Denk-Welten

Terroristenversteher oder Verschwörungstheoretiker?

Leere Drohungen an der »roten Linie«

 

Die syrische Tragödie unterscheidet sich grundsätzlich von den anderen Tumulten der Arabellion. Das Wort Arabischer Frühling mag man schon gar nicht mehr hören. In Tunesien war es tatsächlich zu einer spontanen Explosion gegen das Zwangsregime Ben Alis gekommen. In Kairo konnte man allenfalls – im Hintergrund der freiheitlichen Tahrir-Revolution – die geheime Manipulation der Mukhabarat [~Nachrichtendienst; D.Q.], der Geheimdienste und vor allem der Armee vermuten. In Libyen waren die USA recht zögerlich zur Hilfestellung für die dortigen Thuwar [~Rebellen; D.Q.] angetreten. In Benghazi, wo angeblich das Volk sich erhoben hatte, um Demokratie und Meinungsfreiheit zu fordern, galt es zu verhindern, daß die wenig zimperliche Streitmacht Qadhafis in der Cyrenaika ein grausames Gemetzel veranstaltete.

 

In Syrien lagen die Dinge ganz anders. Die USA – im Verbund mit Saudi-Arabien und Israel – hatten nicht die ersten Protestdemonstrationen von Deraa gegen die Diktatur Bashar el-Assads und seiner alawitisch dominierten Baath-Partei abgewartet, um die Grundlagen des Staates zu unterwühlen. Schon lange vorher hatte eine hemmungslose Kampagne, eine systematische Hetze in den amerikanischen und europäischen Medien gegen diese Arabische Republik eingesetzt, die – bei aller Brutalität, die auch sie zu praktizieren pflegt – das einzige säkulare Staatswesen im gesamten arabischen Raum darstellt. Verglichen mit den Vorzugsverbündeten des Westens – seien es nun Saudi-Arabien, Qatar, die Vereinigten Emirate oder Kuwait –, bot die Hauptstadt Damaskus ein Bild religiöser Toleranz und eines fast westlichen Lebensstils, seit Bashar el-Assad das Erbe seines unerbittlichen Vaters Hafez el-Assad angetreten hatte.

 

Irgendwo, an geheimen Kommandostellen, in diskreten Fabriken der Desinformation, die von angelsächsischen Meinungsmanipulatoren meisterhaft bedient wurden, war die Losung ausgegangen, daß Syrien sich den amerikanischen Vorstellungen einer trügerischen Neuordnung im Nahen und Mittleren Osten zu unterwerfen habe. Bei einer Medienveranstaltung der ARD in Berlin erwähnte ich diese allumfassende propagandistische Irreführung der breiten Öffentlichkeit, der sich – in Deutschland zumal – weder die linksliberalen noch die erzkonservativen Printmedien und Fernsehsender zu entziehen wußten. Der frühere Intendant des WDR, Fritz Pleitgen, und der arabische Journalist Suliman, der sein Amt als Korrespondent der TV-Station von Qatar, El Jazeera, quittiert hatte, weil er dessen Nachrichtenverfälschung nicht mehr ertrug, stimmten mir spontan zu. Die subtile, perfide Unterwanderung und Täuschung globalen Ausmaßes, denen die Medien ausgeliefert sind, bedarf einer ebenso schonungslosen Aufdeckung wie die hemmungslose Überwachungstätigkeit der National Security Agency. Gerüchteweise hatte ich vernommen, daß sich in North Carolina eine solche Zentrale der gezielten Fälschung befände, was die Existenz ähnlicher Institute in den USA, in Großbritannien und in Israel keineswegs ausschließt.

