Wie angekündigt und ohne großen Text folgt hier ein großer Text. Ein dritter Zugang, der einer Komplettüberarbeitung von „Die Heimkehr des verspannten Fast-Magisters“ entspringt, führt die Geschichte in ein zweiten Auflage nun lesbarer und pointierter zum identischen Ende. Inhaltlich nahe am Urtext geführt, macht hier aber die Form einen klaren Qualitätsunterschied zur Rohfassung aus.
Genussvolle Lektüre wünscht, Euer Satorius
Xaver mal anders
Seiten 1 – 32
Er hatte sich während des Fluges viel Gutes und Wichtiges für die nahe Zukunft vorgenommen; zu viel jedoch, um es alles auf einmal ernst und damit wirklich in Angriff nehmen zu können. Er hatte kurz gezögert – immerhin ein Anfang –, sich dann aber doch für die wohlige Sicherheit der schlechten Gewohnheit entschieden. Fast unmittelbar nach erfolgter Landung hatte er also die Startroutinen seines Gedankenkonzils initiiert. Kurz darauf war die Welt um ihn herum eine andere geworden. Sie hatte sich schlagartig in ein perzeptives Paradies verwandelt. Hinter der grauen Realität lag ein hyperreales Zauberland verborgen. Sein ganz persönliches Utopia, inspiriert durch seine Ästhetik und angepasst an seine Vorlieben. Ein Traumland, in dem er die Regeln bestimmte, beinahe allmächtig über kognitive Funktionen gebot und Chaos nur als Quelle von Kreativität zuließ.
Auch wenn sein Köper noch unter den Folgen des zermürbenden Flugs litt, war ihm das nun gleich, denn er war weit weg, geflüchtet – aber nicht wie immer, er hatte immerhin kurz gezögert.
Die Instanzen des Konzils schalteten sich bereits bei der Reizverarbeitung der fünf Sinneskanäle ein und übernahmen viele der folgenden, kognitiven Aufgaben. Rezeption und Perzeption waren dadurch regulierte Prozesse geworden, womit der Freiheit ganz neue Spielräume eröffnet wurden. Ob Gebrauch oder Missbrauch von dieser Freiheit machen, bleib eine Frage des Blickwinkels und der Wahl zugleich: Der lieb gewonnene Reisekokon und die wiedererwachte Gesellschaft lenkten seine Aufmerksamkeit nun beinahe vollständig nach innen. Matrina hatte nach ihrem Wiedererwachen vergeblich dagegen protestiert. Es gab noch unglaublich viel zu Recherchieren und anschließend zu Lernen. Der Schritt in die angewandte Bewusstseinsformung hatte seine Tücken und Tiefen.
Auch während des anschließenden Transports über das gigantische Areal der unzähligen Landefelder hinweg, hinein in den Bauch eines kolossalen Tetraeders, der den architektonisch atemberaubenden Zentralkomplex des Raumknotens darstellte, hatte er kaum Sinne für die wirkliche Umgebung und deren atemberaubende Einzigartigkeit. Dabei war die Gelegenheit geradezu ideal, denn er wurde in einem Kraftfeld auf mehreren Metern Höhe durch die Luft befördert. Nicht einmal die singuläre Situation der Heimkehr eines Exilanten, der eine archetypische Kraft innewohnte, vermochte ihm die Augen und Ohren zu öffnen. So drangen weder die fabrizierten Geruchsteppiche noch die exakt kontrollierten Verhältnisse von Temperatur, Schwerkraft und Druck erlebnisfähig zu ihm durch. All die in technischer Perfektion gehaltenen Umweltparameter kümmerten Xaver nicht mehr. Ebenso verzichtete er auf den verstörend-schönen Ausblick, der sich ihm in fast allen Himmelsrichtungen dargeboten hätte: Eine bis zum Horizont reichende Monotonie menschgemachter Stadtlandschaft. Dieser fast planetenumspannende, urbane Moloch verschlang mit seinen dunklen Farbenabstufungen, die den optischen Eigenschaften der handelsüblichen Legierungen und Baustoffe geschuldet waren, das wenige Licht, das die Sonne so früh am Morgen spendete. Da halfen die global eingesetzten Kunstsonnen, die man ohne Übertreibung als technologischen Segen hätte bezeichnen können, kaum. Zumal von ihnen nur noch ein Bruchteil betrieben werden konnte und musste.
Über einem pilzartigen Geflecht beinahe nahtlos miteinander verbundener Metropolregionen wölbte sich, einem wahllos geknüpften Spinnennetz gleich, ein Netzwerk an Orbitalstationen. Deren Mehrzahl war durch kilometerbreiter Transportkanäle mit Knotenpunkten auf der planetaren Oberfläche verbunden. Einige waren heutzutage verwaist, blieben aber in ihren Orbits weitgehend stabil. Dass damit riesige Schlagschatten und künstliche geschaffene Schattenzonen entstanden, die zudem auch noch ständig wanderten, war ebenso folgerichtig wie folgenreich. Aber mit dem technischen Licht insgesamt und insbesondre dem natürlichen Licht der Kunstsonnen, kam das Leben in den Schatten zurück. Sogar Nahrung konnte deshalb nunmehr in der Vertikale variabel in subterranen bis orbitalen Lagen erzeugt werden, den vielen Kunstsonnen in den hydroponischen Farmen sei Dank. So auch hier in Frankfurt Rhein/Main einem der größten aktiven Raumknoten in Zentraleuropa, inmitten einer der größeren Lebenszonen, die es derzeit im alten Europa noch oder besser – bereits wieder gab.
Der Blick nach Osten wurde vom erdrückenden Anblick der hiesigen Orbitalanbindung unweigerlich unterbrochen. Obwohl diese organisch-stählernen Ungetüme aus der Ferne betrachtet wie elegant geschwungene, lässig aus dem losen Spinnennetz der Orbitalstationen heruntergelassene Leinen wirkten, stellten sie aus der Nähe besehen das Gegenteil von Lässigkeit und Eleganz dar. Mehr als 120° des Panoramas, mehr als eine vollständige Himmelsrichtung war hier verschwunden, verdeckt durch einen Transportkanal mit einem Durchmesser von gut drei Kilometern. Seine düstere Bedrohlichkeit, verstärkt durch die vielen Anbauten, die aussahen wie wuchernde Auswüchse, wurde aus der Nähe betrachtet durch die vielen Lichter, die schimmernden Sphären und den auch hier regen Flugverkehr kaschiert.
Diese gigantischen und lebensspendenden Bauwerke beeinflussten sichtlich sogar das lokale Wetter. Im Bereich des künstlichen Massivs bildeten sich konzentrische Kreise von Abregnungszonen, sodass es im Umland häufig und im Zentrum Frankfurts fast permanent regnete. Technisch als zusätzliche Kühlung einkalkuliert, wurde dieses meteorologische Phänomen in diesen entbehrungsreichen Zeiten zu einem noch gewichtigeren Faktor in der Geopolitik als schon zuvor. Wasser konnte zwar natürlich noch immer künstlich erzeugt werden, aber nur zu Energiekosten, die seine Eigenenergie um ein Vielfaches überstiegen – ergo war Energie mehr als Geld und damit derzeit einer der wertvollsten Ressourcen. Für die Bewohner Frankfurts bedeutete dieser Umstand, aller ökonomischen Vorteile zum Trotz, ganz konkret: ziemlich miserables Wetter.
Aus der Ferne besehen hatte der Dauerregen einen kitschig-schönen Nebeneffekt. Lokal derart stark begrenzt, konnten sich in den Übergangszonen zum Normalwetter Myriaden komplexer Formationen an Regenbögen herausbilden. Diese veränderten sich ständig, verblassten und tauchten überraschend wieder auf – tanzten beinahe einen spielerischen Reigen. Neben dem Regen waren nämlich eine unruhige Thermik und entsprechende Winde weitere meteorologische Folgen dieses tiefen Eingriffs in das chaotische System des Wetters. Solche oder ähnliche Phänomene boten sich vermutlich weltweit im Anflug auf die Lebenszonen, welche sich oftmals um die intakt gebliebenen Transportkanäle herum etabliert hatten.
Das Netz aus Schatten, träge über die Szenerie wandernd, rundete die ebenso spektakuläre Vogelperspektive ab. Der Gesamteindruck war in seiner harschen Unwirklichkeit berauschend. In Gegenrichtung zur aufgehenden Sonne gelegen, wurden die westlich des Transportkanals liegenden Bereiche der Metropolregion in künstliche Dunkelheit getaucht. In Schattenbereichen, wie dem hier im Westen von Frankfurt, funkelte das scharf abgrenzte Lichtermeer zweier Lebenszonen. Umrahmt und dadurch scheinbar zugleich bedroht von ausgedehnter Düsternis. Dort wo früher einfach alles lebendig und fast immer hell gewesen war, alles ständig im Glanz der künstlichen Sonnen vor Leben pulsiert hatte, war es dunkel geworden.
Heute lebten die überlebenden Menschen, welche Zivilisation und damit Sicherheit schätzten, in gesicherten Bereichen innerhalb der riesigen Ruine des planetaren Utopias von vormals. Global betrachtet lagen nur wenige so große Schutzzonen im zentralen Schlagschatten eines wandernden Bereichs. So nah am Zentrum einer Macht, wie hier in Frankfurt Rhein/Main, war man aber spendabler mit den raren Ressourcen.
Diese Perspektiven nahm Xaver nicht sehenden Auges wahr, sondern höchstens als ein winziges Datum unter vielen in einer Reihe von, stark gefilterten, kategorisierten, insgesamt zugerichteten und verarbeiteten Informationen. Neben der Freude über die Schönheit und Mystik, hätte er sicher einiges an Wissenswertem zur Geschichte dieser Region beigetragen und gewonnen. Aus dem reichen Fundus an historischen Fakten, die er sich in seinen – wie immer ausschweifenden – Vorabrecherche angeeignet hatte, ließen sich zusammen mit den Absichten einige interessante Schlüsse ziehen.
Zur düster-urbanen Monotonie der globalen Vogelperspektive und der ambivalent-kitschigen Note des Panoramas hätte sich letztlich unweigerlich doch wieder bittere Depressivität gemischt. Gespeist aus sich unvermeidlich aufdrängender, historischer Einsicht, beim schonungslosen Blick auf den aktuellen Zustand des geschunden und halb tot daliegenden Planeten.
Ein Vergleich zum Zustand vor gerade einmal zehn Solar-Jahren ergäbe, dass dieser Planet in großen Teilen buchstäblich ausgestorben und ruiniert war. Vorbei war eine Epoche von 150 Solar-Jahre Entwicklung und Fortschritt, durch die das Antlitz der Erde von einer radikalen Urbanisierung ebenso grundlegend umgestaltet – nein, weitergestaltet worden war. Die Entwicklung von der Klein- zur Großstadt, weiter zur Metropole und schließlich zur Metropolregion ohne klare Grenzen, folgte einer schlichten, räumlichen Logik. Dass natürliche Zwischenräume, einem Reservat nicht unähnlich, hierbei ausgespart wurden, folgte einer ebenso schlichten ökologischen Überlebensstrategie.
Die einst als Utopie ersten Ranges gehandelte Vorstellung einer planetaren Homöostase hatte sich tatsächlich herbeiführen und daraufhin sogar über Dekaden stabilisieren lassen. Damit wurde ein Gleichgewichtszustand aller beteiligten Systeme ohne gleichzeitigen Stillstand derselben ermöglicht. Die Balance zwischen Menschheit und Umwelt war Realität geworden. Mental endeten solche Überlegungen notwendig immer wieder an einer Zäsur im nachdrücklichsten Sinn dieses Substantivs – immer wieder beim solaren Kollaps.
Unterdessen gelang es auch der spektakulären, bunten Vielfalt und ausnehmenden Hektik der näheren Umgebung mit ihren Holofenstern, öffentlichen Netz-Schnittstellen, Terminals und Gates für Transportröhren und Fähren nicht, Xavers Aufmerksamkeit nach außen zu lenken. Nach den vielen Solar-Jahren des Rückzugs schenkte dieser selbst den Massen an Mitmenschen, die um ihn herum geschäftig vorübereilten, ein erschreckend geringes Maß an kognitiver Zuwendung. Damit schlug er mehrfach die überzeugend und sensibel vorgetragene Ermunterung Matrinas aus, sich auf ein Gespräch oder wenigstens irgendeine Art der Konfrontation mit einem menschlichen Gegenüber einzulassen. Er verneinte diese Anfragen beharrlich und widmete sich lieber zusammen mit Sokrates, Nietzsche und Googol hochkarätigen Erfahrungsnetzen und Wissensangeboten.
So entgingen ihm all die realen Reize eines so zentralen, deshalb attraktiv und bunten Ortes, einfach verschluckt von den Filtern des Reisekokons und chancenlos gegen die hyperrealen Lockungen des Gedankenkonzils. Die Umwelt nahm er nicht in ihrer öffentlich sichtbaren, physischen Gestalt wahr, da er seit der Landung total absorbiert war. Seine Umgebung war bestenfalls Basis für eine sehr enge, persönlich getroffene Auswahl an aufbereiteten Informationen. Blind für die reale Welt, geblendet durch die unermesslichen, hyperrealen Möglichkeiten des Gedankenkonzils, marschierte Xaver zielstrebig durch den Zentralknoten. Er hatte sich mithilfe der Technik die ungewohnte, unangenehme Situation vom Hals gehalten. Diese wurde seinen individuellen Bedürfnissen entsprechend aufbereitet und verschönert, indem nur das für ihn relevante an Daten aus der Umwelt zugemutet und dabei vor allem aus den nun verfügbar gewordenen Netzen geschöpft wurde. Was zum Schluss von der Welt um ihn herum noch übrig blieb, waren autistoide Filetstücke. Diese hatte er sich mit dem Gedankenkonzil geschnitten; dann in seine selbst konfektionierte Welt geholt und sie sich dort schließlich gefügig und damit beherrschbar gemacht. Kaum noch etwas Fremdes war noch an ihnen; alles war wohlig fabriziert.
