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Wochenendlektüren Nr.8 – YY1: S. 5-8/~34 [Version 1.2]

Wohl erholt zurück aus dem einzigen offiziellen Jahresurlaub bin ich so frei und präsentiere das nächste Häppchen von YY1 als TSF ganz unumwunden, jedoch eingleitet mit diesem Monster-Satz, der für sich so inhaltsleer ist, dass ich ihn mir an sich hätte sparen können, was mir aber erst jetzt auffällt und zugleich so schwerfällt, dass ich ihn sein lasse, wie er geworden ist.

Seht es mir freundlich nach und wendet Euch dem nachfolgenden freudig zu, Euer Satorius


1. Zugang YY – Gor(e)

Während das Krachen des schweren Panzertors noch dumpf aus der Ferne widerhallt, rücken die beruhigenden Geräusche des prasselnden Regens von Neuem in den Vordergrund meiner Wahrnehmung: rhythmisch, wohltuend, beruhigend und angenehm einschläfernd. All die düsteren Gedanken an Kontamination, Revolution und die ganze Scheiße hier in Gor verstummen. Neugierde unterliegt unterdessen Müdigkeit und der wohlverdienten Unlust, mich noch ernsthaft mit der beschissenen Außenwelt zu beschäftigen. Vor allem dann, wenn sie sich so widrig gibt, so widerwärtig ist wie das Flüchtlingspack da drüben, das mich ignoriert und trotzdem interessiert. Dabei habe ich sie doch nur gebührend hier bei uns begrüßen wollen. Nach dem Fegefeuer der Todeszone sind sie nun im äußersten Kreis der Hölle angekommen – wow, erst Marxisten, nun Katholiken, es ist wohl mein Tag der Nostalgie. Neben den alten Sprachen kehren aktuell auch die alten Religionen und diverse obskure Weltbilder zurück, so auch das Christentum. Aber ich bin gefeit gegen solche Märchen. Wie dankbar bin ich in diesen Moment mal wieder dafür, vor all dem hier klassisch und kritisch von meinen Eltern ausgebildeten worden zu sein. Sonst erginge es mir wie den meisten anderen hier unten im Schlamm, sei er auch noch so nanohygienisch rein, und ich wäre wie sie blind, taub und verschlossen gegen die wirklichen Zustände im Sonnensystem. Würde mich vielleicht sogar in ideologische Illusionen flüchten. Dabei muss ich meinen Bruder leider mit einschließen, der intellektuell nie so viel Lust und Talent gezeigt hat wie ich und deshalb jetzt die eine oder andere recht eigenwillige Ansicht über unsere Lebenswelt vertritt. Zum Glück hat er für meine Erklärungen und Einflüsterungen meistens ein offenes Ohr, wenn auch ein stures Gedächtnis, das schnell vergisst.

Ach was solls, der Funke Neugier reicht doch dafür aus, mich wieder nach außen zu wenden. Regen und Nebel, das typische Scheißwetter bei uns eben, verhindern eine gute Sicht raus der Kuppel rüber zu den Fremden. Ich stehe also auf und gehe soweit zum Ausgang vor, dass ich nicht nass werde, und schaue genauer hin: Die vier dreckigen, kleingewachsenen Gestalten lungern still und unbewegt auf dem ebenfalls dreckigen, über und über mit Schlamm bedeckten Boden des Platzes direkt vor dem rostig-grünen Südosttor herum. Es sind lebendige Menschen, trotzdem wirken sie wie versteinert. Meine Gefühle ihnen gegenüber sind gemischt, immerhin, bin ich doch dank meiner Eltern als Humanistin erzogen worden und habe mir Reste dessen selbst hier erhalten können. Aber die Gesamtsituation des Sklavendaseins und die fortgesetzt dummdreiste Arglosigkeit der sogenannten Wachen gehen mir an die überreizten Nerven. Ich habe echt Angst vor dem, was wirklich da draußen hinter den Mauern lauert, und von dort kommen sie. Idealerweise sollte ich die Neuen, wie vorhin versucht, offen und freundlich begrüßen. Sollte sie keinesfalls grundsätzlich fürchten, mir besser selbst ein Bild von ihnen machen. Dabei sollte ich nicht auf die Absicherung durch Wachen und Waffen hoffen. Aber ich werde tatsächlich zunehmend unruhiger – nicht, dass die Gerüchte doch wahr und wir in Gor nun auch an der Reihe sind. Denn dann wäre es doppelt dämlich und selbstmörderisch, jetzt offenherzig und neugierig dort rüberzugehen, „Hallo“ zu sagen und auf gute Miene zu machen. Ach was, ich spinne schon wieder rum, werde wohl selbst langsam hysterisch. Es hat hier in den letzten Jahren kaum Zwischenfälle gegeben, ein paar gestörte Psychos, ja, aber die wurden schnell zur Vernunft gebracht oder wieder ausgesondert. Mehr Sicherheitsrisiken sind nicht von dort draußen zu uns hereingedrungen. Alles andere sind hausgemachte Probleme gewesen.

