#6/12 – Horcht auf: Der Frischling darf beschaut werden

Ernüchtert vom Karneval und frei nach dem Motto: „Viele Zeichen publizieren, wenige selbst fabrizieren“, geht es ohne allzu viele Umschweife weiter mit Teil 6. Der Blick wandert dabei weiter von innen nach außen; von der Vorstellung zur Welt; von der Vergangenheit in die Gegenwart – schließlich langsam von der Meditation zur Aktion. Es entsteht also, wenn auch nur zaghaft so etwas wie erste Bewegung und damit der Anfang einer Handlung.


Die Heimkehr des verspannten Fast-Magisters

Teil 6 von 12: Seiten 16 bis 18.

So auch hier in Frankfurt Rhein/Main einem der größten aktiven Raumknoten in Zentraleuropa, inmitten einer der größeren Lebenszonen, die es derzeit im alten Europa noch oder besser – bereits wieder gab. Der Blick nach Osten wurde vom erdrückenden Anblick der hiesigen Orbitalanbindung unweigerlich aufgehalten. Obwohl diese organisch-stählernen Ungetüme aus der Ferne betrachtet wie elegant geschwungene, lässig aus dem losen Spinnennetz der Orbitalstationen heruntergelassene Kabelstränge wirken, stellten sie aus der Nähe besehen das Gegenteil von Lässigkeit und Eleganz dar. Mehr als 120° des Panoramas, mehr als eine ganze Himmelsrichtung also, waren hier verschwunden, verdeckt durch einen Transportkanal mit einem Durchmesser von gut drei Kilometern. Seine düstere Bedrohlichkeit, verstärkt durch die vielen Anbauten, die aussahen wie Auswüchse, wurde aus der Nähe durch die vielen Lichter, die schimmernden Sphären und den Flugverkehr gemildert. Diese gigantischen und lebensspendenden Bauwerke beeinflussten sichtlich sogar das Wetter. Im Bereich des künstlichen Massivs bildeten sich lokale Abregnungszonen, sodass es im Kerngebiet Frankfurts fast ständig regnete. Technisch als zusätzliche Kühlung einkalkuliert, wurde dieses Phänomen dieser verlustreichen Tage zu einem noch gewichtigeren Faktor in der Geopolitik als jemals zuvor. Wasser konnte zwar natürlich noch immer künstlich erzeugt werden, aber nur zu Energiekosten, die seine Eigenenergie um ein Vielfaches überstiegen – ergo war Energie mehr als Geld und damit derzeit wertvollste Ressource. Für die Bewohner Frankfurts bedeutete dieser Umstand aller ökonomischen Vorteile zum Trotz ganz konkret, ziemlich miserables Wetter.

 

Aus der Ferne besehen hatte der Dauerregen eine atemberaubend schönen Nebeneffekt: Lokal derart stark begrenzt bilden sich in den Übergangszonen Myriaden vielgestaltiger Formationen von Regenbögen. Diese veränderten sich ständig, verblassten und tauchten überraschend wieder auf – tanzten beinahe einen spielerischen Reigen. Neben dem Regen war nämlich eine unruhige Thermik und entsprechende Winddynamik weitere meteorologische Nebeneffekte des tiefen Eingriffs in das chaotische System Wetter. Wollte so wundersam, wie wunderschön und zugleich symbolträchtig inszenierte Hoffnung für finstere Propagandazwecke instrumentalisieren, so hätte man diese Anblicke konservieren sollen. So oder so ähnliche Phänomene boten sich vermutlich weltweit im Anflug auf die Lebenszonen dar, welche sich wie viele andere um die intakt gebliebenen Transportkanäle herum gebildet hatten. Das angedeutete Schattenphänomen rundete das spektakuläre Panorama noch ab, indem es dem utopisch schönen Farbenspiel der Lichtseite die triste Unwetterdüsternis der Schattenseite entgegensetzte. Der Gesamteindruck wäre in einer ästhetischen Beurteilung bestenfalls als kitschig weggekommen, war aber in seiner Unwirklichkeit berauschend. In Gegenrichtung zur aufgehenden Sonne und wurden die westlich liegenden Bereiche der Metropolregion in künstliche Dunkelheit getaucht. In solchen Schattenbereichen, wie dem hier im Westen von Frankfurt, funkelten derzeit nur die sporadisch gestreuten Lichtfunken der Lebenszonen, dort wo früher einfach alles lebendig und fast immer hell gewesen war; alles ständig im Glanz der künstlichen Sonnen vor Leben pulsiert hatte. Heute hingegen lebten die unter den Überlebenden, welche Zivilisation und damit Sicherheit schätzten, in ausgewählten und abgegrenzten Bereichen innerhalb der Ruinen des einstigen planetaren Utopias. Global betrachtet lagen aber wenige der diversen Schutzzonen im Bereich eines der wandernden Schlagschatten, aber so nah am Zentrum einer Macht, wie hier in Frankfurt Rhein/Main, war man spendabler mit den raren Ressourcen.

