#12/12 – Einstweiliges, erweitertes Ende eines ergötzlichen Einstands

Eine kleine Geschichte in der großen Geschichte geht zu Ende. Jedenfalls lässt der Einstand mehr erwarten. Mehr zu lesen vor diesem ersten Ende der Erzählung gibt es noch oben drauf. Der ungenannte Kollege und Erstlingsschreiberling trat mit weiteren Seiten an mich heran. Deshalb gibt es nun zum Abschluss in Teil 12 eine doppelte Portion Text.

Genussvolles Lesen und Leben, Euer Satorius


Die Heimkehr des verspannten Fast-Magisters

Teil 12 von 12: Seiten 34 bis 40.

Nachdem der Aggressor buchstäblich außer Gefecht gesetzt worden war, stürmte Frau van Beeger die wenigen Meter zu ihrem Mann und kümmerte sich sofort mit ihren Möglichkeiten um ihn; ohne die sofort herbeigerufene, mobile Medizinalstation wären all ihre Fürsorge und Liebe jedoch vergebens gewesen, hier half nur noch medizinische Hochtechnologie. Denn der aggressive Gewaltausbruch des gefechtsaugmentierten Wächters hatte ernstliche innere Verletzungen zur Folge gehabt, was angesichts von unfairen Vorteilen wie Muskelverstärkung, Panzerung und Nahkampferfahrung kaum überraschte. Dank enormer Fortschritte in Medizin, Robotik und Informatik würden die Behandlung der Schäden, die eine zertrümmerte Flanke und ein ebensolches Gesicht mit sich brachten, nur eine Frage von gut 15 Neu-Minuten Notfalloperation direkt vor Ort sein. Danach würde der Patient lediglich noch einige Tage Schonung bei normaler Alltagsbelastung bedürfen. Selbst die ästhetischen Entstellungen konnten kosmetisch gut kaschiert werden, bis sie endgültig abgeheilt sein würden. Ob dieser glimpfliche Ausgang Kirchner bewusst gewesen war, als dieser losgestürmt war und wie ein Wilder angegriffen hatte, mag angezweifelt werden.

 

Als er die erste Hilfe für das schwer verletzte Opfer veranlasst hatte, wies Hofmeister den nunmehr zwar wieder beweglichen, aber weiterhin mit Lähmungen gestraften Kollegen förmlich zurecht und beließ es aus Disziplinargründen bei einer Paralyse der oberen Gliedmaßen, mitsamt der Sprachmuskulatur. Damit gleichsam Richter und Henker, tat er sich selbst und allen anderen einen großen Gefallen. Xaver ging, während er die Situation bei Hofmeister in guten Händen wähnte, den kurzen Weg zurück und wollte holte, sehr zu dessen offenkundiger Freude, den kleinen Mauritius ab. Hofmeister hatte zuvor auf seine Anfrage hin, nur stumm und wohlwollend genickt.

 

„Hallo, da bist du – endlich! Gehen wir jetzt zusammen zu Mama und Papa, Zauberer Xaver Satorius?“ fragte dieser sofort frei heraus zur Begrüßung; dabei war Xaver wahrlich nicht sehr lange weg gewesen. Mauritus Mutter – Eris, wie er von dem roten Lockenkopf gerade auf dem kurzen Rückweg erfahren hatte – hatte in ihrer akuten Sorge um den lebensgefährlich verletzten Partner noch keine Zeit gehabt, nach ihrem Sohn zu sehen. Nun freute sie sich deshalb um so mehr, als dieser in Xavers Begleitung unerwartet die Szene betrat. Die Freude der Ehefrau über die Rettung ihres Mannes wurde noch durch die Erleichterung der besorgten Mutter gesteigert. Ihr wunderschönes, elfenhaftes Gesicht, nun noch verziert durch ein glockenhell klingedens, einfach bezauberndes Lachen, zog Xaver in seinen Bann. So ließ er sich einen unendlichen Augenblick des Glücks und der Liebe lang in das Antlitz von Eris van Beeger versinken. Es war geborgtes, fremdes Glück und die Liebe galt nicht ihm, trotzdem er hatte sie in dieser Form hier überhaupt erst möglich gemacht. Anteilnahme dieser Sorte war eine seltene Erfahrung für den emotionalen Einzelgänger, aber sie fühlte sich gar nicht so übel an; ein Ereignis das Matrina mehrfach hervorhob und dessen Bedeutsamkeit sie wortreich und schmeichlerisch betonte.