Nach der praktischen Weiterbildung und der Unterhaltungsrunde in den Netzen, stand weitere Datenakquise und die Integration der gewonnen Erkenntnisse in die weitere Reiseplanung sowie eine abschließende Diskussion der Ergebnisse an. Das hierbei große Quanten an Arbeitszeit und kognitivem Potenzial auf verstiegene Fragekomplexe und deren unnötige Vertiefung hin verwendet wurden, fiel bei den vorhandenen Kapazitäten wenig ins Gewicht: Nur knappe 60% seines Bewusstseins waren derzeit mit Denken und Handeln ausgelastet. Denn die sechs Module waren nun allesamt erwacht und das Konzil insgesamt funktionierte somit nun wieder tadellos. Für die übrigen Augmentate galt, nach sorgfältiger Prüfung durch den nicht gerade wortgewandten, wohl deshalb meist sehr schweigsamen Hoffmann volle Funktionsfähigkeit und uneingeschränkte Einsatzbereitschaft:
„Läuft! Alles klar Schiff – Chef, äh, Xaver…“, lautete der semantisch etwas verunglückte Missbrauch einer alten Redewendung durch das Modul.
Die anderen Module nahmen wie häufig wenig Rücksicht auf die Befindlichkeit des schüchternen, sozial unsicheren Praktikers, als sie sich ob seiner verbalen Entgleisung je nach Charakter, Temperament und Sympathie mit ihm oder über ihn amüsierten. Am Ende geboten die nüchtern-effiziente Xaya und der genervte Avatar von Xaver dieser heiter-peinlichen Episode gemeinsam Einhalt.
Das was man gewöhnlich Ich nannte, wurde innerhalb der hyperrealen Existenz des Gedankenkonzils durch eine frei gestaltbare Selbstrepräsentation – einen inneren Avatar – symbolisiert; ebenso übrigens, wie die semiautonomen Module, die ihr Aussehen innerhalb gewisser, von Xaver definierten Grenzen selbst bestimmten. Was hierbei an skurriler Exzentrik zutage trat, war oftmals unbeschreiblich komisch – wie vermutlich überhaupt das Erleben hyperrealer Daseinsformen teils neuer Gestalten der Sprache zur Beschreibung bedurfte. Da reichte selbst das semantisch hochpotente Neo-Latein nicht annähernd aus.
Nach einigen hundert Metern Fußweg war Xaver nun im sensiblen Kontrollbereich für Einreisende angelangt. Die hier fälligen bürokratischen Formalitäten, die im Normalfall höchst nervenaufreibend und in seiner Situation sicher kompliziert gewesen wären, glichen für ihn einer Selbstverständlichkeit. Er konnte sich der mühseligen Pflicht mit nur wenigen vorab kompilierten Datenpaketen und einigen terminierten Datenroutinen, buchstäblich also im Vorübergehen, entledigen. Wobei die enthaltenen Signaturen zweier seiner potenziellen Klienten wohl eine wesentliche Rolle gespielt haben dürften.
„Der praktische Unterschied zwischen technologisch verbesserten Übermenschen wie uns und den zurückgebliebenen reinen Organikern – also den meisten anderen – ist nicht nur im Alltag dermaßen klaffend, dass deren erbärmlich-infantiler Zustand fast als Fanal eines mit aller Überzeugung gelebten Idealismus natürlicher Reinheit durchgehen könnte. Aber das nehme ich ihnen einfach nicht ab, diesen verlausten Primaten“, kommentierte Nietzsche gewohnt bissig und übertrieben geschliffen und langatmig, was ihm direkt die gewöhnliche Rüge von Sokrates einbrachte:
„Denk doch erst mal – nur beispielsweise! – über die Frage nach, was mit Xavers Mensch-Sein, beeinflusst durch die Technik, in den letzten Jahrzehnten so alles passiert ist; gerade sogar weiterhin passiert, just während wir mit ihm zusammen denken und vor uns hin existieren. Oder frage dich besser gleich auch noch, ob die meisten anderen überhaupt die Wahl haben, sich technologisch zu verändern oder nicht – und ich sage bewusst verändern und spreche nicht vorschnell von Verbesserung oder unreflektiert gar vom Übermenschen. Und außerdem ist es wohl vor allem die geborgte Macht, die unserem Anliegen so viel Gewicht verleiht, nicht dessen technische Perfektion. Nur ein paar kleine Fragen, lediglich wilde Spekulationen und eine willkürliche Perspektive – schnell aus dem diskursiven Stegreif – und schon wird es eng mein Freund. Bereits mit deren oberflächlicher Auseinandersetzung könnte dein krudes Weltbild gründlich erschüttert werden!“
Wie stets mischten sich die anderen Module nicht in die intellektuell anspruchsvollen, aber gleichzeitig ziemlich provokativ geführten Kontroversen der beiden ältesten Mitglieder des Gedankenkonzils ein. Nietzsche beließ es in diesem Fall überraschend kleinlaut bei der anfänglichen Spitze und reagierte nicht auf die starke Eröffnung seines Kontrahenten. Er wusste wohl, wann Schweigen Macht war, nämlich wenn er verdammt schlechte Karten in einem Disput hatte. Hier, mit einer so unbedachten Polemik, die seinem tatsächlichen historischen Vorläufer alle Ehre gemacht hatte, konnte er hier diskursiv nichts gewinnen.
Drei von Nietzsches reinen Organikern fielen derzeit unangenehm auf: Die zuvor noch so beschauliche Familie aus der Fähre fiel nun sogar ihm in seiner künstlichen Klause auf und damit den meisten anderen Passanten und Passagieren sicher schon lange zur Last. Den Kontext dieser Geschichte würde er sich mithilfe der Umweltprotokolle schnell rekonstruieren können. Was sich über die Hintergründe noch herausfinden ließ, war dann ein nächster notwendiger Schritt, um zu einem umfassenden Bild der Lage zu kommen.
Nach einem Bruchteil eines Augenblicks hatte er mit Rückgriff auf Googol und unter kurzen Kommentaren von Sokrates und Nietzsche den Verlauf der Ereignisse nachvollzogen und steckte nun mitten in den Auswertungen weiterer Datenquellen. Mit einigen wenigen Prozenten seiner kognitiven Kapazität stellte er bereits erste spekulativen Projektionen und Prognosen an. Der während der Passage so verzückte und verzückende Spross der jungen Eltern war seit der unruhigen Landung außer sich. Seine Querelen waren war zunehmend ausgeartet, sodass die sorgenden Eltern sich letztlich nach einem längeren, anfangs verdeckt geführten, zuletzt in aller Öffentlichkeit lautstark beendeten Grundsatzstreit doch dazu durchgerungen hatten, die pharmazeutische Hilfe einer der vielen vollautomatischen Medizinalstationen in Anspruch nehmen zu wollen. Wer genug Zahlungsmittel besaß, fand dort im Handumdrehen Heilung für fast alle Beschwerden. Allerdings hatte an dieser Stelle der Ereigniskette das Unglück begonnen. Vielleicht war mit dem Aufenthalts- oder Sicherheitsstatus der beiden Erwachsenen etwas nicht in Ordnung gewesen oder deren Bonität bereitete unerwartete Schwierigkeiten; eventuell auch nur ein unglücklicher Zufallsvektor. Was ganz genau los war, das war bisher nicht plausibel zu bestimmen gewesen und sprach damit allen Analysen und Beratungen Hohn. Die Faktenlage bis zum Eintreffen der zwei momentanen Gesprächspartner der Eltern war glassklar; ohne Hintergründe über deren persönlichen Status waren all die schönen Prognosen und Szenarien des Gedankenkonzils hochgradig unsicher und damit fast nutzlos.
Zwar deutete er die Lage einhellig im Sinne subtil sichtbarer Tendenz hin zu einer möglichen, langsamen Eskalation der Lage, aber das war eine müßige und wenig verblüffende stochastische Spekulation. Er konnte das Risiko einfach nicht abschätzen: Unkalkulierbare Sachverhalte bereiteten ihm mindesten Unbehagen, meistens jedoch Angst. Ein Zustand, den er Dank Hoffmann nie lange zu ertragen hatte, sah man dabei über kürzlich erlebten Ausnahmen großzügig hinweg.
Was auch immer wirklich zur aktuellen Lage der Beiden geführt hatte, war also im Grunde völlig unklar; was immer sich ereignen würde, bahnte sich jedoch gerade vor Xavers Sensorium an. Das Vorhaben des Vaters, die Option der ideologisch scheinbar verteufelten Medizinaltechnik zur Beruhigung seines Sohns in Anspruch zu nehmen, war zunächst folgenreich gescheitert. Nach der rückwirkenden Verhaltensanalyse war ein Verhaltensprimat der Eltern auffällig geworden: Möglichst wenig Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und dadurch unbehelligt sowie schnell voranzukommen. Letztlich war dieser Vorsatz nunmehr kolossal gescheitert. Denn die Ereignisse hatten sie nicht nur in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gebracht. Andere Mächte waren erwacht, sodass die Eltern nur restlos ihrer auffälligen Unauffälligkeit beraubt worden waren. Sie waren seit Kurzem in Konfrontation mit den hiesigen Ordnungsmächten und sprachen mit zwei unbehaglich aussehenden Schergen der Macht, vermutlich Mitarbeiter der Karlus-Korporation. Durch die Debatte, dich sich gerade erst zu entwickeln begann, waren die Nöte des kleinen Kindes auf einmal zweitrangig geworden.
„Was sollen wir gemacht haben?“
„Das ist doch nicht ihr Ernst und wenn doch, dann ein ausgesprochen schlechter Witz!“, schnappte er nur einige beunruhigende Fetzen des Gesprächs auf, da er sich schon anderweitig orientierte.
Der liebenswerte Junge war nun also allein und dabei ebenso unzufrieden mit seinem Zustand, wie er dies seine Umwelt lautstark hören und zur Belustigung der wenigen, verstohlen schauenden Schaulustigen auch spüren ließ. Er tobte und trat wild um sich. Für die vielleicht ernsten Gründe seiner Eltern hatte das verstörte Kind in seiner definitiv ernsten Hilflosigkeit kaum etwas übrig. Außerdem schien derzeit Niemand couragiert genug, um ihm irgendwie zu helfen – kein Wunder in der systemweit herrschenden politischen Neuorientierungsphase. Zivilcourage hatte es ohne eine breite Zivilgesellschaft, zumal im Angesicht von Krieg und Zerstörung besonders schwer. Nicht nur hier vor Ort in Zentraleuropa war die politische Atmosphäre frostiger geworden.
„Es ist ja unbestritten, dass brutale Zeiten brutale Zustände auf den Plan rufen, weswegen man nur unter großer Vorsicht eingreifen sollte. Aber einzig und allein gute Taten können daran etwas ändern, eventuell mit Glück und Geduld sogar nachhaltig etwas in der Welt verbessern. Also tue schnell was, sonst geschieht sicher bald ein Unglück“, ermunterte ihn ein gemeinsamer Ratschlag von Xaya und Matrina.
Diese beiden Module waren sogar zusammen nicht einmal annähernd so lange bei, mit oder in Xaver wie Sokrates oder Nietzsche jeweils für sich alleine es gewesen waren, genossen aber hier und jetzt aufgrund ihrer Kompetenz und in ihrem Zuständigkeitsbereich eine höhere Priorität in den Beratungen des Konzils. Zumal sie für die Zukunft von so entscheidender Bedeutung waren, dass ihnen effizientere Arten der Einflussnahme möglich waren – ein Privileg, das Xaver ohne Weiteres annullieren konnte, was er aber aus guten, weil gesundheitlichen wie beruflichen Gründen nicht für ratsam hielt.
Den Verlauf der Ereignisse bis hier hin hatte er sich also aus den Protokolldaten seines Umweltsensoriums, einmal auf alles aufmerksam geworden, präzise rekonstruieren können und nun waren Entscheidungen zu fällen. Von der Brisanz der Situation ergriffen und angetrieben von den Impulsen der einzigen beiden weiblichen Modulen, war er aus der Lähmung durch den hyperrealen Äther erwacht. Nun wurde er sich der unerwarteten Wendung, dem drohenden Finale der anfangs noch so tröstlichen Familiengeschichte vollends gewahr – förmlich von der Komödie zur Tragödie – und konnte nicht mehr anders. Entgegen seiner kompletten Gewohnheit und gegen jede Erwartung begann er, sich ernsthaft für das Leid anderer zu interessieren, und beschritt den Übergang von der Ethik zur Moral, sprang aus der praktischen Theorie in die praktische Praxis – nur mental, dabei zaghaft und probehalber zunächst.
Sollte er sich nun wirklich einmischen, vielleicht wenigstens dem Kind zur Hilfe kommen, wenn schon nicht den Eltern heldenhaft zur Seite zu stehen? Wenn er aktiv leben wollte, musste zu handeln beginnen und wann sollte er damit beginnen, wenn nicht hier und jetzt? Nun hatte er eine perfekte Gelegenheit einen weiteren, mutigen Schritt in Richtung dieses aktiven Lebens zu gehen. Nur wie – und ob wirklich in letzter Konsequenz –, das musste nun zunächst entschieden und dann noch theoretisch weitergedacht werden, um überhaupt je praktisch bewerkstelligt werden zu können.
Es galt zunächst, viele Faktoren aus verschiedenen Bereichen gegeneinander abzuwägen. Die beiden stämmigen Kerle zu allererst: Die sahen reichlich ungemütlich aus, in ihren robusten, in mattem Blauschwarz schimmernden Körperpanzern, mit all den Indizien latenter Aggression und steter Gewaltbereitschaft. Problematisch war hierbei vor allem die professionelle Befugnis, die geläufige Tendenz Beidem nach eigenem Ermessen Ausdruck zu verleihen. Besorgnis erregten insbesondere die ersten zögerlichen Anzeichen kaum gebändigter Impulsivität, die bei dem kleineren der beiden Ordnungshüter zu registrieren waren; auch wenn sein größerer Kumpane so wirkte, als brächte er das nötige Übermaß an Ruhe und Besonnenheit mit, um mit seiner Präsenz einen Ausgleich schaffen zu können.
