#5/12 – Horcht auf: Ein Frischling darf beschaut werden

Während sich der Männerschnupfen nach drei Tagen endlich zurückzuziehen beginnt, steigt die Vorfreude auf Rosenmontag. Zeit für Teil 6 der Serie bleibt aber auf jeden Fall. Falls es jemanden wundert, dass die Serie nun auf einmal 12 Teile und 35 Seiten hat: Mein Freund gab mir heute ein erweitertes Ende. Ich jedenfalls habe gegen eine wundersame Text-Vermehrung nichts einzuwenden.

Einen weiterhin rauschenden Karneval oder einen erholsamen Nicht-Fasching (Die Karnevalisten haben aber mindestens einen freien Tag mehr nächste Woche ätsch), Euer Satorius


Die Heimkehr des verspannten Fast-Magisters

Teil 5 von 12: Seiten 13 bis 15.

Vor 10 Sonnen-Jahren aber, da war aus seinem Makel quasi über Nacht und auf einen perversen Schlag hin eine Art Stärke geworden. Er war emotional ungebunden und zugleich praktisch unabhängig, ohne jede ernsthafte Anhaftung. So konnte er schneller und effizienter als die meisten reagieren und den Starschuss geben: zu seiner ersten, letztlich erfolgreichen Flucht! Er blieb von dem milliardenfachen Verlust geliebter Angehöriger in seiner abrupten, ja brutalen Direktheit verschont und hatte sich seelisch gesünder über die ersten Jahre retten können. Insgesamt hatte sich der Einzelgänger Xaver Satorius auf einmal besser zu behaupten vermocht. Der zu höchster Abstraktion befähigte Magier in ihm und insbesondere die ebenso stark ausgebildete Fähigkeit des Narren, sich in verstiegene Illusionen und Para-Realitäten zu flüchten und über diese die tatsächlichen Nöte des wahren Sonnensystems zu verschleiern, waren aufgewertet worden. Hätte er doch damals bereits geahnt, wohin ihn die zweite Flucht über Jahre hinweg führen würde: ins selbst gewählte Exil eines bestenfalls selten noch technologisch-sozialen Daseins; von der wirklichen Lebenskompetenz zur bloßen Text- und Informationskompetenz; ins hyperreale Elysium des Gedankenkonzils.

 

Macht und Militär, Misstrauen und Mord hatten seit dem solaren Kollaps das Regiment in großen Teilen dessen übernommen, was zuvor so unwahrscheinlich lange gewährt hatte. Eine in globalem, mehr noch solaren Maßstab herrschende Phase dauerhaften, institutionalisierten Friedens war jäh zu ihrem Ende gekommen. Es hatte zwar immer Interessenkonflikte, Differenzen und unterschiedliche Visionen der eigenen Zukunft gegeben, aber diese waren politisch ausgeglichen und nutzbringend kanalisiert worden. Keineswegs waren Harmonie oder Einheit dabei die leitenden Ideale gewesen, sondern Respekt, Pluralität – nicht bloß Pluralismus – und Klugheit. Nicht paradiesisch also war dieser Abschnitt der Menschheitsgeschichte verfasst gewesen, aber derart politisch organisiert und durch Traditionen gebunden, dass die solare Menschheit eine zivilisatorische Blütezeit ungeahnten Ausmaßes hatte hervorbringen können. Die krassen Unterschiede in technologischer, infrastruktureller und sozialer Hinsicht, welche in der Mitte des 21. Jahrhunderts als unüberwindlich gegolten hatten, waren in der anschließenden Epoche nachhaltig und welt-, ja systemweit ausgeglichen worden. Für einen Intellektuellen seines Ranges mag all dies gleichermaßen plakativ wie schöngefärbt klingen, aber in den verblassenden Erinnerungen an sein früheres Leben hatte die politische Dimension zeitlebens im krassen Gegensatz zu seinen persönlichen Nöten und existenziellen Miseren gestanden – Glorie neben Elend. Es war eine solare Öffentlichkeit entstanden, innerhalb derer ein politischer Diskurs sorgsam kultiviert worden war, dessen politische Konsequenzen daraufhin das Angesicht der politischen Kultur für immer verändert zu haben schienen. Die im Folgenden gegründeten supraplanetaren Institutionen hatten umfassende Legitimität ideal mit konstitutioneller Unabhängigkeit gegenüber den unvermeidlichen, anderen Machtfaktoren vereint; gegenüber den unzähligen föderal organisierten planetaren, kontinentalen, nationalen, regionalen Akteuren und auch gegenüber privat-wirtschaftlichen, ideologischen und religiösen Fraktionen. Die unweigerlich weiterhin vorhandenen Interessenskonflikte waren auf kleinstmöglicher Ebene und mit dem geringsten Maß an Vorteil und Schaden auf allen Seiten geschlichtet worden. Dieses heillos komplexe, gleichwohl stabile Vielebenensystem war nach mehr als einem Sonnen-Jahrhundert plötzlich kollabiert und hatte nicht nur tiefe Gräben, sondern schiere Abgründe zwischen den diversen Interessengruppen, Machtblöcken und Ideologien innerhalb des kolonial erschlossenen Sonnensystems freigelegt. Dass ein eigensinniger Partikularismus entstanden war, war nicht zu leugnen gewesen, wurde er doch sogar unter dem unverhofften Wertepaar von Pluralität und Differenz immer als Stärke wahrgenommen und als solche kultiviert. Ob die epochale Errungenschaft eines Verzichts auf Universalismen mittelfristig mit zu ihrem eigenen Untergang geführt hatte, war weiterhin historisch und faktisch ebenso unklar wie es ein sehr bitter-ironisches Ende einer glorreichen Ära gewesen wäre.