 

Nachdem die pure Freude sich in einer unendlichen Folge unendlicher Augenblicke erschöpft hatte, kehrte die sogenannte Normalität zurück und damit griffen alle wieder zu ihren öffentlichen Masken: Er selbst, der augmentat-starrende Gelehrte, zufällig und unverhofft zum Retter avanciert; sie, die schrille und womöglich rebellische, atemberaubend schöne, junge Mutter; er, der ungeduldige und unstete, aber insgesamt integere und verträgliche Wächter; es, das überglückliche, verzogene, dennoch im Grunde sympathische Kind – es trägt übrigens, wie nicht anders zu erwarten, die kleinste Maske – und schließlich noch die beiden Archetypen: Das geschundene Opfer, das gerade von seiner Familie sehnlich erwartet, in einer mobilen Operationseinheit unter Temporalnarkose stand und in wundersamer Eile geheilt wurde, und letztlich der sadistische Peiniger, der einer Groteske gleich, stumm und sichtlich gematert am Rand der Szenerie stand, nicht konnte, was er wollte und zudem einer ernsten Strafe entgegensah – so standen sie da und wurden von nur wenigen verstohlenen Blicken gestreift. Die Passanten taten alles, um nicht aufzufallen, sei es im Guten wie im Schlechten. Man scheute sich davor, auch nur in den Blick der Mächtigen zu geraten, dieser Tage in dieser Gegend des Sonnensystems.

 

„Was ich vorhin sagen wollte, bevor Kirchner ausgetickt ist und mit seinem Übergriff den kleinen Rest an Glaubwürdigkeit verspielt hat, den ich ihm noch zugebilligt hatte, spielt nun keine Rolle mehr. Ich muss mich im Name der Karlus-Korporation vielfach bei ihnen und vor allem ihrem Gatten entschuldigen. Mein Kollege wird in jedem Fall disziplinarische Maßnahmen zu tragen haben. Es mögen düstere Zeiten sein, aber zumindest grundsätzliche Grenzen von Sittlichkeit und Anstande kennen wir noch, hier im alten Deutschland. Ich werde mich persönlich für eine Ausschüttung von Schmerzensgeld stark machen, kann aber in dieser Hinsicht nichts versprechen. Was die Behandlung und die Folgekosten der Verletzung angeht, garantiere ich ihnen weiterhin Kostenfreiheit in allen unseren Einrichtungen – und glauben sie mir, das sind fast alle Empfehlenswerten hier vor Ort.“ Eine glaubhafte Entschuldigung, mit der sich Hofmeister, etwas zu abrupt um gut platziert zu sein, an die Versammelten wandt; dem Ton nach untertänig und sich der Offensichtlichkeit der groben polizeilichen Verfehlung bewusst. Er würde des Weiteren selbstverständlich auf Ermittlung in diesem Fall verzichten und erbot sich nun uneingeschränkt als Fahrer für die vier, überraschend zusammengewürfelten Weggefährten. Wer hätte anfangs gewagt, diesen günstigen Verlauf der Ereignisse zu prognostizieren: 66,6023 Prozent Erfolgswahrscheinlichkeit hatten sich eindrucksvoller realisiert, als sie zunächst in ihrer Nüchternheit hatten erwarten lassen hatten. Wahrscheinlich war der Ausraster des ungehobelten Barbaren der ausschlaggebende Faktor gewesen, zum Leidwesen von Edgar van Beeger, durch dessen Ausbleiben Xavers Blatt, seiner Trümpfe zum Trotz, wie ein Kartenhaus in sich hätte zusammenstürzen können – früher oder später.