Aus historischer Erfahrung wusste Xaver, dass das Verhalten von Menschen, die am unteren, ausführenden Ende ungerechter und ungerechtfertigter Hierarchien ihren Platz gefunden hatten, unberechenbar sein konnte und in ihrer Psyche einer fatalen, enthemmenden Dynamik ausgesetzt waren. Das unwürdige Nebeneinander von demütig-feigem Desinteresse einerseits und gehorsamer bis geheuchelter Empörung andererseits, das eine kurze Sondierung der sozialen Umwelt ergab, rief in ihm Erinnerungen an frühere Ausflüge in Erfahrungs- und Wissensnetze wach. Leider waren es Anklänge an Inhalte aus den dunkelsten Kapiteln menschlicher Kulturgeschichte. Sah er dabei gutmütig von der oberflächlichen Fortschrittlichkeit ab, hatte er hier das stereotype Szenenbild einer im Kern faschistoiden, inhumanen Zwangsgesellschaft mit üblicher Besetzung vor sich. Menschen übernahmen dabei nach Zahl und Temperament die ihnen gemäße Rolle: Opfer, Täter, Mitläufer, Ignorant – Rebell, Held, Märtyrer.
Die fundamentale Entscheidung war nicht bloß eine Frage der Konformität, sondern die eherner Prinzipien höchsten Rangs – eine Frage von ethischen Werten, eine Frage moralischer Verantwortlichkeit. Theoretisch brauchte Xaver hier keine Beratung; von Niemandem. Matrina hatte ihn trotzdem voll unterstützt, Nietzsche natürlich nicht und bevor dieser irgendwie loslegen konnte, hatte Xaver die Sitzung beendet. Die rational wohl fundierten Überzeugungen jedoch zum unbedingten Gesetz des Willens zu machen: Gegen die Angst, den Egoismus und die Gewohnheit zugleich anzugehen, hätte zu viel des Guten für den Anfang bedeutet. Für die moralische Praxis brauchte er die Beratung und Unterstützung von Xaya, Matrina und wie fast immer im Hintergrund, die neurochemischen Fähigkeiten von Hoffmann.
„Glücklicherweise muss jede Moral gewordene ethische Überzeugung, ein ihr entsprechendes Können vorfinden, um zur moralischen Pflicht zu werden. Klassisch gesprochen: Sollen impliziert Können“, gab Matrina die Eröffnung.
„Die Kerle können und dürfen weit mehr als wir, also leg dich bloß nicht dummdreist direkt mit den Platzhirschen an – wärm dich erst mal auf, alter Mann!“, führte Xaya den Gedanken wie zufällig und auf ihre typische Art zu Ende, gleichzeitig schnoddrig und schlau.
Wenn er in wenigen Neu-Wochen tatsächlich bereits mit der Instruktion und Formung von jungem Bewusstsein sein Auskommen verdienen wollte, dann sollte ihn diese Situation keinesfalls überfordern. War dem Kind erst einmal geholfen, konnte er womöglich im Anschluss sogar wirklich noch den Eltern beistehen, je nachdem, wie ernst deren Lage dann sein würde.
Der Test seiner Überzeugungen kam oder kam eben nicht; unweigerlich und notwendig. Nach seinem Wissensstand ging die örtliche Exekutive schon nicht gerade unter den Prinzipien der Humanität mit ihren widerspenstigen Bürgern um; da wollte er sich gar nicht erst ausmalen, was Fremden drohte. Hoffentlich waren die Gründe für die Verwicklung trivialer Natur und die polizeiliche Willkür würde schlimmstenfalls milde entwürdigend ausfallen. Unterstützung hierbei konnte aber nötigenfalls Fernziel sein, Nahziel musste und sollte ein anderes sein: Die Entscheidung war nun endgültig gefallen, nun musste sie in die Praxis umgesetzt werden.
Hier auf dem Planeten seiner Geburt, am zweiten Etappenziel seiner noch gut zwei Neu-Wochen dauernden Reise in seine nahende, berufliche wie private Zukunft, wagte er den Sprung. Unter strenger Begleitung durch Matrina und Xaya versuchte er sich zu Erheiterung des Kleinen an etwas radikal Neuem – kompromisslos und ohne Scham. Mit 35% seines Bewusstseins hatte Xaver die ersten Instruktionen der Choreografie hinter sich und mit der Effektplanung für die Sinnesshow begonnen.
Die namenlosen Eltern führten ihr investigatives Gespräch nun noch einige Meter weiter entfernt als zuvor. Sie waren in einem akustisch total und leicht optisch abgeschirmten Sitzbereich verschwunden. Dadurch waren sie fast gänzlich von ihrem Sohn abgeschnitten worden. Wohl eine perfide bis schikanöse Demonstration von Macht, wo doch offensichtlich war, dass dem Kind Zuwendung, Trost und vielleicht sogar Medizin fehlten. Alles das zu geben, war Privileg und zugleich erstes Bedürfnis sorgender Eltern, wurde diesen hier aber verwehrt. Das noch immer schreiende Kind war damit wohl höchstens – wenn überhaupt – Auslöser denn Gegenstand des Verhörs gewesen.
Während der 14 Sekunden Wegstrecke zum Standort des Jungen ging Xaver entschiedenen Schrittes und beendete seine Vorbereitungen bereits nach der Hälfte der Zeit. Den Rest nutze er für eine Prognose möglicher Reaktionen und fand an deren Ende beruhigende Werte vor: 90% Erfolgswahrscheinlichkeit. Gestärkt durch dieses Wissen, die pharmakologische Expertise und systematisches Training erreichte er sein Ziel. Es begann, nun hatte er die Interventionstaktik in die Tat umzusetzen: erst Erstaunen und Verblüffen – dann Verwöhnen und Unterhalten!
Eindrucksvoll war der Anblick des absurden Kontrasts von zunächst biederem Magister in puristischer Ordenstracht, der sich abrupt und in rasendem Übergang in einen clownesken Paradiesvogel verwandelte. Farblich gingen nüchternes Grauweiß und tristes Alltagsgrau über in die schrillsten nur vorstellbaren Tönungen und Kombinationen aller Regenbogenfarben. Farbensprühend und begleitet von surrealen Projektionen baute er sich vor dem überraschten Opfer auf.
Klanglich wurde dieser Überfall von einer nur eng gebündelten, nur in Richtung des Kindes wahrnehmbaren, akustischen Bühne untermalt: Auf eine quäkenden Sirene folgte ein Tusch und daraufhin amüsante Zirkus-Musik, die einem, ohne dass man sie eigentlich so recht mochte, unweigerlich ein Lächeln aufs Gesicht zauberte.
Olfaktorisch und haptisch wurde eine konfuse Abfolge von angenehmen Gerüchen und wohligen Gefühlen verabreicht, soweit das telemanipulativ eben möglich war. Leider konnte er den Geschmackssinn nicht ansprechen – noch nicht, es dauerte noch sechs weitere Sekunden bis Abstand und Replikatoren soweit waren, wenn das dann überhaupt noch nötig sein sollte.
Er hatte einen kurzen Sketch mit Elementen aus Pantomime und Slapstick in den Netzen gefunden und für sich adaptiert. Dank Xayas Kompetenz in den Bereichen Schauspiel, Akrobatik und Tanz beherrschte er den Ablauf mittlerweile perfekt.
Nun begann sie, seine Uraufführung von Xaver mal anders, wie ein Votum des Konzils als Namen gewählt hatte: Die erste Bewegung erfolgte und sofort wurde noch die zweite Stufe der Sinnesshow gestartet. Diese war auf die Auswertungen der Reaktionen der Zielperson hin entwickelt und abgestimmt worden. Der Junge mochte fast alles, außer die Musik. Also ließ er diese langsam leiser werden, was dem Gesamteindruck wenig schadete.
Als Lohn für diesen fantasievollen Einsatz erntete er auch prompt einige erfolglos verkniffene Lacher von vorbeieilenden Passanten, die kurz innegehalten hatten; zu verweilen oder gar zu klatschen traute sich aber Keiner und glücklicherweise nahm Niemand Anstoß an der ungewöhnlichen Aktion. Ansonsten sorgte der Einsatz, der fabelhaften Technologie sei Dank, für erstaunlich wenig Aufsehen und vor allem für den gewollten Effekt bei dem eben noch todtraurigen Jungen.
Dieser hielt sofort erschrocken inne und schaute erst einmal nur verdutzt drein. Seine Aufmerksamkeit war nun absolut bei Xaver, vergessen aller Verdruss von zuvor; absorbiert von der Magie des Augenblicks, stand er einfach nur ungerührt da. Während er der Darbietung mit fast allen Sinnen folgen konnte, hob sich seine Stimmung sichtlich. Nun hörte ihm zuliebe sogar wie von Zauberhand die gruslige Musik langsam auf. Alles bezauberte ihn, verzauberte sein kindliches Gemüt. Gegen Ende der kleinen Show lachte er sogar herzlich und strahlte fast wieder so, wie noch vor der Landung in seinem Spiel und bei seinen Eltern, an die er nun nicht mehr dachte.
„Es freut mich, dass meine kleine Einlage dich erheitern konnte“, wandte sich Xaver, nach seiner letzten Drehung noch außer Atem und leicht schnaubend, an sein Publikum – den nun wieder fröhlichen und neugierig zu ihm aufschauenden Jungen.
„Das war einfach spitze! Wie hast du das gemacht – bist du ein Zauberer?“, war die Antwort mit der kindlich unweigerlichen, direkten Anschlussfrage.
„Danke und sehr gerne geschehen. Mein Name ist Xaver Satorius und nein – ich bin kein Zauberer, aber so etwas Ähnliches bin ich vielleicht schon“, stellte er sich kurz vor und erklärte dann: „Das eben waren bloß ein paar teure, technische Spielereien. Ein Wunder, dass die noch nicht eingerostet waren. Ich mache so was hier eher selten, musst du wissen.“ Ohne eine dieser Spielereien hätte er nicht einmal mit dem Kleinen reden können. Denn dieser sprach sicherlich kein Neo-Latein, was aber auch nicht nötig war. Er besaß mit Googol nämlich einen sehr potenten Simultanübersetzer und seit der Auswertung der sensorischen Protokolle wusste er mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass die Familie sich in Deutsch unterhalten hatte.
„Hallo. Ich bin der Mauritius van Beeger und eigentlich darf ich gar nicht mit dir sprechen. Soll nämlich nicht mit Unbekannten sprechen. Du warst aber so lustig und lieb, da mache ich eine klitzekleine Ausnahme. Aber bloß nichts der Mama sagen – pssst!“
„Wir sind doch schon zusammen in der Fähre gewesen. Also sind wir sogar nicht einmal wirklich Unbekannte. Ich saß nur ein paar Reihen hinter euch, aber in meiner Ordensrobe bin ich weit weniger auffällig, als jetzt gerade.“ Daran erinnert, wie exzentrisch bunt er noch immer dastand, deaktivierte er die Effekte. Sofort erlangte er seine alte Erscheinung zurück – mal abgesehen von den psychedelischen Verzerrungen, die den Übergang notwendig begleiteten.
Nun unterhielt sich ein unscheinbarer, erst auf den zweiten, genauen Blick hin eindrucksvoller Mann mit schwarzen, schulterlang und glatt herunterhängenden Haaren, deren Grauanteile unverkennbar waren, mit einem Halbwüchsigen, der blass und pausbäckig dastand, mit seinem roten Lockenkopf. In Zahlen standen dort ein 1,90m Riese und ein 1,20m Zwerg beisammen und sprachen trotzdem auf Augenhöhe, weil der erste sich hingekniet hatte. Im Märchen endend wurde der Riese innerlich von seinen Elfen Xaya und Matrina und den Kobolden Sokrates und Hoffmann mehr oder weniger frenetisch bejubelt und zur erfolgreichen Rettung des Kindes beglückwünscht.
Der Junge überlegte erst angestrengt, kam aber dann aber doch rasch zu einem Ergebnis: „Ich kann mich wirklich nicht an dich erinnern Herr Satorius. Aber ist ja nicht schlimm – die Ausnahme!“ Er zwinkerte Xaver kess zu und begann sich fragend umzusehen.
„Du fragst dich sicher, wo deine Eltern sind, oder?“, nahm Xaver erstaunlich feinfühlig den situativen Faden auf.
„Oh ja, da kamen vorhin so zwei dumme Kerle und haben sich aufgespielt. Dann haben sie Mama und Papa einfach mitgenommen und zu mir gesagt, ich soll hier warten und ruhig sein. Doof waren die, besonders der Kleine war richtig fies!“, schloss er und schnitt eine unflätige Grimasse.
„Geht es dir denn gesundheitlich soweit wieder gut genug, um deine Eltern besuchen gehen zu können, oder soll ich dir erst etwas Medizin machen – ihr wolltet doch gerade Medizin holen als ihr vorhin unterbrochen wurdet?“, erkundigte er sich daraufhin neugierig und mit sorgenvoller Miene bei Mauritius. Er hatte den Jungen auf Anhieb gemocht und war bis hierhin selbst von seiner Extraversion und dem ziemlich erfolgreichen Einstand im Sozialen überrascht – technische Unterstützung hin oder her, er war gut.
„Jetzt, wo ich mich wieder beruhigt habe – mir ist schon noch ein bisschen komisch im Bauch und Kopf-Aua hab ich auch noch ganzschön dolle. Aber gar nicht so schlimm, wie ich vorhin noch gedacht habe. Blöde Fähre, blöde Landung!“
„Warte kurz und vertraue mir. Ich habe immer eine Art Medizinschrank – oder besser noch eine Art Apotheker bei mir und von dem hol ich dir jetzt schnell deine Medizin“, bot Xaver freimütig an und erteilte zeitgleich Hoffmann den Auftrag, ein nebenwirkungsfreies Universalpräparat gegen leichte Übelkeit und Kopfschmerzen mit saurem Zitrone-Ingwer-Aroma herzustellen.
