#11/12 – Ein elftes Segment der blutigen Frühgeburt

Der dramaturgische Höhepunkt der Geschichte naht, und ebenso das Ende dieser Exkursion in den Bereich roher und frischer Literaturversuche. Wie es danach weitergehen wird, liegt im ungewissen Dunkel der Zukunft. Durch einen Abgrund aus Zufall, Freiheit und Entscheidung von der Gegenwart, der Präsenz dem unendlich kleinen und kurzen Hier und Jetzt.

Auf einen ordentlichen Klimax und einen angenehmen Ausgang des Wochenendes, Euer Satorius


Die Heimkehr des verspannten Fast-Magisters

Teil 11 von 12: Seiten 31 bis 34.

Ein Wimpernschlag später setzte Xaver – ein prächtiges Exempel des technisch optimierten Neumenschen – dazu an, auf das Drängen der beiden Sicherheitskräfte zu reagieren und würde dies mit kalkulierten 66,6023 Prozent Erfolgswahrscheinlichkeit dafür tun, dass sein geplanter und geübter Vorstoß letztlich erfolgreich sein würde. Als mäßig hoher Wert nicht unbedingt sicher, waren die zu erwägenden Nachteile jedoch in ihrer Wahrscheinlichkeit und Schädlichkeit insgesamt harmlos; also war die notwendige Intervention und anvisierte Bereinigung der Lage vielleicht elegant auf einem diplomatischen Weg machbar; andere Weg blieben dem Fast-Magister auch nicht – wollte er sich nicht selbst ernsthaft in Gefahr bringen. Dies zu vermieden war als eine der prinzipiellen Direktiven der gesamten Arbeit des Konzils vorrangig, stand somit fast außer Frage. Denn das letzte Wort hatte immer das klassische Ich und Xaver glaubte fest an dessen Existenz. Dessen Ränder mögen porös geworden sein, wegen der vielen technischen Erweiterungen und Eingriffe, aber es musste eine stabilen Kern geben; eine in sich veränderliche aber autonome Domäne seines ureigenen Willens. Damit weit mehr als bloß Ich – selbstverständlich war Bewusstsein synergetisch aus mindestens neun weiteren Aspekten zusammengesetzt. Je nach favorisierter Theorie des Bewusstseins, die derzeit anerkannte Mode waren, gab es diesen Minimalkompromiss: Die Bewusstseins-Dekade.

 

Die weitgehend Passivität, welche die beiden anderen Figuren im Zuge dieser Eröffnung bis hierhin an den Tag gelegt hatten, zeugte entweder von Klugheit, Verwirrung oder Unentschiedenheit. Wahrscheinlich war es Klugheit, sonst hätte Frau van Beeger nicht so geistesschnell auf sein Erscheinen reagiert. Sie standen seither gespannt und neugierig daneben, während sie schweigsam dem kommunikativen Schlagabtausch folgten. Bis auf die abgewürgte Begrüßung und eine kleine Geste der Dankbarkeit auf Xavers Nachricht über den Zustand gemeinsamen Sohn hin, hatten sie sich bisher zurückgehalten. Für den weiteren Verlauf stand damit jedenfalls eine gewisse Stabilität zu erwarten; sollten sie also gerne weiter die Ruhe bewahren.

 

„Oh – Demos! Das ist wirklich keine unerhebliche Kleinigkeit mehr, da stimmte ich ihnen natürlich sofort zu“, nahm er der Neuigkeit kompromissbereit und verständnisvoll ihre Schärfe, während er zu seinem Meisterargument fortschritt: „Das wäre für mich sehr traurig und unerwartet zu hören. Als ich während unserer gemeinsamen Reise mit den beiden Angeklagten des Längeren angeregt über meine berufliche Zukunft gesprochen habe, äußerten sie sich glaubhaft und vor allem wohlwollend über die damit unweigerlich verbundenen politischen Aspekte. Sie müssen wissen“, er macht ein bedeutungsvolle Pause, bevor er die rhetorische Rakete zündete, „zwei meiner zukünftigen Auftraggeber begleiten nämlich nicht gerade unbedeutende Positionen innerhalb der kontinentalen Politik. Ich bin derzeit auf dem Weg, um Anstellungen sowohl bei General Tadeusz von Quarz als auch bei Direktorin Eleonora Rether anzutreten. Mehr darf ich allerdings, wie sie sicher leicht nachvollziehen können, aus Gründen der Diskretion und Geheimniswahrung nicht sagen. Diese beiden Namen sollten ihnen aus den höchsten Führungskreisen der großen Sieben bekannt sein. Wenn sie, wie ich unschwer zu erkennen meine, Mitarbeiter der Karlus-Korporation sind, sei es direkt oder indirekt, so können sie sich wohl besser als die meisten vorstellen, dass man über diese beiden prominenten Persönlichkeiten schnell ins Gespräch über die große Politik gerät. Stehen unsere Arbeitgeber nicht sogar in ausgewiesen gutem Verhältnis zueinander?“

