#3/12 – Hört, hört: Ein Frischling kann beschaut werden

Zum Ausklang der alten Woche und als Einstieg in die beginnende Neue folgt hier Teil drei unserer zwölftteiligen Serie. Der kleine Text-Frischling beginnt verhalten und nachdenklich, wobei sich bereits ein gewisse aug-mentale Vielfältigkeit angedeutet hat; so geht es zunächst auch weiter. Allerdings macht sich doch erstmals die äußere Welt bemerkbar, aber lest unten einfach selbst.

Einen guten Start in die Woche, Euer Satorius


Die Heimkehr des verspannten Fast-Magisters

Teil 3 von 12: Seiten 7 bis 9.

Plötzlich kamen ihm die beiden Weltkriege des fernen 20. Jahrhunderts mit ebenso anschaulichen wie grausamen Informationen und Illustrationen in den Sinn. Wie die zuvor zum Glück nur harmlos erinnerten Seuchen, mittlerweile kaum noch Gegenstand eines allgemeinen Wissens, sondern vielmehr dem Wirken von Meinung, Macht und Mythos übereignet – so hatte er damit wider Erwarten doch historisch relativ ähnliche und damit vielleicht vergleichbare Ereignisse mit eventuell analogen psychokulturellen Konsequenzen gefunden. Zwei der letzten wirklich großen Kriege der modernen Menschheit, vor einer langen Phase politisch stabilen, aber kulturellen und lebensweltlichen Auseinanderdriftens in solarem Frieden und vermeintlicher Harmonie. Es hatte in der Folge seinerzeit nachweislich eine traumatisierte Generation gegeben. Die damals gerade im Entstehen begriffenen Schulen der Psychotherapie hatte in vielen dieser Menschen ihr Klientel gefunden und entwickelte ihre Methoden und Begriffe damit unter dem Eindruck besagter Weltkriege weiter. Ebenso konzipierten spätere Generationen ihre Wissenschaft unter dem Phänomenhorizont der seeleischen Deformierungen, die der Menschheit durch den sog. Spätkapitalismus zugefügt worden waren.

 

„Stop!“, beendete er diese ungewollte, unerquicklich Abschweifung abrupt mit einem mentalen Befehl. Er driftete zunehmend in einen Zustand ungezügelter Nostalgie ab, wobei er wahrscheinlich durch die Fehlfunktion seines Konzils negativ beeinflusst wurde und deshalb immer wieder kurz Klarheit und Initiative verlor. Das musste unbedingt wieder aufhören: diese teils psychedelischen Zustände, durchsetzt von Fakten, Einfällen und Impressionen, bei deren Entstehung die gestörten Module sicher mit im Spiel waren und auf verstörende Weise einwirkten. Eben im letzten Flash waren das wohl weniger Sokrates oder Nietzsche, sondern eher Googol oder vielleicht auch Xaya, keinesfalls jedoch Matrina oder Hoffman gewesen. Aus der kurzweiligen Abwechslung durch die unerwartete Aktivität der Mitglieder entwickeltes sich langsam ein weiterer Stressor, der sich zu der bekannten Reihe an Belastungen gesellte.

 

Diese kurios-vielfältige Persönlichkeitsstruktur markierte jedoch, da technologischen Ursprungs, keinen generellen Unterschied zwischen Xaver Satorius – dem Fast-Magister – und seinen durchschnittlichen Zeitgenossen. Aber das wenige, zumal konfuse Faktenwissen über Vergangenes belegte bereits eine markante Differenz: er war tatsächlich einer von derzeit wohl nur wenigen Millionen, die noch so etwas wie ein angemessenes Bild der Menschheitsgeschichte besaßen. Vor allem aber unterschied ihn sein vitales, fast manisches Interesse an der historischen Perspektive und der Glaube an deren unabdingbaren Wert von den meisten seiner verbliebenen Mitmenschen. Auch wenn die wenigsten eine so leistungsstarke und bisweilen sogar unterhaltsame Erweiterung ihres Bewusstseins ihr Eigen nennen konnten, wie das im Fall von Xaver und seinem Gedankenkonzil der Fall war, blieben die Lust auf Bildung und die Wahl der Interessen noch immer Fragen der persönlichen Verantwortung. Leider zu aller erst eine Frage der persönlichen, existenziellen Möglichkeiten, in einer Zeit, in der sehr grob geschätzt die Hälfte, der im Sonnensystem lebenden, noch gut 8 Milliarden Menschen, kein gesichertes Überleben mehr hatten.

