#7/12 – Das siebte Fragment der mutigen Erstveröffentlichung (Die Zweite)

Seltsames passiert: Dieser Beitrag war zum chronologisch richtigen Zeitpunkt, vor #8/12 veröffentlicht worden und ist nunmehr verschwunden gewesen. Also liefere ich schnell den Ersatz; denn falls jemand lesen sollte, wird damit ein arges Ärgernis behoben.

Viel Spaß, Euer Satorius


 

Die Heimkehr des verspannten Fast-Magisters

Teil 7 von 12: Seiten 18 bis 21.

„Der praktische Unterschied zwischen technologisch verbesserten Übermenschen wie uns und den zurückgebliebenen reinen Organikern, also den meisten anderen, ist im Alltag dermaßen groß, dass deren erbärmlicher Zustand fast als Fanal eines mit aller Überzeugung gelebten Idealismus der Reinheit durchgehen könnte. Aber das nehm ich ihnen einfach nicht ab, diesen Schwächlingen“, kommentierte Nietzsche gewohnt bissig und übertrieben geschliffen und langatmig, was ihm direkt die gewöhnliche Rüge von Sokrates einbrachte: „Denk doch erst mal – nur beispielsweise! – über die Frage nach, was mit Xavers Mensch-Sein, beeinflusst durch die Technik, in den letzten Jahrzehnten so alles passiert ist; gerade sogar weiterhin passiert, just während wir mit ihm zusammen denken und vor uns hin existieren. Oder frage dich besser gleich auch noch, ob die meisten anderen überhaupt die Wahl haben, sich technologisch zu verändern oder nicht – und ich sage bewusst verändern und spreche nicht vorschnell von Weiterentwicklung oder unreflektiert von Verbesserung. Geborgte Macht ist es vor allem, die unseren Anfragen Gewicht verleiht. Nur ein paar Fragen, Spekulationen und eine Perspektive – schnell aus dem diskursiven Stegreif. Bereits mit deren oberflächlicher Auseinandersetzung könnte dein krudes Weltbild gründlich erschüttert werden!“ Wie stets mischten sich die anderen Module selten in die intellektuell anspruchsvollen, aber gleichzeitig ziemlich provokativ geführten Kontroversen der beiden ältesten Mitglieder des Gedankenkonzils ein. Nietzsche beließ es in diesem Fall überraschend kleinlaut bei der anfänglichen Spitze und reagierte nicht auf die starke Eröffnung seines Kontrahenten. Er wusste wohl wann Schweigen Macht war, nämlich wenn er so verdammt schlechte Karten in einem Disput hatte, wie hier mit der unbedachten Polemik, die ihrem tatsächlichen historischen Vorläufer alle Ehre gemacht hatte. Ein paar dieser reinen Organiker fielen derzeit unangenehm auf. Die zuvor noch so beschauliche Familie fiel nun sogar ihm auf und damit den meisten anderen Passanten und Passagieren sicher schon lange zur Last. Den Kontext würde er sich mithilfe der Umweltprotokolle schnell rekonstruieren lassen müssen und was sich über den Hintergründe noch herausfinden ließ war der notwendige nächste Schritt.

 

Nach einem Bruchteil eines Augenblicks hatte er mit Hilfe von Googol und unter kurzen Kommentaren von Sokrates und Nietzsche den Verlauf der Ereignisse nachvollzogen und steckte nun mitten in den Auswertungen und vor allem bereits in spekulativen Projektionen. Der während der Passage so verzückte und verzückende Spross war seit der unruhigen Landung außer sich geraten, sodass die sorgenden Eltern sich letztlich nach einem längeren, anfangs verdeckt geführten, zuletzt in aller Öffentlichkeit lautstark beendeten Grundsatzstreit doch dazu durchgerungen hatten, die pharmazeutische Hilfe einer der vielen, in diesen melancholischen Tagen gängig gewordenen, vollautomatischen Medizinalstationen in Anspruch nehmen zu wollen. Allerdings hatte an dieser Stelle der Ereigniskette das Schalmassel begonnen. Vielleicht war mit dem Aufenthalts- oder Sicherheitsstatus der beiden Erwachsenen etwas nicht in Ordnung oder deren Bonität bereitete unerwartete Unannehmlichkeiten; eventuell nur ein unglücklicher Zufallsvektor. Was genau los war, das war bisher nicht plausibel zu bestimmen gewesen und sprach damit allen Analysen und Beratungen Hohn. Die Faktenlage bis zum Eintreffen der zwei momentanen Gesprächspartner der Eltern war glassklar, ohne Hintergründe über den persönlichen Status waren all die die Prognosen und Szenarien des Gedankenkonzils praktisch wertlos. Zwar deutete man die Lage einhellig im Sinne subtile sichtbarer Tendenzen hin zu einer möglichen, langsamen Eskalation der Lage, aber das waren müßige, stochastische Spekulationen.