„Das wäre toll. So was kannst du auch noch? Sei ehrlich – du bist doch ein Magier oder sogar eine Art Superheld“, erstaunte sich der Junge als Xaver unter seinem Gewandt ein daumengroßes, intensiv gelbes Bonbon hervorholte und ihm auffordernd hinhielt. „Her damit – mhh“, schmatzte der Kleine munter vor sich hin und genoss seine Medizin sichtlich. „Lecker!“, wertete er ganz kurz, um schnell wieder weiterlutschen zu können.
Dass diese Medizin ein hochwirksames Erzeugnis erlesenster Hochtechnologie war, zeigte sich bereits wenig Momente später. Zu Mauritius wiedergewonnener Heiterkeit gesellte sich nun eine körperliche Spontangenesung, was bei Kindern seines Alters und vergleichbaren Temperaments leicht zu Überschwang frühen konnte und zu Xavers Leidwesen in den folgenden zehn Minuten auch führte. Anfangs wurde er nur etwas lauter und in seinen Fragen wortreicher, dann zunehmend unruhig und schließlich ausnehmend hibbelig, frech und richtig vorlaut.
Mit der vorgeschobenen Begründung, eine zweite Medizin wäre trotz allem doch noch nötig, sollte dieser unschöne Verlauf nun jedoch subtil gedämpft werden. Er tat zwar insgesamt Gutes, aber diese Zwangsmaßnahme gegenüber dem Bewusstsein des Jungen hielten einer ethischen Prüfung kaum stand; selbst konsequent folgeethisch bewertet, war sein Verhalten gegenüber Mauritius bestenfalls eine Gratwanderung. Er zögerte den anstehenden Gang zu den Eltern nicht nur deshalb heraus, weil er sich vor ihm und seinen Gefahren scheute, sondern weil der Junge vor seinen Augen zu einem eklatanten Sicherheitsrisiko mutiert war. Hätte er den kleinen Raufbold nicht in Zaum gehalten, so wäre der wohl schnurstracks zu den beiden Ordnungshütern gegangen; dort hätte er sich dann vermutlich theatralisch aufgebaut und seinem Unmut schonungslos Luft gemacht. Mit seinem quäkenden Stimmchen und in Worte, die seinem Alter alle Ehre gemacht hätten, wäre er für das Recht auf Eltern ungleich mutiger gewesen, als es Xaver sich gerade selbst zutraute. Wahrheit und Direktheit standen derzeit jedoch nicht überall hoch im Kurs. Ein, wie er nunmehr wusste, Fünfjähriger konnte den Ernst der Lage gründlich missverstehen. Besonders dann, wenn es ihm zu gut ging und er weiterhin derart sehnlich seine Eltern vermisste. So galt es abzuwägen, zwischen der Freiheit des Kindes und der Sicherheit aller Beteiligten inklusive eines leidenden Kindes.
Die Meinungslage im Gedankenkonzil im Vorfeld dieser Entscheidung war uneins gewesen, deshalb war dementsprechend hochkontrovers diskutiert worden. Letztlich hatte sich natürlich klar die Position von Xaver durchgesetzt und offen gestanden hatte er das komplexe Streitgespräch zwischen Xaya, Matrina, Nietzsche und Sokrates manchmal nicht so recht verstanden. Er zweifelte wenig an seiner pragmatischen Haltung und war anfänglich nur neugierig auf den Disput gewesen. Im wirklichen Leben hätte er wohl zusammen mit Googol und Hoffmann unbeteiligt dabeigestanden und hätte sich durch seine eigene Initiative selbst zum schweigenden Zuhörer degradiert; ab und zu wohlwollend genickt, dabei interessiert und wissend dreinschauend. Hier aber war er Gott; er klinkte sich also einfach aus und begann seinen pragmatischen Plan in die Tat umzusetzen. Diesem zufolge war der Junge nun abermals mit einer Medizin zu versorgen und sollte durch diese, ohne sein Wissen selbstverständlich, erst ruhiger, dann friedlich und schließlich richtiggehend lammfromm werden.
An diesem Punkt angelangt, konnte er über den nächsten Schritt nachdenken. Sofern die Dauer eines Verhörs in einem Verhältnis mit der Schwere des Verdachts oder gar Delikts stand, sah es langsam schlecht für Familie van Beeger aus. Denn mittlerweile waren Herr und Frau van Beeger, nach deren Vornamen hatte Xaver bisher zu fragen versäumt, volle 30 Minuten in ihr unfreiwilliges Gespräch verwickelt. Er hoffte, dass sie das noch waren, wusste es aber derzeit nicht gewiss.
„Sie halten das Alles also noch immer für ein riesiges Missverständnis; dann haben sie doch sicher keine Einwände dagegen, noch kurz mit auf die Wache zu kommen, um die Vorwürfe restlos zu zerstreuen?“, drohte der besonnene der beiden Wächter eine nächste Konsequenz an, da er wohl mit dem Verlauf des Gesprächs bis zu diesem Punkt nicht ganz zufrieden gewesen war.
„Dreckige Revoluzerbande, ihr gehört sicher zu Demos! Tut nicht so neunmalklug, ihr sitzt nämlich zu Recht derb in der Scheiße. Ihr beiden meint wohl, nur weil ihr ein bisschen gebildeter seid als die meisten und euch geschwollen ausdrücken könnt, wärt ihr was Besseres als Unsereins. Dabei sind nicht wir es, die dem Allgemeinwohl schaden; wir bewahren es sogar – stellt euch das mal vor! Und den ganzen Scheiß hier, nur für so ein paar bescheuerte, total verstiegene Ideale von Vorgestern?“, polterte der kleiner geratene, entschieden weniger besonnene Wächter unwirsch auf die Beiden los – wohl nicht zum ersten Mal. So wie er die Rolle des bösen Wächters ausfüllte, war der Genuss echt, den ihm das Schikanieren der beiden jungen Erwachsenen sichtlich bereitete.
Seine Opfer waren athletisch gebaut, wirkten jung und gesund. Sie waren in ihrem exzentrischen Auftreten durchaus attraktiv. Die Beiden waren Xaver bereits in der planetaren Fähre aufgefallen und dabei gleich sympathisch gewesen. Bis auf wenige, routinierte Gesten und Phrasen während Ein- und Ausstieg, waren sie einander nicht wirklich begegnet; dennoch waren das Paar zusammen mit ihrem quirligen Spross die einzigen Menschen an Bord der Fähre gewesen, denen Xaver mehr als nur gutmütige Ignoranz entgegengebracht hatte. Frau van Beeger war mittelgroß und in einen olivenfarbenen, militärisch wirkenden Parker gekleidet, unter dem recht provokant ein pinke Skintex-Strumpfhose ihren Ausgang über die reizvollen Beine nahm, bis sie in neontürkiese Highheels mündete; das seidenglatte, wasserstoffhelle Haar mit den aufgetupften Farbakzenten in Pink, Türkis und Olive trug sie zu drei losen Zöpfen gebunden, dabei halb unter einer ziemlich gewagten, türkisen Fellmütze verborgen. Sie wirkte im Angesicht der spürbaren Brisanz ihrer aktuellen Lage dennoch enorm selbstsicher und noch immer recht gefasst. Ihr fein geschnittenes Gesicht mit den hohen Wangenknochen, der kleinen spitzen Nase und den großen, grünen Mandelaugen eingebettet in ein Antlitz hellen, fast blassen Teints hatte etwas Bezauberndes an sich. Ihr Gesicht wurde scheinbar von innen beleuchtet und kaum durch düstere Emotionen getrübt.
Ihr mindestens einen Kopf größerer Partner war eintöniger, aber eben nicht weniger eigenwillig gekleidet; wie er, fast Schutz suchend, halb schräg hinter ihr stand, in seinen kniehohen schwarzen Militärstiefeln; der derben, weißen Jeans, gefolgt von einem pechschwarzen Kapuzenpulli, auf dem ein weißes, seltsam stilisiertes „A“ prangte. Über seinen unauffällig frisierten, schwarzen Haaren trug er einen umso auffälligeren Zylinder, in klassischem Schwarz gehalten mit dem passenden weißen Band. Arglistige Beobachter, die über einen Verdacht und die technischen Mittel zu dessen Erhärtung verfügt hätten, konnten darauf etwas lesen: Autonomie, Solidarität und Humanität – Demos. Abgerundet wurde seine Erscheinung dem Farbthema konsequent folgend von weißen Handschuhen und einer in Weiß verspiegelten Sonnenbrille. Er war keineswegs von Angst gezeichnet, wirkte im Gegensatz zu seiner Gefährtin aber weit weniger zufrieden mit Stand und Lage der Dinge. Intuitiv betrachtet zeigte er damit sogar die plausiblere Reaktion auf die ungewöhnliche Situation. Der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation bezichtigt zu werden, war nicht eben eine Bagatelle; und es dabei wirklich zu sein noch weniger. Ein Fakt, den die Polizisten noch nicht bewiesen hatten und der Xaver notwendig noch im Verborgenen lag.
Die zwei ungleich großen, beide jedoch auf ihre Art bulligen Wächter hatten Mauritius Eltern im Verhör ziemlich hart bearbeitet. So ertrugen sie wohl schon eine ganze Weile ein wechselnd kühles bis impulsives Kreuzverhör, während sich das Gespräch nun einem entscheidenden Wendepunkt zu nähern schien.
Xaver zögerte, trotz aller Unterstützung, die ihm zu Teil wurde. Er stand am Eingang des Sitzbereiches, hörte nichts und sah mittlerweile auch nichts mehr. Die optische Abschirmung des Sitzbereichs, in dem sich die vier Personen befinden mussten, war frei regelbar. In der Zwischenzeit war sie auf Volle Diskretion eingestellt worden und war damit undurchsichtig geworden, was Xaver aber, abgelenkt durch Mauritius, nicht mitbekommen hatte. Keine Wahrnehmung war mehr möglich, alles war nun denkbar, nichts sinnvoll prognostizierbar.
Ein unkalkulierbares Risiko wartete hinter dem Terminal, mit dem man Einlass erbitten konnte, wenn man das wollte. Sollte er nun direkt, buchstäblich noch planlos und damit ungewohnt spontan, in etwas Unbekanntes eingreifen? Nein – er musste in aller Schnelle eine Krisensitzung des Konzils einberufen, um ein erfolgversprechendes Szenario auf Basis der bekannten Informationen auszuarbeiten. Aber brachte das unter den gegeben Voraussetzungen überhaupt etwas. Stochastik war mächtig, aber auf Transparenz angewiesen. Und er sah hört und wusste eklatant wenig über die Sachlage. Aber ohne Risiko konnte er scheinbar auch keine neuen Informationen gewinnen.
Den Jungen hatte er zur allseitigen Sicherheit lieber doch nicht mitgenommen. Er war nun besänftigt genug, um guten Gewissens wieder alleine gelassen werden zu können; jedoch sicherlich nicht friedfertig genug um den Peinigern seiner geliebten Eltern ruhig und zurückhaltend gegenüberzutreten.
Er musst noch immer etwas riskieren, aber der entscheidende Hinweis kam wie so häufig vom streitlustigen, aber sehr produktiven Gespann Sokrates – Nietzsche und basierte auf der Annahme, dass die Persönlichkeiten der beiden Wächter leicht beeindruckt werden konnten. Der entscheidende Trumpf in diesem Plan waren zwei zukünftige Gelegenheiten, derentwegen Xaver die notwendig gewordene Umsiedlung mit dem Ziel Zentraleuropa unternahm. Das musste als Rückhalt ausreichen, alles andere konnte er sowieso nur hinnehmen und musste es in jedem Fall möglichst schnell unterbinden. Eine Hypothese von Googol, auf Basis einer statistischen Auswertung breit angelegter Netzrecherchen zu Sittlichkeit und Humanität in den Sicherheitsapparaten in Frankfurt Rhein/Main, deren weitere Details teilweise sehr unappetitlich gewesen waren, kaum zu dem ernüchternden Ergebnis: „Die teilprivatisierten Polizeidienste und teilweise autonomen Milizverbände, durch welche die öffentliche Ordnung hier und im Einflussbereich der großen Sieben so gut es geht aufrecht erhalten wird, sind im Grunde noch illegitimer und korrupter als es ihre Auftraggeber schon sind. Humanitäre Normen und moralische Redlichkeit sind zu finden, ist reine Glückssache, aber durchschnittlich sehr unwahrscheinlich.“
Keine gute Prognose also leider für die Eltern des jungen Mauritius; deswegen wurde der sofortige Beistand nun tatsächlich zur moralischen Pflicht. Da durfte der ethische Rigorist Xaver Satorius nicht mit sich reden lassen, sonst wäre als das Gerede über Ethik nur bequeme Heuchelei und das neuere Bekenntnis zur Humanität eine hohle Phrase. Jedoch bedurfte es zur Umsetzung dieser klaren Position der Hilfe und Unterstützung einiger Module.
Die Tür zum Sitzbereich ging ohne Probleme auf, direkt und damit überraschend für beide Seiten. Xaver aber reagierte augmentatschnell:
„Moment mal bitte! Darf ich mich kurz einmischen? Vielleicht kann ich einige Unklarheiten beseitigen“, griff er gerade noch rechtzeitig verbal in die Situation ein, bevor der aktuelle Aggressionsausbruch des impulsiven Schlägertypen sich vielleicht hätte weiterentwickeln können.
Im Verlauf seiner vorhin für Xaver ungehört begonnenen Hasstriade hatte der Wächter sich mittlerweile nämlich derart in Rage geredet, dass er jederzeit die Kontrolle über sich restlos zu verlieren drohte. Sein Kollege wirkte trotz aller ihm eigenen Sachlichkeit und entgegen der Dominanz, die ihm sein höherer Rang einräumte, überfordert mit der rohen Emotion seines Partners. Er hätte wohl irgendwann bequem weggeschaut und so den Konflikt gelöst, vielleicht gerade eben. So sah man ihm die Erleichterung an, als er die angebotene Einmischung dankend zum Anlass nahm.