 

Trotz aller qualitativen Ähnlichkeit dieser beiden historischen Katastrophen blieb schließlich noch der planetenweite quantitative Unterschied zwischen den Weltkriegen 1. und 2. auf der einen sowie dem solaren Kollaps auf der anderen Seite. Dieser absolute Unterschied fiel derart überwältigend aus, dass doch von einer anderen Qualität zu sprechen ebenso unlogisch wie reizvoll war. „Uns wird damit nun historisch die bittere Aufgabe zuteil, die Tatsache zu akzeptieren und irgendwie irgendwann einmal emotional zu integrieren, dass es einzig menschliche Freiheit war, innerhalb welcher die kosmische Katastrophe stattgefunden hat. Die Last der damit verbundenen, ja unwiderruflich, aufgebürdeten Verantwortung wird und sollte in Anbetracht der angedeuteten Quantität mehr als nur 2 bis 3 Generationen auf den Schultern lasten!“, folgerte irgendetwas mit bestechender Klarheit in die kurze, geistige Stille hinein, zugleich aber ohne den kleinsten Funken Trost. Ein Bewertung des psychosozialen Zustands, welcher wohl bis auf Nietzsche und Matrina alle übrigen Module des Gedankenkonzils zuneigten, aber wie sollten er als ewig-nörgelndes Kontramodul und sie als selbstsorgendes und allbehütendes Mutterethos das auch tun können.

 

Also blieben ihm in seiner ganz persönlichen Version dieses Zustands bisweilen weiterhin nur möglichst kluge Spekulationen und ein paar psychomanipulative Tricks als Auswege aus dem Jammertal der Gegenwart; bald aber hoffentlich auch wieder der reguläre Einsatz seines Gedankenkonzils. Es gab in dieser Hinsicht jedoch das alte Problem mit dem irregulären Missbrauch der Möglichkeiten der Technik, besonders mithilfe der hyperreallen Erfahrungswelten und Zeichennetze. Dieses brisante Verhaltensmuster galt es weiter einzudämmen, denn er wurde ihm trotz all seinem Wissen um Bewusstseinsveränderung und -formung noch nicht so recht Herr: Komplex aus Sucht, Nostalgie und Gelehrsamkeit. Dadurch angetrieben nutzte er das Gedankenkonzil als Instrument einer mehr als akribischen und sehr weitschweifigen Lektüre. Diese häufig virtuell aufwendig gestaltet Lesereisen führten ihn längs und quer durch die Vergangenheit des menschlichen Geistes, mit sporadischen Schwerpunkten in den Disziplinen Psychologie, Philosophie, Pädagogik, Politik sowie besonders Geschichte und Soziologie. Eindeutig zu vieldeutig im Anspruch an sich selbst und gerade in den bisher verschwiegenen, teils exzessiven Aus- und Abschweifungen eine Phase der verderblichsten Allianz mit seinem Gedankenkonzil, der dessen Mitglieder kaum Einhalt geboten hatten. Bis dann zuerst Matrina vor einem Sonnen-Jahr und daraufhin Xaya vor wenigen Neu-Monaten als therapeutisch angeratene Module hinzugefügt worden waren. Mit deren Hilfe war er letztlich überhaupt erst schrittweise in den mentalen und charakterlichen Zustand versetzt worden, der ihn nun zu diesem damals undenkbaren Schritt befähigt hatte; einem Schritt heraus aus der digitalen, reizüberfluteten Isolation wieder hinein in ein leidendes, tätiges Leben. Wobei er nun bald auch noch die beruflichen Herausforderungen und Alltäglichkeiten als heilsame Neuerung hinzugewinnen würde und bereits die schneidende Tatsächlichkeit einer Reise ohne Rückkehr als Arznei hatte. Dass er die bisherige Reise weitestgehend im Modus Reisekokon verbracht hatte, war hierbei symptomatisches Erbe. Wer, wenn nicht er, war für solche intellektuellen Formen der Eskapade prädestiniert. So war er doch über 20 volle Sonnen-Jahre in der Disziplin der Disziplinen ausgebildet und dabei mit neuster Köper- und vornehmlich Geistestechnologie ausgestattet worden, kurz bevor Armageddon-Light dann seine zugegeben schon etwas überfällige Finalakkreditierung endgültig vereitelt hatte.