Dennoch das ist eh egal, jetzt dort raus und näher ranzugehen, traue ich mich nicht. Mein notorischer Drogenkonsum, all das elendige Soma, das verschnittene Amphetamin und der primitive Alkohol, sind relativ geduldete Regelverstöße. Sie bringen mir vermutlich einen Strich in irgendeiner langen Liste ein und führen ganz selten zu einem strafenden Schmerzreiz – wann genau und warum so selten versteht keiner von den vielen Junkies unter uns Sklaven. Das also ist eine Sache, aber ein direkter Kontakt zu Flüchtlingen ist ein ganz anderes Level! Außerdem bin ich gerade schon mutig genug gewesen, bin beim Regelsurfen ein ernstes Risiko eingegangen, als ich die Neuankömmlinge frei heraus angesprochen habe. Bevor die Wachen nicht ihre Sicherheitsshow abgezogen haben, ist uns sogar das Sprechen mit Heimatlosen untersagt, mit Freien oder Herren übrigens sowieso. Keine dieser vielen Regeln ist irgendwo aufgeschrieben, alles ungewiss. Wir lernen sie zufällig voneinander und nachträglich durch Bestrafung, seltener durch Nicht-Belohnung oder eine direkte Weisung von oben. Es gibt hierzu entsprechend viele Theorien und noch mehr Gerüchte, aber die wichtigsten Alltagsregeln sind noch jedem früher oder später schmerzlich klar geworden. Nach meinem Wagnis von eben, zumal es vermeintlich ungestraft bleibt, sollte ich mich nun wohl besser zurückhalten. Ich will heute sicher keinen mittelgradigen Regelbruch mehr riskieren. Yang könnte jetzt ruhig mal stolz auf mich sein, wo er mich ständig als ängstliches Hühnchen betitelt, wenn der Penner denn überhaupt mal seine Augen auf und seine Zähne auseinanderbekäme. Ich habe jedenfalls vorerst genug, genug provoziert und getan – und überhaupt, so heftig wie Yang genieße ich das Adrenalin beim Surfen dann auch nicht.

Wenn ich doch nur irgendwas zum Flashen hätte, wäre alles leichter – aber nein, es herrscht seit Tagen Flaute auf dem Schwarzmarkt. Bald reichts mir, dann trinke ich allen Ernstes wohl mal wieder den verfluchten Schnaps, den man, Nebenwirkungen hin oder her, leicht und sogar legal bekommen kann. Heute müsste ich, wenn ich mich vorhin nicht doch sträflich versurft habe, wieder eine Dosis von dem Dreckszeug zugeteilt bekommen. Irgendwann in den Abendstunden könnte das passieren, aber wann genau und ob überhaupt liegt nicht in meiner Hand, nur der Ort ist gewiss: Beim Lebensmarkt 5. Zwischenzeitlich kehre ich die wenigen Schritte vom Eingang zurück und wir ruhen wieder beide in den aktuell zu Sitzsäcken umfunktionierten Allzweckmöbeln in unserer transparenten Wohnkuppel mit der neongelben Nummer 423 über ihrem Eingangsportal.

Wie zu erwarten ist keine der Wachen aufmerksam geworden und da eine direkte Bestrafung auch ausgeblieben ist, lasse ich meinen Gedanken nun freien Lauf und sie laufen wie meist sehr weit weg von hier. Hier in der tristen Wirklichkeit des Sklavenlagers gibt es halt nicht viel Gutes zu holen, daher bekommt man rasch Übung im Weg-Denken. Und sowieso, was auch immer passieren will, wird auchff9200 ohne mich passieren, wie es eben geschehen wird, will oder soll oder womöglich sogar muss – ach, was weiß ich kleine Sklavin schon vom Schicksal und dem Lauf der Dinge, noch über den Gang der Zeit und die Zukunft!

Eines aber weiß ich ganz sicher: Ich will hier weg, raus aus dem Schlamm der Glasstadt, am besten ganz weg aus Gor oder doch wenigstens nach oben in die besseren Stadtteile. Ich habe lange gehofft, dass ich mich an das Sklavendasein gewöhnen könnte, dass mich der kleine Aufstieg, der uns möglich ist und den ich begonnen habe, vertrösten könnte. Aber ehrlicherweise halte ich die Scheiße des Alltags nur einigermaßen aus, wenn ich irgendwie flüchte, irgendwie verdränge. Solange ich nicht auf Droge sein kann, ist meine Phantasie der einzige Ausweg, ein geheimer Schlüssel zum Reich der Freiheit. Meine Vorstellungsgabe ist ein verborgener Pfad aus der Stadt heraus in die weite Welt hinaus. Der wirkliche Fernblick über die umliegende Todeszone in Richtung Horizont taugt kaum zum Tagträumen, ist aber der Anfang jedes mentalen Trips. Könnte man jetzt über die Streuner hinweg und durch den äußersten, sieben Meter hohen Schutzwall hindurchschauen, könnte man vor allem jenseits aber auch innerhalb der Ruinenfelder versteckt sehenswerte Plätze entdecken, wildromantische Kulissen, einer Hyperschnulze, wie sie Mama einst geliebt hat, würdig. Aber besonders die Erinnerungen an früher liefern mir den Stoff, meine Phantasie macht dann den Rest. So weiß ich mich perfekt zu erinnern, denn man prägt sich die schönen Dinge, die es im hässlichen Lagerleben kaum noch gibt, am besten gründlich und ganz tief ein. Ohne solche unschätzbar wertvollen Erinnerungen fehlen einem Rückzugsorte für Geist und Seele, ohne solche Schatzkammern des Glücks bleiben einem halt nur Drogen, legale wie illegale. Oder man ergeht sich eben in teils bedenklichen Hobbys wie dem Regelsurfing. Ansonsten verliert man schnell die Lust am Leben, am zermürbenden Alltag des 24/7-Sklavendaseins und am Ende versucht man lange und zunächst häufig erfolglos, sich das Leben zu nehmen. Denn trotz der diversen hochtechnologischen Sicherheitsvorkehrungen sterben die meisten Sklaven letztlich doch durch Freitod, nicht durch Krankheit, Unfall oder mordlüsterne Dritte. Nichts für mich, ich will wenigstens geistig gesund bleiben und da keine ordentlichen Drogen zu Hand sind, lehne ich mich nun komplett zurück, räkel mich bequem in den weichen Kunststoff unter mir und schließe meine Augen endgültig fest. Ich ergehe mich in einer längst überfälligen Tagträumerei, einer der wenigen Episoden, deren Ursprung nach meiner Enteignung liegt. Dieses Erlebnis ist noch frisch, ist kaum eine Woche vergangen:

Wochenendlektüren Nr. 7 – Das System: S. 1 – 11/11 [Version 1.0]

Heute möchte ich Euch ohne allzu viele begleitende Worte ein frisches TSF servieren. Inspiriert wurde die Kurzgeschichte durch ein wirkliches Erlebnis, also getreu und gemäß dem Motto: Das Leben schreibt die besten Geschichten schon selbst. Als Chronist habe ich mir erlaubt, das kuriose Vorkommnis stilistisch ein wenig zuzuspitzen und der Diskretion zuliebe moderat zu verfremden.

Viele Vergnügen beim Lesen und möge das System Euch mit dererlei Quereln verschonen, Euer (nicht immer stoischer) Satorius


Das System

Zuerst war er verblüfft, dann neugierig, zuletzt verärgert. Der Grund dafür war nicht der erwartete Brief seiner Krankenkasse, die ihn letzte Woche erst überrascht und sodann verärgert hatte, sondern ein Brief der Gerichtskasse in Gießen.

Seine Freundin hatte beide Schreiben von ihrem morgendlichen Spaziergang mit der gemeinsamen Tochter – nicht einmal ein Jahr alt, wild und zuckersüß, liebenswert und nervenaufreibend: ein furioser Wirbelwind – mit in die gemeinsame Wohnung im Erdgeschoss gebracht. Zuvor hatte das begeisterte Sturmklingeln der Kleinen den Großen entgeistert aufschrecken lassen. Er war nämlich ein ausgewiesener Langschläfer, bisweilen Morgenmuffel und wurde mit der allmorgendlichen Rückkehr seiner Lieben meistens zum zweiten Mal wach, nachdem er zu einer Uhrzeit, einer Unzeit zwischen sieben und acht Uhr morgens, zunächst mit seinen beiden Damen erstmals erwachte.

Es war der 23. September, Tag und Nacht lagen im Gleichgewicht und die Witterung stellte sich während seines noch schlaftrunkenen Kontrollblicks über den Balkon, durch das dort aufgespannte Katzennetz hindurch, als neutral im schlechtesten Sinne heraus: Die monotonen Wolkenschleier dort draußen waren tiefgrau, kein Fetzen blauen Himmels zu sehen, ein Wetter ohne Eigenschaften, das seine zerknitterte Stimmung schonmal nicht aufhellte. Dennoch schien der Rest der kleinen Familie den Spaziergang genossen zu haben, wenn er auch ohne den erhofften, erholsamen Schlaf für den Fratz geblieben war. Er begrüßte, nunmehr bereits milderer Stimmung, Frau und Kind – eine Wortwahl, die er nur ironisch verwendete, war ihm im Gegensatz zu ihr das Sakrament der Ehe ein Gräuel – kurz mit je einem Kuss, nahm besagte Post entgegen und ging voran ins Wohnzimmer, wo er die beiden Briefe mit seinen blassblauen Augen musterte.

Er wollte sie nacheinander öffnen. Zuerst die schlechte Nachricht, dachte er: Da ihm der Inhalt des anderen Schreibens vorab klar war, griff er also zunächst zu demjenigen mit dem unheilvollen Absender Gerichtskasse Gießen. Hatte er falsch geparkt, war er geblitzt worden, ohne es zu merken, was hatte es damit wohl auf sich? Gespannt riss er den Umschlag auf, warf das Papier achtlos auf den dunkelbraunen Tisch zwischen all das Chaos, das hier und auch sonst überall in der kleinen Wohnung die Oberhand gewonnen hatte, seitdem sie zu dritt waren, und begann zu lesen: Grundbuchsache lautete der Betreff, eine vage Ahnung über den Anlass der Mitteilung war gestiftet, allerdings stand rechts daneben, ebenfalls fettgedruckt und in gleicher Schriftgröße gesetzt, Mahnung. Von 20,90 € war die Rede, wobei es die zusätzlichen 5,00 € Mahngebühr waren, gefolgt von der Androhung einer Pfändung von Konten und Arbeitseinkommen durch einen Gerichtsvollzieher, die ihn erst irritierte und darauf schrittweise sprachlos, dann ärgerlich und zuletzt rasend machte. Dieser Vorgang vollzog sich in Minutenfrist, ungesehen, ungehört und erreichte die anderen erst mit dem der Tochter zuliebe immerhin mäßig unterdrückten Fluch: „Habt ihr sie nicht alle? Was soll denn dieser Scheiß – bitteschön!“

Während die Tochter lustig gluckste und rasch in seine Richtung krabbelte, steckte seine Gefährtin – eine Bezeichnung wiederum, die er liebte, und gänzlich unironisch vor dem Aussterben bewahren wollte – ihren rotblonden Kopf in den Raum und fragte mit tadelnder, trotzdem leicht amüsierter Miene: „Na! Nanu, was ist denn los?“

„Ich so allen Ernstes 5,00 € Mahngebühr für eine Rechnung zahlen, die ich nie bekommen habe. Vermutlich für diesen elendig-lästigen Erbschaftsdriss, der mich schon seit zwei Jahren heimsucht. Eigentlich sollte das beendet sein, ach, ich kann dazu nur eines sagen: Scheißverein!“, erwiderte er schon etwas beruhigter im Bauch, aber nunmehr vom Kopf her sauer, geladen in gerechtem Zorn – es ging ihm ums berühmt-berüchtigte Prinzip.

