenn du weit gegangen bist und immer noch etwas Weiteres übrig bleibt, so wisse, das ist nicht naturgegeben.

Lucius Annaeus Seneca (1 – 65), Briefe über Ethik, 16, 7-9 (S. 127f., Philosophische Schriften – Band 3, übersetzt von Manfred Rosenbach)


Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf der Erde. […] Gefährde nicht die Bedingungen für den indefiniten Fortbestand der Menschheit.

Hans Jonas (1903 – 1993), Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, S. 36 (1979)


Während ein ernstzunehmender Bruchteil der deutschen und auch der globalen Jungend anfängt, für ihre naturgegebenen Bedürfnisse in einer prognostisch-düsteren Zukunft einzustehen; nachdem Hans Jonas, wissend um die Dialektik der Aufklärung, Kants ehrwürdigen, aber zu individualistischen Imperativ notwendig erweitert hatte; wo bereits seit 1972 die trügerische Wunschvorstellung vom grenzenlosen Wachstum der Weltwirtschaft attestiert worden ist; hatten zwei Millenien zuvor die Weisen der klassischen Antike, sowohl der griechischen wie der römischen Kultur als auch der stoischen und epikureeischen Philosophie, klar erkannt und benannt, dass sehnsüchtig erstrebter und arglos angehäufter Reichtum widernatürlich ist. Von anderen Kulturen und ihren gleichtönenden Stimmen schweige ich der Prägnanz und der Redlichkeit zuliebe, denn hier herrschen Halbwissen und Vagheit.

Die Reichen und Mächtigen (es mag auch hier Ausnahmen geben, aber die diskriminiere ich kurzerhand) jedenfalls und jedoch waren seither entweder blind, taub, lahm und dumm oder schlicht unsittlich und dabei gemeingefährlich egoistisch bis schreiend generationenungerecht. Ihresgleichen, die gesellschaftlich relevanten Institutionen, aber auch der Pöbel aller Länder haben nicht nur die altvorderen Belehrungen ignoriert, sondern sind auf dem ziel- und uferlosen Weg des ewigen Wachstums und der unablässigen Ausbeutung stur weiter einem fatalen Trugbild nachgeeilt. Generation um Generation lebten den stupiden Alptraum einer ökonomischen, politischen und sozialen Dystopie, verfielen solcherart mehr und mehr einer fatalen Hybris, die in ihrer moralischen wie rationalen Verwerflichkeit irgendwo zwischen Prometheus und Narzissus changiert. Also sogar der vorphilosophische Mythos hatte sie, hatte uns eindeutig und lebensnah gewarnt und nachdrücklich zum Umdenken ermahnt.

Aber nein, wir wollten nicht hören; und so stehen wir heute im Angesicht der politisch wiedererwachenden Jugend bestenfalls kleinlaut, schlimmstenfalls leugnend da und müssen schahmvoll anerkennen: Wir haben uns versündigt, haben Mutter Natur geschändet und die Erde verwüstet.

Und was macht man dieser Tage in Deutschland, dem Land der Dichter und Denker, Förster und Erfinder, dort, wo vermeintlichen die ökologische Avantgarde zuhause ist, dort, wo Idee und Begriff der Nachhaltigkeit geprägt und gepflegt wurde: Man zaudert und hardert! Man fürchtet um Arbeitsplätze und Wettbewerbsvorteile, scheut den Unmut der Wähler und die Unzufriedenheit der Dekandenten. Man feiert rhetorisch tumb ein sogenanntes Klimapaket als „Durchbruch“, das nach pessimistischen oder realistischen Schätzungen – ich vermag das, Stichwort: Redlichkeit, nicht zu qualifizieren – läppische 50% der vertraglich vereinbarten und hart erkämpften CO²-Einsparziele gemäß Pariser Klimaschutzabkommen erzielen könnte. Unterdessen hofft man blind auf Innovationen, die uns dereinst womöglich retten könnten. Von Selbstvertrauen und Courage keine Spur, von Veränderung und Konsequenz keine Rede, der Rest ist Schweigen und Einerlei …

„Verzicht“ und „Verbot“, sogar „Mäßigung“ werden im öffentlichen Diskurs größtenteils wie Todsünden behandelt und verteufelt, „Konsum“ und „Wachstum“, „Freiheit“ und „Markt“ hingegen als Tugenden gefeiert und geadelt. In diesem Kontext noch ernsthaft von naturgegebenen Bedürfnissen zu reden und solche zu kritisieren, die trügerische Wunschvorstellungen konservierend, die Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden gefährden, ist mir ehrlicherweise das Tippen nicht weiter wert. So evident, so grotesk, so irrig und fatal ist die Lage, wenn man nur noch abschließend hinzudenkt, dass Deutschland, dass Europa nur ein kleines Zahnrad im Getriebe der Weltverschrottungsmaschinerie ist.