 

Nun nach den Zugeständnissen durch Hofmeister, gab es auch endlich die Gelegenheit, sich einander zu näher vorzustellen und abzusprechen, selbstverständlich unter Wahrung der Rollen, also teilweise hinter vorgehaltener Hand und im Flüsterton. Eris hatte sich zuerst erfrischend herzlich, offen und ehrlich, aber nicht distanzlos bei ihrem Retter bedankt und hatte ihm während der kurzen Umarmung, die Xaver sehr genossen hatte, die nötigsten Informationen zugeraunt. Kurz darauf war dann auch ihr Partner Edgar wohlbehalten aus der mobilen Medizinalstation gestiegen und hatte damit von der Schwelle zum Tod zurück ins Leben gefunden. Wenn man sich seines jämmerlichen Anblicks von Vorhin entsann, mit schmerzverzehrtem Gesicht, schreiend und blutend, grenzte diese spontane Heilung beinahe an ein Wunder. Er hatte etliche Rippenbrüche erlitten; Läsionen von Milz, Nieren und Lunge zu ertragen sowie schwere bis leichte Traumata bis Prellungen aller inneren Organe zu beklagen; einschließlich eines gebrochenen Kiefers mitsamt einem schweren Schädelhirntrauma. Schließlich war er nun Dank einer ersten, zwiespältigen Kontrolltechnologie vor noch Schlimmerem – dem Tod vermutlich – bewahrt worden und wurde nun von einem zweiten, medizinischen Artefakt kuriert.

 

Nach seinem Ausstieg nach Außen hin fast vollkommen wiederhergestellt, eilte er freudestrahlend zu seinen Lieben und feierte seine Wiedergeburt entsprechend frenetisch. Danach wandte er sich zu Xaver um, der still und zurückhaltend dem familiären Glück seinen Raum gegeben hatte, indem er auf halber Strecke zu Hofmeister abgewartet hatte. Er und sein Familie bestanden zum Dank für Xavers Hilfe darauf, ihn wenigstens zu einem gemeinsamen Essen einzuladen. Mauritius liebte seinen Zauber sowieso und so war die anschließende Fahrt in lebendigeren Bezirke von Frankfurt Rhein/Main schnell beschlossen. Dafür galt es nun als erstes aus dem Zentralknoten herauszukommen, wofür sie sich geschlossen auf den Weg in die subterranen Tiefen machen mussten. Dort, ungefähr drei Kilometer unter der Erde, so erklärte Hofmeister auf dem Weg, würde sein und Kirchners Fahrzeug auf sie warten. Gegen den Weg und die kurzweilige Möglichkeit, Eris genauer kennenzulernen, hatte Xaver wenig einzuwenden – ganz im Gegenteil; Kind und Ehemann zum Trotz und ohne den Glauben, seine verstiegene Fantasie je verwirklichen zu können, überhaupt wirklich zu wollen. Sowohl stand er sich, als auch sie ihm dabei im Wege. Er mochte Mauritius viel zu sehr und begann langsam Edgar wertzuschätzen, außerdem war er Frauen gegenüber immer ziemlich abgeneigt gewesen – früher, bevor er schrittweise augmentiert worden war. Ein nicht zu unterschätzender Nebeneffekt, der sich im Laufe seines Exils auf dem Mond eingestellt hatte. Vor allem aber hatte Eris noch ein Wörtchen mitzureden, von Edgar mal großzügig abgesehen. Sie war zwar zutiefst dankbar und öffnete sich, alleine wegen ihrer extrovertierten Art, anderen gegenüber relativ schnell, mehr aber auch nicht.

 

So tat ein augmentierter Neu-Mensch, der wider seiner Natur und hauptsächlich aus existenzieller Notwendigkeit heimkehrte Richtiges im Falschen: Im Herzen Zorns und auf dem größten Schlachtfeld das die menschliche Geschichte je hervorgebracht hatte; im Vakuum der Humanität hatten er und die Segnungen der Hochtechnologie für eine hoffnungsvollen und schönen Moment an diesem Saturntag den 21.5 des Jahres 2205 gesorgt. Nur zehn Sonnen-Jahre nachdem der Fortbestand der solaren Menschheit in 2195 aufs Äußerste gefährdet worden war; aufgrund einer Katastrophe, deren unmittelbaren Schäden noch nicht annähernd beseitigt und deren mittelbare Konsequenzen, geschweige denn langfristige Folgen, kaum vorstellbar waren – dem historisch unvergleichlichen Einschnitt, der so prosaisch als solarer Kollaps Eingang in die Annalen der Menschheit gefunden hatte. Dieser düstere, solar-historische Hintergrund spielte aber seit der Landung für Xaver Satorius und seine kuriosen Bewusstseins-Module kaum noch eine Rolle; für den kleinen Mauritius, dessen Eltern Edgar und Eris und die beiden Wächter ebenso wenig. Denn es gab Wichtigeres, wie Matrina so geschwungen und sachlich zugleich formulierte: „Abstrakt gesprochen geht es um das gute Leben, was konkret bezogen bedeutet, die Leiden und Freuden der Wirklichkeit in eine gute Balance zu bringen, wobei couragierte und inspirierte Tätigkeit, gute Arbeit also, privilegiertes Medium sein sollte.“

