Denk-Welten

Andere Länder, andere Texte

Manchmal lässt sich praktische Philosophie, genauer das Zwitterwesen Moral/Ethik, so einfach verdichten und populär verpacken, dass jeder zum Philosoph werden mag. Ich bestelle einmal den German way, der sich in religiöser Rücksicht übt und beinahe schon aufklärerisch daherkommt. Ganz anders die Variante von den britischen Inseln, da hat wohl die (anglikanische) Kriche kräftig mitgearbeitet, sodass esoterische bis pathetische Noten den philosopischen bis klaren Stil der ersten drei Verse überlagern, mehr noch, sogar tilgen. But at least the englisch extension provides some charming stylistic devices, which tend to console me about the weird ethos manifested.

Ein demütiger Langmut aus England trifft also auf Deutschlands heroischen Intellektualismus, so oder so ähnlich. Ich jedenfalls stimme der deutschen Version beinahe vorbehaltlos zu. Ich würde zwar anders adressieren, wenn überhaupt, bekenne mich aber gleichwohl gerne zum dreifachen Entwicklungsideal: Gelassenheit, Mut, Weisheit. Nur zusammen entfalten diese Tugenden ihr volles Potenzial; für sich alleine, vielleicht sogar ins Extrem übersteigert, erschaffen sie bestenfalls Yogis, Helden, Philosophen und schlimmstenfalls Biedermeier, Soldaten, Ökonomen. Man verzeihe mir gütigst den bösen Seitenhieb, er diente nur dem rhetorischen Stilmittel. Aber wer repräsentiert  die dunkle Seite der Weisheit besser als mein oben gewähltes Exempel: Priester, Juristen … noch Vorschläge? Her damit!

Herzliche Grüße aus den Tiefen einer sturmgepeitschten Nacht, Euer Satorius


Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.


God, grant me the serenity to accept the things I cannot change,
Courage to change the things I can,
And wisdom to know the difference.
Living one day at a time,
Enjoying one moment at a time,
Accepting hardship as a pathway to peace,
Taking, as Jesus did,
This sinful world as it is,
Not as I would have it,
Trusting that You will make all things right,
If I surrender to Your will,
So that I may be reasonably happy in this life,
And supremely happy with You forever in the next.

Amen.

Europäische Volksweisheiten mit unklaren Metadaten

 

TSF Ein TFF-Mutant: #EB1.1 @ Unendliche Utopieforschung

Kaum entstanden, bis eben sogar noch singulär, und jetzt bereits im Wandel; das neue Format Text-Slow-Food ist quirlig. Aber nur so kann dieses Format seinen Inhalten, seinem neuen Inhalt gerecht werden. Denn ein Werk wie Ernst Blochs in drei Bänden erschienenes opus magnum Das Prinzip Hoffnung in einen einzigen Artikel packen zu wollen – sei er so slow, wie das nur denk- bzw. dehnbar ist -, wäre nur eines: schierer Unsinn! Alleine die Lektüre dieser schweren Kost wird Jahre dauern, immer wieder zu Verdauungsproblemen führen und bietet sich deshalb bestens für eine sporadisch fortzusetzende Serie an Text-Slow-Food-Artikeln an, die dann irgendwie verdächtig regressiv als Text-Fast-Food daherkommen. Die Schwere des Gegenstands sowie dessen logischer bis thematischer Zusammenhang und nicht zuletzt die prinzipielle (Text-Format-)evolutionäre Varianz und meine dementsprechende Toleranz sagen dennoch schlussendlich ganz klar: Das ist Text-Slow-Food! Nur eben eine kleine Variation des Ur-Typus (mit einer kleinen Neuerung):

0. Titel: #Autoren-KürzelBeitragsnummer(.Seriennummer) @ Beitragstitel

1. Ein markantes Beitrags-Bild zum Text (Umschlagbild, Faksimile, etc.) macht den Anfang und läd optisch in den Artikel ein.

2. Sodann macht ein Happen Text-Fast-Food Appetit auf mehr und sorgt so für einen sanften Lese-Einstieg in das Werk des jeweiligen Autoren.

3. In einer (Kurz-)Besprechung  des vorgestellten Textes entwerfe ich (m)einen Zugang zum Text gewohnt essayistisch-verquer, mit dem Ziel einer Art Mini-Rezension.

4. Der Metadaten-Mix, also eine übersichtlich Zusammenstellung objektiver Informationen (auf Basis der Kataloge von Deutscher Nationalbibliothek und WorldCat) und subjektiver Wertungen, liefert kompakte Daten für Bibliografie- und Zahlenjunkies.

5. In einem Essenzsatz versuche ich mich an der semantisch-stilistisch beinahe unmöglichen Aufgabe, das ganze Werk angemessen in einem einzigen Satzgefüge auszudrücken – wohl an denn!

6. Die fortlaufenden Zitate aus dem Primärtext und ihre Zusammenstellung liefern überhaupt erst den Anlass für das alles hier und bilden somit den Kern des Ganzen. (Bei größeren Werken kann dieser Punkt auch auf eine Artikelserie ausgedehnt und dadurch ausgelagert werden.)

7. Kursorische Kontexte geben dem Werk des Autoren einen breiteren Rahmen und stillen damit den ersten, eklektischen Lesehunger des idealen Lesers, der am Ende des ausgedehnten Text-Slow-Foods noch Lust auf zukünftige Lektüre hat.

Zudem erfolgt am Ende dieser wahrscheinlich letztlich mehrjährigen Serie konsequent noch die vollständige Umsetzung des (erweiterten) Ideals für die Zubereitung von Text-Slow-Food. Damit ändert sich bei und mit diesem zweiten Exemplar der neuen Gattung lediglich der Schritt Nr. 6, also der formatprägende Zitatkorpus, indem dieser Punkt zeitlich ausgedehnt und somit in ein Vielfaches an Artikeln eingeschrieben in eine TSF-Serie ausgelagert wird: #EB1.x @ Unendliche Utopieforschung (wobei ich für „x“ keinen Definitionsbereich anzugeben wage).