Warum für die Zukunft demonstrieren, warum stoisch, weise und klug handlen, ich habe eine viel bessere, eine durch und durch tröstliche Idee: Lasst uns doch einfach alle mit unseren SUV’s kurz beim Drive-In haltmachen, fünf Burger kaufend und zwei bis drei wegwerfend, bevor wir auf der AIDA einchecken, wo uns achselzuckend einfällt, dass wir zuhause in der Villa Licht, TV, Rechner und Heizung an- und die Fenster aufgelassen haben, was wir aber nach Sauna und Whirlpool, beim üppigen Abendbankett unter’m Wärmepilz an Deck sitzend und schlemmend, mit dem Cocktail-to-go im Plastikglas in der Hand schon wieder vergessen haben.

Ein Hoch auf die Jugend, möge ihnen späterhin der zivilisatorische Abgrund nicht zu unbehaglich werden, Euer entnervter Satorius

P.S.: Nicht, dass ich deratig Utopisches zu unseren Lebzeiten noch erwarten würde, aber wie wäre es hiermit – klar, kritisch, jedoch unkonkret!

Wochenendlektüren Nr.5 – YY1: S. 1-2/~34 [Version 1.2]

Während der Plot fast ausgereift ist, die Konflikte und Motive grob geklärt sind, letzte Justierungen an Erzählstruktur, Stil und Personal – bisweilen schmerzhaft und definitiv langwierig – vorgenommen und umgesetzt worden sind, lasse ich die Wochenendlektüren freimütig wiederauferstehen. Texte für die Füllung gibt es nunmehr genug, sogar für eine echte Kontinuität sollte es langen; ob die Artikel aber immer so zeitig, ordentlich und ausführlich kommentiert sein werden, wissen nur die Moiren und Musen.

Zuvor hat eine andere Figur aus dem selben (nicht gleichen) Kosmos, der Neumensch Xaver S., den literarisch-dilletantischen Reigen mit vier schweren Takten eröffnet, aber auch ihm und seiner Geschichte ergeht es nun zum dritten oder vierten Mal so, wie es YY1 sogleich ein zweites Mal ergehen wird: Es folgt auch bei diesen beiden das Update heraus aus der Betaphase hinein in die erste finale Version 1.0 (mittlerweile im Update 1.2), bei jenem schleicht sich bereits die Version 2.3 in den Tiefen des Blogs still und heimlich heran. Deshalb erlaube ich mir frei heraus eine Empfehlung in Richtung des Updates der ersten vier Teile von XS1, denen sich bald irgendwann die restlichen Sequenzen des ersten Kapitels und zukünftig unbestimmt auch einmal des zweiten, abgeschlossenen und des entstehenden dritten Kapitels im Rahmen der Wochenendlektüren anschließen werden – vom nur imaginierten vierten oder gar dem vorgenommenen fünften Kapitel beinahe geschwiegen. Hier also findet ihr die Aktualisierung der Urzelle meiner literarischen Ambitionen, welche demgemäß auch der am weitesten entwickelte Text innerhalb der sieben so unterschiedlichen Zugänge zum namenlosen Experimental-Sandkasten-Epos sein dürfte: Wochenendlektüren Nr.1 – XS1: S. 1-5/~46 [Update 2.3]

Nun aber zurück zum Zentrum diese Artikel und des angekündigten Textes, einer Erzählung über das Schicksal des angeblichen Zwillingspaars Yin und Yang. Die beiden illustrieren mit je eigenem Stil, Blick und Gebahren die dystopische Sklavenhaltergesellschaft in Gor Thaunus, gelegen in der apokalyptisch-düsteren Eifel des (Solar-)Jahres 133. Eine andere Erzählsituation als bei XS und der erklärte Wille, beiden Protagonisten eine prägnantere, markantere Stimme zu verleihen, leiten die Überarbeitung des aus der Betaphase her bekannten Stoffs an.