Dann schaute er nach unten, wo die Kleine sich an seinem Bein hinaufzog, lächelte zunächst bemüht, sodann doch von Herzen und nahm seine Tochter auf den Arm. Die Große lächelte ebenfalls, besänftigend, stimmte seinem Verdruss jedoch unumwunden, wenn auch fluchfrei zu.

Er beschloss daraufhin, es war jedoch bereits kurz vor Mittag, bei der verantwortlichen Behörde anzurufen, um seinem Ärger Luft und die Mahnung ungeschehen zu machen. Mit einer forschen, aber zutreffenden Eröffnung wollte er das Gespräch beginnen, eilig nicht bedenkend, dass er lediglich in einer Telefonzentrale landen würde. Gewählt, von einem Herrn Günnert matt und geschäftsmäßig desinteressiert begrüßt und plangemäß, vermeintlich rhetorisch spitz gefragt: „Ist es in ihrem Hause üblich, Mahnungen zu versenden, ohne zuvor eine Rechnung gestellt zu haben – denn genau das ist mir heute passiert?!“

„Ja … Das kommt schon mal öfter vor“, wurde ihm sofort und gänzlich unerwartet jeder Druck aus seinem Angriff genommen.

Humor und neuer Ärger rangen in ihm, vermischten sich und brachten ihn sogleich wieder in Rage: „Insbesondere dann sehe ich keinesfalls ein, die geforderte Mahngebühr zu bezahlen, und verlange eine ordentliche Rechnung, die ich ordentlich bezahlen kann. Wenn dieser Fall – wie Sie dreist zugeben – öfter eintritt, sollte immerhin das unproblematisch sein.“

„Moment, ich leite Sie an die zuständige Sachbearbeiterin weiter. Wie war nochgleich ihr Nachname?“

Quartz!“

Q also, dann verbinde ich Sie nun mit Frau Franjo …“, sagte der Telefonist und wurde abrupt von einem Amt ersetzt.

Nicht, dass er sich hätte verabschieden oder gar bedanken wollen, wartete er erneut, nunmehr ernüchtert von der anonymen Behördensachlichkeit, namentliche Begrüßung hin oder her. Und er wartete noch immer, mittlerweile war es 11:48, als das Amt zum zehnten Mal ertönte, woraufhin er abermals von der drögen Stimme angesprochen wurde: „Frau Franjo ist nicht in ihrem Büro erreichbar – wohl schon zu Tisch. Rufen Sie später nochmal an, ich gebe ihnen dafür ihre direkte Durchwahl: 2342.“

„Allerbesten Dank und auf nimmer Wiederhören“, verabschiedete er sich barsch, legte auf und pfefferte das Telefon in die Sofakissen.

Jetzt musste er sich tatsächlich noch länger mit dieser bereits stark vorbelasteten Angelegenheit befassen, als hätten zwei Jahre Scherereien nicht vollkommen ausgereicht: Denn er war sich nun ziemlich sicher, dass sich die ominöse Rechnung auf das Umschreiben des unsäglichen Waldgrundstücks bezog. Er hätte davon vor sechsunddreißig Jahren ein Zwölftel geerbt – genauer und aktuell genommen zusammen mit zwei weiteren Miterben aus dem erweiterten Familienkreis exakt ein Sechsunddreißigstel –, wenn dieses wirtschaftlich irrelevante, weil nicht einmal einen Hektar große Grundstück seinerzeit nicht vergessen worden wäre. Aber seine Großeltern hatten es schlicht versäumt, dieses Stückchen Gemeinschaftswald bei der vertraglichen Überschreibung des sonstigen Eigentums an ihn zu erwähnen. Er war also, kaum auf der Welt, bereits Großgrundbesitzer geworden, da sein Vater wenige Monate vor der Geburt des eigenen Sohnes tragisch an Tuberkulose verstorben war. Deshalb war der Familienbesitz direkt vom Großvater, der wiederum kurz nach der Geburt des Enkels, somit nur wenige Monate nach seinem eigenen Sohn, verstorben war, an das Kind gegangen. Die Frauen der Familie waren hierbei zeittypisch relativ ignoriert worden, hatten immerhin Wohnrecht im Wohnhaus erhalten. Alles schien geregelt, bis auf den kleinen Gemeinschaftswald, der mehr oder minder allen Urfamilien des kleinen Dorfes in der osthessischen Provinz anteilig gehörte.

Nachdem dieses vermeintlich unbedeutende Versäumnis vor gut zwei Jahren bei der Inventur des Grundbuches einer fleißigen bis penetranten Beamtin – Frau Silberhorn – aufgefallen war, wurde er, gleichsam mit der Androhung eines Zwangsgeldes motiviert, dazu aufgefordert, eine Bereinigung des Grundbuches zu ermöglichen. Dazu sollte er entweder Testamente oder Erbscheine seiner Großeltern vorlegen. Die gab es jedoch nicht, woraufhin eine behördlich-juristische Odyssee ihren Anfang genommen hatte. In ihrem Verlauf waren viele Telefonate, etliche Besuche auf Amtsgerichten sowie Dutzende, teilweise kostspielige Urkunden nötig geworden und unterdessen hatten sich eine erstaunlich unerbauliche Menge an Missverständnissen, Fehlinformationen und Unzuverlässigkeiten von Seiten der Behörden, aber auch durch die Miterben ereignet. Am Ende war ein Notar zur Unterstützung engagiert worden und nach der fünften Fristverlängerung wähnte er den Vorgang mit der Überschreibung und Eintragung des Grundstückes auf ihn seit gut einem Monat endgültig abgeschlossen. Das Grundbuch war nun wieder konsistent und er um eine Reihe unerfreulicher Erfahrungen, nutzloses Wissen sowie letztlich ein enormes Zwölftel Land reicher.