 

Alle litten sie unbewusst oder bewusst auf ihre eigene Art an den vielfältigen Folgen dieses epochal-traumatischen Ereignisses. Am folgenreichsten waren wohl Menschen wie der brutale Wachsoldat Kirchner betroffen oder auch die vielen ungenannten, anonymen Dritten, die ihre Hilfe unterlassen hatten, oder wie Hofmeister davor standen wieder einmal wegzusehen. Sie alle zusammen aber, das muss hier wirklich betont werden, zählten mit ihrem alltäglichen, grauen Leid dennoch zu einer auserwählten Elite der Menschheit. Ob Organiker oder Neu-Mensch, sie alle besaßen vom Bruchteil des zivilisatorischen Erbes einen ungebührlich großen Anteil. Sie gehörten damit zu den wenigen, privilegierten Menschen, welche – der Fast-Magister Xaver Satorius exerziert es biografisch und zugleich pathologisch – die Augen nur fest genug verschließen mussten, um sich einfach vorstellen zu können, alles wäre oder würde wenigstens bald wieder gut. Sie standen damit in ihrer einigermaßen geordneten, leidlich funktionierenden Existenz im beinahe inhumanen Kontrast zu der tatsächlichen Lebenswirklichkeit der großen Masse an Überlebenden: Auf der Erde, den vielen Monden, Planeten, Planetoiden und Asteroiden des Sonnensystems, sogar weit unter den Oberflächen der Landmassen und in den tiefen der Ozeane, weit oben in den vielen Raumschiffen, Orbitalstationen und künstlichen Habitaten, die sich die Menschheit an den unmöglichsten Orten geschaffen hatte; überall dort litten derzeit Abermilliarden von Menschen an existenziellem, rotem Leid. Dieses Leid forderte wenigstens schmerzlichen Blutzoll und kostete höchstens das nackte Überleben. Eine unhaltbare Kluft zwischen technologisch-märchenhaftem Luxus auf der einen Seite und erbärmlichen, menschenunwürdigen Zuständen geprägt von Elend, Leid und Unfreiheit; eine historisch unhaltbare Asymmetrie.

 

Eine ambivalent schimmernde Seifenblase insgesamt, deren Anschein von politischer und technischer Stabilität diese ersten beiden Etappen der Reise geprägt und erleichtert hatte. Allerdings handelte es sich dabei um ein fragiles Gebilde, das zunächst glanzvoll in seinen bunten Regenbogenfarben blendet, im Nu aber bereits wieder zu zerplatzen droht. Ein impulsiver, technologisch überzüchteter Wächtersoldat, ohne nötige Selbstbeherrschung und bar humanen Anstands, reicht da vielleicht schon aus. Aber auch ein knapp kalkuliertes Budget konnte für Exilanten problematisch werden. War man nicht Teil der so unterschiedlichen Kollektive, die es derzeit im Sonnensystem gab, traf man nicht immer und überall auf Gastfreundschaft, Hilfsbereitschaft und Selbstlosigkeit. Von Geld als universellem Tauschwert konnte kaum noch die Rede sein, seit dem Zusammenbruch der meisten planetaren und nahezu aller solaren Strukturen und Institutionen. Bisher hatte Xaver auf seiner Reise in exakt sieben unterschiedlichen Währungen gezahlt. Vom digitalen Kredit bis zur handfesten Goldmünze erstreckten sich dabei die ontologischen Aussprägungen von Geld.