Im Rahmen der noch jungen TSF-Reihe Wochenendlektüren ist es zwar die Premiere für YY, das Format Originale jedoch hat schon mehrere Versionen (ohne nachzuschauen schätze ich: ca. drei) von YY1 dokumentiert und archiviert. Zuletzt erschien hiervon die erste, fast-final zu nennende Version 0.9 und wer sich hart spoilern will, der kann sich bereits jetzt den gesamten Textkorpus des ersten Kapitels auf einmal reinziehen. Nunmehr jedoch möchte ich schrittweise versuchen, dem Inhalt eine lebendigere und echtere Form zu verleihen. Mal sehen, ob diese hehren Ambitionen weit tragen – man darf gespannt sein!

Euer leselahmer, blogverhaltener zugleich dennoch spiel-, seh- und derzeit schreibwütiger, Satorius


1. Zugang YY – Gor(e)

„Hey ihr! Kommt mal rüber. Herzlich willkommen im schönen Gor Thaunus, wo NÄCHSTENLIEBE und FREIHEIT großgeschrieben werden! Wir zwei sind eins, mein Bruder Yang und ich – Yin, einfach nur Yin“, beginne ich den süßsauren Begrüßungsversuch der vier Fremden mit einem meiner einstudierten Sprüche für die Gattung Frischfleisch. Nichts rührt sich.

Rauch liegt in der Luft. Es riecht würzig, nach Reisig, Brot und sogar Fleisch, wohl aus den Backhäusern, in denen die Höheren ihre Nahrung zubereiten. Ich habe dabei natürlich schon wieder heftigen Hunger, aber meine Tagesration an Synthoschleim vorhin bereits komplett aufgegessen – am späten Nachmittag! Dieser ekelhafte, graubeige Nährbrei macht mich bestenfalls satt, reicht aber selten bis zum Abend. Ich versuche, den fiesen Duft zu verdrängen, der von oben aus Hohenherz und der Berggasse zu uns herunterweht, und werde sogleich von aufdringlichen Erinnerungen an früher heimgesucht. Erinnerungen an Mamas asiatisch-arabische Wokgerichte überfallen mich stattdessen, sind mir gleichzeitig Trost und Qual. Also lasse ich auch sie weiterziehen, schiebe sie vielmehr mühevoll beiseite. Da ich gerade überhaupt keinen Stoff, was auch immer, mehr gebunkert habe, ist Regelsurfing eine gute, ehrlicherweise sogar die einzige Alternative zum Ablenken. Das ist eine bei uns Niederen sehr beliebte Abwechslung, in der sich eine Portion Gefahr mit Genugtuung vermischt. Unser und mein größter und allzeit verfügbarer Freizeitspaß besteht im bewussten Provozieren der Ordnung. Wir spielen dabei mit den vielen, so seltsamen Regeln, die uns die sogenannten Eigentümer auferlegt haben. Die meisten dieser Gesetze kennen wir, das Eigentum, aber eben nicht alle, weshalb man immer mal wieder überrascht wird. So habe ich eben bereits bewusst gegen eines der weithin bekannten Verbote verstoßen, als ich meine abgegriffenen Worte über den halben Platz hinweg Richtung Südosttor gebrüllt habe, so laut und so weit ich mit meinem sanften Stimmchen eben brüllen kann.