 

„Hör endlich auf damit, das ist ja vielfach widerwärtig! Am Ende singst du noch das Lied der Philosophia perennis oder sprichst von Moderne, Neuzeit, goldenen Dingen und weiteren historisch unzulänglichen Selbstüberschätzungen, um von deinen wissenschaftlichen Mängeln in der Darstellung der sog. goldenen Epoche gar nicht erst anzufangen. Pah! Hör endlich auf damit und komm in die Gegenwart zurück!“, hämmerte es auf einmal in seine verstiegenen, historischen Träumereien hinein. Wenn bei dieser polemischen Attacke nicht hauptsächlich Nietzsche federführend gewesen war, musste er sich doch ziemlich täuschen.

 

Die planetare Fähre eines der vielen mächtigen und mächtigeren Akteure hatte dem einsamen Wanderer den Weg durch die oberen Schichten der Erdatmosphäre gebahnt. Währenddessen saß dieser entgegen seinem Verhaltenscredo und trotz der sporadischen Impulse seiner augmentalen Begleiter weiterhin in schwelgerischer, abstrakter Nostalgie versunken da; in einem von Fusionszellen betriebenen Meisterstück menschlich-technischer Fertigungskunst, dessen neuartigen Triebwerke Schwerkraftneutralisation mit Pulsation optimal kombinierten. Wären nicht die chronischen Folgen von solarem Kollaps und die akuten Auswirkungen der interplanetaren Kriege gewesen, so wäre die anstehende Landung wohl ohne jede Turbulenz und Unbequemlichkeit für die Passagiere abgegangen. So aber mussten die Reisende die eine oder andere Schwerkraftspitze nebst der schon erwähnten Technikstörungen erdulden. Aber sogar die vergaß er im Laufe einer neuerlichen Eskapade und realisierte während der kurzen Landung kaum den nunmehr wegen der unangenehmen Landeturbulenzen schluchzend weinenden Jungen. Letztlich brachte das Eigentum der einflussreichen Karlus-Korporation ihn, den verspannten Fast-Magister, aber absolut sicher und so wohlbehalten wie möglich auf die geschundene und ausgeblutete Mutter Erde zurück.

 

Er hatte sich während des Fluges, soweit das kognitiv eben möglich gewesen war, viel Gutes für die nahe Zukunft vorgenommen; zu viel jedoch, um es alles auf einmal ernst- und damit wirklich in Angriff nehmen zu können. Nachdem er derart überfordert unmittelbar nach der erfolgten Landung sofort fluchtartig die Startroutinen seines Gedankenkonzils initiiert hatte, war die Welt um ihn herum sofort hinter einem vielfarbigen, holografisch-schönen Schleier und wie in einem existenziellen Schwerefeld versunken und daraufhin wirklich an ihm vorbeigerauscht. Der lieb gewonnene Reisekokon und die wiedererwachte Gesellschaft banden seine Aufmerksamkeit beinahe vollständig nach innen. Auch während des anschließenden Transports über das gigantische Areal der unzähligen Landefelder hinweg, hinein in den Bauch eines kolossalen Tetraeders, der den architektonisch atemberaubenden Zentralkomplex des Raumknotens darstellte, hatte er kaum Sinne für die wirkliche Umgebung und deren Einzigartigkeit gehabt. Nicht einmal die singuläre Situation der Heimkehr des Exilanten, der eine archetypische Kraft innewohnte, vermochte ihm die Augen und Ohren zu öffnen. So drangen weder die fabrizierten Geruchsteppiche, noch die exakt kontrollierten Temperatur-, Schwerkraft- und Druckverhältnisse und auch nicht all die anderen in technischer Perfektion gehaltenen Umweltvariabeln erlebnisfähig zu ihm durch. Ebenso verzichtete er auf den verstörend-schönen Ausblick, der sich ihm in fast allen Himmelsrichtungen dargeboten hätte:

 

Ein bis zum Horizont reichendes Meer an menschgemachter, künstlicher Stadtlandschaft, durchkreuzt von den unterschiedlichsten Klassen an fliegender Technologie. Dieser fast planetenumspannende urbane Moloch verschlang durch seine durchweg dunklen Farbenabstufungen, die den optischen Eigenschaften der handelsüblichen Legierungen und Baustoffe geschuldet waren, sogar noch das wenige Licht, das Mutter Sonne so früh am Morgen spendete und die verbliebene Scharr ihrer künstlichen Kinder zusätzlich verbreiteten. Bei Letzteren handelte es sich um die vielen, global eingesetzten Kunstsonnen, die man ohne Übertreibung als technologischen Segen hätte bezeichnen können, von denen aber nur noch ein Bruchteil betrieben werden konnte und musste. Über einem pilzartigen Geflecht an solchen beinahe nahtlos miteinander verbundenen Metropolregionen wölbte sich, einem wahrlosen Spinnennetz gleich, ein Netzwerk an Orbitalstationen, von denen die Mehrzahl durch kilometerbreiter Transportkanäle mit Knotenpunkten auf der planetaren Oberfläche verbunden waren. Dass damit riesige Schlagschatten und künstliche geschaffene Schattenzonen entstanden, die zudem auch noch ständig wanderten, war ebenso folgerichtig wie folgenreich. Aber mit der technischen Licht insgesamt und insbesondre dem lebensspenden Licht der Kunstsonnen, kam das Leben in den Schatten zurück. Nahrung konnte deshalb nunmehr in der Vertikale variabel in subterranen bis orbitalen Lagen erzeugt werden, den vielen Kunstsonnen in den hydroponischen Farmen sei Dank.

Schreibe einen Kommentar