Lassen wir also in angeblich so düsteren Zeiten das warme Licht der Hoffnung in unser Bewusstsein hineinstrahlen, denn mit nichts weniger hat sich Ernst Bloch in seinem Prinzip Hoffnung beschäftigt. Er wollte in Erfahrung bringen, spekulieren, analysieren, räsonieren und also philosophisch verstehen, was Werden und Willen verbindet, Subjekt und Objekt vermittelt, Mensch und Welt vereint. Sein Werk kreist folglich in weiten Spiralbahnen um große Fragen: Was gibt unserem Leben Sinn und Richtung? Was treibt die Menschen der verschiedenen Epochen und Kulturen an? Welchen kleinen und großen Utopien und Dystopien hängen wir nach, seien sie sozial, politisch, ästhetisch, technisch, sexuell und skaliert von epochal bis trivial? Wie und warum erhofft sich der homo utopicus all das für seine Zukunft? Was kümmert all das die Welt? Welche Ontologie steckt hinter den Hirngespinsten? Und warum haben Gott und Marx, Nietzsche und Aristoteles beim Zentralbegriff Heimat allesamt zusammen mit vielen anderen ihre schmutzigen kleinen Finger mit im Gedanken-Spiel?

Alles in allem, im Großen und Ganzen seelisch naheliegende, höchst spannende und vor allem zutiefst historische bis politische Fragen, die jede Zeit, jedes Zeitalter neu und anders stellen, neu und anders beantworten kann und sollte. Aber warum sollten gerade wir, die kurzweilige, -firstige, -konzentrierte und kürzende Internet-Generation, warum sollte die bequemste Generation der Menschheitsgeschichte das Rad neu erfinden? Warum überhaupt drehen, am blutigen Rad der Geschichte, am staubigen Rad der Zeit?

Während dieser definitiv nicht rhetorisch misszuverstehenden Fragenkomplex idealerweise wenigstens kurz zum Nachdenken provoziert, lausche ich schon Mal bedächtig den ersten Klängen einer ewigen Sinfonie, einer Musik der Hoffnung und des Hoffens, wie sie aus den Archiven der Geistes- und Ideengeschichte herauftönt. Lauschen wir doch gemeinsam dem Orchester und einem seiner mutigeren Dirigenten. Fangen wir an ihm zuzuhören, ihn zu lesen, vielleicht erfahren wir sogar, was sich bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts im kollektiven Bewusstsein unserer Zivilistation an Anworten auf den utopischen Fragenkomplex niedergeschlagen hatte. Lassen wir uns inspirieren von der unendlichen Geschichte der Utopieforschung, der Ernst Bloch viele, viele Meta-Kapitel hinzugefügt hat – eventuell ja sogar zu neuen Beiträgen, ob sie nun meta-, para– oder ortho-utopisch sein mögen.

Mit einer tiefen Verbeugung vor einem ehrenwerten Lebenswerk, Euer Satorius


Das Prinzip Hoffnung (Erster, Zweiter und Dritter Band): #EB1.1 @ Unendliche Utopieforschung


Geschehen wird Geschichte, Erkenntnis Wiedererinnerung, Festlichkeit das Begehen eines Gewesenen. So hielten es alle bisherigen Philosophen, mit ihrer als fertig-seiend gesetzten Form, Idee oder Substanz, auch beim postulierenden Kant, selbst beim dialektischen Hegel. Das physische wie metaphysische Bedürfnis hat sich dadurch den Appetit verdorben, besonders wurden ihm die Wege nach der ausstehenden, gewiss nicht nur buchmäßigen Sättigung verlegt. Die Hoffnung mit ihrem positiven Korrelat, der noch unabgeschlossenen Daseinsbestimmtheit, über jeder res finita, kommt derart in der Geschichte der Wissenschaften nicht vor, weder als psychisches noch als kosmisches Wesen und am wenigsten als Funktionär des nie Gewesenen, des möglich Neuen. Darum: besonders ausgedehnt ist in diesem Buch der Versuch gemacht, an die Hoffnung, als eine Weltstelle, die bewohnt ist wie das beste Kulturland und unerforscht wie die Antarktis, Philosophie zu bringen.

S. 4f.

 

Das utopische Bewusstsein will weit hinaus sehen, aber letzthin doch nur dazu, um das ganz nahe Dunkel des gelebten Augenblicks zu durchdringen, worin alles Seiende so treibt wie es sich verborgen ist. Mit anderen Worten: man braucht das stärkste Fernrohr, das des geschliffenen utopischen Bewusstseins, um gerade die nächste Nähe zu durchdringen. Als die unmittelbarste Unmittelbarkeit, in der der Kern des Sich-Befindens und Da-Seins noch liegt, in der zugleich der ganze Knoten des Weltgeheimnisses steckt.

S. 11

 

Ernst Bloch (1895 – 1977), Das Prinzip Hoffnung – Erster Band: Vorwort (1938 – 1947)

Extreme Egozentrik

I do my thing, I am I,

you do your thing, you are you.

I am not in this world to live up to your expactations,

neither are you to live up to mine.

I am I and you are you

and if by chance we find each other, it‘s beautiful,

if not, it can‘t be helped.

 

 

Ich tu, was ich tu, ich bin ich,

du tust, was du tust, du bist du.

Ich bin nicht auf dieser Welt, um nach deinen Erwartungen zu leben,

weder bist auf dieser Welt, um nach den meinen zu leben.

Ich bin ich und du bist du

und wenn wir uns zufällig finden, ist das wunderbar.

wenn nicht, dann eben nicht.

