#10/12 – Das zehnte Segment der blutigen Frühgeburt

Wo sich in dem doch recht meditativ und hintergründig gehaltenen Auftakt der Geschichte, erstmals so etwas wie Aktion und Handlung entwickelt, möchte ich deren Fluss nicht allzu lange unterbrechen. Deswegen gibt es hier und heute bereits Teil 10 von 12. Die Spannung steigt milde, aber sie steigt. Also – wie gesagt, so nun getan – bremse ich sie nun nicht weiter und schreite zur Veröffentlichung.

Vergnügliche Lektüre und insgesamt eine gute Zeit, Euer Satorius


Die Heimkehr des verspannten Fast-Magisters

Teil 10 von 12: Seiten 28 bis 31.

„Guten Tag – angenehm, die Bekanntschaft von zwei so eifrigen Wächtern zu machen. Ich bin Xaver Satorius. Tatsächlich Magister und nicht Mönch, noch gar Möchtegern um das gleich zu Beginn aufzuklären. Danke für ihre Aufmerksamkeit und die Gelegenheit, mich einzubringen. Ich wüsste zunächst gerne, was meinen geschätzten Mitreisenden zur Last gelegt wird, denn ich wäre über eine Verwicklung dieser beiden in verbrecherische Aktivitäten ebenso entsetzt wie sie“, antwortete er erst einmal mit einer Gegenfrage und wandet sich zwinkernden Auges unbemerkt an seine gänzlich uneingeweihten Schützlinge. „Hallo ihr beiden. Eurem Sohn geht es wieder gut. Macht euch wirklich keine Sorgen mehr, ich haben mich gewissenvoll um ihn gekümmert. Er wartet drüben auf uns.“ Ob diese schwache Finte funktionieren würde, war zu bezweifeln, aber den rhetorisch gefahrlosen Versuch war sie auf jeden Fall wert.

 

„Hi Xaver! Das ist liebenswert von dir, nach unserem Jungen zu schauen. Wir …“, setzte die junge Schönheit, blitzschnell in ihrer Rolle aufgegangen, freudestrahlend zu einer Reaktion auf Xavers Eröffnung an, wurde aber sogleich harsch vom aufbrausenden Kirchner angefahren und damit im Ansatz unterbrochen.

 

„Schnauze, Pack! Ihr hattet eure Gelegenheit und sie, kommen sie zum Punkt – kein Geschwafel, Magister: Was wissen sie, was wir nicht wissen, aber ihrer Meinung nach wissen sollten?“, übernahm leider der unangenehmere Part in seiner rüden Manier die Gesprächsführung, bezeichnender Weise ohne seinerseits eine Art der Vorstellung unternommen zu haben. Kirchner hatte ihn sein Vorgesetzter vorhin genannt, bevor er sich nun zu seinem Einstieg ins Gespräch anschickte.

 

„Dem was Wachsoldat Kirchner gerade so unvergleichlich zum Ausdruck gebracht hat, stimme ich im Kern sogar zu. Ich bin übrigens Wachführer Hofmeister – auch angenehm. Aber wir werden zu laufenden Fällen kaum Jedermann Auskunft erteilen; also verdienen sie sich unser Vertrauen durch eine plausible Erklärung ihrer Anwesenheit und ein paar erhellende Hintergründe.“ Nachdem er damit zu Xavers Freude die Führung wieder übernommen hatte, warf der Vorgesetzte seinem Untergebenen nun im Wechsel mahnende und seltsam flehende Blicke zu. Die weitere Eskalation war damit zunächst verhindert worden, aber nun galt es, rhetorisch vorsichtig und strategisch klug voranzugehen. Sokrates, Xaya und Hoffmann waren hochaktiv, um Xaver bestmöglich zu unterstützen – (aug-)mental und physiologisch, kognitiv und kreativ gleichermaßen.