 

„Nun also mit Humor als Mittel zum Zweck der Maskierung und somit als Medium der Verdrängungsarbeit; besser jedenfalls, als tödlich zu resignieren, wie das ungeahnte Prozente der solaren Bevölkerung in der Zwischenzeit getan hatten“, versuchte ein verirrter, eventuell von Xaya oder Nietzsche geprägter Impuls ihn erfolglos zu irritieren. Sich in diesem Zusammenhang zu den anteilig gefassten Statistiken, die er vor einigen Standard-Monaten noch vor Augen gehabt hatte, absolute Zahlen vorzustellen, besonders bei der Kategorie Suizid und suizidanaloge Todesfälle, wagte er nicht einmal ansatzweise. 15,76% von einst noch rund 10 Milliarden, die selbst wiederum nur die Überlebenden von dereinst beinahe 35 Milliarden Menschen im Sonnensystem gewesen waren. Nicht einmal das vermeintlich Meisterargument, noch am Leben zu sein, lebeding zu sein und noch hoffen zu können, half bei dieser unbegreiflichen Dimension des Leids weiter.

 

„Wie kompliziert Datierung heutzutage geworden ist, seit kaum noch astronomische Stabilität gewährleistet ist und nicht mehr nur jeder Himmelskörper an sich seine relativen Eigenzeiten hat, sondern diese sogar noch jeweils für sich dynamisch geworden sind“, dacht er in dem kläglichen, sermonartigen Versuch, seine Gedanken wieder in die jetzt sogar sympathisch erscheinenden Bahnen seiner anfänglichen Rechenneurose zurückzulenken.

„Bitte aktivieren sie Ihr schützendes Stabilisierungsfeld! Falls dies nicht ihrerseits geschieht, übernimmt es die Automatik 90 Neu-Sekunden nach dem Ende dieser Mitteilung für sie“, flüsterte eine sonore und etwas laszive Frauenstimme scheinbar direkt und mitten in seinem Kopf. Er hatte sie zu Beginn seines sehr unbequemen, da schwerkraftinstabilen Flugs vom Mond zur Erde selbst eingestellt. Anstatt wie die meisten Reisenden über ein lokales Eingabefeld am Sitzplatz, war dies bei ihm über eine Eingabemaske und die Kanäle des Konzils geschehen. Er gratulierte sich jetzt entschieden zu diesem Entschluss; zudem bedankte er sich still in metaphysischer Richtung für den gütigen Zufall, dass die Ablenkung der Sicherheitswarnung ihn erfolgreich von seinen mehr als unerfreulichen Grübeleien befreit hatte. Zumal er damit abermals sein zuvor bestärktes Verhaltens-Credo, keine Zuflucht in Erinnerungen an die alte Zeit zu suchen, tendenziell wieder einmal zu unterlaufen begonnen hatte; von der kalten, fast zynischen Abstraktion unermesslichen Leids mal ganz zu schweigen.

Schreibe einen Kommentar