#9/12 – Das neunte Fragment der blutigen Frühgeburt

Früh am Morgen, verschlafen und wortkarg überreiche ich Euch den nächsten Teil der Geschichte um Xaver und die van Beegers.

Beste Wünsche für den gerade heraufgedämmerten Tag, Euer Satorius


Kapitel 1 – Die Heimkehr des verspannten Fast-Magisters

Teil 9 von 12: Seiten 25 bis 28.

Die Meinungslage im Gedankenkonzil im Vorfeld dieser Entscheidung war uneins gewesen, deshalb war dementsprechend hochkontrovers diskutiert worden. Letztlich hatte sich natürlich klar die Position von Xaver durchgesetzt und ehrlicher Weise hatte er das komplexe Streitgespräch zwischen Xaya, Matrina, Nietzsche und Sokrates manchmal nicht so recht verstanden. Er zweifelte wenig an seiner pragmatische Haltung und war anfänglich nur neugierig auf den Disput gewesen. Im wirklichen Leben hätte er wohl zusammen mit Googol und Hoffmann unbeteiligt dabeigestanden und hätte sich durch seine eigene Initiative selbst zum schweigenden Zuhörer degradiert; ab und zu wohlwollend genickt, dabei interessiert und wissend dreinschauend. Hier aber war er Gott; er klinkte sich also einfach aus und begann seinen pragmatischen Plan endlich in die Tat umzusetzen. Diesem zufolge war der Junge nun abermals mit einer Medizin zu versorgen und sollte durch diese, ohne sein Wissen selbstverständlich, erst ruhiger, dann friedlich und schließlich richtiggehend lammfromm werden. An diesem Punkt angelangt, konnte er über den nächsten Schritt nachdenken. Sofern die Dauer eines Verhörs in einem Verhältnis mit der Schwere des Verdachts oder gar Delikts stand, sah es langsam schlecht für Familie van Beeger aus. Denn mittlerweile waren Herr und Frau van Beeger, nach deren Vornamen hatte Xaver bisher versäumt zu fragen, volle 30 Neu-Minuten in ihr unfreiwilliges Gespräch verwickelt – das waren sie doch noch?

 

„Sie halten das Alles also noch immer für ein riesiges Missverständnis; dann haben sie doch sicher keine Einwände dagegen, noch kurz mit auf die Wache zu kommen, um die Vorwürfe restlos zu zerstreuen?“, drohte der besonnene der beiden Wächter eine nächste Konsequenz an, da er wohl mit dem Verlauf des Gesprächs bis zu diesem Punkt nicht ganz zufrieden gewesen war.

 

„Dreckige Revoluzerbande, ihr gehört sicher zu Demos! Tut nicht so intellektuell, ihr sitzt nämlich zu Recht derb in der Scheiße. Ihr beiden meint wohl, nur weil ihr ein bisschen gebildeter seid als die Meisten und euch geschwollen ausdrücken könnt, wärt ihr was Besseres als Unsereins. Dabei sind nicht wir es, die dem Allgemeinwohl schaden; wir bewahren es sogar – stellt euch das mal vor! Und den ganzen Scheiß hier, nur für so ein paar bescheuerte, total verstiegene Ideale von Vorgestern?“, polterte der kleiner und stämmiger geratene, entschieden weniger besonnene Wächter unwirsch auf die Beiden los – wohl nicht zum ersten Mal. So wie er die Rolle des bösen Wächters ausfüllte, war der Genuss echt, den ihm das Schikanieren der beiden jungen Erwachsensen sichtlich bereitete.