 

„Nun, wie gesagt, von Verwicklungen der beiden in illegale Aktivitäten oder was auch immer hier so lange besprochen wurde, weiß ich rein Garnichts. Wir haben uns während unseres gemeinsamen Transitaufenthalts in Eluna zufällig kennengelernt und sind schnell ins Gespräch gekommen. In den nächsten Stunden haben wir uns angeregt unterhalten; was wir auch während des Fluges fortführen konnten. Eigentlich bin ich kein besonders offener und gesprächiger Typ, aber die Wellenlänge stimmte bei uns wohl einfach von Anfang an. Jedenfalls habe ich dabei eine rechtschaffene und lautere, wenn auch nach Außen hin unangepasste, junge Familie kennengelernt. An ihrer moralischen Integrität habe ich trotz der zugegeben kurzen Dauer unserer Bekanntschaft keinerlei Zweifel mehr. Denn als Magister Universalis sind Menschen und deren rasche Kenntnis meine professionelle Domäne. Wer ein Bewusstsein optimieren will, ist zu Beginn auf ein möglichst akribische Beschreibung und optimale Beurteilung des Trägers angewiesen, müssen sie wissen. Mit dieser noch immer großen und mächtigen Institution sind sie ja sicher grundsätzlich vertraut?“, begann der Fast-Magister mit gewagt dosierten Übertreibungen und gutmütigen Auslassungen. Er glaubte, damit einen guten Mittelweg zwischen nutzlosen Fakten und sophistischer Fiktion zu gehen, der sich zur Eröffnung seiner Verteidigung anbot. Dieser argumentativ vage und schwache Auftakt seiner Apologie würde zusammen mit der Prahlerei das anschließende Kernstück der Rede ungleich stärker wirken lassen.

 

„Das ich nicht laut losschreie! Pah, Magister …“, setzte Kirchner zu einer scharfen Antwort auf die bloß rhetorisch gemeinte Frage von Xaver an, wurde jedoch herrisch von seinem direkten Vorgesetzten unterbrochen und gestenreich zur Ruhe gewiesen. Dieser ging seinerseits erwartungsgemäß galant über die letzte Spitze von Xaver hinweg und ließ sich inhaltlich auf dessen Eröffnung ein: „Wir sollen also in einer Ermittlung, welche die innere Sicherheit tangiert, auf die unbestrittenen Kompetenzen eines Magister Universalis vertrauen – einfach mal so? Nach unserem bescheidenen Kenntnisstand haben wir hier wahrscheinlich zwei Mitglieder von Demos gestellt. Sicher sind sie mit dieser rapide wachsenden und als illegal und terroristisch geächteten Organisation grundsätzlich vertraut?“ Damit spielte er seinerseits den Ball im Spiel der anregenden Konversation mit einem Mindestmaß an neuer Information zurück, ohne die unter diesen Umständen kein konstruktives Gespräch möglich gewesen wäre. Immerhin wurde Xaver bisher als ebenbürtiger Gesprächspartner – von relevanter, weil vorgesetzter Seite jedenfalls – akzeptiert und respektiert. Die Schwere der eröffneten Hintergründe, mit denen die Festsetzung und das Verhör des Ehepaars van Beeger begründet worden waren, komplizierte die Lage jedoch unglücklich. Glücklicherweise waren Rechtsstaatlichkeit und Dienstbeflissenheit vor Ort keine besonders gefestigten Werte, deswegen entschloss sich Xaver unverzüglich zum Konter und kam damit schneller als anfangs geplant zum Kernstück seiner kommunikativen Strategie – soviel zum Vorsatz, rhetorisch sorgsam vorzugehen. Dennoch stimmte er Sokrates und Xayas psycho-rhetorischer Spontanberatung zu, Kirchner musste sowieso überrumpelt werden und Hofmeister durfte sich gar nicht erst in der Rolle des korrekten Wächters einnisten. Sonst wäre das entscheidende Finale von Xavers Argumentation in seiner Wirkung reduziert und überdies psychologische Komplikationen auf Seiten Hofmeisters nicht ausgeschlossen. Er war zu geschliffen, um ein sicher lesbarer Akteur und damit gewisser Faktor in der Kalkulation zu sein, wenn er sich einmal aus seiner bequemen Lethargie herauslaviert hatte.    