Von neuem Mut beseelt und klug vorausschauend, stand er dem Neuankömmling unverhofft und blitzschnell zur Seite: „Halt Kirchner! Lass die Kleinen bitte noch eine Weile in Ruhe – vor allem nicht hier. Mann, reis dich zusammen!“ Nach diesem gebellten Befehl fragte er an Xaver gewandt, ruhiger, aber keineswegs freundlich: „Wer sind sie denn, bitteschön? Sie haben hoffentlich Hilfreiches zum Sachverhalt beizutragen und stören unser Verhör nicht grundlos?“
„Macht doch alle mal halblang – boah, was’n Dreck! Diese Gören haben sich ihre Tracht Prügel redlich verdient. Die ganze verdammte Menschheit ist am Abkratzen und die haben nichts Besseres zu tun, als in ihrer vielen Freizeit Rebellen zu spielen. Seid froh, dass ihr hier so viele Schutzengel habt und wir nicht alleine unter sechs Augen sind. Wer kommt denn da zur Hilfe: Magister, Mönch oder Möchtegerndiplomat? Was willst du dich denn hier einmischen Alter, jeden Aktuell-Tag eine gute Tat, oder was?“, wurde nun auch Xaver standesgemäß begrüßt. Wer lässt sich schon freudigen Gemüts die Befriedigung archaischer Triebregungen versagen? Sicher kein Barbar mit Dienstbefugnissen; mögen diese auch noch so gering ausfallen. Aber Xaver ließ sich nicht beunruhigen. Dafür war technologische Kontrolle und Manipulation von Körper und Bewusstsein gut, in extremen Situationen ebenso wie im Alltag. Keineswegs absolut, aber in seiner Relativität gut genug blieb die Beherrschung der neuartigen Herausforderung durch das Konzil. Die Tür hatte sich geöffnet, die Schleier waren gelüftet, die Informationen waren verarbeitet – nun also.
„Guten Aktuell-Tag zusammen – angenehm, die Bekanntschaft von zwei so eifrigen Wächtern zu machen. Ich bin Xaver Satorius. Tatsächlich Magister und nicht Mönch, noch gar Möchtegern, um das gleich zu Beginn aufzuklären. Danke für ihre Aufmerksamkeit und die Gelegenheit, mich in die Diskussion einzubringen. Ich wüsste zunächst gerne, was meinen geschätzten Reisegefährten zur Last gelegt wird. Über eine Verwicklung dieser beiden Personen in verbrecherische Aktivitäten wäre ich wirklich überrascht, entsetzt geradezu“, antwortete er erst einmal mit einer Gegenfrage, wandte sich an seine gänzlich uneingeweihten Schützlinge. Die standen in dem kleinen Raum links an der Wand, soweit weg von ihren rechter Hand stehenden Häschern wie nur möglich. Nachdem Xaver in den Raum getreten war, hatte er sich damit in die Mitte der beiden Gruppen gestellt. So konnte er den Wächtern kurz den Rücken zudrehen und den van-Beegers verschwörerisch zuzwinkern, bevor er auch sie begrüßte: „Hallo ihr beiden. Eurem Sohn geht es wieder gut. Macht euch wirklich keine Sorgen mehr, ich habe mich gewissenvoll um ihn gekümmert. Er wartet drüben wohlbehalten auf unsere Rückkehr.“ Ob diese schwache Finte funktionieren würde, war zu bezweifeln, aber ihren rhetorisch fast gefahrlosen Versuch war sie auf jeden Fall wert.
„Hi Xaver! Es ist sehr liebenswert von dir, so gewissenhaft nach unserem Jungen zu schauen. Wir …“, setzte die junge Mutter, blitzschnell in ihrer Rolle aufgegangen, freudestrahlend zu einer Reaktion auf Xavers Eröffnung an, wurde aber sogleich harsch vom aufbrausenden Kirchner angefahren und damit im Ansatz unterbrochen.
„Schnauze, Pack! Ihr hattet eure Gelegenheit und sie Magister, kommen sie zum Punkt – kein Geschwafel: Was wissen sie, was wir nicht wissen, aber ihrer Meinung nach wissen sollten?“, übernahm leider der unangenehmere Part in seiner rüden Manier die Gesprächsführung, bezeichnender Weise, ohne seinerseits eine Art der Vorstellung unternommen zu haben. Kirchner hatte ihn sein Vorgesetzter vorhin genannt, der sich nun zu seinem Einstieg ins Gespräch bequemte.
„Dem was Wachsoldat Kirchner gerade so unvergleichlich zum Ausdruck gebracht hat, stimme ich im Kern sogar zu. Ich bin übrigens Wachführer Hofmeister – auch angenehm. Aber wir werden zu laufenden Fällen kaum Jedermann Auskunft erteilen; also verdienen sie sich unser Vertrauen durch eine plausible Erklärung ihrer Anwesenheit und ein paar erhellende Hintergründe.“ Nachdem er damit zu Xavers Freude die Führung des Gesprächs wieder übernommen hatte, warf der Vorgesetzte seinem Untergebenen nun im Wechsel mahnende und seltsam flehende Blicke zu. Die weitere Eskalation war damit zunächst verhindert worden, aber nun galt es, rhetorisch vorsichtig und strategisch klug voranzugehen. Fast alle Module des Konzils waren hochaktiv, um Xaver bestmöglich zu unterstützen: augmental und physiologisch, kognitiv und kreativ gleichermaßen.
„Nun, wie gesagt, von Verwicklungen der Beiden in illegale Aktivitäten oder was auch immer hier so lange besprochen wurde, weiß ich rein Garnichts. Wir haben uns während unseres gemeinsamen Transitaufenthalts in Eluna zufällig kennengelernt und sind schnell ins Gespräch gekommen. In den nächsten Stunden haben wir uns angeregt unterhalten; was wir auch während des Fluges fortführen konnten. Ein erfreulicher Zufall, wie wir in der Unterhaltung schnell festgestellt hatten. Eigentlich bin ich kein besonders offener und gesprächiger Typ, aber die Wellenlänge stimmte bei uns wohl einfach von Anfang an. Jedenfalls habe ich dabei eine rechtschaffene und lautere, wenn auch nach außen hin unangepasste, junge Familie kennengelernt. An ihrer moralischen Integrität habe ich trotz der zugegeben kurzen Dauer unserer Bekanntschaft keinerlei Zweifel – mehr. Denn als Magister Universalis sind Menschen und deren rasche Erfassung meine professionelle Domäne. Wer ein Bewusstsein optimieren will, ist zu Beginn auf eine akribische Beschreibung und optimale Beurteilung des Trägers angewiesen, müssen sie wissen. Mit dieser noch immer großen und mächtigen Institution sind sie ja sicher grundsätzlich vertraut?“, begann der Fast-Magister mit gewagt dosierten Übertreibungen und gutmütigen Auslassungen. Er glaubte, damit einen guten Mittelweg zwischen nutzlosen Fakten und sophistischer Fiktion zu gehen, der sich zur Eröffnung seiner Verteidigung anbot. Dieser argumentativ vage und schwache Auftakt seiner Apologie würde zusammen mit der snobistischen Prahlerei das anschließende Kernstück der Rede ungleich stärker wirken lassen.
„Das ich nicht laut losschreie! Pah, Magister …“, setzte Kirchner zu einer scharfen Antwort auf die bloß rhetorisch gemeinte Frage von Xaver an, wurde jedoch herrisch von seinem direkten Vorgesetzten unterbrochen und gestenreich zur Ruhe gewiesen.
Dieser ging seinerseits erwartungsgemäß galant über die letzte Spitze von Xaver hinweg und ließ sich inhaltlich auf dessen Eröffnung ein: „Wir sollen also in einer Ermittlung, welche die innere Sicherheit tangiert, auf die unbestrittenen Kompetenzen eines Magister Universalis vertrauen – einfach mal so? Nach unserem bescheidenen Kenntnisstand haben wir hier wahrscheinlich zwei Mitglieder von Demos gestellt. Sicher sind sie mit dieser rapide wachsenden und als illegal und terroristisch geächteten Organisation grundsätzlich vertraut?“ Damit spielte er seinerseits den Ball im Spiel der anregenden Konversation mit einem Mindestmaß an neuer Information zurück, ohne die unter diesen Umständen kein konstruktives Gespräch möglich gewesen wäre. Immerhin wurde Xaver bisher als ebenbürtiger Gesprächspartner – von relevanter, weil vorgesetzter Seite jedenfalls – akzeptiert und respektiert. Die Schwere der eröffneten Hintergründe, mit denen die Festsetzung und das Verhör des Ehepaars van Beeger begründet worden waren, komplizierte die Lage jedoch unglücklich. Glücklicherweise waren Rechtsstaatlichkeit und Dienstbeflissenheit vor Ort keine besonders gefestigten Werte, deswegen entschloss sich Xaver unverzüglich zum Konter und kam damit schneller als anfangs geplant zum Kernstück seiner kommunikativen Strategie – so viel zum gemachten Vorsatz, rhetorisch sorgsam vorzugehen. Dennoch stimmte er Sokrates und Xayas psycho-rhetorischer Spontanberatung zu, Kirchner musste sowieso überrumpelt werden und Hofmeister durfte sich gar nicht erst in der Rolle des korrekten Wächters einnisten. Sonst wäre das entscheidende Finale von Xavers Argumentation in seiner Wirkung reduziert. Überdies konnten psychologische Komplikationen aufseiten Hofmeisters nicht ausgeschlossen werden, wenn es so weiter ging. Er war zu geschliffen, um ein sicher lesbarer Akteur und damit gewisser Faktor in der Kalkulation zu sein, wenn er sich einmal aus seiner bequemen Lethargie herauslaviert hatte.
Während des Gesprächs wurden selbstverständlich permanent unzählige Daten über dessen Verlauf und das Verhalten aller Beteiligten erhoben und ausgewertet, um darauf aufbauend mögliche Szenarien für die Zukunft, diesbezügliche Optionen und Entscheidungspfade zu generieren. Das Gedankenkonzil war schon eine enorm wertvolle Unterstützung, wie es in Echtzeit die sich flüchtig entziehende Dynamik des Geschehens mit seinen magischen Algorithmen zu bannen vermochte; um diese sodann in nüchterne Statistiken gegossen, als schlichte Prozentwerte oder als Baumdiagrammen ausgedrückt, anzubieten. Je nach Präferenz als Visualisierung im optischen Bereich oder als spontane Bewusstseinsinformation, also auf mental niedrigschwelligem Weg, zugänglich. Was sehr abstrakt klingt, bedeutete ein bisschen konkreter, dass halbtransparente, im Vergleich zur vollen Aktivität minder farbenfroh kolorierte, Darstellungen und Informationen direkt in Xavers Bewusstseinskanälen verankert wurden. So konnte er in seinem Gesichtsfeld wahrnehmen, was er brauchte oder wusste es einfach. Die vielfältigen anderen Aspekte der Situation konnte er wahlweise in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit einer jeweils angepassten Anwahl an beteiligten Sinnen, also auf authentischere, vollere Weise erleben; und schließlich konnten die unerlässlichen Szenario-Übungen in Erfahrungsräumen synchron mit allen anderen Abläufen absolviert werden – zeitlich parallel und damit neben und während der eigentlichen Gesprächsführung ohne ernstlichen Aufmerksamkeitsverlust, der irgendwie auffällig oder gar einschränkend gewesen wäre. Alles geschah auf einmal, mit optimaler Verteilung der kognitiven Ressourcen.
Modellierte und simulierte Kognition, Emotion und Aktion waren Grundfunktionen des Gedankenkonzils und wurden sogar noch von den diversen Modulen integriert und erweitert, damit funktional ungeahnt potenziert. Da mit diesen Technologien Handlung und Denken weitgehend administrierbare Parameter geworden waren, hatte sich alltägliches Dasein für Menschen wie Xaver radikal verändert. Das zufällige Chaos, die spontane Freiheit und das unvermeidliche Allzumenschliche, welche ohne Augmentate, normal und natürlicherweise also, die Existenz zu weiten Teilen bestimmten, wurden so zu rationierten, notwendigen Gütern. Ohne sie war wenig Kreativität zu haben und vor allem die Menschlichkeit fundamental gefährdet; mit einem nicht optimal regulierten Überschuss hingegen waren Effizienz und Harmonie des Systems bedroht. Ganz so einfach ließ sich die Existenz des Menschen dann aber doch nicht erklären und anschließend fugenlos technisch beherrschen, wie unter anderen Exempeln auch Xavers Techno-Biografie eindrücklich belegte. Bevor jedoch die historische Situation als existenzielle Belastung hinzugekommen war, waren die damals vorhandenen Augmentate fast problemlos angenommen worden und hatten ohne Reibung tadellos in den Alltag eingefügt werden können. Die pathologischen Fehlentwicklungen, die sich später, vor allem in seinem letzten Lebensabschnitt eingestellt und immer mehr verschärft hatten, waren vielleicht eine Reaktion auf individuelle Faktoren. Oder waren sie auf das singuläre, zivilisatorische Trauma zurückzuführen; hingen wenigstens irgendwie mit diesem zusammen?
Aller technischen Kontrolle und Präzision zum Trotz, blieb also ein kleiner und entscheidender Rest Kontingenz in den Gleichungen erhalten, der aus den Tiefen der Person und von den Rändern deren Lebenswelt her die Existenz bereicherte und damit für Überraschungen aller Art gut blieb. Der metaphysische Albtraum, den frühere Generationen von Denkern poetisch als Laplaceschen Dämon umschrieben oder später nüchterner als Determinismus rationalisiert hatten, war für kleine und mittlere Systeme durchaus zu einer technischen realen, also physischen Möglichkeit geworden. Der Preis für diesen Grad maximaler technologischer Beherrschung des Bewusstseins fiel zum Glück jedoch derart hoch aus, dass nur Wenige in zu zahlen bereit waren und es für den Rest noch immer genügend rationale wie ideale Gründe gab, ihn nicht zu zahlen, um damit sich selbst und ihrer menschlichen Natur treu zu bleiben.