 

Peter Scholl-Latour (1924 – 2014), Der Fluch der bösen Tat. Das Scheitern des Westens im Orient: S. 158 (2014)


In Erinnerung an einen kürzlich verstorbenen großen Förderer des interkulturellen, kritischen Verständnisses und ohne diesbezüglich, wie überhaupt pietätlos sein zu wollen, muss der Artikel so beginnen:

Jaaah er lebt noch, ja er lebt noch, wer hätt‘ das noch gedacht … – der ideologische Unruhestifter [D.Q. nennt er sich weiterhin ominös verkürzt; Anmerkung der Metatext-Redaktion] aus den frühen Tagen dieser digitalen Welt hat dieser Tage zu medialer Wirksamkeit zurückgefunden. Er war seit geraumer Zeit nicht mehr so präsent wie noch zuvor, was aber einerseits an der intellektuellen wie redaktionellen Konjunktur beim Text-Fast-Food – ziemliche Depression dieser Tage – sowie andererseits darin begründet liegt, dass ich und auch große Teile der quanzländischen Öffentlichkeit, die Metatext-Redaktion inklusive, seiner überdrüssig geworden sind. Im Effekt schenken wir ihm also kaum noch nennenswerte Aufmerksamkeit geschweige denn Öffentlichkeit, zumal die Bonus-Kampagne des Wächterates und der Regierung ein großer Erfolg war. Gehetzt von ökonomisch zusätzlich motivierten Bürgern – böse Zungen würden schlichter sagen: gierigen Denunzianten – und von den Medien totgeschwiegen fristet der Text-Terrorist ein tristes Dasein im Dunklen und traut sich nur noch gelegentlich heraus aus seiner Terrorklause.

Kürzlich war es Mal wieder soweit: Mit zwei groß angelegten Flugblatt-Aktionen [»Terroristische Anschläge« im offiziellen Sprachgebrauch, deren zwei Original-Texte, von uns für Sie methodisch sauber transkribiert, ober- und unterhalb zu finden sind – gewesen sind und gewesen sein werden, für Tempus-Fans; Anmerkung der Metatext-Redaktion] wies er auf eklatante Verwirrung in der Außenpolitik und den darüber berichtenden Medien hin. Mit vielen Worten, aber ohne eigene Stellungnahme, die über die bloße Auswahl an Zitaten und deren Montage hinausginge, hat er sich mit den zwei angezapften Quellen wieder zurück in die Debatte gebracht. Dass er auch in seinen neuerlichen Text-Bomben konsequent auf inländische Medien und Autoren verzichtet, also nur solche aus wirklichen Staaten benutzt, werte ich an sich bereits als starkes Statement gegen die mediale Vereinnahmung durch ausländische Meinungsfabrikanten und -spekulanten. Hier in den zwei thematisch verschränkten Auszügen wird dieser medienkritische Ansatz (leit-)motivisch explizit ausgesprochen, tritt aber hinter die politisch so wichtige, beinahe metaphysisch übersteigerte Frage zurück: Wer ist hier eigentlich der Terrorist – … (IS)IS, Al-Qaida, Hisbollah, Al-Nusra, da ist man sich sicher, … Kim Jong-un, Orban, Assad, die kern-arabischen Herrscherdynastien, klar oder waren das bloß Diktatoren … mittlerweile womöglich Putin oder Erdogan, große Teile Afrikas gewiss, meint man zu wissen, soweit gehen die Meisten wohl auch noch mit … wer aber bietet mehr, Xi, Obama, Merkel vielleicht? Hohe Wettquoten garantiert!

Auch mir geht es heute um die Ziehung einer Roten Linie, wenn auch mit verbale milderen Mitteln als einer ernstlichen Drohung. Wenn ich beim Herangehen an Historie und Zeitgeschichte, wie es die Textanlässe herausfordern, die Wahl habe, entweder als »Terroristenversteher« oder als »Verschwörungstheoretiker« beschimpft zu werden, – und die habe ich genau jetzt in diesem Moment, denn schweigend »Ja und Amen« zu sagen, kommt nicht in Frage – dann ist meine Antwort klar und eindeutig: Ich wähle den Weg verwerflichen Verstehenwollens gegenüber Terroristen und genauer noch terroristischen Regimen und ihren Präsidenten im Besonderen. Damit erteile ich dem epistemischen Wahnsinn der Verschwörungstheorie nach dem Gusto: Sie gegen die Wahrheit eine Absage – keine Lügenpresse, kein Komplott der Mächtigen, das Kapital, die Juden, die Illuminaten oder sonst ein monistisch-okkulter Firlefanz, der seinerseits die intellektuellen Unkräuter Allgemeinplatz und Dogma zu neuer Blüte bringt.