Behörden und Bürokratien waren ihm seit jeher fremd, Beamte und insbesondere Polizisten suspekt gewesen und dieses Vorurteil hatte sich in der letzten Zeit derart bekräftigt, dass es drohte, sich in ein lebenslanges Urteil zu verfestigten. Er wusste zwar, wie wichtig derartige Berufe und ihre Institutionen für eine funktionierende Gesellschaft waren. Seine Erfahrungen in diesem Kontext waren beschränkt und womöglich nur zufällig miserabel ausgefallen, mit Anarchismus, Marxismus und anderen systemfeindlichen Ideologien hatte er nur in adoleszenter Schwärmerei geliebäugelt und auch das nur intellektuell, nie praktisch – dennoch er war zutiefst entnervt. Mehr als das, er empfand Abscheu vor diesen Strukturen, dem System als solchem, drohte in Zynismus oder gar Aggression abzurutschen.

Nun also schon wieder, nochmal – er musste es abermals mit ihm, dem System, mit ihnen, seinen Repräsentanten, aufnehmen, musste abermals zu Felde ziehen und musste dabei statt romantisch gegen monströse Windmühlen prosaisch gegen bedrucktes Papier, geltendes Recht und bürokratische Gesinnung ankämpfen. Er hielt sich trotzdem noch immer für einen Pazifisten, doch Situationen und Emotionen, wie gerade erlebt, ließen ihn ernsthaft an sich zweifeln. Frau Franjo hieß also heute seine erste Gegnerin, aber die war – Mahlzeit! – mutmaßlich verfrüht zu Tisch gegangen und er selbst wollte in einer Stunde arbeiten gehen, würde daraufhin nicht vor dem frühen Abend zurückkommen. Wider der Vermutung versuchte er es gleich nochmals, nahm den Hörer zur Hand und tippte die Durchwahl.

Nachdem es 13 Mal geklingelt hatte und während er mit jedem Amt gereizter wurde, fand er sich schließlich damit ab, erst morgen loszulegen. Er kehrte in seine alltäglichen Routinen zurück: Fütterte seine Tochter, bereitete seine Unterrichte als Hauslehrer vor, verabschiedete sich von seinen Damen und machte sich daraufhin mit seinem Fahrrad auf den Weg zum ersten Schüler des Tages.

Am Abend des Tages, die Tochter war gegen Acht, die Gefährtin gegen Elf zu Bett gegangen, hatte er, der er sich je nach Selbstdisziplin zwischen ein und drei Uhr anschließen pflegte, einen weiteren Zusammenstoß mit dem System, genauer einem Subsystem ganz ohne Beteiligung von genuinen Beamten: Er musste, wiederum aufbrausend, feststellen, dass der Freischaltcode für das Online-Portal seiner Krankenkasse, welcher ihn am Mittag im zweiten Brief erreicht hatte, nicht funktionierte. Es war schon sonderbar genug gewesen, als er letzte Woche nach Jahren der sporadischen, aber erfolgreichen Nutzung des Zugangs nach der Eingabe von Benutzer und Passwort unvermittelt aufgefordert wurde, jenen ominösen Freischaltcode einzugeben. Ohne, dass man das Phänomen hätte aufklären können, war ihm die Zusendung der Zahlenfolge als Lösung vorgeschlagen und sodann veranlasst worden. Nun also abermals in einer systemischen Sackgasse zu stecken, war schlicht obskur. Der trotz nächtlicher Stunde erfolgte Anruf bei der sogenannten 24/7-Hotline ergab die Auskunft, man sei zwar immer erreichbar, sein Anliegen könne jedoch nur durch den technischen Support bearbeitet werden und dieser sei selbstverständlich mitten in der Nacht nicht verfügbar. Solcherart abgefertigt, versuchte er noch rasch etwas anderes: Er gab den Code in ein zweites, vermeintlich identisches Textfeld ein, das er über einen im Schreiben erwähnten Link erreichte und welches ebenfalls nach einem Freischaltcode verlangte, und siehe da, es funktionierte. In einem insgesamt zwanzigminütigen Verlauf von Erwartung zu Überraschung, hinein in Ärger, welcher übergangslos in Zorn mündete, und nach dem Erfolg in zynischem Amüsement gipfelte, hatte er die Erkenntnis gewonnen, dass die gleich Aufforderung, das gleiche Wort in der Praxis eines anonymen, technischen Systems eben nicht gleichwertig war. Die angeblich wichtige Nachricht, die ihn laut letztwöchiger E-Mail in seinem persönlich Servicebereich erwartete und derentwegen er überhaupt so folgenreich versucht hatte, sich anzumelden, stellte sich als bloßer Hinweis heraus: Man habe die Funktionalität und Sicherheit der Online-Geschäftsstelle verbessert und wolle dies nun offiziell kundtun – woraufhin ihm nach Mitternacht die emotionale Energie versiegte, um weiterhin noch irgendetwas zu empfinden. Nach diesem Tage war er leer, legte sich taub und stumm ins Bett, jedoch nicht, ohne noch kurz an den morgendlichen Kampf gegen die ungerechte Mahnung zu denken. Wie immer und trotz allem schlief er in wenigen Minuten ein und träumte intensiv, aber unbeschreiblich seltsam.