Ein Wimpernschlag später setzte Xaver – ein prächtiges Exempel des technisch optimierten Neumenschen – dazu an, auf das Drängen der beiden Sicherheitskräfte zu reagieren und würde dies mit nunmehr stochastisch kalkulierten 66,6023 Prozent Erfolgswahrscheinlichkeit dafür tun, dass sein Vorstoß letztlich erfolgreich sein würde. Als mäßig hoher Wert nicht unbedingt sicher, war die notwendige Intervention und anvisierte Bereinigung der Lage damit vielleicht ganz elegant auf einem diplomatischen Weg machbar; andere Weg blieben dem Fast-Magister auch nicht – wollte er sich nicht selbst ernsthaft in Gefahr bringen. Dies zu vermieden war als eine der prinzipiellen Direktiven der gesamten Arbeit des Konzils weiterhin vorrangig, stand somit fast außer Frage. Das letzte Wort hatte trotzdem immer noch das klassische Ich und Xaver glaubte fest an dessen Existenz. Dessen Ränder mögen durch die Technik porös geworden sein, aber es musste einen stabilen Kern geben; eine in sich veränderliche aber autonome Domäne seines ureigenen Willens. Weit mehr als ein eindimensionales Ich, war Bewusstsein synergetisch aus mindestens neun weiteren Aspekten zusammengesetzt – selbstverständlich, das wusste er seit seinem lange zurückliegenden Grundstudium. Je nach favorisierter Theorie des Bewusstseins, die derzeit in Mode war, gab es diesen stabilen Minimalkompromiss: die Bewusstseins-Dekade.
Die Passivität, welche die beiden anderen Figuren im Zuge dieser Eröffnung bis hierhin gezeigt hatten, zeugte entweder von Klugheit oder Unentschlossenheit. Wahrscheinlich war es Klugheit, sonst hätte Frau van Beeger eben nicht so geistesschnell auf sein Erscheinen reagiert. Sie und ihr Partner standen seither gespannt und neugierig auf ihrer Seite des Raumes, von wo aus sie schweigsam dem kommunikativen Schlagabtausch folgten. Bis auf die unwirsch abgewürgte Begrüßung und eine subtile Geste des Dankes hatten sie sich bisher zurückgehalten. Für den weiteren Verlauf stand damit jedenfalls eine gewisse Stabilität zu erwarten; sollten sie also gerne weiter die Ruhe bewahren, das reduzierte die Planungsvarianz.
„Oh – Demos! Das ist wirklich keine unerhebliche Kleinigkeit mehr, da stimmte ich ihnen natürlich sofort zu“, nahm er der Neuigkeit kompromissbereit und verständnisvoll ihre Schärfe. Innerlich aber war er wachsamer geworden. Wenn an dieser Verdächtigung etwas dran war, hatte er sich durch seine Hilfe mehr exponiert, als ihm recht war. Soweit es die Simultanübersetzung des laufenden Gesprächs zuließ, kümmerten sich Sokrates und Googol um eine genauere Analyse seiner vermeintlich unschuldigen Schützlinge. In ihrem Erscheinungsbild fanden die Suchroutinen der beiden Module bisher nichts Auffälliges; bei ihm jedoch waren sowohl ein großes „A“ auf seinem Oberteil Grund für weitere Recherchen und vor allem alarmierte ihn eine aus seltsam codierten, optisch zunächst unsichtbaren Zeichen bestehende Signatur auf dem weißen Band, das er um seinen Zylinder trug. Zwar war der Inhalt der Botschaft noch nicht entschlüsselt worden, aber ohne die modulierbare Wellenlänge seiner augmentierten Augen und die Sorgfalt seiner beiden Detektive, wäre er bereits an der ersten Hürde gescheitert. Der Rest war eine Frage der nächsten Minuten. Während ein Teil seines Geistes Zweifel wälzte, schritt ein anderer gerade zu seinem Meisterargument fort:
„Das wäre für mich sehr traurig und unerwartet zu hören. Als ich während unserer gemeinsamen Reise mit den beiden Verdächtigen des Längeren angeregt über meine berufliche Zukunft gesprochen habe, äußerten sie sich glaubhaft und vor allem wohlwollend über die damit unweigerlich verbundenen politischen Aspekte. Sie müssen wissen“, er machte eine bedeutungsvolle Pause, bevor er die rhetorische Rakete zündete, „zwei meiner zukünftigen Auftraggeber begleiten nämlich nicht unbedeutende Positionen innerhalb der kontinentalen Politik. Ich bin derzeit auf dem Weg, um Anstellungen sowohl bei General Tadeusz von Quarz als auch bei Direktorin Eleonora Räther anzutreten.“ Noch eine längere Pause folgte, um die Namen länger in der Luft schwingen und wirken zu lassen.
„Mehr darf ich allerdings, wie sie sicher leicht nachvollziehen können, aus Gründen der Diskretion und Geheimniswahrung nicht sagen. Diese beiden Namen sollten ihnen aus den höchsten Führungskreisen der großen Sieben bekannt sein. Wenn sie, wie ich unschwer zu erkennen meine, Mitarbeiter der Karlus-Korporation sind, sei es direkt oder indirekt, so können sie sich wohl besser als die meisten vorstellen, dass man über diese beiden prominenten Persönlichkeiten schnell ins Gespräch über die große Politik gerät. Stehen unsere Arbeitgeber nicht sogar in ausgewiesen gutem Verhältnis zueinander?“
Erste Reaktionen auf Xavers Aussage begannen sich bei allen Beteiligten abzuzeichnen. Dieser war einfach nur froh darüber, durch die Finte mit dem Datenschutz, um hinderliche Details herumgekommen zu sein. Hoffentlich würden demütige Verblüffung und vorauseilender Gehorsam weitere Nachfragen verhindern. Solche könnten womöglich die Lücken seine Aussagen sichtbar machen und ihn letztlich sogar in große Schwierigkeiten bringen. Bisher hatte er leichter Dings verschweigen können, dass er erst noch eine letzte, persönliche Runde im Auswahlverfahren um die erwähnte Anstellung zu bestehen hatte und dass er eigentlich letztlich lediglich die Kinder der Mächtigen schulen und optimieren würde. Aber das waren alles andere als offensichtliche Schwächen, denn die Academia unterhielt bekanntlich Verbindungen zu fast allen Spielern im großen, solaren Spiel und offerierte diesen ihre diverse Dienstleistungen. Xavers beinahe harmlose Nutzung des durchaus gefährlichen Wissens, das seine Organisation den Mächtigen nicht nur dieser Welt anbot, war in diesem Zusammenhang eher eine Ausnahme. Ein hinderliches Detail blieb dieser Fakt trotzdem.
Er blickte aufmerksam und neugierig, aber zugleich ruhig und unaufgeregt in die Runde und registrierte dabei zufrieden die Wirkung, die seine Eröffnung bewirkte. Er konnte seine aufkeimende Freude an diesem Spielzug genießen und wunderte sich während all dessen weiterhin über sich selbst: Früher hätte er nie so selbstbewusst und ausnehmend raffiniert eine derart brenzlige Situation meistern können, geschweige denn hätte er diese Hölle der Emotionen souverän beherrschen und sogar genießen können.
Den Eltern von Mauritius sah man bereits verhaltene Erleichterung an. Die beiden Wachen verloren hingegen spürbar an Autorität, im Angesicht solch mächtiger Namen, mit denen Xaver sich zu schmücken vermochte. Was, wenn sich herausstellte, dass zwei mehr oder weniger einfache Wachen Freunden oder auch nur Bekannten einer Person, die im Dienst dieser erlesenen Kreise stand oder stehen würde, Unannehmlichkeiten bereitet hatten; sie am Ende sogar zu Unrecht der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung bezichtigt hatten. Dann riskierten diese einfachen Wachen schlicht Kopf und Kragen auf einmal. In despotischen Zeiten, in den steile Hierarchien klarer und unversöhnlicher hervortraten als sonst, war man gut beraten, diese zu kennen und sofern möglich für seine Ziele zu nutzen. Nicht immer waren Klugheit und Wissen um Historie oder besser ein Wissen um zeitgenössische Solarpolitik und die dazugehörigen sozialen Zustände so unmittelbar nutzbringend wie in dieser Situation. Xaver jedenfalls war einstweilen sehr zufrieden mit der Entwicklung, ohne dass dafür bestätigende Worte hätten gewechselt werden müssen. Sogar als Wachführer Hofmeister scheinbar entrüstet zu einer Erwiderung ansetzte, blieb sich Xaver seiner machtvollen Verhandlungsposition bewusst und las aus der Haltung und dem Gestus – ja, aus der ganzen Erscheinung des Wachführers –, dass er die Partie so gut wie gewonnen hatte, wenn er seine Karten mitsamt der schlagenden Trümpfe von Quarz und Räther sicher zu Ende spielen würde. Natürlich war diese Gewissheit kein Ergebnis harter Arbeit oder ausgeprägten Talents, sondern wurde abermals von Berechnungen und entsprechenden Folgerungen technischen Ursprungs gestützt. Die aktuelle Prognose der Erfolgswahrscheinlichkeit hatte sich zwischenzeitlich auf stattliche 86,4231 Prozent erhöht – gut so, die Wächter schienen von dem Glanz der puren Macht nachhaltig beeindruckt worden zu sein.
„Sie meinen also ihre flüchtige Bekanntschaft mit diesen beiden Subjekten und ihre angebliche Anstellung in höchsten Kreisen, sei Anlass genug, unseren Indizien zu misstrauen? Ziemlich gewagter Einsatz, wenn sie mich fragen,“ hob er an, nur um daraufhin näher zu kommen und leiser fortzufahren: „Wenn sich ihre Angaben aber tatsächlich als richtig erweisen würden, wären unsere Ambitionen in diesem Fall gewiss flexibel. Sie wissen ja sicher, dass eine Hand die andere wäscht; wenn sie also wirklich für General von Quarz arbeiten sollten, dann wären sie qua ratifiziertem Vertragswerk mein Verbündeter und als solcher ein durchaus annehmbarer Bürge für die zwei Beschuldigten.“ Dabei zeigte er auf das schrille Pärchen. Er stand nun direkt neben Xaver und fügte im Flüsterton nahe an seinem Ohr hinzu: „Unter uns gesagt, die Indizien sind sowieso nicht allzu stark. Das Ganze lag auch mehr im Ermessen Kirchners und wurde von mir nur geduldet, damit dieser beschäftigt ist. Wie gut der Versuch geklappt hat, haben sie ja hautnah miterlebt und gekonnt entschärft – Danke dafür! Der Typ ist kaum zu zähmen. Eine der vielen Bestien, die derzeit die Welten unsicher machen. In seiner Uniform ist er ein Wolf im Schafspelz, wie man früher wohl gesagt hätte. Aber auf die Wache müssen sie uns begleiten, auch wenn ich sie und vielleicht sogar ihre Freunde von dort im günstigen Fall gerne an einem Ziel ihrer Wahl absetze.“
Wieder lauter und zu allen Anwesenden gewandt, setzte er an, seine Entscheidung zu verkünden. Doch er kam ins Stocken, noch bevor er richtig Luft geholt hatte. Xaya schlug Alarm und die Ereignisse überstürzten sich plötzlich: 13,5769 Prozent wurden Wirklichkeit.
Kirchner stürmte los, verschaffte sich den Vorteil des Überraschungseffekts. Er hatte wohl irgendwie mitgehört und befürchtete wohl, um den krönenden Abschluss seiner Schikane betrogen zu werden. Die Geschwindigkeit, die er auf den vier Metern Strecke entwickelte, war unglaublich. Er war sicher augmentiert und die Panzerung tat ein Übriges, so gut konnte niemand trainiert sein. Bevor Hofmeister oder Xaver eingreifen konnten, hatte Kirchner sein Opfer schon beinahe erreicht:
„Scheiß Terroristenschwein, friss das hier!“, gefolgt von einem ziemlich derben Schlag mitten ins Gesicht, geführt mit aller augmentalen Kraft und der Wucht seiner hohen Geschwindigkeit. Der arme Kerl flog schneller in Richtung Wand als der Schwall Blut, den er in den wenigen Augenblicken bereits verloren hatte, zu Boden fallen konnte. Dort nach zwei Metern Flug angekommen, krachte er lautlos gegen die verdunkelte Abschirmung. Er rutschte hier, gebremst von Blut und Schlimmerem, unendlich langsam dem Boden zu. Doch Kirchner war schon wieder bei ihm und trat mit einem mächtigen Tritt von der Seite durch die Rippen in den Brustkorb. Zuerst ein vernehmliches Krachen und dann ein widerwärtiges Gurgeln bezeugten die katastrophalen Folgen. Der Angriff würde sicher tödlich enden, wenn nicht rasch jemand handelte.
Xaver konnte, durfte nichts tun, das verbot ihm der Kodex – lebenslang.
Durch den Ungehorsam und seine Grausamkeit entsetzt und deshalb überfordert, war auch Hofmeister wie erstarrt. Der Berserker hielt wie vom Blitz getroffen in seinem Wüten inne. Er hatte gerade seinen blutbeschmierten Stiefel aus der Flanke seines Opfers gezogen und wollte erneut zu einem Tritt ansetzten. Seine Visage war nun sogar noch hässlicher geworden, verzerrt von Zorn, Wut und purem Gewaltrausch. Hofmeister hatte diesen Exzess soeben beendet, indem er den Schinder einfach kurzerhand paralysiert hatte. Er hatte gerade noch rechtzeitig von den Privilegien seines höheren Rangs Gebrauch gemacht. Sonst hätte man vermutlich nach der nächsten in Richtung der Kopfregion angesetzten Attacke eine Witwe zu betrauern. Frau van Beeger war kreidebleich geworden und glich in ihrer ganzen Erscheinung einem Gespenst. Sie war zu keiner Regung fähig, hatte gerade den exzessiven Gewalttod ihres Mannes miterlebt und würde wohl für immer traumatisiert aus dieser Situation hervorgehen.
