#4/12 – Hört, hört: Ein Frischling darf beschaut werden

Alle Welt bereitet sich bereits innerlich entweder auf Karneval oder dessen konsequente Verweigerung vor. Mir wurde währenddessen aus heiterem Himmel ein seltener Fall von fatalem Männerschnupfen zuteil. Die relative Seltenheit vergleichbarer Zustände bei mir ist Fluch und Segen zugleich. Selten benötigt und damit miserabel trainiert, muss sich die verkümmerte Leidensfähigkeit einer kolossalen Herausforderung stellen – selten, aber umso leidvoller. Kranksein an sich ist ärgerlich, das Ganze hingegen einen Tag vor Weiberfasnacht hinnehmen zu müssen, ist bestenfalls noch hundsgemein zu nennen. Naja, wat soll’s, et is wie et is, sonst wärs ja anerscht – bis Montag sind einige Tage für Genesung reserviert, also genug gejammert.

Kommen wir schonend wie geschwind zum Kern der Sache. Ohne das ich je den Anspruch auf angemessene Einleitung oder hinführenden Bezug zwischen den Absätze erhoben oder gar zufällig realisiert hätte, präsentiere ich freudig-verschnupft einen Kerl, der definitiv schlimmer dran sein dürfte als meiner einer: Xaver Satorius im historisch-holprigen Anflug auf die allseits so beliebte Mutter Erde.

Einen rauschenden Karneval oder einen erholsamen Nicht-Fasching, Euer Satorius


Die Heimkehr des verspannten Fast-Magisters

Teil 4 von 12: Seiten 10 bis 13.

„Wir werden in nur wenigen Aktuell-Minuten den Boden des Planeten Erde berühren und bedanken uns deshalb schon einmal vorab für das uns von Ihnen entgegengebrachte Vertrauen“, säuselte es da schon sanft weiter. „Da sich die solare Sicherheitslage auf unserer Reiseroute wider Erwarten entschärft hat, konnten wir die Reisedauer beträchtlich reduzieren. Wir werden also insgesamt 50 Aktuell-Minuten früher als zum avisierten Zeitpunkt landen. Die Meisten unter Ihnen werden höhere Augmentate wie Netzports, Cerebral-Schnittstellen, Bewusstseinserweiterungen, Muskelverstärker, Fernoptiken, Nahrungs- oder Nachschubreplikatoren und dergleichen besitzen; diese bitten wir bis zur vollständig abgeschlossenen Landung weiterhin deaktiviert zu lassen. In Verbindung mit unserer Antriebstechnologie und aktuellen, astronomischen Phänomenen kam es leider mehrfach zu Störungen und sogar einigen bedauerlichen Zwischenfällen. Überdies wird es aufgrundessen sehr wahrscheinlich kurze Turbulenzen und kleinere Erschütterungen geben. Dabei handelt es sich um leider unvermeidliche Unbequemlichkeiten, durch welche die technische Sicherheit in keiner Weise gefährdet wird und deren Auslöser weit außerhalb unseres Einflussbereichs liegen – Verzeihung dennoch, sofern überhaupt von Nöten. Wir wünschen ihnen eine gute, störungsfreie Ankunft im Zentralknoten Frankfurt Rhein/Main, einen erfüllenden Aufenthalt in Zentraleuropa sowie den Transitgästen eine sichere Weiterreise – Ihr Team von Karlus-Raumflug, einer Marke der Karlus-Korporation.

 

Empfehlen sie uns später gerne in Ihren Gruppen weiter, sofern Sie mit unserer Dienstleistung so zufrieden waren, wie es unser stetes Anliegen und innigster Wunsch ist. Beachten sie ferner die vielen kombinierbaren Unterhaltungs- und Kulturangebote, die wir ihnen in unserer Heimatregion exklusiv offerieren. Für weitere Details und diesbezügliche Buchungen helfen die leicht zu findenden, öffentlichen Schnittstellen weiter; am besten nutzen sie die direkte Verbindung über unsere Präsenzen im Zeichennetz; am allerbesten tauchen sie sogar in die Welten unserer Erfahrungsnetze ein: Hier bieten wir ihnen die vielfältige Warenwelt der Karlus-Korporation hautnah und gefühlsecht zum Erleben und ausprobieren an. Überzeugen sie sich je nach Medium von unseren Qualitäten, denn bei uns gilt traditionell seit Generationen das einfache Unternehmensmotto: Qualität geht über Quantität!“

 