 

Was auch immer wirklich zur aktuellen Lage der beiden geführt hatte, war also im Grunde völlig unklar; was immer sich ereignen würde bahnte sich jedoch gerade vor Xavers sehenden Augen an. Das Vorhaben des Vaters, die ideologisch scheinbar verteufelte Medizinaltechnik zur Beruhigung seines Sohns in Anspruch zu nehmen, war folgenreich gescheitert. Nach der rückwirkenden Verhaltensanalyse war ein Verhaltensprimat, möglichst wenig Aufmerksamkeit auf sich zu wissen und unbehelligt voranzukommen. Letztlich war dieser Vorsatz kapital schiefgegangen; denn die Vorfälle hatten sie zu allem Überfluss nicht nur in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gebracht. Andere Mächte waren erwacht, sodass die Eltern nur restlos ihrer auffälligen Unauffälligkeit beraubt worden waren. Sie waren seit kurzem in Konfrontation mit den hiesigen Ordnungsmächten geraten und sprachen mit zwei unbehaglich aussehenden Schergen, vermutlich Mitarbeiter der Karlus-Korporation. Da sich die anschließende Diskussion gerade zu entwickeln begann, waren die Nöte des Kleinen auf einmal zweitrangig geworden.

 

So verblieb der Filius ebenso alleine in seinem bedauerlichen Zustand, wie er seine Umwelt umgekehrt lautstark hören und zur Belustigung der wenigen, verstohlen schauenden Schaulustigen auch spüren ließ. Für die vielleicht ernsten Gründe seiner Eltern hatte das verstörte Kind in seiner definitiv ernsten Hilflosigkeit kaum etwas übrig. Außerdem schien derzeit Niemand couragiert genug zu helfen – kein Wunder bei der systemweit herrschenden politischen Neuorientierungsphase. Zivilcourage hatte es ohne Zivilgesellschaft besonders schwer. Nicht nur hier vor Ort in Zentraleuropa war die politische Atmosphäre frostiger geworden. „Du hast sicher Recht mit deiner Überlegung, dass brutale Zeiten brutale Zustände auf den Plan rufen, aber einzig und allein Gutes zu tun kann daran etwas ändern eventuell mit Glück sogar verbessern“, ermunterte ihn ein gemeinsamer Ratschlag von Xaya und Matrina. Diese beiden Module waren sogar zusammen nicht einmal annähernd so lange bei oder besser mit Xaver, wie Sokrates oder Nietzsche jeweils für sich alleine es gewesen waren, genossen aber hier und jetzt aufgrund der ihnen eigenen Kompetenz- und Zuständigkeitsbereiche eine höhere Priorität in den Beratungen des Konzils. Zumal sie für die Zukunft von so entscheidender Bedeutung waren, dass ihnen effizientere Einflussnahmen möglich waren – ein Privileg, das Xaver ohne Weiteres annullieren konnte, aber aus guten, weil gesunden Gründen nicht für ratsam hielt.  