 

Während sich erste Reaktionen auf Xavers Aussage bei allen Beteiligten abzuzeichnen begannen, war dieser sehr froh darüber, durch die Finte mit dem Datenschutz, um hinderliche Details herumgekommen zu sein. Hoffentlich würden demütige Verblüffung und vorauseilender Gehorsam verhindern, dass diese Lücken noch sichtbar würden. So hatte er leichter Dings verschweigen können, dass er erst noch eine letzte, persönliche Runde im Auswahlverfahren um die Anstellung zu bestehen hatte und dass er eigentlich letztlich lediglich die Kinder der Mächtigen schulen und optimieren würde. Aber das waren alles andere als offensichtliche Schwächen, denn die Academia unterhielt bekanntlich Verbindungen zu fast allen Spielern im großen, solaren Spiel und offerierte diesen ihre diverse Dienstleistungen. harmlose Anwendung des durchaus gefährlichen Wissens ging, das Xavers Organisation den Mächtigen nicht nur dieser Welt anbot, war in diesem Zusammenhang, ein solches hinderliches Detail. Er blickte aufmerksam und neugierig, aber zugleich ruhig und unaufgeregt in die Runde und registrierte dabei zufrieden die Wirkung, die seine Eröffnung erzielte. Er konnte seine aufkeimende Freude an diesem Spiel in vollen Zügen genießen und wunderte sich während all dessen weiterhin über sich selbst: Früher hätte er nie so selbstbewusst und ausnehmend raffiniert eine derart brenzlige Situation meistern können, geschweige denn hätte er diese Hölle der Emotionen souverän beherrschen und sogar genießen können.

 

Den Eltern von Mauritius sah man bereits verhaltene Erleichterung an und die beiden Wachen verloren spürbar an Autorität im Angesicht solch mächtiger Namen und damit Referenzen, mit denen Xaver sich zu schmücken vermochte. Was, wenn sich herausstellte, dass zwei mehr oder weniger einfache Wachen Freunden oder auch nur Bekannten einer Person, die im Dienst solch erlesener Kreise stand oder stehen würde, Unannehmlichkeiten bereitet hatten; sie womöglich zu Unrecht der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung bezichtigt hatten. Dann riskierten diese einfachen Wachen schlicht Kopf und Kragen. In despotischen Zeiten, in den steile Hierarchien klarer und unversöhnlicher hervortraten als sonst, war man gut beraten, diese zu kennen und sofern möglich für seine Ziele zu nutzen. Nicht immer waren Klugheit und Wissen um Historie oder besser ein Wissen um zeitgenössische Solarpolitik und die dazugehörigen sozialen Zustände so unmittelbar nutzbringend wie in dieser Situation. Xaver jedenfalls war einstweilen sehr zufrieden mit der Entwicklung, ohne dass dafür bestätigende Worte hätten gewechselt werden müssen. Sogar als Wachführer Hofmeister scheinbar entrüstet zu einer Erwiderung ansetzte, blieb sich Xaver seiner machtvollen Verhandlungsposition bewusst und las aus der Haltung, dem Gestus – ja aus der ganzen Erscheinung der beiden Wachen, dass er die Partie so gut wie gewonnen hatte, wenn er seine Karten mitsamt den schlagenden Trümpfe von Quarz und Rether sicher zu Ende spielen würde. Natürlich war diese Gewissheit kein Ergebnis harter Arbeit oder ausgeprägten Talents, sondern wurde abermals von Berechnungen und entsprechenden Folgerungen technischen Ursprungs gestützt. Die aktuelle Prognose der Erfolgswahrscheinlichkeit hatte sich zwischenzeitlich auf stattliche 86,4231 Prozent erhöht – gut so, die Wächter schienen von dem Glanz der puren Macht nachhaltig beeindruckt worden zu sein.