 

So war die Lage in vielen der Lebenszonen hier auf der Erde, den anderen Planten und Monden sowie den anderen Refugien der Menschheit, sehr unterschiedlich und extrem. Das konnten Googol und Sokrates nicht unterlassen, immer wieder zu wiederholen und damit über Gebühr zu betonen: „Ausdifferenzierung der historischen, zivilistarotischen und existenziellen Zustände: Vom postapokalyptischen Überlebenskampf, über die diversen guten wie schlechten Formen von Politik und Nichtpolitik hin zu hoch entwickelten, sozialen Utopien und Dystopien“, so lautet eine letzte Version dieser Überzeugung. Soweit es seine Persönlichkeit zuließ, stimmte sogar der prinzipiell ablehnende Nietzsche mit diesem Bild der Menschheit weitgehend überein und war damit abermals auf Seiten seines historischen Namenspatrons, wenn auch aus anderen Gründen als dieser im 19. Jahrhundert. Zunächst aber blieben ihm, also dem heroischen Exilanten Xaver Satorius der schimmernde Glanz der technisierten Seifenblase auf seiner Reise noch ein klein wenig erhalten, nachdem er sich angeschickt hatte, den gigantischen Komplex des zentralen Raumknotens Zentraleuropa in Frankfurt am Rhein und am Main in unverhofft reizvoller und vielfacher Begleitung zu verlassen.

 

In diesem Moment wanderte sein Blick das erste mal bewusst durch den düster-grauen, technikdurchzogenen, irgendwie schaurig-schönen Himmel, soweit das über die medial gefilterten Panoramaschirme auf dem Weg in die Tiefe hinab zu den Schwerefeldern eben möglich war; ein verstörrender Anblick, wie er und fast alle Module außer Nietzsche und Hoffmann befanden. Letzter enthielt sich, da er sich in Hinblick auf Emotionales und Ästhetisches für inkompetent hielt, wie er in gewohnt wenigen Worten zögerlich als Begründung vor sich hernuschelte. Eben jenem Hoffmann, genauer seiner Kompetenz im Mixen pharmazeutisch-psychedelischer Cocktails verdankte Xaver seine rasche Erholung nach dem Flug und ein Gross seines bravourösen Istzustands. So ging es ihm nunmehr in fast jeder physischen und psychischen Hinsicht wieder gut und sogar noch mehr als das. Seit der therapeutisch induzierten Applikation kurz nach der Landung sorgten die diversen Mixturen für die wirksame Erholung des gesamten Körpers, allem voran durch das restlose Verschwinden aller Psychosomatiken und physischen Folgen des auszerrenden Fluges. Nach dem Ende der sozialen Bewährungsprobe entfaltete nun eine dritte Rezeptur aus Hoffmanns Repertoire ihre Wirkung. Anfangs hatte sie sich nur leicht, mittlerweile aber merklich berauschend geäußert. Die Droge spendete mild-manische Euphorie; entspannte Körper und Geist gleichermaßen tief und restlos; stimulierte und ermunterte derart, das keine Anstrengung zu groß und kein Herausforderung zur schwer erschienen und regte nicht zuletzt Kreativität und Fantasie zu unbeschreiblichen Höhenflügen an – dies alles ganz ohne Nebenwirkungen, von den unvermeidlichen alltäglichen Abhängigkeiten mal abgesehen. Technisch sanktionierte Sucht ohne physische Konsequenz oder moralischer Reue, aber mit modularem Korrektiv namens Matrina. Lucy‘s Soma nannte Hoffmann diese Wirkstoffkombination, welche Xaver nicht mehr missen wollte, die aber als Suchtobjekt nicht mit den eskapistischen Ausflügen in Wissensnetze und Erfahrungswelten zu vergleichen sind. Im Gegensatz dazu musste Xaver nämlich in seinem Leib und damit in der wirklichen Welt präsent sein, um Hoffmanns pharmazeutische Alchemie empfinden zu können. Tiefenimmersion durch das Gedankenkonzil oder leiblicher Genuss, es gab keine Synergien zwischen beidem, nur den Wechsel.