 

Friedrich Salomon „Fritz“ Perls (1893 – 1970), Gestalt-Therapie in Aktion – Das „Gestalt-Gebet“; S. 13 (1974; Übersetzung durch Satorius)

Du, wir müssen reden, über das Reden …

Was das heutige Leben auf dem Erdbal so gefährlich macht, ist das gigantische Auseinanderklaffen zwischen technologischem Vermögen und zwischenmenlichem Unvermögen. Es ist dringende geboten (wenn nicht schon zu spät) in der Fähigkeit zur Verständigung aufzuholen. Dieses Buch enthält Richtschilder [Satorius: Zwei der wichtigsten siehe unten] und Handwerkszeug für die zwischenmenschliche Kommunikation.

 

Friedemann Schulz von Thun (1944 – ), Miteinander reden 1 – Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation, Nachwort 1. (1981)


 

Friedemann Schulz von Thun (1944 – ), Das Verhaltenskreuz & Das Kommunikationsquadrat auf www.schulz-von-thun.de (Link zu Originaldatei)

Video feat. TFF: Goodbye Mr. President!

Eine Amtzeit endet in einem spektakulären U-Turn, spekulativ zumindest und jedenfalls was die Persönlichkeit der Amtinhaber betrifft könnten zwei Politiker kaum unterschiedlicher sein als Barack Hussein Obama und Donald John Trump. Die Namen und Kontexte der beiden Präsidenten, ersterer scheidenend und der zweite unvermeidlich kommend, unterstreichen den konstatierten Kontrast zusätzlich und eindrucksvoll. Da hier und derzeit eine weitere Polarisierung wenig Not tut, spare ich mir die Abrechnung mit dem einen, aufgrund seines inhumanen Stils und unverschämten Wahlkampfs, und ergehe ich mich einzig in leichtfüßigem Lob des anderen, wegen einer grandiosen Rede, die zu hören ich Euch allen sehr empfehle.

Euch erwartet ein wilkommenes Trotspflaster, warme Worte für alle demokratischen Freidenker, die hier wie anderswo gerade sehr unter einer hoffentlich nur leichten Welle historischer Konjunktur zu leiden haben. Erbaut Euch, um- und unterspült von Nationalismus, Populismus, Rassismus und schlichter Dummheit, wie es halt manchmal ist, an den Gedanken des nominell globalen Chefdemokratens. In einem fast einstündigen Rundumschalg zu den einschlägigen Themen eines mächtigen Politikers steht dabei vor allem ein Begriff im Zentrum, dem Ort der Rede: Athen, dem Beginn von Obamas Abschiedstour durch Europa, hochangemessen: Demokratie. Geschichte, Gegenwart und Gefahren sind Leitmotive seiner Auseinadersetzung mit der eigenen Amtszeit und der erhofften Zukunft. An Pathos spart der gute Mann in dieser nicht eben unhistorischen Rede ebensowenig wie an rhetorischer Brillanz und intellektueller Offenheit.

Und ja, sicherlich und selbstverständlich, zweifelsohne ist zweifelhaft wie weit sich die schöne Rede des ehemals sog. mächstigsten Mannes der Welt mit seinen aufrichtigen Überzeugungen einerseits und seinen Handlungen als Polititer andererseits vereinen lässt. Da bleibt wohhl die eine oder andere Dissonanz bestehen, aber wie könnte das auch anders sein: Denn Macht macht eben ohnmächtig; Subjekte, Strukturen, Objekte, der ganze reale Ballast lastet auf jeder Entscheidung; Versuchungen und Gelegenheiten zur Korruption lauern vermutlich in einer Hülle und Fülle auf den Lebenswegen und -umwegen, das jede Soap dagegen verblassen dürfte.

Ein wenig pro, ein wenig contra, genug geredet allenfalls, nun will ich vor allem nur noch einen reden lassen, den wohl besten Präsident, den ich in meiner Lebenszeit an der Spitze der USA erlebt habe, und der in seiner Ansprache nicht nur an die Griechen, nicht nur an die Europäer, sondern an alle Demokraten und an Freiheit interessierten Menschen dieser Tage appelliert ihr eigenes Amt ernstzunehmen, das des Bürgers. Selbstbewusster und kritischer Bürger zu sein, gibt er vor allem den jungen Menschen der nächsten Generation mit auf ihren Weg. Zu hoffen und zu handeln, sich Fortschritt und Demokratie zu verdienen, indem man sich selbst im Verbund mit anderen regiert und dabei auch den politischen Gegner, den Fremden, den Flüchtling integriert, mahnt er an, ebenso wie insgesamt zu kämpfen für den Erhalt eines „great, imperfect, but necessary system“.

In tiefer Verneigung vor einem bekennenden Demokraten und in banger Erwartung eines populistisch-polternden Pseudo-Republikaners, Euer Satorius


 

Enclosing, our globalized world is passing through a time of profund change. Yes, there is uncertainty and there’s unease. And none of us can know the future. History does not move in a straight line. Civil rights in America did not move in a straight line. Democracy in greek did not move in a straigth line. The evolution of a unified europe certainly has not moved in a straight line, and progress is never a guarantee. Progress has to be earned by every generation. But i belive history gives us hope: 25 centuries after athens first pointed the way, 250 years after the beginning of the great american journey, my faith and my confidence, my certainty in our democratic ideals and universal values remain undiminished. I belive more strongly then ever that doctor king was right when he said that the arc of the moral universe is long, but it bends towards justice. It bends towards justice not because it is inevitable, but because we bend it towards justice; not because there are not gonna be barriers to archieving justice, but because there will be people – generation after generation – who have the vision and the courage and the will to bend the arc of our lives in the direction of a better future.

 

In the United States and in every place I visted these last eight years I have met citizens – especially young people – who have choosen love over fear, who belive that they can shape their own destiny, who refused to accept the world as it is and are determined to remake it as it should be. They have inpired me. In every corner of the world I’ve met people who in their daily lives demonstrate that despite differences of race or religion or creed or color we have the capacity to see each other in ourselves. Like the woman here in greece who said of the refugees arriving on these shores: »We live under the same sun. We fall in love under the same moon. We are all human. We have to help these people.« Women like that give me hope.