Die Intervention in aller letzter Sekunde war ganz ohne den Einsatz der Waffe gelungen, die in Hofmeisters Gürtelhalfter ruhte und durchaus auch dazu im Stande gewesen wäre. Er als Wachführer und Unteroffizier hatte gegenüber Untergebenen gewisse disziplinarischen Möglichkeiten. Um einen total ausgerasteten, augmental aufgerüsteten Wächtersoldaten technisch in seine Schranken zu weisen gab es die augmentale Zwangsorder. Dadurch konnte er in Notfällen mit Überrang-Zugriff auf Kirchners Cerebralschnittstelle Befehle direkt selbst ausführen lassen.
Nachdem der Aggressor buchstäblich außer Gefecht gesetzt worden war, technischer Zwang menschliche Aggression gebändigt hatte, kehrte schlagartig Stille ein – perfekt abgeschirmte, diskrete Stille. Nur das jämmerliche Röcheln und Glucksen des Schwerstverletzten war noch zu hören.
Jene Geräusche des Grauen schienen wieder zu seiner Frau durchzudringen, sodass sie zu neuem Leben erwachte. Schon stürmte sie die wenigen Meter zu ihrem Mann. Sie sank neben ihm zu Boden, umarmte seinen Oberkörper und zog ihn halb auf sich, um ihn dann ganz fest zu umschlingen. Dass sie sich dabei mit Blut, Hautfetzen und rohem Fleisch besudelte, schien sie genau so wenig zu kümmern, wie die Prinzipien der Ersten Hilfe und die Schmerzen, die sie zusätzlich verursachte.
Der aggressive Gewaltausbruch des gefechtsaugmentierten Wächters hatte ernstliche innere Verletzungen zur Folge gehabt, was angesichts von unfairen Vorteilen wie Muskelverstärkung, Panzerung und Nahkampferfahrung kaum überraschte. Für sie musste die Lage hoffnungslos und der Verlust endgültig erschienen sein.
Hoffmeister war aber nicht so untätig gewesen, wie Xaver, der nur dastand und innerlich mit sich rang. Er hatte die logischen Schlüsse gezogen. Der Raum verschwand auf einmal. Erst erloschen die dunklen Abschirmfelder, dann verschwand die Tür im Boden. Die Sitzecke war wieder öffentlich geworden. Viel entscheidender als diese Überraschung, war deren Grund: die herannahende mobile Medizinalstation. Dank enormer Fortschritte in Medizin, Robotik und Informatik würde die Behandlung der schwersten Verletzungen, die eine zertrümmerte Flanke und ein ebensolches Gesicht bedeuteten, nur eine Frage von gut 15 Minuten Notfalloperation direkt vor Ort sein. Danach würde der Patient geheilt sein und lediglich noch einige Aktuell-Tage Schonung bei normaler Alltagsbelastung hinter sich zu bringen haben. Selbst die ästhetischen Entstellungen konnten kosmetisch gut kaschiert werden, bis sie endgültig abgeheilt sein würden. Ob die Möglichkeit dieses glimpflichen Ausgangs Kirchner bewusst gewesen war, als dieser losgestürmt war und wie ein Wilder angegriffen hatte, mag angezweifelt werden. Frau van Beeger jedenfalls hatte mit dem Leben ihres Mannes abgeschlossen. So erlebte sie nach der Hölle nun den Himmel, als sie zaghaft realisierte, dass ihr Mann nicht tot war, sondern im Inneren dieses kubischen, mattweisen Apparates dort drüben zurück ins Leben gebracht wurde.
Als er die Versorgung des schwerstverletzten Opfers koordiniert hatte, wies Hofmeister den weiterhin mit Lähmungen gestraften Kollegen förmlich zurecht und beließ es aus Disziplinargründen bei der Paralyse der oberen Gliedmaßen, mitsamt der Sprachmuskulatur. Damit gleichsam Richter und Henker, tat er sich selbst und allen anderen einen großen Gefallen. Xaver ging, während er die Situation bei Hofmeister in guten Händen wähnte, den kurzen Weg zurück und holte, sehr zu dessen offenkundiger Freude, den kleinen Mauritius ab. Hofmeister hatte zuvor auf seine Bitte hin, gehen zu dürfen, nur stumm und wohlwollend genickt.
„Hallo, da bist du ja wieder – endlich! Gehen wir jetzt zusammen zu Mama und Papa, Zauberer Xaver Satorius?“ fragte das Energiebündel sofort frei heraus als Begrüßung; dabei war Xaver wahrlich nicht sehr lange weg gewesen. Es sprach aber überhaupt nichts dagegen, der kindlichen Ungeduld nachzugeben.
Mauritus Mutter – Eris, wie er von dem roten Lockenkopf gerade auf dem kurzen Rückweg erfahren hatte – hatte in ihrem Schock und der neuerwachten, akuten Sorge um den lebensgefährlich verletzten Partner noch keine Zeit gehabt, nach ihrem Sohn zu sehen. Nun freute sie sich deshalb um so mehr, als dieser in Xavers Begleitung unerwartet die Szene betrat. Die Freude der Ehefrau über die unerwartete Rettung ihres Mannes wurde nun noch durch die Erleichterung der besorgten Mutter gesteigert. Beide rannten sie dem anderen entgegen.
Ihr wunderschönes, elfenhaftes Gesicht, verziert durch ein glockenhell klingendes, einfach bezauberndes Lachen, zog Xaver in seinen Bann. So ließ er sich einen unendlichen Augenblick des Glücks und der Liebe lang in das Antlitz von Eris van Beeger versinken. Es war geborgtes, fremdes Glück, die Liebe galt nicht ihm, trotzdem, er hatte sie in dieser Form überhaupt erst mit ermöglicht. Anteilnahme dieser Sorte war eine seltene Erfahrung für den emotionalen Einzelgänger, aber sie fühlte sich gar nicht so übel an; ein Ereignis das Matrina mehrfach hervorhob und dessen Bedeutsamkeit sie wortreich und schmeichlerisch betonte. Es fühlte sich wirklich echter und besser an als jede Hyperrealität, so perfekt sie auch sein mochte.
Nachdem die pure Freude sich in einer endlosen Folge zeitloser Augenblicke erschöpft hatte, kehrte die sogenannte Normalität zurück und damit griffen alle wieder zu ihren Masken: Er selbst, der augmentat-starrende Gelehrte, zufällig und unverhofft zum Retter avanciert; sie, die schrille und womöglich rebellische, atemberaubend schöne, junge Mutter; er, der ungeduldige und unstete, aber insgesamt integere und verträgliche Wächter; es, das überglückliche, emotional verzogene, dennoch im Grunde sympathische Kind – es trägt übrigens, wie nicht anders zu erwarten, die kleinste Maske – und schließlich noch die beiden Archetypen: Das geschundene Opfer, das gerade von seiner Familie sehnlich erwartet, in einer mobilen Operationseinheit unter Temporalnarkose stand und in wundersamer Eile geheilt wurde, und letztlich noch der sadistische Peiniger, der einer Groteske gleich, stumm und sichtlich gematert am Rand der Szenerie stand, nicht konnte, was er wollte und zudem einer ernsten Strafe entgegensah – so standen sie da und wurden von nur wenigen verstohlenen Blicken gestreift. Die Passanten taten alles, um nicht aufzufallen, sei es im Guten wie im Schlechten. Man scheute sich davor, auch nur in den Blick der Mächtigen zu geraten, zu dieser Zeit in dieser Gegend des Sonnensystems.
„Was ich vorhin sagen wollte, bevor Kirchner ausgetickt ist und mit seinem Übergriff den kleinen Rest an Glaubwürdigkeit verspielt hat, den ich ihm noch zugebilligt hatte, spielt nun keine Rolle mehr. Ich muss mich im Name der Karlus-Korporation vielfach bei ihnen und vor allem ihrem Gatten entschuldigen. Mein Kollege wird in jedem Fall disziplinarische Maßnahmen zu tragen haben. Es mögen düstere Zeiten sein, aber zumindest grundsätzliche Grenzen von Sittlichkeit und Anstand kennen wir noch, hier im alten Deutschland. Ich werde mich persönlich für eine Ausschüttung von Schmerzensgeld einsetzen, kann aber in dieser Hinsicht nichts versprechen. Was die Behandlung und die Folgekosten der Verletzung angeht, garantiere ich ihnen weiterhin Kostenfreiheit in allen unseren Einrichtungen – und glauben sie mir, das sind fast alle guten Klinken hier vor Ort.“ Eine glaubhafte Entschuldigung, mit der sich Hofmeister, etwas zu durchdacht, um noch gut platziert und einfühlsam zu sein, an die Versammelten wandt; dem Ton nach untertänig und sich der Offensichtlichkeit der groben polizeilichen Verfehlung bewusst. Er würde nach den jüngsten Vorfällen selbstverständlich auf weitere Ermittlungen in diesem Fall verzichten. Überdies erbot er sich nun uneingeschränkt als Fahrer für die überraschend zusammengewürfelten Weggefährten.
Wer hätte anfangs gewagt, diesen Verlauf der Ereignisse zu erzählen: 66,6023 Prozent Erfolgswahrscheinlichkeit hatten sich unschöner und schöner, schlecht und besser realisiert, als sie zunächst in ihrer Nüchternheit hatten erwarten lassen. Rückblickend war wahrscheinlich einzig der Ausraster des ungehobelten Barbaren der Faktor gewesen, zum Leidwesen von Edgar van Beeger, durch dessen Ausbleiben Xavers Blatt, seiner Trümpfe zum Trotz, wie ein Kartenhaus in sich hätte zusammenstürzen können – früher oder spätestens auf der Wache.
Nun nach den beruhigenden Zugeständnissen durch Hofmeister, gab es auch endlich die Gelegenheit, sich einander vorzustellen. Es war Zeit sich besser abzusprechen, selbstverständlich unter Wahrung der fingierten Rollen, also hinter vorgehaltener Hand und im Flüsterton.
Eris hatte sich zuerst erfrischend herzlich, offen und ehrlich, aber nicht distanzlos bei Xaver und sogar Hoffmeister bedankt. Im Zuge der kurzen Umarmung, die Xaver sehr genossen hatte, hatte sie ihm die nötigsten Informationen zugeraunt. Kurz darauf war vor wenigen Atemzügen dann auch ihr Partner Edgar wohlbehalten aus der mobilen Medizinalstation gestiegen. Er hatte damit von der Schwelle zum Tod zurück ins Leben gefunden. Wenn man sich seines jämmerlichen Anblicks von vorhin entsann, mit schmerzverzehrtem Gesicht, schreiend und blutend, grenzte diese spontane Heilung beinahe an ein Wunder. Er hatte etliche Rippenbrüche erlitten; Läsionen von Milz, Nieren und Lunge davon getragen sowie schwere bis leichte Traumata und Prellungen aller inneren Organe zu beklagen; einschließlich eines gebrochenen Kiefers mitsamt einem schweren Schädelhirntrauma. Schließlich war er letztlich nur Dank einer ersten Kontrolltechnologie vor noch Schlimmerem – dem Tod vermutlich – bewahrt worden und war nun von einer zweiten Technologie, in Form eines medizinischen Artefakts kuriert worden. Es fiel Nietzsche und damit Xaver dennoch nicht schwer, hier die Schattenseiten der Technologien zu reflektieren.
Nach seinem Ausstieg äußerlich hin fast vollkommen wiederhergestellt, eilte Edgar van Beeger freudestrahlend zu seinen Lieben und feierte seine Wiedergeburt entsprechend frenetisch. Danach wandte er sich zu Xaver um, der still und zurückhaltend dem familiären Glück seinen Raum gegeben hatte, indem er auf halber Strecke zu Hofmeister abgewartet hatte.
Er und seine Familie bestanden zum Dank für Xavers Hilfe darauf, ihn wenigstens zu einem gemeinsamen Essen einzuladen. Mauritius liebte seinen Zauber sowieso und so war die anschließende Fahrt in lebendigeren Bezirke von Frankfurt Rhein/Main schnell beschlossen.
Dafür galt es nun als erstes aus dem Zentralknoten herauszufinden, wofür sie sich geschlossen auf den Weg in die subterranen Tiefen machen mussten. Dort, ungefähr drei Kilometer unter der Erde, so erklärte Hofmeister auf dem Weg, würde sein und Kirchners Fahrzeug auf sie warten. Gegen den Weg und die kurzweilige Möglichkeit, Eris genauer kennenzulernen, hatte Xaver wenig einzuwenden – ganz im Gegenteil; Kind und Ehemann zum Trotz und ohne den Glauben, seine verstiegene Fantasie je verwirklichen zu können, überhaupt wirklich zu wollen. Sowohl stand er sich, als auch sie ihm dabei im Wege. Er mochte Mauritius viel zu sehr und begann langsam, Edgar wertzuschätzen, außerdem war er Frauen gegenüber immer ziemlich abgeneigt gewesen – früher, bevor er schrittweise augmentiert worden war. Ein nicht zu unterschätzender Nebeneffekt, der sich im Laufe seines Exils auf dem Mond eingestellt hatte. Vor allem aber hatte Eris noch ein Wörtchen mitzureden, von Edgar mal großzügig abgesehen. Sie war zwar zutiefst dankbar und öffnete sich, alleine wegen ihrer extrovertierten Art, anderen gegenüber relativ schnell, mehr aber auch nicht.