Terror ist real! Weltgeschehen ist plural. Ereignisse sind komplex und lassen sich nicht ein- oder zwei-, auch selten dreidimensional vereinfachen. Internationale Politk und multinationaler Konflikt sind nicht nur ein Bühnenspiel von bestenfalls einer Handvoll mächtiger Puppenspielern. Diese lenken des Weiteren die Medienwelt nicht derart durchdringend, dass konventionelle Informationsquellen per se unglaubhaft sind. Schluss damit, Kinder der Kritik! Das mit den wahren, wirklichen oder echten Verschwörungen, die im ganz großen, globalen Maßstab die Welt (v)erklären, ist ein, wenn nicht der moderne Modus mythischer Welterklärung; sogar (noch) primitiver als bei den ordentlichen (Welt-)Religionen, möchte ich fast spotten, wage mich aber nicht. All diese leider zu häufig mit allzu viel Gewissheit gesegneten Perspektiven auf unsere schöne alte Welt haben ihre Wunder, ihre Zeichen der Offenbarung, so auch hier. Die Verschwörungstheorie beruht prosaischer gesprochen auf Indizien und entbehrt sogar nicht gänzlich der kalten Logik, nur an der Dialektik mangelt es ihr gewaltig. Wie häufig am eigenen Geist erlebt, landen falsch dargestellte Nachrichten oder schlecht manipulierten Meldungen, Widersprüche und Lügen allenthalben in unserem medialen Buffet. Erst entdeckt, laden sie verführerisch grinsend zum Zweifeln ein; das zu Recht allerdings, denn Propaganda ist zeitgenössisch so real wie global. Aber, und das ist der springende Punkt, die Desinformation und Machtverteilung auf der Welt ist unendlich komplexer und viel dynamischer als jedes im Grunde ziemlich starre und widerwärtig kritikresistente Wahngebilde namens »XY-Wahrheit über Z,A,B bis n« [Satorius meint damit wohl weiterhin nur die schwersten Kaliber der Verschwörungstheorie, wie Holocaustleugner, Hohlweltler und Konsorten, glauben sie ruhig weiter an den Weihnachtsmann, Nessie, Big Foot und Co. oder an Ufo’s (tut der werte Autor übrigens unterstellter Weise); Anmerkung der Metatext-Redaktion]. Soviel plakativ und kurz zur These, die nur so aussieht, als wäre sie selbst der Glaubensgrundsatz eines totalen, kugelrund geschlossenen Weltbilds, das ähnlich immun gegenüber Kritik, nur eben auf anderer Ebene daherkommt. Überheblich buchstäblich, aber komplett ausgebreitet – keine Angst das passiert hier und jetzt nicht – erschiene es jedoch so offen und radikal, wie nur denkbar, dabei weder ein Relativismus, noch Nihilismus, noch (»Neuer«) Realismus oder gar Empirismus, schon gar nicht Spiritismus, Poly- oder Monotheimus. Ich würde ein Hohelied singen auf ein pures Zwischen, dessen Kraft zum Sprengstoff für Semantik, Syntax und Grammatik taugt. Versprochen ist versprochen – also: Schluss!

Oder ich kompensiere das Lechzen nach Gedankenranken anderweitig, umwegig auf ein scheinbar anderes Ziel hingleitend. Ja, nach so vielen anturnenden Ismen folgt jetzt unweigerlich ein Quickie wilder wie wahllos willenloser Philosophie, nur ein paar wenige Absätze, in denen ich eine Kritik eindeutiger Welterklärung vom Stapel lassen möchte. Es wird eventuell textuell passenweise hart, aber immerhin nur eine Handvoll Absätze und die nur mit gutem argumentativem Zweck, das sei vorab abermals versichert.