Morgens erwachte er mit nebulösen Fragmenten im Kopf, konnte vor deren endgültigem Entschwinden noch eben entziffern und verständlich erinnern, dass er davon geträumt hatte, seinen Personalausweis samt Smartphone und Router hinter dem Haus in einem wider die Hausordnung entzündeten Freudenfeuer rituell verbrannt zu haben. Er spürte der wohl empfundenen, befreienden Genugtuung begierig nach, gleich einer Spur, vermochte allerdings nur noch die Spur des Verlöschens jener Spur zu erahnen. Dann war seine Tochter heran und überfiel ihn spielerisch-schroff mit ihrer frühmorgendlichen Energie, die jeden Morgenmuffel Fürchten und Staunen gleichermaßen lehren musste. Es war 6:42 und nach knapp 45 Minuten, die Mutter war unterdessen aufgestanden, hatte sich frisch und alles für den Tagesstart fertig gemacht, schlief er nochmals ein, um gegen zehn Uhr und damit heute tatsächlich vor dem späteren Klingelsturm aufzustehen. Leider hatte er den unterbrochenen Traum nicht fortsetzen können, so viel wusste er negativ, obwohl er sonst nichts Positives über seinen gewiss traumreichen REM-Schlaf zu fassen vermochte.

Morgentoilette und Familienidyll lagen bereits hinter ihm, als er neuerlich und leidlich gelassen mit der Durchwahl bei der Gerichtskasse anklingelte. Heute ging Frau Franjo ans Telefon und er schilderte ihr, ohne offene Provokation und schlagfertige Eröffnung schlicht sein Anliegen und wiederholte seine Forderung nach Gerechtigkeit.

Nachdem er geendet hatte, erwiderte sie mit lebendiger Stimme und offener Ungläubigkeit, damit ganz im Gegensatz zu ihrem Kollegen aus der Telefonzentrale vom Vortag: „So, Sie wollen also keine Rechnung erhalten haben und sehen deshalb nicht ein, die Mahngebühren zu bezahlen. Das kann ja jeder behaupten …“, stoppte sie, fuhr aber, bevor er scharf etwas erwidern konnte, fort: „Aber ich kann da sowieso erstmal nicht viel für Sie tun, denn wir sind nur die ausführende Gerichtskasse. Wenden Sie sich an das zuständige Amtsgericht, von dem die Rechnung ursprünglich veranlasst wurde. Dort klären Sie die Angelegenheit, fordern eine zweite Ausfertigung der Rechnung an, bezahlen diese und dann sehen wir beide weiter. Vorher werde ich die Mahngebühr nicht zurücknehmen.“

„Uff! Sie mahnen mich an, sind aber nicht im Stande … sind nicht verantwortlich dafür, ihren Fehler zu korrigieren? Denn ich habe definitiv nichts falsch gemacht und will das Problem einfach nur schnell gelöst sehen. Also gut, dann muss ich wohl woanders weitermachen. Ich rufe also selbst in Alsfeld an, bitten dort um eine Zweirechnung und wende mich dann wieder an Sie … habe ich das so richtig verstanden?“

„Genau! Wenn Sie das getan haben und von dort grünes Licht kommt, kann ich wieder aktiv werden. Auch wenn ich mir wahrlich nicht erklären kann, wie die Rechnung verlorengegangen sein soll“, zweifelte sie abermals, was seine Angriffslust nochmals anfachte.

„Das muss ich ihnen nicht erklären, noch gar beweisen, weil ich ehrlich bin und wohl kaum wegen fünf Euro mit einer dreisten Lüge hausieren gehe. Außerdem wurde die Rechnung sicherlich nicht als Einschreiben verschickt und solange gilt bei uns wohl noch immer der Grundsatz: Im Zweifel für den Angeklagten.“

„Als würde irgendjemand Rechnungen als Einschreiben verschicken, aber gut, wie dem auch sei – wenden Sie sich an Alsfeld und fragen dort nach.“

„Muss ich dann wohl und danke für ihr Bemühen. Auf Wiederhören!“, schloss er, wurde seinerseits verabschiedet und beendete das Gespräch wiederum höchst unzufrieden.

Nach einem neuerlichen Wurf des Telefons in die Sofakissen, der einen kleinen Wutanfall eröffnete, tobte er kurz verbal, fing sich mäßig und berichtete seiner zwischenzeitlich vom Spaziergang heimgekehrten Partnerin von dem unerquicklichen Telefonat. Diese suchte kurz und fand keine versöhnlichen Worte, teilte tröstlich und verständnisvoll seinen Verdruss. Die Kleine war wie immer unweit, kam heran und vermochte, ihn schnell abzulenken, und so kam er bald wieder zu sich, schickte sich sodann an, den nächsten Schritt auf dem lästigen Weg auf sich zu nehmen.

Er rief also gegen halb zwölf auf dem so verhassten Amtsgericht an, das ihn zwei Jahre lang wegen des nichtigen Erbes auf Trap gehalten hatte, vermied aber kalkuliert bis konfliktscheu, Frau Silberhorn direkt zu kontaktieren. Hoffend, dass er um ein Gespräch mit seiner bürokratischen Nemesis herumkommen möge, wählte er erstmal die Nummer der Zentrale.

Eine müde, unfreundliche und mundartlich plumpe Frauenstimme, an die er sich von zuvor noch vage erinnerte und die ihn Wort für Wort, ja Silbe für Silbe mehr strapazierte, empfing ihn:

Amtsgericht Alsfeld, Moog am Abbarad … bidde?!“

Er beherrschte sich, gab zum dritten Mal eine Kurzfassung seiner Situation zum besten Schlechten und wurde im gleichen Ton – angestrengt, lustlos, zermürbend unwillig – aufgefordert, das Aktenzeichen anzugeben.