 

Während des Gesprächs wurden selbstverständlich permanent unzählige Daten über dessen Verlauf und das Verhalten aller Beteiligten erhoben und ausgewertet, um darauf aufbauend mögliche Szenarien für die Zukunft, diesbezügliche Optionen und Entscheidungspfade zu generieren. Das Gedankenkonzil war schon eine enorm wertvolle Unterstützung, wie es in Echtzeit die sich flüchtig entziehende Dynamik des Geschehens mit seinen magischen Algorithmen zu bannen vermochte; um diese sodann in nüchterne Statistiken gegossen und in schlichten Prozentwerten und Baumdiagrammen ausgedrückt anzubieten. Je nach Präferenz als Visualisierung im optischen Bereich oder als spontane Bewusstseinsinformation, also auf mentalem Weg zugänglich. Was sehr abstrakt klingt, bedeutete ein bisschen konkreter, dass halbtransparente, im Vergleich zur vollen Aktivität minder farbenfroh kolorierte Erfahrungs- und Wissensbereiche in Xavers Bewusstseinskanälen verankert wurden. So konnte er als Zeichen und Bild darstellbare Informationen optisch als Text und Grafik in seinem Gesichtsfeld wahrnehmen; die vielfältigen anderen Aspekte der Situation konnte er wahlweise in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit einer jeweils angepassten Anwahl an beteiligten Sinnen, also auf authentischere, vollere Weise erleben; und schließlich konnten die unerlässlichen Szenario-Übungen in Erfahrungsräumen synchron zu allem absolviert werden – zeitlich parallel und damit neben und während der eigentlichen Gesprächsführung ohne ernstlichen Aufmerksamkeitsverlust, der irgendwie auffällig oder gar einschränkend gewesen wäre; alles auf einmal, mit optimaler Verteilung der individuellen, kognitiven Ressourcen. Sokrates sowie Xaya und Hoffmann befanden sich dafür derzeit in enger Koexistenz mit Xaver und waren dabei auf ihrer je eigene Art unterstützend, beratend und medizierend tätig.

 

Modellierte und simulierte Kognition, Emotion und Aktion waren Grundfunktionen des Gedankenkonzils und wurden sogar noch von den diversen Modulen integriert und addiert, damit funktional ungeahnt potenziert. Da mit diesen Technologien Handlung und Denken weitgehend administrierbare Parameter geworden waren, hatte sich alltägliches Dasein für Menschen wie Xaver radikal verändert. Das zufällige Chaos, die spontane Freiheit und das unvermeidliche Allzumenschliche, welche ohne Augmentate – normaler-, natürlicherweise also die Existenz zu weiten Teilen bestimmten, wurde so zum rationierten, notwendigen Gut. Ohne sie war wenig Kreativität zu haben und vor allem die Menschlichkeit fundamental gefährdet; mit einem nicht regulierten, weil natürlichen Überschuss hingegen waren Effizienz und Harmonie bedroht. Ganz so einfach ließ sich die Existenz des Menschen dann aber doch nicht erklären und anschließend fugenlos technisch beherrschen, wie unter anderen Exempeln auch Xavers Techno-Biografie eindrücklich belegte. Bevor jedoch die historische Situation als existenzielle Belastung hinzugekommen war, waren die damals vorhandenen Augmentate fast problemlos angenommen worden und hatten reibungs- wie tadellos in den Alltag eingefügt werden können. Die pathologischen Fehlentwicklungen, die sich später, vor allem in seinem letzten Lebensabschnitt eingestellt und verschärft hatten, könnten vielleicht eine Reaktion auf individuelle Faktoren sein oder sie waren auf das fast singuläre, zivilisatorische Trauma zurückzuführen; hingen wenigstens irgendwie mit all dem zusammen. Aller technischen Kontrolle und Präzision zum Trotz, blieb also ein kleiner und entscheidender Rest Kontingenz in den Gleichungen erhalten, der aus den Tiefen der Person und von den Rändern deren Lebenswelt her die Existenz bereicherten und damit für Überraschungen aller Art gut blieben. Der metaphysische Albtraum, den frühere Generationen poetisch als Laplaceschen Dämon umschrieben oder nüchterner als Determinismus rationalisiert hatten, war für kleine und mittlere Systeme durchaus zu einer realen und technischen, also physischen Möglichkeit geworden. Der Preis für diesen Grad maximaler technologischer Beherrschung des Bewusstseins fiel zum Glück jedoch derart hoch aus, dass nur Wenige in zu zahlen bereit waren und es für den Rest noch immer genügend rationale wie ideale Gründe gab, ihn nicht zu zahlen, um damit sich selbst und ihrer menschlichen Natur treu zu bleiben.

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