 

Fast alles beim Alten beim aktuell verzückten Fast-Magister also: Vom planetaren Umzug ohne Rückkehr, der Heimkehr aus dem Exil und dem damit beginnenden neuen Lebensabschnitt mit all seinen Ungewissheiten und Hürden sowie selbstverständlich der Verlängerung des Endes der Geschichte selig berauscht mal abgesehen. Neugierde überspülte gerade Xavers Bewusstsein: Wer waren wohl diese seltsamen van-Beegers wirklich und was würde er hier in Zentraleuropa, nur noch wenige 100 Standard-Kilometer von seinem Ziel entfernt, wohl als nächstes zu erleben haben? Der eingeschlagene Weg führte ihn nun als nächstes im kleinen hinunter in die subplanetaren Tiefen des Zentralknotens und daraufhin im großen Maßstab weiter nach Nordwesten an den Rand des Einflussbereichs der KK – wie die fast staatsähnliche Neo-Genossenschaft Karlus-Korporation meist abgekürzt wurde. Er würde die wenigen Todeszonen, die er auf der Route nicht einfach umfliegen konnte, gut zu überstehen zu haben, denn die dort hausenden Schrecken sollte niemand am eigenen Leib erfahren müssen. Hätte er innerhalb der zivilsatorischen Hierarchie ganz oben gestanden, wäre vielleicht ein direkter Gleiterflug von hier zum Ziel finanzierbar gewesen. Da er aber mit seinen geringen monetären Mitteln haushalten musste, blieben ihm nur unsichere, aber dafür sehr viel günstigere Fortbewegungsarten. Mit einer Techno-Karawane aus einer der großen Sieben Metropolregionen in die Peripherie einer zweiten.

 

Aber erst stand noch ein rauschender Spaziergang in die Tiefe, mit anschließendem Höhenflug an. Der lange Tag würde im Anschluss von einem vergnüglichen Festmahl mit Eris und den anderen beiden van-Beegers gekrönt werden und dann in einem x-beliebigen Hotel enden. Erst am nächsten Morgen musste er weiterreisen, an den Rand der hiesigen Lebenszonen und damit den der relativen, zivilisatorischen Sicherheit. Die Route führte den Rhein hinunter in eine Region die früher mal Nordrhein-Westfalen genannt worden war, als es die Bundesrepublik Deutschland noch gegeben hatte. Das bedeutete, man musste durch neue und alte Wildnis reisen, musste dabei ausgedehnte urbane und teilweise sogar eine der wenigen natürlichen Todeszone bezwingen. Letztere lag als düsterromatische Wälder im Süden der Reiseroute und erstere würden als trostlose Architekturwüsten das atmosphärische Hauptthema der Reise ausmachen. Beiden gemein war die dort herrschende, ständige Lebensgefahr, auch wenn eine Techno-Karawane von schwer bewaffneten Fahrzeugen und den unvermeidlich dazugehörigen Militärs begleitet wurde – zumeist dreckige, ungehobelte Söldner.

 

Mitsamt seine vielen Lebenszonen lag das Ziel der Reise im Nordenwesten; dorthin zog es den verspannten Fast-Magister, der sich derzeit beinahe auf einer Heimreise in seine eigene Vergangenheit befunden hätte. Wenige dreistellige Standard-Kilometer Differenz zu seiner eigenen Geburtsregion auf der Erde im Nordosten von Frankfurt Rhein/Main werden im solaren Maßstab zur unbedeutenden Winzigkeit – hier vom galaktischen oder gar kosmischen Maßstab zu reden, wäre zu viel des Vorstellbaren und blieb neben allem technischen Fortschritt und historischen Rückschritt weiterhin unerreichbar für die solare Menschheit. Ein noch immer viel zu abstrakter, unerreichbarer Horizont, zu dem sich die Menschehit gerade erst im Aufbruch befunden hatte, als alles kollabierte: Der galaktische Lebensraum Milchstraße hatte bisweilen an Glanz verloren. In der unmittelbaren existenziellen Nähe galt es die entscheidenden Herausforderungen zu meistern, erst dann würde der Blick langsam wieder in die Fern gerichtet werden können. Ob Xaver, Eris und Edgar, Mauritius sowie die beiden Wächter Hofmeister und Kirchner diesen Zeitpunkt noch erleben würden, blieb wie alles Zukünftige zu erwarten: Je nach Herkunft, Haltung, Charakter und Zufall voll optimistischer Hoffnung; versunken in pessimistischer Verzweiflung; getrieben durch aggressive Projektion oder geblendet von purer Ignoranz.

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