 

Dies alles aber nahm Xaver nicht sehenden Auges wahr, sondern höchstens als ein Datum unter vielen in einer Reihe von, stark gefilterten, kategorisierten, insgesamt zugerichteten und verarbeiteten Informationen. Neben der Freude über die Schönheit, hätte er sicher einiges an Wissenswertem zur Geschichte dieser Region beigetragen, aus dem Fundus an Fakten, die er sich in seinen ausschweifenden Vorabrecherche angeeignet hatte. Zur düsteren Monotonie der globalen Vogelperspektive und der ambivalent-kitschigen Note der Fernsicht hätte sich letztlich unweigerlich doch wieder bittere Depressivität gemischt. Gespeist aus sich unvermeidlich aufdrängender, historischer Einsicht, beim schonungslosen Blick auf den aktuellen Zustand des nackt und geschunden daliegenden Planeten. Ein Vergleich zum Status von vor gerade einmal 10 Sonnen-Jahren ergäbe, dass dieser Planet in großen Teilen buchstäblich ausgestorben und ruiniert war. 150 Sonnen-Jahre Entwicklung und Fortschritt, in denen und durch die das Antlitz der Erde von einer radikalen Urbanisierung ebenso radikal umgestaltet – nein weitergestaltet worden war. Die Entwicklung von der Klein- zur Großstadt, weiter zur Metropole und schließlich zur Metropolregion ohne klare Grenzen zueinander, folgte einer schlichten, weil räumlichen Logik. Dass natürliche Zwischenräume, einem Reservat nicht unähnlich, hierbei ausgespart wurden, folgte einer ebenso schlichten ökologischen Überlebensstrategie. Die einst als Utopie ersten Ranges gehandelte globale Homöostase hatte sich tatsächlich wieder herbeiführen lassen und konnte sogar über Dekaden hin stabilisiert werden. Damit wurde ein Gleichgewichtszustand aller beteiligten Systeme ohne gleichzeitige Stasis derselben konserviert – hier konkret und grob die Balance zwischen technisierter Menschheit und konsumierter Umwelt. Dieser traumhaft scheinende, wohl aber in Wirklichkeit rigide gelenkte und aufwendig optimierte Zustand war abrupt implodiert. Mental endeten die Überlegungen wie notwendig wieder an dieser Zäsur im nachdrücklichsten Sinn dieses Substantivs – immer wieder beim solaren Kollaps.

 