 

Seine Opfer waren soweit man das sagen konnte athletisch gebaut, wirkten jung und gesund und in ihrem exzentrischen Auftreten durchaus attraktiv. Die Beiden waren Xaver bereits in der planetaren Fähre aufgefallen und dabei gleich sympathisch gewesen. Bis auf wenige, routinierte Gesten und Phrasen während Ein- und Ausstieg, waren sie einander nicht wirklich begegnet; dennoch waren das Paar zusammen mit ihrem quirligen Spross die einzigen Menschen an Bord der Fähre gewesen, denen Xaver mehr als nur gutmütige Ignoranz geschenkt hatte. Frau van Beeger war mit ihren exakt vermessenen 1,70m in einen olivenfarbenen, militärisch wirkenden Parker gekleidet, unter dem recht provokant ein pinke Skintex-Strumpfhose ihren Ausgang über die reizvollen Beine nahm, bis sie in neontürkiese Highheels mündete; das seidenglatte, wasserstoffhelle Haar mit den aufgetupften Farbakzenten in Pink, Türkis und Olive trug sie zu drei losen Zöpfen gebunden, dabei halb unter einer ziemlich gewagten, türkisen Fellmütze verborgen. Sie wirkte im Angesicht der hör- und spürbaren Brisanz ihrer Lage enorm selbstsicher und noch immer recht gefasst. Ihr fein geschnittenes Gesicht mit den hohen Wangenknochen, der kleinen spitzen Nase und den großen grünen Mandelaugen eingebettet in ein Antlitz hellen, fast blassen Teints hatte Etwas bezauberndes an sich, wurde scheinbar von innen beleuchtet und dabei kaum durch düstere Emotionen getrübt. Ihr mindestens einen Kopf größerer Partner war in so gut wie jeder Hinsicht eintöniger, aber eben nicht weniger eigenwillig gekleidet; wie er im Moment, fast Schutz suchend, halb schräg hinter ihr stand, in seinen kniehohen schwarzen Militärstiefeln; der derben, weißen Jeans, gefolgt von einem pechschwarzen Kapuzenpulli, auf dem ein seltsam stilisiertes „A“ in weißem Kontrast prangte, dessen Bedeutung Xaver Googol bereits recherchieren ließ. Über seinem unauffälligen, schwarzen Haar trug er einen um so auffälligeren Zylinder, in klassischem Schwarz gehalten mit dem passenden weißen Band, auf dem etwas Unleserliches geschrieben stand. Abgerundet wurde sein Farbthema konsequent von weißen Handschuhen und einer in Weiß verspiegelten Sonnenbrille. Er war keineswegs von Angst gezeichnet, wirkte im Gegensatz zu seiner Gefährtin aber weit weniger zufrieden mit Stand und Lage der Dinge. Intuitiv betrachtet zeigte er damit sogar die plausiblere Reaktion auf die ungewöhnliche Situation. Der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation bezichtigt zu werden, war nicht eben eine Bagatelle.

 

Die zwei ungleich großen, beide jedoch auf ihre Art bulligen Wächter schienen Mauritius Eltern im Verhör ziemlich hart bearbeitet zu haben. So ertrugen sie wohl schon eine ganze Weile ein wechselnd kühles bis impulsives Kreuzverhör, während sich das Gespräch nun einem entscheidenden Wendepunkt zu nähern schien. Sollte er nun direkt, buchstäblich noch planlos und damit ungewohnt spontan eingreifen? Nein – er musste in aller Schnelle eine instantane Krisensitzung des Konzils einberufen, um ein erfolgversprechendes Szenario auf Basis der bekannten Informationen auszuarbeiten. Den Jungen hatte er zur allseitigen Sicherheit lieber doch nicht mitgenommen. Er war nun besänftigt genug, um guten Gewissens wieder alleine gelassen werden zu können; jedoch sicherlich nicht friedfertig genug um den Peinigern seiner geliebten Eltern ruhig und zurückhaltend gegenüberzutreten.

