Ambivalenzen von Wort und Mensch

Es gibt zwei Arten von Propaganda – vernünftige Propaganda für Handlungen, welche mit dem aufgeklärten Eigennutz derjenigen, die sie machen, und derjenigen, an die sie gerichtet ist, übereinstimmen, und unvernünftige Propaganda, welche mit niemands aufgeklärtem Eigennutz übereinstimmt, sondern von Leidenschaften, blinden Regungen, unbewussten Begierden oder Befürchtungen diktiert wird und sich an alle diese wendet. Wo es sich um die Handlungen von Individuen dreht, gibt es höhere Beweggründe als aufgeklärten Eigennutz. Wo aber auf den Gebieten der Politik und Wirtschaft kollektiv gehandelt werden muss, ist aufgeklärtes Selbstinteresse wahrscheinlich der höchste aller wirksamen Beweggründe. Wenn Politiker und ihre Wähler immer so handelten, dass sie auf lange Sicht ihr oder ihres Landes Interesse förderten, wäre unsre Welt das Paradies auf Erden. Tatsächlich aber handeln sie oft gegen ihr eigenes Interesse, bloß um ihren am wenigsten rühmlichen Leidenschaften zu frönen; folglich ist die Welt eine Stätte des Elends. Propaganda für solche Handlungen, die sich mit aufgeklärtem Eigennutz vertragen, wendet sich an die Vernunft mittels logischer Argumente, welche auf das beste verfügbare, voll und ehrlich dargelegte Beweismaterial gegründet sind. Propaganda für solche Handlungen, die von niedrigeren Impulsen als aufgeklärtem Eigennutz diktiert sind, bietet falsches, verfälschtes oder unvollständiges Beweismaterial, meidet logische Argumente und sucht ihre Opfer durch bloße Wiederholung von Schlagworten zu beeinflussen, durch wütende Anprangerung fremder oder heimischer Sündenböcke und durch listige Verquickung der niedrigsten Leidenschaften mit den höchsten Idealen, so dass Gräuel im Namen Gottes verübt werden und die zynischste Art von Realpolitik zu einer Sache religiöser Grundsätze und patriotischer Pflicht wird.

 

Mit John Deweys Worten: »Eine Erneuerung des Glaubens an die gemeinsame menschliche Natur und ihre Möglichkeiten im allgemeinen und an ihre Fähigkeit, auf Vernunft und Wahrheit anzusprechen im besonderen, ist ein sichereres Bollwerk gegen Totalitarismus, als eine Schaustellung materiellen Erfolgs oder eine devote Verehrung besonderer rechtlicher und politischer Formen.« Die Fähigkeit, auf Vernunft und Wahrheit anzusprechen, ist in uns allen vorhanden. Vorhanden ist aber leider auch der Hang, auf Unvernunft und Unwahrheit anzusprechen – besonders in denjenigen Fällen, in denen die Unwahrheit ein Lustgefühl hervorruft oder der Appell an die Unvernunft eine antwortende Saite in den primitiven, untermenschlichen Tiefen unsres Wesens zum Erklingen bringt.

 

Aldous Huxley (1894 – 1963), Dreißig Jahre danach oder Wiedersehen mit der „Wackeren neuen Welt“, S. 21f. (1960)

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