So tat ein augmentierter Neu-Mensch, der wider seiner Natur und hauptsächlich aus existenzieller Notwendigkeit heimkehrte Richtiges im Falschen: Im Herzen Zorns und auf dem größten Schlachtfeld, das die menschliche Geschichte je hervorgebracht hatte; im Vakuum der Humanität hatten er und die Segnungen der Hochtechnologie für eine hoffnungsvollen und schönen Moment an diesem Saturntag gesorgt. Er war endlich zurückgekehrt auf die Erde, zehn Solar-Jahre nachdem der Fortbestand der solaren Menschheit vor gut 27 alten Jahren aufs Äußerste gefährdet worden war, aufgrund einer Katastrophe, deren unmittelbaren Schäden noch nicht annähernd beseitigt und deren mittelbare Konsequenzen, geschweige denn langfristige Folgen, kaum vorstellbar waren – dem historisch unvergleichlichen Einschnitt, der so prosaisch als solarer Kollaps Eingang in die Annalen der Menschheit gefunden hatte.
Dieser düstere Hintergrund spielte aber seit der Landung auf der Erde für Xaver Satorius und seine kuriosen Bewusstseinsgefährten kaum noch eine Rolle; für den kleinen Mauritius, dessen Eltern Edgar und Eris und die beiden Wächter ebenso wenig. Denn es gab Wichtigeres, wie Matrina so geschwungen und sachlich zugleich formulierte: „Abstrakt gesprochen geht es um das gute Leben, was konkret bezogen bedeutet, die Leiden und Freuden der Wirklichkeit in eine gute Balance zu bringen, wobei couragierte und inspirierte Tätigkeit, gute Arbeit also, privilegiertes Medium sein sollte.“
Alle litten sie unbewusst oder bewusst trotzdem auf ihre je eigene Art an den vielfältigen Folgen des epochal-traumatischen Ereignisses, das einfach nicht verdrängt werden kann. Am folgenreichsten waren wohl Menschen wie der brutale Wachsoldat Kirchner betroffen oder auch die anonymen Dritten, die ihre Hilfe unterlassen hatten, oder wie Hofmeister davor standen, wieder einmal wegzusehen. Sie alle zusammen aber, das muss hier wirklich betont werden, zählten mit ihrem alltäglichen, grauen Leid dennoch zu einer auserwählten Elite der Menschheit. Ob Organiker oder Neu-Mensch, sie alle besaßen vom Bruchteil des zivilisatorischen Erbes einen ungebührlich großen Anteil. Sie gehörten damit zu den wenigen, privilegierten Menschen, welche – der Fast-Magister Xaver Satorius exerziert es biografisch und zugleich pathologisch – die Augen nur fest genug verschließen mussten, um sich fast vorstellen zu können, alles wäre oder würde wenigstens bald wieder gut.
Sie standen damit in ihrer einigermaßen geordneten, leidlich funktionierenden Existenz im beinahe inhumanen Kontrast zu der tatsächlichen Lebenswirklichkeit der großen Masse an Überlebenden: Auf der Erde, den vielen Monden, Planeten, Planetoiden und Asteroiden des Sonnensystems, sogar weit unter den Oberflächen der Landmassen und in den tiefen der Ozeane, weit oben in den vielen Raumschiffen, Orbitalstationen und künstlichen Habitaten, die sich die Menschheit an den unmöglichsten Orten geschaffen hatte; überall dort litten derzeit Abermilliarden von Menschen an existenziellem, rotem Leid. Dieses Leid forderte wenigstens schmerzlichen Blutzoll und kostete häufig das nackte Überleben. Eine unhaltbare Kluft zwischen technologisch-märchenhaftem Luxus auf der einen Seite und erbärmlichen, menschenunwürdigen Zuständen auf der anderen Seite, geprägt von Elend, Leid und Unfreiheit – eine historisch unhaltbare Asymmetrie.
Eine ambivalent schimmernde Seifenblase war erstmals erschüttert worden und fast geplatzt. Ihr Schein von politischer und technischer Stabilität hatte die ersten beiden Etappen der Reise geprägt und erleichtert. Allerdings handelte es sich dabei um ein höchst fragiles Gebilde, das zunächst glanzvoll in seinen bunten Regenbogenfarben blendete, im Nu aber bereits wirklich zu zerplatzen drohte. Ein impulsiver, technologisch überzüchteter Wächtersoldat, ohne nötige Selbstbeherrschung und bar humanen Anstands, reichte beinahe aus.
Das war eine Überraschung gewesen, wenn auch eine spontan riskierte. Ein geplantes Risiko wartete noch auf seinem Weg. Durch ein knapp kalkuliertes Budget hatte sich für den Reisenden eine problematische Situation ergeben. War man nicht Teil eines der unterschiedlichen Kollektive, die es derzeit im Sonnensystem gab, so traf man nicht immer und überall auf Gastfreundschaft, Hilfsbereitschaft und Selbstlosigkeit. Von Geld als universellem Tauschwert konnte kaum noch die Rede sein, seit dem Zusammenbruch der meisten planetaren und nahezu aller solaren Strukturen und Institutionen. Bisher hatte Xaver auf seiner Reise in exakt sieben unterschiedlichen Währungen gezahlt. Vom digitalen Kredit bis zur handfesten Goldmünze erstreckten sich dabei die ontologischen Aussprägungen des Geldes.
Die Zustände in den vielen Lebenszonen hier auf der Erde, den anderen Planeten und Monden sowie den anderen Refugien der Menschheit, waren sehr unterschiedlich, variabel bis in die Extreme hinein. Diese kulturelle Vielfalt hoben Googol und Sokrates ständig hervor. Sie war ihr penetrantestes Diskussionsthema:
„Ausdifferenzierung der historischen, zivilistarotischen und existenziellen Zustände hatte sich eingestellt. Vom postapokalyptischen Überlebenskampf, über die diversen guten wie schlechten Formen von Politik und Nichtpolitik hin zu hoch entwickelten, sozialen Utopien und Dystopien war alles dabei“, so lautet eine letzte Version dieser Faszination.
In diesem Moment wanderte sein Blick das erste mal bewusst durch den düster-grauen, technikdurchzogenen und dadurch irgendwie schaurig-schönen Himmel. Soweit das über die medial gefilterten Panoramaschirme auf dem Weg in die Tiefe hinab zu den Schwerefeldern eben möglich war, holte er die verpassten Reiseimpressionen nach. Ein verstörrender Anblick, der einen unter sich begrub, wie er und fast alle Module außer Nietzsche und Hoffmann befanden. Letzter enthielt sich, da er sich in Hinblick auf Emotionales und Ästhetisches für inkompetent hielt, wie er in gewohnt wenigen Worten zögerlich als Begründung vor sich hernuschelte. Eben der Hoffmann, des Kompetenz im Mixen pharmazeutisch-psychedelischer Cocktails verdankte Xaver seine rasche Erholung, direkt nach dem Flug und ein Gross seines bravourösen Istzustands. So ging es ihm nunmehr in fast jeder physischen und psychischen Hinsicht wieder gut und sogar noch mehr als das. Seit der therapeutisch induzierten Applikation kurz nach der Landung sorgten die diversen Mixturen für die wirksame Erholung des gesamten Körpers, allem voran durch das restlose Verschwinden aller Psychosomatiken und physischen Folgen des auszerrenden Fluges. Nach dem Ende der sozialen Bewährungsprobe entfaltete nun eine dritte Rezeptur aus Hoffmanns Repertoire ihre Wirkung. Anfangs hatte sie sich nur leicht, mittlerweile aber merklich berauschend geäußert. Die Droge spendete mild-manische Euphorie; entspannte Körper und Geist gleichermaßen tief und restlos; stimulierte und ermunterte derart, dass keine Anstrengung zu groß und keine Herausforderung zur schwer erschienen und regte nicht zuletzt Kreativität und Fantasie zu unbeschreiblichen Höhenflügen an – dies alles ganz ohne Nebenwirkungen, von den unvermeidlichen alltäglichen Abhängigkeiten mal abgesehen. Diese technisch sanktionierte Sucht ohne physische Konsequenz oder moralischer Reue, aber mit modularem Korrektiv namens Matrina genoss er rundum. Lucy‘s Soma nannte Hoffmann diese Wirkstoffkombination, welche Xaver nicht mehr missen wollte, die aber als Suchtobjekt nicht mit den eskapistischen Ausflügen in Wissensnetze und Erfahrungswelten zu vergleichen war. Er musste nämlich in seinem Leib und damit in der wirklichen Welt präsent sein, um die Vorzüge von Hoffmanns Alchemie empfinden zu können: direkte Konkurrenz. Tiefenimmersion durch das Gedankenkonzil oder leiblicher Genuss, es gab keine Synergien zwischen beidem, nur den Wechsel.
Neugierde überspülte gerade Xavers Bewusstsein, sie trieb über die Gegenwart in die Zukunft: Wer waren wohl diese seltsamen van-Beegers wirklich, die sich gerade mit Hofmeister unterhielten, was er für eine gewagte Strategie erachtete. Er kannte nun den Spruch von Edgars Zylinder. Er wartete geduldig: Sobald sie alleine sein würden, stünde ein klärendes Gespräch an.
Hier in Zentraleuropa, nur noch wenige 100 Kilometer von seinem Ziel entfernt, standen noch spannendere Etappen an. Der eingeschlagene Weg führte ihn als nächstes hinunter in subplanetaren Tiefen, dann ins Herz der Stadt und daraufhin weiter nach Nordwesten an den Rand des Einflussbereichs der KK – wie die fast staatsähnliche Neo-Genossenschaft Karlus-Korporation meist abgekürzt wurde. Er würde die wenigen Todeszonen, die er auf der Route nicht einfach überfliegen konnte, gut zu überstehen zu haben, denn die dort hausenden Schrecken sollte niemand am eigenen Leib erfahren müssen. Hätte er innerhalb der zivilsatorischen Hierarchie ganz oben gestanden, wäre vielleicht ein direkter Gleiterflug von hier zum Ziel finanzierbar gewesen. Da er aber mit seinen geringen monetären Mitteln haushalten musste, blieben ihm nur unsichere, aber dafür sehr viel günstigere Fortbewegungsarten. Mit einer Techno-Karawane aus einer der großen Sieben Metropolregionen in die Peripherie einer zweiten Megacity.
Wann auch immer der Abend in einem x-beliebigen Hotel enden würde, die nächste Zukunft war fixiert. Am nächsten Morgen musste er weiterreisen, an den Rand der hiesigen Lebenszonen und damit ans Ende der relativen, zivilisatorischen Sicherheit. Die Route führte den Rhein hinunter. Sein Ziel war eine Region, die früher mal Nordrhein-Westfalen genannt worden war, als es die Bundesrepublik Deutschland noch gegeben hatte. Das bedeutete, er musste durch neue und alte Wildnis reisen, musste dabei ausgedehnte urbane und teilweise sogar eine der wenigen natürlichen Todeszone überwinden. Letztere lag als düsterromatische Waldzone im Süden der Reiseroute und Erstere würden als trostlose Architekturwüsten das atmosphärische Hauptthema der Reise ausmachen. Beiden gemeinsam war die dort herrschende, ständige Lebensgefahr, auch wenn eine Techno-Karawane von schwer bewaffneten Fahrzeugen und den unvermeidlichen Militärs begleitet wurde – zumeist ungehobelte Söldner. Mitsamt seiner ausgedehnten Lebenszonen lag das Ziel der Reise im Nordenwesten. Dorthin zog es den angehenden Quereinsteiger. Beinahe befand er sich auf einer Heimreise in seine eigene Vergangenheit. Wenige dreistellige Kilometer Differenz trennten ihn von seiner eigenen Geburtsregion auf der Erde. Diese lag im Nordosten von Frankfurt Rhein/Main und war damit im solaren Maßstab nur eine Winzigkeit entfernt.
Vom galaktischen oder gar kosmischen Maßstab brauchte man derzeit nicht sprechen. Die Galaxis oder gar der Kosmos lagen jenseits der Grenzen des Machbaren und Vorstellbaren. Die Milchstraße blieb trotz allem technischen Fortschritt ferner und nach dem historischen Rückschritt unerreichbarer Horizont für die solare Menschheit. Die Weiten des Weltraums reduzierten sich auf die Grenzen des Sonnensystems. Die Menschheit hatte sich erst im Aufbruch in die galaktische Nachbarschaft befunden, als alles kollabiert war. Seither hatte die Vision eines galaktischen Lebensraums an Anziehungskraft verloren. Nichts mehr war zu hören von extrasolraren Kolonien, ausgeträumt war der Traum von Erforschung und Expansion.
Hier vor Ort, in der existenziellen Nähe der Heimat waren die entscheidenden Herausforderungen zu meistern. Erst danach würde sich der Blick langsam wieder in die Fern ausrichten können. Ob Xaver, Eris und Edgar, Mauritius oder die beiden Wächter Hofmeister und Kirchner diesen Zeitpunkt des Wiederaufbruchs noch erleben würden, war eine offene Frage. So offen und unbestimmt wie alles Zukünftige, hingen die Erwartungen der Menschen von vielem ab. Je nach Charakter und Situation waren sie voll optimistischer Hoffnung; versunken in pessimistischer Verzweiflung; getrieben durch aggressive Projektion oder geblendet von purer Ignoranz – wahrscheinlich aber irgendwo zwischen diesen Worten.
Die entscheidenden Schlachten um die Zukunft der solaren Menschheit fielen wie zu allen Zeiten auf dem wichtigsten aller Kriegsschauplätze: im Bewusstsein und in den Herzen der einzelnen Menschen. Einzig davon, wie diese sich jeweils entscheiden würde, wurde der Lauf der Dinge bestimmt. Im Grunde würde es letztlich nur sekundär auf ihre technischen Hilfsmittel ankommen, primär dafür auf sie selbst. Ihre Prinzipien, ihre Haltung, ihre Utopien, ihre Ängste, ihre Erfahrungen, ihre Entscheidungen würden die Zukunft bestimmen und natürlich ein unvermeidlicher Rest an allgegenwärtigem Zufall, mit unbekannter Qualität und Quantität.