Der anfänglichen Dankbarkeit entgegen, erzeugten derart viel geheuchelte Normalität und inszenierte Hochzivilisation, wie sie in dieser Botschaft zum Ausdruck gekommen waren, eine sehr unangenehme Kombination an Emotionen bei Xaver. Die subtilen Zwischentöne der Botschaft taten ein Übriges. So spürte er derzeit sowohl in der Magengegend den Druck, sich vor Ekel angesichts solchen Zynismus übergeben zu müssen, als auch im Bereich des Halses den Drang, seine Wut über diese freche und beinahe pietätlose Realitätsverleugnung in die kleine Welt ihrer 30-Mann-Maschine herauszubrüllen. Selbstverständlich tat er nichts dergleichen und machte sich stattdessen daran, sein aufgewühltes Gemüt mit Hilfe wenig routinierter Atem- und Imaginationstechniken zu besänftigen, da er derzeit nicht einfach das Konzil und seine Mittel als bequeme Abkürzung zum gewünschten Zustand des Bewusstseins hatte verwenden können. Das war ihm zu seiner eigenen Überraschung bereits gelungen, als die angekündigten 90 Sekunden verstrichen waren und er rücksichtsvoll aber bestimmt von unsichtbarer Hand in seinen ergonomisch auf seine Statur angepassten Schalensitz gepresst wurde. Der Landeanflug hatte nun endlich begonnen und der Moment seiner ganz persönlichen Rückkehr auf den Schicksalsplaneten der Menschheit stand unmittelbar bevor. Ob diese übertrieben klingende Rede von Schicksal und Menschheit überhaupt eine Zukunft haben würde, stand Spuren gleich in den Sternen geschrieben.

 

„Vielleicht wird das Ende der Geschichte doch nicht nur zu langsam abgewickelt, sondern birgt wider Erwartung und Gefühl den Keim einer womöglich sogar besseren Zukunft in sich!“ Dass Matrinas erbauender Impuls trotz der vorgenommenen Deaktivierung und durch die Störung hindurch so klar in sein Denken hinein tönen konnte, verwunderte ihn ebenso sehr, wie es ihm milde Zuversicht und vielleicht bereits wieder erste Funken von Hoffnung spendete. Er jedenfalls, der Gelehrte in den angeblich besten Jahren, dem erste und zweite Flucht sowie Überleben im Exil aufgrund seiner privilegierten Herkunft und der Ausbildung in der Academia ohne Weiteres offen gestanden hatten, blickte ungewiss in die Zukunft. Er wandte sich in seinem Sitz neugierig soweit um, wie es Stabilisierungsfeld und Nackenschmerz noch eben zuließen. Ein leicht schmerzerfüllter, nur flüchtiger Blick ins Antlitz seiner Mitreisenden, zeigte ihm jedoch nur Ernüchterndes. Der Anblick bot kaum Anlass zu glauben, dass positive Emotionen es aktuell leicht hatten. Allen anderen voran waren Hoffnung, Freude, Genuss und insgesamt Glück rare Güter im Sonnensystem geworden.

 

„Graue, starre und maskenhafte Trauerfratzen überall, die Leichenarmeen des psycho-kulturellen Niedergangs, der sich an den Tag der großen Asymmetrie angeschlossen hatte und seither in den Seelen der meisten Menschen wütete.“ Diese krude Poetisierung des Unaussprechlichen erschien ihm, trotz ihrer befremdlichen Aufgesetztheit als eine reizvolle Bewusstseinstechnik, um zukünftig weiter verfeinert zu werden. Sie versprach ihm nicht nur dann Hilfe, sobald mal wieder eine Fehlfunktion oder gar komplette Deaktivierung des Konzils zu überstehen war, sondern war als mentale Technik insgesamt seiner Kompetenz und Profession als Bewusstseinsformer zugehörig.

Die fast hermetische Kunst der Magister Universalis war seine Wissenschaft und sein Handwerk. Ihr ging es im Allgemeinen darum, eigenes wie fremdes Bewusstsein nach Maßgaben zu formen und wunschgemäß zu bilden; es kontinuierlich zu trainieren und zu erweitern, um ihm im Ergebnis ebenso vielfältigen, wie in seiner Effizienz atemberaubenden Nutzen abgewinnen zu können. Die Grundlagen dieser Disziplin hatte er gründlich erlernt und sich, zumal mit eigenen Vertiefungen, in langjähriger, vornehmlich theoretischer Forschung zu eigen gemacht. Dass Pharmazeutik und Körper- sowie Geistestechnologien hierbei seit weit über einem Jahrhunderten munter eingesetz wurden und mittlerweile alltäglich erprobte Hilfsmittel waren, war Xaver am eigenen Leib mehrfach zu Gute gekommen. Er trug eine ganze Reihe der sog. Augmentate an und in sich. Mittlerweile kannte er jedoch Licht und Schatten dieser Artefakte. Entgegen aller derzeit heraufziehenden Geistesfeindlichkeit, waren die Ausbildung, mehr noch deren technologische Mitgift seine zur Zeit wertvollsten Güter. Sein trotz kleiner Verfehlungen guter Leumund und besonders die mitgeführten Referenzen waren viel wert, aber ohne einen optimalen Einsatz all seiner Fähigkeiten und Mittel würde er den geplanten Quereinstieg in die Praxis, und zwar direkt auf Meisterniveau, nicht schaffen.