 

[…]

 

Because in the end it is up to us. It’s not somebody else’s job, it is not somebody else’s responsibility, but it’s the citizens of our countries and the citizens of the world to bend that arc of history towards justice. And that is what democracy allows us to do. That is why the most important office in any country is not president or prime minister – the most important titel is: citizen. And in all of our nations it will always be our citizens who decide the kind of countries we will be, the ideals that we will reach for, the values that will define us.

 

In this great, imperfect, but necessary system of self-government power and progress will always come from the »demos«, from we the people. And im confident that as long as we are true to that system of self-government that our futures will be bright!

 

Barack Hussein Obama (1961 – ), Rede gehalten am 16.11.16 im Stavros Niarchos Foundation Cultural Center in Athen, 44:41 – 47:36 & 48:20 – 49:38 (Min:Sek; transkribiert durch Satroius)

Utopisches Duell: Rosa (Gegenwart) vs. Avanessian (Zukunft)

[Hartmut] Rosa: In meiner Arbeit etabliere ich den Begriff der Resonanz als einen sozialphilosophischen Grundbegriff, der als Gegenbegriff zur Entfremdung eine gelingende Form des In-der-Welt-seins beschreibt. Er beschreibt eine Form der Beziehung zwischen Subjekt und Welt. […] Es geht um den vibrierenden Draht zwischen mir und der Welt. Es geht um Berührbarkeit und Selbstwirksamkeit. Nur wer die Welt gestalten kann und sich wiederum durch sie verändern lässt, spürt diesen Draht und hat das Gefühl, ein gelingendes Leben zu führen. Tatsächlich birgt Resonanz immer ein transformatives Element: Subjekt und Welt verändern sich in der und durch die Bewegung. Ich denke, dass diese Erfahrung der »Anverwandlung«, des Veränderns und Verändertwerdens durch die Welt, genau das ist, worum es auch in den Achtsamkeitstechniken geht. Darin liegt oft ein Protest gegen den permanenten Zwang zur Optimierung und zu einem nur verdinglichenden Zugriff auf die Welt, dem es nicht darum geht, Dinge zum Sprechen zu bringen, sondern sie unter Kontrolle zu kriegen. Und ich sehe ehrlich gesagt nicht, was daran falsch sein soll.

 

[Armen] Avanessian: Weil es schlichtweg eine Illusion ist, angesichts der neuen Technologien und denen mit ihnen verbundenen Möglichkeiten, noch ganz im Jetzt sein zu können. Von dieser Illusion müssen wir uns endlich verabschieden und uns stattdessen mit dem fundamentalen Zeitwechsel beschäftigen, den wir gerade erleben. Was sich geändert hat, ist die nämlich Zeit selbst – und zwar hat sich ihre Richtung geändert. Wir bewegen uns nicht mehr aus der Vergangenheit kommend auf die Zukunft zu. Es ist eher umgekehrt: Die Zeit kommt aus der Zukunft und diese ereignet sich vor der Gegenwart. […] Das beste Beispiel ist Big Data. Denken Sie an die Amazon-Algorithmen, die uns demnächst auch gleich ungefragt Produkte zusenden werden, weil der Algorithmus etwas über uns weiß, noch bevor wir handeln. […] Kurzum: Die Gegenwart wird heute transformiert und gesteuert, noch bevor sie überhaupt stattgefunden hat. Diese neue Konstellation ist typisch für komplexe, algorithmisierte Gesellschaften, in denen – egal wie sehr uns das irritiert – menschliche Erfahrung und Gegenwart [mithin die ganze Palette an Praktiken zur Steigerung von Achtsamkeit und Gegenwärtigkeit, Anm. D.Q.] kein Primat mehr haben.

 

[Hartmut] Rosa: […] Problemarisch ist aus meiner Sicht vor allem, dass wir die Erfüllung immer im Morgen wähnen. Heute bin ich im Stress, aber morgen fange ich richtig an zu leben, weil dann mein Yogakurs anfängt, ich auf eine Safaritour gehe oder das neue Sofa geliefert wird. So hält man sich auf Trab, das ist eine kapitalistische Strategie, die sich auch und gerade darin zeigt, dass wir unser Resonanzbegehren immer stärker auf Objekte, auf Konsumartikel übertragen. Aus Resonanzbegehren wird Objektbegehren.

 

[Armen] Avanessian: […] Wir müssen diese Technologien vielmehr begreifen, um sie anders, nämlich für ein besseres Leben zu nutzen. Wir müssen uns doch klarmachen, welche Riesenchancen in diesen Innovationen liegen! Genau darum geht es in der von mir mitbegründeten Bewegung des Akzelerationismus: Wir müssen die technologische Beschleunigung in eine soziale und politische Dynamik übersetzen. In der linken politischen Theorie der letzten Jahrzehnte sehe ich viel zu wenige kenntnisreiche Auseinandersetzungen mit dem progressiven Potenzial der gegenwärtigen Technologien und Wissenschaften. […] Anstatt aufs Jetzt und das Glück im Augenblick zu starren, sollten wir eine andere, eine bessere Zukunft imaginieren. Wie kann diese Zukunft aussehen, und inwiefern kann die Technik uns helfen, sie zu verwirklichen? Denken sie an die Aufklärer im 18. Jahrhundert, Karl Marx im 19. Jahrhundert, die revolutionären Avantgardisten im 20. Jahrhundert: Sie alle glaubten noch an das prometheische Versprechen, dass wir mit den Mitteln der Technik eine andere, bessere Zukunft gestalten können. Und was machen die Linken heute? Sie verschließen allzu oft die Augen.

