#2/12 – Hört, hört: Ein Erstling kann beschaut werden

Stolz präsentiere ich hier direkt im Anschluss an den gestrigen Auftakt und ohne viele einleitende Worte den zweiten Teil der Erstlingsbeschau für Neugierig.

Viel Spaß beim beschaulichen Lesen, Euer Satorius


Die Heimkehr des verspannten Fast-Magisters

Teil 2 von 12: Seiten 4 bis 7.

Die derzeit vordringliche, aber zum Glück nur kurzweilig folgenreiche Misere war also seine seit fast einem Jahrzehnt gewachsene psychische Abhängigkeit von den Errungenschaften, Einflüssen und Einflüsterungen seines Gedankenkonzils und seiner Mitglieder. Diese spezifische Bauart eines Cerebral-Augmentats war, wie viele andere seiner Art, Ergebnis langwieriger interdisziplinärer Forschungen und gestattete es dem Benutzer grob gesagt, seinem Bewusstsein eine Art Betriebssystem – bei Satorius das Gedankenkonzil – mit vielfältigen Funktionen hinzuzufügen. Auf dessen Basis konnten dann diverse Erweiterungen installiert werden. Beispielsweise waren autarke Persönlichkeits-Module – oder eben Mitglieder – eine gängige Implementation der technologischen Möglichkeiten der Zeit. Auf diese illustre Runde von Bewusstseinsgefährten musste Xaver im Moment gezwungenermaßen verzichten. Da sie in ihrer Konfiguration und Kombination seine Persönlichkeit wunderbar, aber leider dringend nötig ergänzten und ihm mit ihren Möglichkeiten sehr leistungsstarke und hilfreiche Begleiter waren, herrschte insofern kognitiver Ausnahmezustand. Aktuell nämlich waren sie seltsam gestört und gaben nur noch von Zeit zu Zeit kurze und fragmentarische Impulse von sich. Wenn man allerdings bedenkt, dass sie streng genommen, komplett heruntergefahren sein sollten, eine bisher dankenswerte Fehlfunktion, die bis jetzt immerhin für gelegentliche Kurzweil gesorgt hatte, aber zunehmenden eskalierte.

 

Die Reise an sich war erzwungen. Seine finanziellen Mittel und insbesondere die persönlichen Spielräume hatten sich im Lauf des vergangenen Sonnen-Jahrzehnts unwiederbringlich erschöpft, nicht zuletzt wegen seines Fluchtproblems. Deshalb mussten zweite und auch erste Flucht nun unbedingt aufhören. Insbesondere aus beruflichen Erwägungen und dabei vor allem angesichts der schleichenden, aber unweigerlichen Entwertung reingeistiger, theoretischer Kompetenzen, die in der vergangenen Dekade gefühlt wie tatsächlich immer stärker um sich gegriffen hatte. Es blieb ihm also erst einmal nur der Weg von der Theorie in die Praxis; immerhin die der gut dotierten Elitenerziehung und -bildung. Eine berufliche Option, bei deren Anbahnung er noch von den Kontakten aus der alten Akademiezeit hatte profitieren können. Wie er insgesamt der Academia den Großteil seins derzeitigen materiellen Wohlstands verdankte. Zu allem Überfluss war die Verbreitung rein-ziviler oder auch nur im Ansatz ethisch vertretbarer Forschungsprojekte eingebrochen, aber vielleicht würde sich dieser Missstand auf mittlere, optimistische Sicht hin wieder bessern und damit eine Überlegung wert sein. In dieser, wie in so fast jeder anderen Hinsicht jedoch, herrschte eine unklare Faktenlage: Der Fluss des Lebens war abrupt ins Stocken geraten und doch wider jedes Erwarten stockend wieder in Fluss geraten.