Unterdessen gelang es auch der spektakulären, bunten Vielfalt und ausnehmenden Hektik der näheren Umgebung mit ihren Holofenstern, öffentlichen Netz-Schnittstellen, Terminals und Gates für Transportröhren und Fähren nicht, Xavers Aufmerksamkeit im Außen zu binden. Nach den vielen Jahren des Rückzugs schenkte den ungewohnten Massen an Mitmenschen, die um ihn herum geschäftig vorüber eilten, ein erschreckend geringes Maß an Zuwendung, welcher Art auch immer. Damit schlug er mehrfache die überzeugend und sensibel vorgetragene Ermunterung Matrinas aus, sich auf ein Gespräch oder wenigstens irgendeine Art der Konfrontation mit einem menschlichen Gegenüber einzulassen. Sogar die vielen, attraktiv aufbereiteten und reizvoll dargebotenen Waren und Dienstleistungen, die hochkarätigen Erfahrungs- und Wissensangebote, die ein zentraler, dynamischer Ort wie dieser so hervor- und mit sich brachte, nahm er nicht ihrer öffentlichen, physischen Gestalt wahr. Denn er war seit der Landung hyperreal absorbiert, durch eine persönlich getroffenen derselben Informationsquellen – blind für die reale Welt, geblendet durch die unermesslichen Möglichkeiten seiner diversen Körpertechnologien. Er hatte sich durch deren Hilfe die Situation seinen individuellen Bedürfnissen entsprechend schön zurechtgeschnitten, sich nur das für ihn relevante an Daten aus der Umwelt zugemutet und vor allem aus den nun verfügbar gewordenen Netzen geschöpft. Diesen fein verlesenen Anteile an und Perspektiven auf die Realität hatte er sich, abgeschirmt durch den Reisekokon, im Gedankenkonzil dann auf seine ganz persönliche Art und Weise in seine selbst konfektionierten hyperrealen Welt geholt und dort gefügig und beherrschbar gemacht. Kaum noch etwas Fremdes war noch an ihr; alles war wohlig fabriziert.

 

Derzeit standen weitere Datenakquise und primär die Integration der gewonnen Erkenntnisse in die weitere Reiseplanung sowie eine abschließende Diskussion der Analyseergebnisse an. Das große Quanten an Arbeitszeit und kognitivem Potenzial auf verstiegene Fragekomplexe und deren unnötige Vertiefung hin verschwendet wurde, die aktuell im augmentalen Fokus lagen, fiel bei den vorhandenen Kapazitäten erstaunlich wenig ins Gewicht. Denn die sechs Module waren nun allesamt erwacht und das Konzil insgesamt funktionierte somit nun wieder tadellos. Für die übrigen Augmentate galten, nach sorgfältiger Prüfung durch den nicht gerade wortgewandten, wohl deshalb meist sehr schweigsamen Hoffmann volle Funktionsfähigkeit und uneingeschränkte Einsatzbereitschaft: „Läuft! Alles klar SchiffChef, äh, Xaver…“, lautete der logisch etwas verunglückte Missbrauch einer alten Redewendung durch das Modul. Die anderen Module nahmen wie häufig wenig Rücksicht auf die Befindlichkeit des schüchternen, sozial unsicheren Praktikers, als sie sich ob seiner verbalen Entgleisung je nach Charakter, Temperament und Sympathie mit oder über ihn amüsierten. Am Ende geboten die nüchtern-effiziente Xaya und der genervte innere Avatar von Xaver dieser heiter-peinlichen Episode Einhalt. Das was man gewöhnlich Ich nannte, wurde innerhalb der hyperrealen Existenz des Gedankenkonzils durch eine frei gestaltbare Selbstrepräsentation – einen inneren Avatar bezeichnet; ebenso übrigens, wie die semiautonomen Module, die ihr Aussehen innerhalb gewisser von Xaver definierter Grenzen selbst bestimmten. Was hierbei an Skurrilem zu Tage trat, war oftmals unbeschreiblich – wie vermutlich überhaupt das Erleben hyperrealer Daseinsformen teils neuer Gestalten der Sprache bedurfte. Da reichte selbst das semantisch hochpotente Neo-Latein nicht annähernd aus. Die bürokratischen Formalitäten der nomadischen Ankunft jedoch, die im Normalfall vielleicht höchst nervenaufreibend gewesen wären, glichen einer Selbstverständlichkeit. Er konnte sich ihrer aller mit nur wenigen vorab abgelegten Gedankenpaketen und einer simplen, terminierten Datenroutinen, buchstäblich also im Vorübergehen, entledigen. Wobei die enthaltenen Signaturen zweier seiner potenziellen Klienten wohl eine wesentliche Rolle gespielt haben dürfte.

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