 

[Hartmut] Rosa: […] Und ich gehe noch einen Schritt weiter und sage, dass wir uns vom Kapitalismus und dessen Steigerungslogik verabschieden müssen, um anders in der Welt zu sein. Das Prometheische, das sie loben, ist Teil des Problems. Es fundiert das Programm des wissenschaftlichen, technischen, politischen und ökonomischen Verfügbarmachens von Welt, das leider die problematische Nebenfolge zeigt, die Welt stumm werden zu lassen. […] Wir sollten das prometheische Weltverhältnis des Beherrschens und Verfügens durch ein orphisches des Hörens und Antwortens ersetzen.

 

[Armen] Avanessian: Ich sage nicht, dass wir alles machen müssen, was technisch möglich ist. Aber ich bin trotzdem sehr dafür, das Mögliche zu denken. Der Akzelerationsmus ist eine politische Theorie, hinter der die philosophische Strömung des Spekulativen Realismus steht. Innerhalb dieser Strömung geht es zum einen darum, die Realität philosophisch wieder anzuerkennen, also sich abzuwenden vom konstruktivistischen und relativistschen Hype der letzten Jahrzehnte. Gleichzeitig müssen wir der Spekulation Raum geben. Wer es rundweg ableht zu spekulieren, der liefert sich dem Gegebenen aus. Der Spekulative Realismus entdeckt neue Möglichkeiten, indem er eine neue Zeit entdeckt. Und genau hier liegt auch der Kern des Akzelerationsmus. Wir kennen die aus der Zukunft kommende Zeit nur in ihrer neoliberalen und finanzfeudalistischen Variante, und verteufeln sie deswegen vorschnell, statt ihr Potenzial zu sehen. Kann es nicht auch von Nutzen sein, die Zukunft zu verstehen und von einer besseren Zukunft aus die Gegenwart zu verändern?

 

Armen Avanessian (1973 – ) & Hartmut Rosa (1965 – ), Gespräch auf der phil-cologne 2016 unter dem Titel „Wie viel Zukunft verträgt die Gegenwart?“, in: Philosophie Magazin Nr. 05/2016 (August/September), S. 60 – 65

Es lebt noch nicht, aber es erdet schon mal!

The sky around Alpha Centauri and Proxima Centauri (annotated)

Digitized Sky Survey 2 – Davide De Martin & Mahdi Zamani, Die Himmelsregion um Alpha Centauri und Proxima Centauri (beschriftet)

Proxima Centauri and its planet compared to the Solar System

European Southern Observatory (ESO) – M. Kornmesser & G. Coleman, Proxima Centauri und sein Planet verglichen mit unserem Sonnensystem


Es lebt! Nein, halt und stopp: Fantasieüberschuss – soweit sind wir bisweilen noch nicht. Aber immerhin: es erdet in der nächsten Nähe!

Aller astronomischen Voraussicht und Analyse nach dreht in unserer direkten kosmischen Nachbarschaft ein terrestrischer Exoplanet seine rasanten Runden. Um den nur vier Lichtjahre entfernten roten Riesen Proxima Centauri kreist besagter Gesteinsplanet innerhalb der habitablen, also bewohnbaren, Zone in ca. 11 Tagen ein Mal um seine Sonne. Wie die Europäische Südsternwarte im Anschluss an die wissenschaftliche Publikation kürzlich in dieser Pressemitteilung mitteilte, haben Forscher des „Pale Red Dot“-Projekts den Planeten entdeckt, auf dessen Oberfläche sogar die Möglichkeit von flüssigem Wasser, wenigstens regional, nicht ausgeschlossen werden kann.

Das mag zunächst recht nüchtern und wenig spektakulär klingen, stellt aber nicht weniger als ein epochales Ereignis dar. Nachdem die Erde zur Kugel geworden war, sodann aus dem Zentrum des Sonnensystems auf Planetenbahn Nummer drei von neun (aktuell „acht“ oder bald doch wieder „neun“) verlegt wurde, die übrigen Planeten unseres Heimatsystems entdeckt und sporadisch sondiert worden sind, ist seit wenigen Jahrzenten auch die Skepsis widerlegt, ob es überhaupt extrasolare Planeten gibt. Dass nun ein womöglich  lebensfreundliches Exemplar so dicht am heimatlichen Sonnensystem entdeckt wurde, beflügelt sicherlich nicht nur die Fantasie einiger Science-Fiction-Fans, wie ich einer bin, sondern auch die Ambitionen von Wissenschaftlern, Politikern und Bürgern. Mit „nur“ 4 Lichtjahren stellt die Strecke eine Entfernung von ca. 39.735.067.984.839,36 km, sprich 39,7 Billionen Kilometer, dar, die im interstellaren Maßstab betrachtet so gering ist, dass eine Sonde eine praktikable Erkundungsoption sein könnte. Visionäre Projekte in dieser Richtung gibt es bereits, wenn auch unsere Generation schlechte Aussichten haben mag, die Ankuft mitzuerleben, so doch mit etwas Glück den Start.

Warum ist etwas durch seine Entfernung beinahe Unwirkliches so wichtig, weswegen überhaupt von Belang, wo es doch hier auf der Erde genug wirklich wichtige Herausforderungen und große Probleme zu bewältigen gilt? Eine berechtigte, ethisch bis moralische hochbrisante Frage, die zu stellen und zu beantworten ebenso Not tut, wie sie zugleich weitere kritische Fragen provoziert: Ist eine Beschäftigung mit solchen Themen nicht ein Symptom, wenigstens ein Indiz für gefährliche Tendenzen wie Fantasterei, (Politik- & Welt-)Verdrossenheit, Eskapismus, vielleicht gar unverantwortliche Verschwendungssucht?