 

Nach 5 Aktuell-Tagen also befand er sich also bereits fast wieder auf der guten alten, neuen Erde. Das war damit einen Tag früher, als er angesichts der interplanetaren, politischen Zustände, die im Moment seiner minutiösen Reisekalkulation geherrscht hatten, für möglich gehalten hatte. „Wobei man hier treffender von militärischen, denn von politischen Zuständen sprechen sollte!“, wurde er geistig, jedoch sehr leise vernehmbar, von einem Aspekt seines Konzils augmental beeinflusst. Der thematischen Zuständigkeit nach ähnlich und aber dem gedanklich-sanfteren Unterton nach sicher Sokrates und nicht Nietzsche. Dafür brauchte er sich nachher nicht einmal die internen Logs ansehen oder später einfach nachfragen, wenn wieder alle Funktionen, Instanzen und Module des Gedankenkonzils störungsfrei aktiviert sein würden.

 

Warum Sokrates eigentlich „Sokrates“ hieß? Wohl am ehesten deshalb, weil er – besser müsste man ja sagen: es, das Modul – unabhängig vom jeweiligen Wissensgebiet operieren konnte und beim Vergleich, insgesamt der Bewertung und dem analytischen, wie synthetischen Umgang mit Wissen und Informationen im allgemeinsten Sinn dieser Begriffe behilflich war. In lebenspraktischer Hinsicht unterstützte dieses Modul die alltägliche Gesprächsführung, besonders wissenschaftliche Diskurse, aber auch die Sprachspiele des Sozialen. Gerade letzteres, das Sich-Öffnen für andere und eine gewisse Dialogbereitschaft sowie Diskussionsfreude wurde ein zunehmend wertvollerer Aspekt der kognitiv-emotionalen Selbstoptimierung. Offenheit, Gesprächskompetenz und eine Art schonungsloser Klarheit waren wertvolle Ressourcen. Neuerdings, in Synergie mit Matrina und Xaya steigerte und verstärkte sich dieser Effekt noch komplex. Damit füllte Sokrates einige größere Lücken, die Xavers Charakter zu bieten hatte: Lebendige, gesprochene Kommunikation, insgesamt Extraversion und in Ansätzen auch Empathie und zwischenmenschliche Bindungsfähigkeit. Zudem gewährleistete er viele Fähigkeiten und Fertigkeiten von beruflicher Relevanz in erstaunlich passgenauer Form. Er war der perfekte, mentale Berater eines Theoretikers und theoretisch auch Praktikers von Wissen, Bildung und Erziehung. Nicht zufällig genau auf die Bedürfnisse der Academia Universalis zugeschnitten, wurde eine Grundversion eines solchen Moduls allen Adepten nach der Konstituierung ihres Gedankenkonzils feierlich installiert. Insofern war Sokrates auch das erste und somit älteste Zusatzmodul mit ultrastarker KI und erweiterten Kognitiv– und Individuationsfunktionen, welches den Fast-Magister auf seinem Lebensweg begleitet hatte.

Gerade weil dieser Abschnitt der bei weitem zivilisierteste Teil seiner ca. 2 Neu-Wochen dauernden Reise gewesen war, freute er sich über den unerwarteten, frühzeitigen Puffer. Damit konnte er vielleicht in der weiteren Planung doch einen Besuch in den erlesenen, erhalten gebliebenen Zeichennetzen einschieben, die ihm bald in Europa offenstehen würden. Er stand damit also kurz vor dem Ende seines ersten interplanetaren Fluges seit – ja, seit der schicksalhaften Passage kurz nach der überraschenden und überstürzten, ersten Flucht. Einer Flucht, die aufgrund des Zusammenbruchs der Normalität vor gut 10 Sonnen-Jahren unumgänglich geworden war. So lange dauerte das Ende der Geschichte nunmehr schon an; der alten Geschichtsschreibung wohlgemerkt, mit ihrer chronologisch-fugenlosen Glattheit und dem untergründig längst ausgeträumten Traum umfassenden Universalität.