 

„Sie meinen also ihre flüchtige Bekanntschaft mit diesen beiden Subjekten und ihre angebliche Anstellung in höchsten Kreisen, sei Anlass genug, unseren Indizien zu misstrauen? Ziemlich gewagter Einsatz, wenn sie mich fragen,“ hob er an, nur um dann unmittelbar, schon etwas leiser fortzufahren: „Wenn sich ihre Angaben aber tatsächlich als richtig erweisen würden, wären unsere Ambitionen gewiss flexibel. Sie wissen ja – Eine Hand wäscht die andere; wenn sie wirklich für General von Quarz arbeiten sollten, dann wären sie qua ratifiziertem Vertragswerk mein Verbündeter und als solcher annehmbarer Bürge für die Beiden hier.“ Dabei zeigte er auf das schrille Pärchen und fügte nun im Flüsterton noch näher zu Xaver gewandt hinzu: „Unter uns gesagt: Die Indizien sind sowieso nicht allzu stark. Das Ganze lag auch mehr im Ermessen Kirchners und wurde von mir nur geduldet, damit dieser beschäftig ist und unter meiner Führung vielleicht sogar mal was dazulernt. Wie gut der Versuch geklappt hat, haben sie ja hautnah miterlebt und so gekonnt entschärft – Danke dafür! Der Typ ist kaum zu zähmen. Eine der vielen Bestien, die dieser Tage die Welt unsicher machen. In seiner Uniform ist er ein Wolf im Schafspelz, wie man früher wohl gesagt hätte. Aber auf die Wache müssen sie uns noch kurz begleiten, auch wenn ich sie und vielleicht sogar ihre Freunde von dort im günstigen Fall gerne an einem Ziel ihrer Wahl absetze.“

 

Wieder lauter und zu allen Anwesenden gewandt, wollte er seine Entscheidungen verkünden als Kirchner plötzlich auf Herrn van Beeger losging. Er hatte wohl irgendwie mitgehört und sah nun den krönenden Abschluss seiner Schikane in Gefahr geraten. Das in jeder Hinsicht unterlegen Opfer musste sich nach einem gebrüllten: „Scheiß Terroristenschwein, friss das hier!“, einen ziemlich derben Schlag ins Gesicht gefallen lassen, den ihm der im Spurt losgerannte Wüstling gnadenlos mit aller augmentalen Kraft und Wucht gerade zufügte. Daraufhin zu Boden gegangen, trat ihm Kirchner mit einem mächtigen Tritt von der Seite durch die Rippen in den Brustkorb. Zuerst ein vernehmliches Krachen und dann ein widerwärtiges Schmatzen zeugten von katastrophalen Folgen. Der Angriff konnte tödlich enden, wenn nicht jemand einschritt.

 

Zu diesem zu späten Zeitpunkt machte der sichtlich entsetzte und deshalb überforderte Hofmeister gerade noch rechtzeitig von den Privilegien seines höheren Rangs Gebrauch. Der rasende Berserker hielt wie vom Blitz getroffen in seinem Wüten inne. Er hatte gerade seinen blutbeschmierten Stiefel aus der Flanke seines Opfers gezogen und wollte eben neu ansetzten. Seine Visage war noch hässlicher geworden, verzerrt von Zorn, Wut und purem Gewaltrausch. Hofmeister hatte diesen Exzess soeben beendet, indem er den Schinder einfach kurzerhand paralysiert hatte; sonst hätte man vermutlich nach einem nächsten in Richtung der Kopfregion angesetzten Tritt mit dem Schlimmsten rechen müssen. Diese Rettung in aller letzter Sekunde gelang ganz ohne Einsatz der Waffe, die in Hofmeisters Gürtelhalfter ruhte und durchaus auch dazu im Stande gewesen wäre. Er als Wachführer und Unteroffizier hatte gegenüber Untergebenen gewisse disziplinarischen Möglichkeiten, um einen total ausgerasteten, augmental aufgerüsteten Wächtersoldaten technisch in seine Schranken zu weisen – per augmentaler Zwangsorder, die von ihm in Notfällen über Kirchners Cerebralschnittstelle mit Überrang direkt ausgeführt werden konnte: Technischer Zwang hatte rohe Aggression gebändigt.

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