In Teilen mag das stimmen; das große Bild hingegen sieht anders aus: Seit Anbeginn der menschlichen Zivilisation waren Entdeckung, Expansion und Eroberung wesentliche Triebfedern von Fortschritt und Kultur. Dass diese beiden als wertvolle Errungenschaften durchgehen, bezweifeln wohl nur hartgesottene Kritikernaturen. Zweifelsohne. Ja, dabei und dadurch wurde unbestritten viel Blut vergossen, sich mehr als ein mal die Hände heftig schmutzig gemacht und letztlich vieles unwiderbringlich beschädigt oder gar gänzlich zerstört. Dementgegen steht einiges mehr auf der Habenseite: die Besiedlung des kompletten Planeten, die Loslösung vom Mythos und damit die Öffnung des Geistes für Wissenschaft und Technik, die Erschließung von natürlichen Potenzen und die Schaffung ökonomischer Werte. Wenn also der Krieg tatsächlich der Vater aller Dinge sein sollte, so ist das Paar Wissendurst plus Abenteuerlust die zugehörige Mutterfigur und ich bin damit eindeutig und erklärtermaßen ein Muttersöhnchen.

Der Weg der Menschheit, der uns zunächst zu den solaren Planeten und sodann zu extrasolaren Planeten zu führen vermag, könnte nicht nur kräftezehrend sondern auch heilsam sein, würde er im Zeichen der Mutter beschritten. Individuen werden zwar immer und immer wieder in Konflikt geraten, aber eine im kosmischen Maßstab einige Menschheit, die ihre Rolle im Universum bescheiden betrachten lernt und gemeinsam an der Lösung ihrer Probleme arbeitet, wäre eine dankbare wie denkbare Folge diese Weges. Dabei muss es nicht unbedingt ein intelligenter Freund oder Feind dort draußen sein, der einen Umschwung im Selbst- und Weltverhältnis des Menschen einleitet würde; es mag bereits ausreichen wirklich anzuerkennen, dass man nicht alleine im Universum ist.  Somit würden wir ein verantwortlicher Teil eines größeren Ganzen, sei dieses Kosmos oder Chaos.

So kurz, knapp und eklektisch lässt sich die Kontroverse um die Weltraumfahrt mit Fernziel Milchstraße zwar nicht schlichten, aber als ein spekulatives Argument auf der Pro-Seite taugt die gemachte Überlegung eventuell. Und da wir und besonders ich lieber große Fragen stelle, als mir den Anschein geben zu wollen, diese sogleich ernsthaft und vollständig zu beantworten, betrachte ich diesen Text als kleinen Aufriss eines interessanten Themas und überlasse erstmal einer anderen Stimmen die Bühne:


 

Die lange und sehr vehement vertretene These von der Sonderstellung der Menschheit im Kosmos gerät zunehmend ins schwanken. Die, wie Sigmund Freud es nannte (obwohl er dabei etwas gänzlich anderes im Sinne hatte) dritte große narzistische Kränkung der Menschheit scheint unmittelbar bevorzustehen: Zu den Gewissheiten, dass die Erde nicht den Mittelpunkt des Universums markiert, und jener, dass der Mensch von affenartigen Wesen abstammt, könnte bald die Erkenntnis kommen, als intelligente Spezies nicht allein im Universum, also eben auch nicht der singuläre Höhepunkt einer irgendwie gearteten Schöpfung zu sein.

 

[…]

 

6. Fazit

 

Tatsächlich spricht, wenn man sich die Entwicklung des wissenschaftlichen Wissens in den letzten drei Jahrzehnten ansieht, alles dafür, sich – wie es die Anfangs erwähnte Konferenz der Royal Society getan hat – systematisch mit der Frage des ‚Erstkontaktes’ zwischen Menschen und Außerirdischen und dessen Folgen zu beschäftigen:

 

Erstens kann nach den astronomischen Erkenntnissen der letzten Jahre als fast sicher gelten, dass das Universum nur so von Planeten wimmelt, die prinzipiell die Möglichkeit für die Entstehung von Leben bieten. Gleichzeitig konnte die biologische Grundlagenforschung zeigen, dass überall dort auf der Erde, wo Leben möglich ist, dieses Leben auch tatsächlich existiert. Aus diesen beiden Befunden wird heute nicht nur von SETI-Enthusiasten gefolgert, dass die Entstehung von Leben in unserem Universum nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel ist. Und da wir heute nicht wissen können, ob bewusste Intelligenz ein inhärentes Potential biologischer Evolution ist, müssen wir Menschen damit rechnen, als intelligente Spezies nicht allein im Universum zu sein. Auch wenn wir es heute nicht definitiv wissen können.

 

Zweitens sammeln wir nicht nur mit zahlreichen Instrumenten passiv immer mehr Informationen über das Universum, sondern wir dringen auch mit Raumsonden aktiv immer weiter in unser Sonnensystem vor. Mit jedem Schritt in die Tiefen des Kosmos, mit jedem neuen Teleskop und jeder weiteren Raumsonde wächst die Wahrscheinlichkeit, Beweise für die Existenz außerirdischen Lebens zu finden – falls die These der weiten Verbreitung von Leben im Universum denn richtig ist. Und wenn zusätzlich noch die Annahme stimmt, dass biologische Evolution zumindest mit einer gewissen Chance zu bewusster Intelligenz führt, steigt auch die Wahrscheinlichkeit, Belege irgendeiner Art für die Existenz außerirdischer Zivilisationen zu finden.

 

Und drittens schließlich wäre die Konfrontation mit einer außerirdischen Zivilisation unbezweifelbar einer der schwerwiegendsten Einschnitte in der bisherigen Menschheitsgeschichte: Die Gewissheit, als intelligente Spezies nicht allein im Universum zu sein, würde nicht nur unser wissenschaftliches und philosophisches Denken revolutionieren, sondern könnte auch eine Vielzahl schwerwiegender Auswirkungen bis hinein in unser alltägliches Leben haben. Wie diese genau aussehen werden, ist heute mit Gewissheit nicht zu sagen. Aus soziologischer Warte und unter Berücksichtigung unseres Wissens über asymmetrische Kulturkontakte auf der Erde scheint mir hier im Zweifelsfalle eine skeptischpessimistische Haltung als die realistischere. Für die SETI-Forschung, namentlich für die von einigen Unentwegten heute propagierte aktive Variante, bedeutet dies: Es ist wissenschaftlich gesehen sicherlich Hochtechnologie-, kulturell betrachtet jedoch Hochrisikoforschung. Und für die entsprechenden Technikfolgeabschätzungen ist es höchste Zeit.