Er hatte es befürchtet: „Dafür is‘ Frau Silberhorn zuständisch. Ich stelle’se dursch …“, schloss der Telefontrampel grußlos und sprach damit genau das aus, was er nicht hatte hören wollen. Nicht schon wieder die, seufzte er und fluchte innerlich. Auch wenn er in den zwei Jahren zuvor nur wenige Male direkt und zwischenmenschlich keineswegs übermäßig unerfreulich mit ihr gesprochen hatte, so hatte sie ihm ständig mit Briefen, die Aufforderungen, Ermahnungen und Vollzugsfristen enthalten hatten, nachgestellt.

Er tat einfach so, als kenne man sich nicht, schilderte sachlich seinen Fall und bat um Richtigstellung, woraufhin er nach seiner Adresse gefragt und ihm gesagt wurde:

„Also ihre Rechnungsanschrift ist korrekt und exakt so von mir an die Gerichtskasse übermittelt worden. Komisch, was sie behaupten … Ich habe noch nie erlebt, dass eine Rechnung verloren gegangen ist und deshalb eine unberechtigte Mahnung erhoben wurde. Mit der Mahnung habe ich im Übrigen nichts zu tun. Ich leite die nötigen Informationen, nachdem ich die Rechnung erstellt habe, einfach nur weiter und mehr nicht. Der Rest ist Sache der Gerichtskasse …“

„Ihr Ernst?! Sie können mir also auch nicht weiterhelfen und geben die Verantwortung wieder zurück? So langsam finde ich das Hin und Her echt nicht mehr witzig. Ich will doch einfach nur eine Zweitrechnung, damit ich diese bezahlen kann und die unberechtigten Mahngebühren erlassen bekomme. So jedenfalls hat es mir Frau Franjo von der Gerichtskasse vorhin noch erklärt.“

„Hat sie das? Um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht, wie das gehen soll, noch, was das bringen soll. Ich drücke hier nur auf ein Knöpfchen und irgendwo in einem Rechenzentrum wird dann eine elektronische Rechnung erstellt, ausgedruckt und postalisch versendet. Diese sieht dann sogar ganz anders aus, als ich das hier an meinem Bildschirm eingegeben habe. Selbst wenn ich wüsste, wie das geht, würde das nach meinem Wissen nichts an den Mahngebühren ändern. Selbst, wenn ich ihnen glauben würde, dass Sie keine Rechnung erhalten haben, wie Sie beteuern, weiß ich nicht, was eine zweite Rechnung bringen soll.“

Von der offenen Inkompetenz paradoxerweise besänftigt, zudem amüsiert von der Absurdität der verfahrenen Situation verabschiedete er sich ohne Ironie, beinahe freundlich. Ohne seiner Gefährtin zwischendurch zu berichten, lachte er nur hysterisch, herzte rasch seine Kleine und wählte abermals Frau Franjos Durchwahl:

„Hallo, nochmal, hier ist Herr Quartz. Wir hatten eben bereits telefoniert. Ich habe, wie Sie mich aufgefordert haben, in Alsfeld angerufen. Dort konnte man mir auch nicht weiterhelfen. Die Adresse sei korrekt an Sie übermittelt worden und eine neue Ausfertigung der Rechnung wäre weder sinnvoll noch machbar, hieß es von der Sachbearbeiterin. So langsam verliere ich meine Geduld. Ich will doch nur die läppischen 20,90€ zahlen, weiterhin und unbestritten, und sehe lediglich nicht ein, 25% unberechtigte Mahngebühren obendrauf zu zahlen.“

„Sie bekommen also keine Zweitrechnung?“

„Nein, wie eben gesagt, das wäre nicht nötig, noch wäre das technisch so einfach möglich, sagte man mir dort“, wiederholte er sich, nunmehr wieder ungehaltener ob der stumpfen Sturheit.

„So geht das nicht! Ich habe es ihnen doch eben schon klar gesagt“, beharrte sie mit verständnisloser, harter Stimme, „erst, wenn Sie den Rechnungsbetrag bezahlt haben, den normalen Betrag ohne die Mahngebühren, werde ich hier über die Mahngebühren eine Entscheidung fällen, nicht vorher. Ich bin ja bereit, ihnen entgegenzukommen, aber nicht ohne eine ordentliche Zahlung.“

„Mir fehlen langsam echt die Worte, von Verständnis gar nicht mehr zu sprechen. Ich bin ein kluger Mensch, aber langsam Zweifel ich an meinem Verstand. Hierüber werde ich definitiv eine Kurzgeschichte schreiben – das ist grotesk und buchstäblich kafkaesk, wenn Sie mich verstehen. Aber gut, dann wende ich mich gleich wieder an ihre Kollegin auf dem Amtsgericht und hoffe auf ein logisches Wunder!“

„Aha, dann schreiben Sie mal ihre Geschichte. Und wende Sie sich erst wieder an mich, wenn die Rechnung bezahlt wurde. Vorher werde ich nichts für Sie tun!“, sagte sie und man verabschiedete sich minimalistisch.

Sichtlich neben der Spur legte er auf, hatte nicht einmal mehr den Willen sich aufzuregen, lief einmal verwirrt durch die wenigen Zimmer der kleinen Mietwohnung und drückte im Tran die Wahlwiederholung, um ein zweites Mal direkt mit Frau Silberhorn zu sprechen.