 

Den Verlauf der Ereignisse bis hier hin hatte er sich also fluchs aus den Protokolldaten seines Umweltsensoriums, einmal auf alles aufmerksam geworden, rekonstruieren können und nun waren Entscheidungen zu fällen. Von der Situation ergriffen und angetrieben von den Impulsen der nur zufällig einzigen beiden weiblichen Modulen aus der Lähmung durch seinen hyperrealen Äther aufgeschreckt, wurde er sich der unerwarteten Wendung und des damit drohenden Finales der anfangs noch so tröstlichen Familiengeschichte gewahr – förmlich von der Komödie zur Tragödie – und konnte nicht anders, als sich entgegen seiner kompletten Gewohnheit und gegen jede Erwartung stärker zu interessieren. Sollte er sich nun wirklich einmischen, vielleicht wenigstens dem Kind zur Hilfe kommen, wenn schon nicht den Eltern zur Seite zu stehen. Wer aktiv leben wollte, musste handeln – und nun hatte er mutig einen weiteren Schritt in dieses aktive Leben zu gehen.

 

Nur wie – und ob wirklich in letzter Konsequenz –, das musste nun zunächst entschieden und dann noch theoretisch ersonnen werden, um überhaupt je praktisch bewerkstelligt werden zu können. Es galt einiges aus verschiedenen Bereichen gegeneinander abzuwägen. Die beiden stämmigen Kerle zu aller erst, die sahen reichlich ungemütlich aus, in ihren robusten, in mattem Blauschwarz schimmernden Körperpanzern, mit all den Indizien latenter Aggression und steter Gewaltbereitschaft. Problematisch war die professionelle Befugnis Beidem nach eigenem Ermessen Ausdruck verleihen zu können und zu dürfen. Besorgnis erregten in dieser Richtung besonders die ersten zögerlichen Anzeichen kaum gebändigter Impulsivität, die bei dem kleineren der beiden Ordnungshüter just aufkeimten; auch wenn sein größerer Kumpane so wirkte, als brächte er das nötige Übermaß an Ruhe und Besonnenheit mit, um hier mit seiner Präsenz einen Ausgleich zu schaffen.

 

Aus historischer Erfahrung wusste Xaver, dass das Verhalten von Menschen, die am unteren, ausführenden Ende ungerechter und ungerechtfertigter Hierarchien ihren Platz gefunden hatten, unberechenbar sein konnte und einer fatalen, charakterlich-enthemmenden Dynamik unterworfen war. Das unwürdige Nebeneinander von demütig-feigem Desinteresse einerseits und gehorsamer bis geheuchelter Empörung andererseits, das eine kurze Sondierung der sozialen Dynamik ergab, rief in ihm Erinnerungen an Ausflüge in Erfahrungs- und Wissensnetze wach. Leider waren es Inhalte aus dunkelsten Kapiteln der Menschheitsgeschichte gewesen. Sah man gutmütig von der historisch zufälligen Fortschrittlichkeit der Oberflächen ab, hatte man ein immer gleiches, stereotypes Szenenbild einer im Kern faschistoiden und inhumanen Zwangsgesellschaft und ihrer typischen Rollenmuster vor sich. Menschen übernahmen dabei nach Zahl und Temperament die ihnen gemäße Rolle im System: Opfer, Täter, MitläuferHeld oder Märtyrer? Worum es hier ging war Verantwortung, nicht bloß eine Frage der Konformität also, sondern eine von ehernen Prinzipien höchsten Rangs – in Fragen von Ethik und Moral brauchte Xaver keine Beratung; von Niemandem. Die wohl fundierten Überzeugungen jedoch zum unbedingten Gesetz des Willens zu machen, hätte zu viel des Guten für den Anfang bedeutet. „Glücklicherweise muss jede Moral gewordene ethische Überzeugung, ein ihr entsprechendes Können vorfinden, um zur moralischen Pflicht zu werden. Klassisch gesprochen: Sollen impliziert Können“, gab Matrina die Eröffnung. „Die Kerle können und dürfen weit mehr als wir, also leg dich bloß nicht dummdreist, außerdem schlecht aufgewärmt direkt mit den Platzhirschen an!“, führte Xaya den Gedanken wie zufällig und auf ihre eigene, schnoddrige Art zu einem Ende.

 

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