 

„Wem in dieser neuen Welt geht es wohl nicht andauerend so wie uns jetzt gerade?“, meldete sich ein weiterer Aspekt des Konzils im Jammerton kollektiven Selbstmitleids zu Wort, dem er jedoch augenblicklich Einhalt gebieten wollte. „Hätten die alten Meister der Menschheit schon gewusst, welch unbegreifliches Leid kosmischen Ausmaßes mindestens 2 bis 3 Generationen zu erdulden haben würden, dann hätten sie sich mit ihrer Lebenskunst und all ihrer Ethik damals etwas mehr Mühe gegeben“, ließ er, sofort etwas wehmütig geworden, doch noch einen letzten subtilen Gedanken in dieser Richtung zu; der letzte war vermutlich Nietzsche geschuldet, der erste ging am ehesten auf die sensible Matrina zurück. Er befand sich in der verwirrenden Lage, die eigene, innere Quellenlage nicht klar übersehen und damit seine Gedankenimpulse eindeutig adressieren zu können. Zudem waren die künstlichen Aspekte seines Selbst die meiste Zeit über nur subtil und sporadisch wahrnehmbar, was deren Kontrolle merklich erschwerte, die üblicherweise effektvollen Visualisierungen in seiner Wahrnehmung tilgte und die ansonsten wirksame Integration der Mitglieder des Gedankenkonzils zu der zusammengesetzten Persönlichkeit von Xaver Satorius nahezu aufhob. Wie wertvoll ihm die charakterlichen Zugewinne durch die Module geworden waren, merkte er gerade eindrucksvoll und schmerzlich zugleich. Die zeitliche Präzession und kompromisslose Radikalität dieses Einschnitts waren einem Komplex aus Astronomie, Antriebs- und Angriffstechnologie geschuldet.

 

Leider stand gänzlich in den Sternen, ob die spontan getätigte Einschätzung – 2 bis 3 Generationen – Optimismus, Pessimismus oder, so nahm er selbstbewusst an, doch eine Form von Realismus war. Für eine zivilisatorische Situation, wie sie derzeit im Sonnensystem herrschte, hatte es schlicht keine vergleichbaren Vorläufer in der Menschheitsgeschichte gegeben und damit auch keinerlei Empirie für ernsthafte Prognosen. Es hatte seit einigen Jahrhunderten verschiedenste Epi-, Pan– und Holodemien mit ähnlichen Letalitätsquoten gegeben. „Pest, HIV/Aids, Ebola, Marsfieber und H23BN3“, meinte er sich richtig an ein paar Namen zu erinnern. Bei all jenen aber, und das markierte den entscheidenden Unterschied, konnten Schicksal, Gott oder mangelnder medizinischer sowie gesundheitspolitischer Fortschritt als annehmbare Gründe angeführt werden.

 

Der liebste, innere Dialog- und Gesprächspartner von Sokrates war Nietzsche, der seinerseits eine Mixtur aus metakognitiven, sozialen und charakterlichen Aufgaben zu leisten hatte. So war es seine Domäne, in selbstzweckhaftem Maße zu hinterfragen und zu zweifeln – mehr noch sogar als Sokrates, der in dieser Hinsicht seinem historischen Namenspatron dennoch ähnlich war – sowie bei jedem logischen Schluss und jeder moralischen Wertung den egozentrischen, meist zynischen, wie kynischen Gegen-Standpunkt einzunehmen. „Mit dem kritischen Hammer und einer Prise maliziösem Humor immer munter in Bausch und Bogen gegen alles und jeden zu Felde ziehen!“, hätte man seine Leitmotive treffend zusammenfassen können. Man könnte ebenso treffend behaupten, die KIs entwickelten sich parallel und im Wechsel mit ihrem Träger zu eigenständigen und reiferen Versionen ihrer Grundversion, womit auch interessante Binnen-Persönlichkeiten heranreiften. Die internen Beziehungsdynamiken, die zwischen diesen entstanden waren, waren skurriler bis banaler Art – gerade Nietzsche war auffällig begabt in der skurrilen Richtung. Er sorgte in Beratungen, besonders denen des gesamten Konzils notorisch für Kontroverse und mit seinen amüsanten, aber ätzenden Provokationen nicht selten für einen Eklat.

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