 

Dankenswerter Weise hatte es während des ansonsten miserablen Fluges in der allgemeinen, umfassenden Tristesse der graubraun eingerichteten Passagierkabine eine einzige positive Ausnahme gegeben: Ein erstaunlich junges, sichtlich noch immer frisch verliebtes Paar mit einem bereits halbwüchsigen Sohn. Pausenlos hatte der Junge seine Eltern aufgeregt und begierig nach allerlei Sinn und vermutlich viel Unsinn gefragt. Nachdem er darauf geduldige Antwort erhalten hatte, war er befriedigt wieder ins Spielen zurückgekehrt, nur um bald darauf abermals fragenden Blickes in Richtung seiner Eltern zu laufen. Ein Schauspiel, das trotz der sicher bisweilen tiefschürfenden Kinder-Fragen, einer Komödie gleich, ohne die überall lauernde Tragik auszukommen schien.

 

Ein solches familiäres Idyll war ihm in seinem akuten, labilen Zustand ein größerer Trost gewesen, als er je für möglich gehalten hätte. Er, der notorische Einzelgänger, der sein Leben nur seinen Passionen, also im Grunde nur sich selbst, gewidmet hatte, entdeckte während dieses Raumflugs eine bisher verschüttete Seite an sich. Obwohl Xaver von den Gesprächen der entfernt sitzenden Familie bestenfalls wenige Fragmente aufgeschnappt hatte und deshalb vor allem auf die Deutung des Mienenspiels im lebendigen Miteinander angewiesen war, traute er sich diese Einschätzung gelassen zu. Dabei half ihm ein weiterer Vorzug seiner Ausbildung: Die Schulung in diversen Methoden der Verhaltensanalyse, welche zur optimalen Lernkonfektionierung unerlässlich waren. Den entscheidenden Schritt von der theoretischen Gewissheit zur praktischen, noch gar gelebten Empathie allerdings, ging er keineswegs derart gelassen und im Alltag nur mit technologischer Beihilfe. Für seine Verhältnisse also erstaunlich sensibel registrierte er einen auffälligen Umstand: Wenn das Kind kurz mit sich selbst und die Eltern infolgedessen miteinander beschäftigt gewesen waren, hatte sich deren freudiges Strahlen schon mäßig abgedunkelt und in den Phasen kurzer Einsamkeit war es dann sogar beinahe erloschen. Dann glichen die Liebenden der grauen Meute um sie herum; glichen vermutlich auch ihm selbst, wie er im Auge eines unsichtbaren Betrachters, vorzugsweise Lesers erschienen wäre.

 

Familie bot in diesen schrecklichen Zeiten scheinbar eine ganz eigene, besondere Form von Heimat – viel echter, erfüllender und ernster als dies dem technisch optimierten Individuum, und sei es noch so gut vernetzt und hochgerüstet, zur Verfügung gestanden hätte. Es gab in seinem besonderen Fall zwar das Konzil, aber was bedeutete das den in der Bilanz: Dass Nietzsche in dieser Hinsicht ein Trost hätte sein können Stand kaum zu erwarten; Sokrates vielleicht ein wenig; Googol und Hoffmann waren zu verschroben respektive zu wortkarg; höchstens half die motivierende Xaya und sicher kümmerte sich nur die per se seelsorgende Matrina. Nicht aber jetzt und nicht schon immer. Eine intime, vertraute Art der Zusammengehörigkeit, der Xaver Zeit seines Lebens höchstens wenige Male und dann auch nur nahe gekommen war, nur um sie sodann wieder und wieder zu verlieren. Es war wohl schlicht und einfach dasjenige was seit Jahrtausenden als Liebe fassbar gemacht werden sollte und für Xaver bisweilen wie ein blosses Wort ohne tiefen Sinn wirkte. Daraufhin hatte er irgendwann beschlossen, sich mit einem Panzer aus Weisheit, einem aus Gelehrigkeit geschmiedeten Schild und waffenfähigen Klinge an Mundwerk und Verstand auszustatten. Dafür wurde er mit Triumphen im wissenschaftlichen Disput belohnt, genau so wie er unweigerlich durch Niederlagen im politischen Schacher um Posten und Portale bestraft wurde. Dass kaum Jemand den unnahbaren Eigenbrötler besonders gut und lange leiden konnte, lag dabei vor allem an seinem offensichtlichen Desinteresse für die soziale Lebenswelt. Die ersten Jahre mit dem Gedankenkonzil vertieften die vorhandenen Gräben zu den anderen sogar noch einmal merklich.

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