 

Der entscheidente Hinweis kam wie so häufig vom streitlustigen, aber sehr produktiven Gespann SokratesNietzsche und basierte auf der Annahme, dass die Persönlichkeit der beiden Wächter leicht beeindruckt werden konnten. Der entscheidende Trumpf in diesem Plan waren zwei zukünftige Gelegenheiten, deretwegen Xaver die notwendig gewordene Umsiedlung nach Zentraleuropa unternahm. Seine Hilfe durfte er nun keinesfalls mehr versagen, sonst würden die Armen auf der Wache womöglich weit schlimmeres Übel zu erdulden haben, als wie bisher nur angeschrien und kurzzeitig ihrer Freiheit beraubt zu werden. Eine hypothetische Spekulation von Googol, auf Basis statistischer Auswertungen breit angelegter Netzrecherchen zu Sittlichkeit und Humanität in den Sicherheitsapparaten in Frankfurt Rhein/Main, deren weitere Details teilweise sehr unappetitlich gewesen waren, kaum zu dem ernüchternden Ergebnis: „Die teilprivatisierten Polizeidienste und teilweise autonomen Milizverbände, durch welche die öffentliche Ordnung hier und im Einflussbereich der großen Sieben so gut es geht aufrecht erhalten wird, sind im Grunde noch illegitimer und korrupter als es ihre Auftrageber schon sind. Ethische Normen und moralische Richtigkeit sind reine Glückssache, aber durchschnittlich sehr schwach ausgeprägt.“ Keine gute Prognose also leider für die Eltern des jungen Mauritius; deswegen wurde der sofortige Beistand nun tatsächlich zur moralischen Pflicht. Da ließ der ethische Rigorist Xaver Satorius nicht mit sich reden, jedoch bedurfte es zur Umsetzung dieser klaren Leitlinien der Hilfe und Unterstützung einiger Module.

 

„Moment mal bitte! Darf ich mich kurz einmischen? – Vielleicht kann ich einige Unklarheiten beseitigen“, griff Xaver eventuell gerade noch rechtzeitig verbal in die Situation ein, bevor der aktuelle Aggressionsausbruch des impulsiven Schlägertypen sich vielleicht hätte weiterentwickeln können. Im Verlauf der anfänglich mitgehörten Hasstriade hatte der sich mittlerweile nämlich derart in Rage geredet, dass er jederzeit die Kontrolle restlos zu verlieren drohte. Sein Kollege wirkte trotz aller ihm eigenen Sachlichkeit und entgegen der Dominanz, die ihm sein höherer Rang einräumte, überfordert mit der rohen Emotion seines Partners und hätte wohl irgendwann bequem weggeschaut und so den Konflikt gelöst. So sah man ihm die Erleichterung an, als er die angebotene Einmischung dankend zum Anlass nahm. Von neuem Mut beseelt, stand er Xaver unverhofft und blitzschnell zur Seite: „Halt Kirchner! Lass die Kleinen bitte noch eine Weile in Ruhe – vor allem nicht hier, in aller Öffentlichkeit. Mann!“ gebot er und fragte an Xaver gewandt, „Wer sind sie denn? Sie haben hoffentlich Hilfreiches zum Sachverhalt beizutragen?“

 

„Macht doch alle mal halblang – boah, was’n Dreck! Diese Gören haben sich ihre Tracht Prügel redlich verdient. Die ganze verdammte Menschheit ist am Abkratzen und die haben nichts Besseres zu tun, als in ihrer vielen Freizeit Rebellion zu spielen. Seid froh, dass ihr hier so viele Schutzengel habt und wir nicht alleine unter sechs Augen sind. Wer kommt denn da zur Hilfe: Magister, Mönch oder Möchtegerndiplomat? Was willst du dich denn hier einmischen Alter; jeden Tag eine gute Tat, oder was?“, wurde nun auch Xaver standesgemäß aber erwartbar begrüßt. Wer lässt sich schon freudig die Befriedigung archaischer Triebregungen versagen? Sicher kein Barbar mit Dienstbefugnissen; mögen diese auch noch so gering ausfallen.

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