 

Michael Schetsche, Menschen und Außerirdische – Mögliche kulturelle Konsequenzen des Erstkontakts mit dem maximal Fremden: S.4f. & S.17f. (Vortrag am 20.1.2011, Universität Kaiserslautern; Direktlink zur PDF)

Testsieger im Praxistest: Das „Rheinische Grundgesetz“

Artikel 1: Et es wie et es.
(„Es ist, wie es ist.“)
Sieh den Tatsachen ins Auge, du kannst eh nichts ändern.

 

Artikel 2: Et kütt wie et kütt.
(„Es kommt, wie es kommt.“)
Füge dich in das Unabwendbare; du kannst ohnehin nichts am Lauf der Dinge ändern.

 

Artikel 3: Et hätt noch emmer joot jejange.
(„Es ist bisher noch immer gut gegangen.“)
Was gestern gut gegangen ist, wird auch morgen funktionieren.
Situationsabhängig auch: Wir wissen es ist Murks, aber es wird schon gut gehen.

 

Artikel 4: Wat fott es, es fott.
(„Was fort ist, ist fort.“)
Jammer den Dingen nicht nach und trauer nicht um längst vergessene Dinge.

 

Artikel 5: Et bliev nix wie et wor.
(„Es bleibt nichts wie es war.“)
Sei offen für Neuerungen.

 

Artikel 6: Kenne mer nit, bruche mer nit, fott domet.
(„Kennen wir nicht, brauchen wir nicht, fort damit.“)
Sei kritisch, wenn Neuerungen überhandnehmen.

 

Artikel 7: Wat wells de maache?
(„Was willst du machen?“)
Füg dich in dein Schicksal.

 

Artikel 8: Maach et joot, ävver nit zo off.
(„Mach es gut, aber nicht zu oft.“)
Qualität über Quantität.

 

Artikel 9: Wat soll dä Kwatsch/Käu?
(„Was soll das sinnlose Gerede?“)
Stell immer die Universalfrage.

 

Artikel 10: Drinks de ejne met?
(„Trinkst du einen mit?“)
Komm dem Gebot der Gastfreundschaft nach.

 

Artikel 11: Do laachs de disch kapott.
(„Da lachst du dich kaputt.“)
Bewahr dir eine gesunde Einstellung zum Humor.

 

Intelligenz des Rheinlands & Konrad Beikircher (Hrsg.), Et kütt wie et kütt – Das Rheinische Grundgesetz (2001)


 

Die Quintessenz rheinischer Lebenskunst in nur elf gröllbaren Aphorismen verpackt, und zwar so, dass sie jeder verstehen, jeder anwenden, jeder anerkennen kann. Eine Edelprodukt unter den elaborierten Lebenskünsten, aber nur eines unter vielen, unendlich, unsagbar vielen. Deshalb habe ich über ein Jahrzehnt hinweg unablässig – damit immerhin einen Bruchteil – getestet und bewerte vor diesem Hintergrund das heutige Text-Fast-Food als bodenständige Alternative aus Köln. Doch wer sind die Mitbewerber im immens-intransparenten Praxistest der Lebenskünste, mit Schwerpunkt auf den Gütekriterien: Beliebtheit, Wirksamkeit und Zugänglichkeit?

Natürlich, die Philosophen, wären Paradebeispiele sprachlich elitärer, bisweilen hermetisch daherbrabbelnder Akteure im öffentlichen Diskursraum (womit in der These zugleich ein Beleg der These geliefert werden soll – quasi: ironisch-performative Konfession). Von soviel Wirksamkeit, wie diese schlichten und schönen Sinnsprüche im Alltag zu entfalten vermögen, kann sich so manches (praktische) Philosophem eine dicke Scheibe davon abschneiden. Eine Kritik, die nur insoweit zulässig ist, wie Philosophie mehr sein soll als bloße Wissenschaft, und dieser Mehrwert zudem in einer die Wirklichkeit verändernden Art ein exklusives Kriterium haben darf. Die Wirklichkeit zu verändern, heißt explizit nicht nur: politisch zu sein, sondern anschlussfähig zu sein, verständlich, zugänglich, (be-)greifbar und genießbar gleichermaßen. In dieser Hinsicht sind die elf „Rheinischen Grundgesetze“ vorbildlich, denn schon ein Erstklässler, wenn nicht ein Kindergartenkind könnte sie lernen. Sie schaffen es sogar als Dekor auf Frühstücksbrettchen und wer hier assoziativ an die „10 Gebote“ als Referenzprodukt denkt, weit gefehlt, die rangieren recht weit hinter unserem heutigen Testkandidaten und können höchstens in punkto Merkbarkeit konkurrieren. Die Ratschläge habe jedenfalls dazu getaugt, im Alltag weit weniger Stress zu empfinden, mehr Entspannung, Freude und Ausgewogenheit zu gewinnen und nicht zuletzt eines zu werden: ein bodenständiger Lebenskünstler, der sich von diesem Fundament aus nach allen Richtungen umsehen darf und sollte. Keine dicken alten Wälzer lesen, sondern einfach bei einem Kölsch praktisch umsetzen, was sich in Kürze hat erfassen lassen.