Es sind neuerlich viele Obdachlose hierher gekommen, dabei sind die meisten Wohnkuppeln mittlerweile beinahe wieder aufgefüllt und bald wird es deshalb wohl noch enger darin werden, als es bisher zu zweit schon ist. Na, warte ich weiterhin gespannt ab, kommt heute eine Konsequenz? Nervenkitzeln flasht mich dabei angenehm, ich warte nervös und bin erregt – komplett egal, ob noch eine Strafe folgt. Und wie meistens, wenn einer von uns sich laut hörbar bemerkbar macht, interessiert das die patrouillierenden Wächter in der Nähe überhaupt nicht, ganz im Gegensatz zu dem leblosen, gelben Ding zwischen meinen Augen. Ich verfluche diesen verdammten Ring in meiner Nase, den ich nicht übersehen kann und auf dem alles über mich gespeichert wird. Mein Name – Yin – und eine fünfstellige Nummer – 24017 – sind sogar mit bloßem Auge zu lesen, der Rest sind unsichtbare Daten. Diesem Ding gegenüber, also der darin verbauten Überwachungstechnik, erlaube ich mir gerade den Regelverstoß und riskiere damit eine Bestrafung durch das teuflische Gerät. Geht meine Aktion schief und ich werde erwischt, wird es vermutlich schmerzhaft ausgehen. Aber den kleinen Einsatz ist der kurze Rausch wahrlich wert und so schlimm ist die Strafe dann auch wieder nicht. Ein kleiner Moment der Pein kommt immerhin einem kurzen Lebenszeichen gleich. Wir sind nämlich sonst sowas wie lebende Leichen, allesamt irgendwo zwischen Leben und Tod, schuften vor uns hin, funktionieren bestenfalls einwandfrei, sind dabei kaum der menschlichen Aufmerksamkeit wert und werden also, wo das möglich ist, zwischenmenschlich ignoriert. Auf diese eine Art sind wir hart unsichtbar, werden aber auf allen anderen Ebenen heftig durchleuchtet: Mein Puls, mein Hautwiderstand und die Zusammensetzung von Blut, Schweiß, Speichel und sogar meiner Scheiße werden jederzeit aufgezeichnet, irgendwo registriert und analysiert, machen mich so zum Opfer meines Körpers und zur Geisel meiner Vergangenheit. Ein altes, verblasstes Bild fällt mir ein, auch wenn es sogar hier in den Niederungen der Stadt nanotechnologisch rein ist und beides nicht gibt: Ich sitze hier fest wie eine Mücke im Spinnennetz, unsicher und ängstlich, sobald ich mich zu viel rühre, weiß die mörderische Spinne sofort Bescheid, kommt herbei und sorgt gründlich für Ruhe. So richtig verstehe ich das große Ganze mit der Technik, den Regeln und den Strafen aber auch nicht. Aber Yang und die Älteren halten sich für klüger und haben es mir grob erklärt. Bisher hat ihre Theorie meistens gestimmt, also muss sie irgendwie wahr sein, es passt zu häufig und zu gut zusammen.

Erwartungsgemäß beachten mich die Wächter dort drüben auf dem Wall nicht ein Stück weit – warum auch. Ich meinerseits sehe sie, habe jedoch keine Ahnung, wer sich unter den schwarzgrünen Körperpanzern mitsamt geschlossenem Helm versteckt – sicher irgendwelche Mitläufer aus der Berggasse. Dass sie mich in Ruhe regelsurfen lassen, ist also gerade nicht das Ungewöhnliche, sondern die Tatsache, dass ich dieses verbotene Gespräch überhaupt eröffnen konnte, und auch, dass ich weiterhin ohne jede körperliche Folge davonkomme. Glück gehabt, freue ich mich noch, als sich ein neuer Gedanke aufdrängt: Von wegen Glück, das kann anderweitig schief gehen! Am Ende könnte ihre Unfähigkeit, ihre Faulheit unser aller Pech sein! Wenn dieses Pack jeden Streuner einfach so hier reinlässt, ohne ihn zuvor ordentlich oder überhaupt mal zu kontrollieren, haben wir die Folgen zu tragen. Ihre Aufgabe ist es, die vier Eindringlinge zu überprüfen und so für Sicherheit zu sorgen. Aber was tun die Scheißer stattdessen: Nichts, außer die meiste Zeit über dumm rumstehen und bloß gelegentlich wichtigtuerisch hin und her laufen.

Oder übertreibe ich gerade mal wieder heftig, spinne mir was zurecht und alles ist in bester, schlechter Ordnung? Was soll’s, es sind ja bloß gruselige Geschichten, vertröste ich mich. Die Ankunft der vier Neulinge ist erstmal nicht mein Problem, vielleicht ja sogar überhaupt kein Problem. Im Gegenteil, es ist eine Gelegenheit und die serviert mir am frühen Abend eine willkommene Abwechslung zum normalen Regelsurfen. Trotzdem, die Lust am Risiko des Erstkontakts ebbt schon wieder ab und so krass wie mein Bruder bin ich dann doch nicht. Noch mehr zu wagen, wage ich jetzt nicht mehr, bin aktuell leidlich zufrieden mit mir und meinem Dasein: Es ist beschissen, aber es war schon schlimmer.