Amtsgericht Alsfeld, Moog am Abbarad … bidde?!“, wurde er wider Erwarten und widerwärtig begrüßt, funktionierte aber dennoch leidlich, indem er fragte:

„Äh, Hallo … hier ist nochmal Quartz, ich müsste ein weiteres Mal zu Frau Silberhorn durchgestellt werden.“

„Wisse’se eigendlisch, wie späd es is‘? Wir ham‘s kurz nach zwölf und die is‘ sicher in de‘ Middagspaus‘. Ich stell’se jetzt nemmer zu ihr dursch. Ruf’se heude Mittach nochema an, die Durschwahl is‘ …“

„Ich kenne die Durchwahl und brauche sie nicht – Mahlzeit!“, legte er rüde auf, jetzt wieder energisch genug, um Laut durch die Wohnung zu brüllen: „Wrahhh! Das ist der rein Wahnsinn, so ein verfluchter Schwachsinn!“

Seine Tochter, die irgendwie immer und überall war, wo sie nicht sein sollte, kuckte entsetzt drein. Seine Gefährtin kam herbeigeeilt, schaute ihn böse an und schickte sich an, das erschrockene Kind zu trösten. Das allerdings, brüllte nun selbst herzhaft, strahlte schon wieder und grabbelte beherzt auf den Papa zu. Der nahm den Trost kurz aber freudig an, entschloss sich dann aber doch, es direkt mit der Durchwahl zu Frau Silberhorn zu versuchen, rücksichtslos gegen die Mittagspause und eigenwillig gegen den Amtsschimmel. Nach dreimaligem Klingeln hatte er erfreulicherweise damit Erfolg:

„Frau Silberhorn hier, was kann ich für Sie tun?“

„Abermals Quartz. Ich beginne zu verzweifeln. In Gießen sagte man mir nachdrücklich und eindeutig, ohne eine zweite Rechnung, die ich daraufhin ohne Mahngebühren bezahlen soll, würde man mir nicht helfen. Ich muss Sie also ebenso nachdrücklich bitten, auf Ihr Knöpfchen zu drücken – sonst wird das wohl nie was …“

Mit einem humorlosen Lachen antwortete sie: „ … mein Gott, ich beginne langsam, Sie zu verstehen. Das hat so keinen Sinn, am besten rufe ich selbst mal in Gießen an und kläre das mit der Kollegin. Wie war nochgleich ihr Name?“

„Frau Franjo heißt sie. Ich kann Ihnen auch gerne die Nummer mit der Durchwahl diktieren“, erbot er sich.

„Gerne, das macht es etwas leichter. Ich notiere …“, kündigte sie an und er diktierte ihr: „Also, die Nummer lautet: 0641 934-2342.“

„Gut, Herr Quartz, ich werde später versuchen, die Problematik aufzuklären, und rufe Sie dann noch heute oder spätestens morgen zurück.“

„Danke für Ihre Initiative und eine erholsame Mittagspause – auf Wiederhören“, beschloss er das Gespräch seinerseits, lauschte ihrer Verabschiedung und legte auf, erstmalig zufrieden und hoffnungsfroh, einer Lösung nähergekommen zu sein.

Zurück ging es in den Alltag: Brei füttern, Unterrichte vorbereiten, umziehen und wie meist mit moderater Verspätung in den Arbeitstag starten – just in diesem Moment klingelte das Telefon. Er schaute, gestresst von seiner unliebsten Marotte, dem schlechten Zeitmanagement, nur flüchtig auf das Display, erspähte die Vorwahl von Alsfeld 06631 – und beschloss sodann, durch die Tür stürmend, morgen früh zurückzurufen. Das System konnte warten, seine Selbstständigkeit hingegen nicht.

Abends, nach einem Tag selten zermürbender Mathematikunterrichte, in denen er direkt hintereinander bestenfalls am Intellekt von gleich zwei Achtklässlern, die partout nicht im Stande waren, zwei Punkte mit vier Koordinaten in die Steigungsformel mit eben diesen je zwei x- und zwei y-Werten einzusetzen, oder schlimmstenfalls an seiner Lehrbefähigung zweifeln musste, las er seiner Tochter vor dem Zubettgehen traditionsgemäß etwas vor. Auch wenn die Kleine mehr auf Bilderbücher und Lieder flog, kaum drei verständliche Worte mit kaum mehr als zwei Silben hervorbringen konnte, hatte er den Hang, ihr klassische Texte vorzulesen. Nachdem er mit dem recht blutrünstigen Sagenkreis der Griechen nach dem dritten Lebensmonat gebrochen hatte, war er zu Märchen, Gedichten und klingender Literatur übergegangen. Zumeist kam er nicht weit, weil sein Goldstück nicht eben leicht für derartige Schriften zu begeistern war. Sie bestätigte das pädagogisch geschulte Urteil der Mutter, in dem Alter seien solche Texte ebenso sinnlos wie witzlos, häufig durch rasche Flucht und respektive oder lautstarke Beschwerde. Daraufhin musste er sie regelmäßig mit ihrem Lieblingslied, Die Gedanken sind frei, wieder aufmuntern. So begann er mit seinem heutigen Exempel an bildungsvernarrter Lehrer-Schrulle und las vor, mit wohlmodulierter Stimme und komplett vergessend, dass er noch eine Rechnung mit dem System zu begleichen hatte:

Der Zauberlehrling, von Johann Wolfgang von Goethe:

Hat der alte Hexenmeister
sich doch einmal wegbegeben!
Und nun sollen seine Geister
auch nach meinem Willen leben.
Seine Wort und Werke
merkt ich und den Brauch,
und mit Geistesstärke
tu ich Wunder auch.

Walle! walle
Manche Strecke,
daß, zum Zwecke,
Wasser fließe …“