Es gibt seit Äonen Myriaden möglicher Einzelphänomene in unserer gemeinsamen Welt. Da draußen waren, werden sein und vor allem sind unendliche viele wahrnehmbare und kommunizierbare Sachverhalte, Dinge und Ideen. Jeder von uns bekommt davon in einer unendlich kleinen Gegenwart und den anschließenden Rückbezügen nur wenige davon wirklich selbst mit. So nimmt jeder aus seiner raumzeitlichen und subjektiver Perspektive anderes anders wahr und selten teilt somit eine größere Gruppe einen Phänomenhorizont, womit eine Menge an synchron erlebten Phänomenen gemeint sind, die streng ausgelegt in möglichst analoger, kohärenter Relation zu den beteiligten Subjekten stehen sollten.

Damit schnell weg von der Außenwelt, gehen wir endlich nach innen: Wie die vielen Individuen die wenigen gemeinsamen Erfahrungen mit den geteilten Bruchstücken der Außenwelt dann jeweils beurteilen, macht die Sache erst so richtig vertrackt, ganz zu schweigen von den unmöglichen Zumutungen der fundamentalten Sprachlichkeit ihres Austauschs, über ihre Erfahrungen, Meinungen, Urteile, sowie, wenn vorhanden, über ihren grundsätzlichen Glauben, ihr Weltbild. Ihre Bildung, ihre Biografie, eines jeden Biologie und noch einige Faktoren, die sich nicht so schön alliterieren lassen, sorgen kraftvoll dafür, dass eine kaum vergleichbarer Phänomenhorizont, wenn er Wahrnehmung und Bewusstseinsinhalt geworden, noch unvergleichlicher, schier unendlich individuell geworden ist.

Dann kommt zum Glück der Diskurs, das Gespräch aller mit allen. Innenwelt und Innenwelt kommen über die Außenwelt und auf sich selbst zu Sprechen. Durch sprachliche Darstellung formen Personen und Gruppen aus dem wirren Chaos da draußen einen schön miteinander verbundenen Bewusstseins-Text, der vielfältig teilbar ist. Dabei sind Meinung und Überzeugung möglich, auch wenn man nicht dabei war, auch wenn man nicht identisch ist mit dem oder den ersten Bedenkern des originalen Phänomenkomplexes. Soweit, so abstrakt – man nehme also einen Korb voll Einzelphänomene, einen Bund Subjektivität, einen guten Doppel-Schlag Kognition/Reflexion, garniere alles mit Glauben, Liebe, Hoffnung und vergesse zuletzt nicht eine Prise Zufall, schon hat man den Salat. Das ist unglaublich toll, macht enormen Spaß und schafft bestenfalls am Ende große Kulturgüter, aber dadurch wird dennoch nicht alles das real, was wir uns dabei so vorstellen und worüber wir sprechen wollen und können. Ich denke also bin ich, aber was ich denke, ist nicht zugleich die Welt, es bleibt meine Welt. Ontologische Differenz, nennt diesen Graben zwischen Essenz und Existenz manch ein Philosoph.

Differenzen lauern also überall. Auch lassen sich zwischen den diversen Aussagen über die Welt enorme Unterschiede hinsichtlich Qualität, Angemessenheit, Anspruch attestieren. Wie operationalisierbar eine solche Messung sein kann oder wer überhaupt wen messen darf, ist mir hierbei herzlich egal; mir geht es lediglich darum, dass neben aller fundamentalen Skepsis ein lernfähiger Maßstab des Denkens vorstellbar bleiben muss. Ohne einen solchen bleibt jedes Denken hilflos, jedoch kommt es auf die Art des Maßstabes und die Weise des Maßnehmens an. Hierin, so viel sei zusammengefasst und zugleich angedeutet, liegt der überschriftenfähige Unterschied zwischen »Verschwörungstheoretikern« (Dogmatiker, Positivisten und Mon(-othe-)isten frecherweise inklusive) und »Terroristenverstehern«: Auf der gemeinsamen Basis einer kritisch hinterfragten Außenwelt findet eine unterschiedliche Auseinandersetzung mit der Innenwelt statt.