Inhaltlich kann ich die empfehlungen kaum kürzer wiedergeben, sehe mich aber zum Versuch genötigt: Die Welt so dulden, wie sie ist, nicht wie sie gefälligst sein sollte und sie stattdessen aus der Ruhe heiterer Gelassenheit heraus Stück für Stück umzubauen, zu erhalten, aber gleichsam zu erneuern, das lehrt die Weisheit des Rheinlands. (Wer acht Jahrhunderte hindurch unermüdlich an seinem Dom baut, weiß was Erbe, Geschichte und Zukunft verbindet.) Was das Leben einem zukommen lässt, ist demütig anzunehmen; jeder (Waren-)Fetischismus (Stichwort: Anhaftungen) sollte vermieden werden und der Nächste, dein Mitmensch, der Andere ist willkommen zu heißen, gerne und unter großzügiger, aber maßvoller Aufwendung des Eigentums. (Ob da nicht eine Portion gelebtes Christentum Einfluss genommen hat?) Schließlich geht es letztlich um das konsequent gelebte, gute (positive) Leben.

Die nebensächlichen wie polemischen Spitzen aus dem thematischen Hinterhalt gegen die anspruchsvolle Lebensweisheit aus den Akademien und Kirchen seien mir vergönnt, zumal sie mich passagenweise sicher höchstselbst betriffen und damit ins eigene Fleisch schneiden – na, wer weiß noch was Subjekt hinter all der rhetorischen Spinnerei der letzten Absätze geblieben ist? So ungefähr genau das: Die Vorzüge des einfachen Volksweisheit gegenüber den nicht explizit erwähnten, wortreichen Bedeutungsungetümen, eine Gattung an Lebenskunstprodukt, wie es Philosophen, andere Geisteswissenschaftler und neuerdings allerlei Coaches hervorbringen. Das Verschwinden des Sinns hinter sprachlichen Spielereien, gleichzeitig die Absage an die Wirksamkeit des betroffenen Werks, sind nur zwei Gefahren solcher Machwerke. Nicht so bei den Sprachspielen, die zweifelsohne mehr zu beigeistern vermögen, populärer und beliebter sind. Sie kleiden das Gute und möglicherweise Wahre in das Schöne, ehren damit nicht nur Platon, sondern sind effektiv und effizienter als die meisten Mitbewerber aus den Bereichen Philosophie, Religion und Esoterik, im eigentlichen wie uneigentlichen Wortsinn. Da ich also intellektuellem Populismus entschieden zustimme, befürworte ich ebenso entscheiden, Volkweisheit, altes Wissen und Straßenschläue mit  zeitgenössischen Formen der Erzählung, zu denen der Diskurs der Wissenschaften an hervorragender Stelle gehört, kreativ zu verschmelzen. Dabei wären in philosophischer Hinsicht Neubearbeitungen skurrilster Natur möglich: MC Emmanuel Levinas feat. DJ Derrida Ethik des Anderen unplugged & deconstructed gesungen als Meisterlied oder DDFD – Die drei fröhlichen Diskursethiker als Hörspielserie mit den drei Professoren in spe Apel, Habermas und Nietzsche, Hegels Anerkennunglehre zum Einschlafen als Kinderreim zum dialektischen müdedenken, nicht zuletzt Klassiker wie Nikomachische Diäthik für Bauch, Beine und Bewusstsein oder Staat, Höhlengleichnis und Ideenlehre für Primaten oder Dummies.

Vom essayistischen Abweg zurück zum Kern des Textes, dem Test der Lebenskunstregeln aus dem Rheinland in 11 kompakten Artikeln. Dass die jecken Regeln sich gegen das Top10-Diktat verwehren und als Primzahl daherkommen, bringt weitere Pluspunkte, weißt sie zudem als das aus, was sie gerechterweise sind: natürliche, also krumm und schief gewachsene und daher in sich widersprüchliche, wilde Unkräuter des Geistes. Heilsam trotzdem und allemal unglaublich echt, aus dem Leben für das Leben, gemacht, um gemacht zu werden. Ich jedenfalls empfinde diese knappen Weisheiten seit einigen Jahren als wertvolle Begleiter, in einer Welt, wie der unseren, in einem Alltag wie dem meinen. Ihrer Befolgung erspart negative Gedanken und Erfahrungen, stiftet gleichzeitig positive Bezüge zu sich und der Welt um sich herum. Man regt sich weniger auf und freut sich stattdessen mehr. Konflikte werden an allen Fronten vermieden und das Bewusstsein durch eine Erdung am Wesentlichen beruhigt. Probiert es am besten selbst einfach mal ein paar Wochen aus und lasst Euch in passenden Situationen – und glaubt mir, die gibt es bei den hintersinnig universellen Regeln zuhauf – von der dazu passenden Regel leiten.

Kurz abschließend möchte ich jedoch nicht verhehlen, dass dem („rheinischen“) Grundgesetz allem Loblied zum Trotz etwas politisch Gefährliches anhaftet, ein fatalistischer, opportunistischer und populisitscher Beigeschmack ist nicht zu leugnen. Holt man dieses Manko jedoch reflexiv ein und überholt es damit lebenspraktisch, steht dem vollen Lebenskunstgenuss nichts im Wege. Nur so ernstgenommen, wie das eine denkbare 12. Grundregel „Artikel 12: Regeln sind Regeln, das Leben was ganz anderes“ (Für eine angemessene Übersetzung ins Kölsche, bin ich ein dankbarer Abnehmer – mein Stichwort für Euch lautet deshalb: Kommentarfunktion) begrenzen könnte, überwiegen die lebenspraktischen Vorteile und wer ist dieser Tage schon politisch, also mal ehrlich, sodass ich zu einem klaren Testurteil komme: Der Vorsprung reicht bei diesem unfair einseitigen Testzuschnitt klar für Testsieger, das rheinische Grundgesetz! Also weg mit der Theorie, der Kohärenz, der Objektivität, all der Differenziertheit und den altbackenen Idealen von Ausführlichkeit, Allgemeinheit und Argument, wie sie Religion, Philosophie und Co. so von sich und anderen fordern, und ran an den Parxis der rheinischen Lebenskunst. Einfach mal vier Wochen in den vier Wänden der eigenen Existenz ausprobieren, es lohnt sich – versprochen.

Reumütig und Besserung gelobend verabscheidet sich nach einmonatiger Abwesenheit, Euer Satorius