Bei einer an unendlich grenzenden Fülle an Phänomenen, wissend, dass das Kaleidoskop des Bewusstseins in der Zeit ein verschwindendes Quantum davon herausbricht und eigenwillig neu verbindet, braucht man schon ganz schön viel Glauben, um eine Erklärung, ein Modell, eine Meinung für einzig alleine wahr zu halten. In einer technisch-modernen Welt massen- und multimedial verschränkter globaler Wissennetze wird dieser Zustand praktisch erst richtig komplex, wo er doch schon metaphysisch und epistemisch prekär ist. All die groben und feinen Unterschiede verwischen dadurch noch weiter, die Grenzen zwischen den Kategorien bröckeln, die Zäune um die Worte halten nicht mehr stand, kaum noch kann klar getrennt werden, es vermischt sich konfus zwischen Wissen, Fiktion und Information. Die Literatur und ihr Modus der erzählerischen Fiktion; der Journalismus in all seinen Schattierungen und Abarten, seinerseits zwischen Literatur und faktisch-hartem Sachtext, schwankend, grob mittig situiert und im Umgang mit Weltbezug und Erfahrungswert schon auf diese verpflichtet, insgesamt idealerweise informierend; nicht geadelt wie zuletzt die heiligen Hallen der Wissenschaft, wo drei der edleren Kinder der Wahrheit, Erkenntnis, Objektivität und Evidenz, ihr Exil auf Erden gefunden haben. Aber trotzdem, es bleibt dabei, ist das berechtigte Zweifeln keine Legitimation für generellen, überall und nirgendwo Verschwörung witternden Aber-Glauben, der letztlich an Relativismus und Nihilismus gleichermaßen grenzt, der sich schlimmer und plumper noch als die im Vergleich komplexen wie traditionsreicheren Religionen am menschlichen Bewusstsein versündigt. Positive Simplifizierung, das ist die Anklage, die ich feierlich erhebe. Mit Glück teilt ein mit (Un-)Glauben überfüllter Geist wenigstens binär, beispielsweise zwischen wahr und falsch, gut und böse, faktisch und fantastisch, aber auch Dinge wie ich und du, wir und sie, Freund und Feind; damit sind immerhin verblüffende 50% vs. 50% der Welt differenziert worden – Glückwunsch!

Ontologisch unterkomplex und -determiniert, alles in allem ungenügend bis unbefriedigend, schließe ich fremd- wie selbstkritisch urteilend den philosophischen Anfall beinahe wieder ab. Wer glaubt sich selbst, irgendetwas wirklich restlos verstanden zu haben? Ein paar Wissensgebiete, ein paar Hobbys und natürlich der Beruf, dabei kommt Ottonormalbürger unter 10% Differenzierung bzw. 90% Verständnis, wie ein freimütiger Onto-Epistemologe mathematisch-allegorisch zu überschlagen wagt. Mal ehrlich, mehr als 25%=1/4 Begriffstunterscheidungen in einem beliebigen Phänomenbereich oder an guten Tagen in lichten Momenten dort und natürlich bei Steckenpferden 12,5%=1/8 Differenzierung trau ich mir selbst nicht zu – aber etwas mehr als so manche (Welt-)Religion das in vielen Lebensbereichen tut, habe ich und haben wir damit immerhin schon mal geschafft. Bevor ich, in spiegelnder Wasseroberfläche mich verlierend, den roten Faden, an dem der Textgegenstand angebunden sein sollte, verliere: Husch, husch zurück zum Argumentationsgang.

Statischtisch betrachtet, soviel dient hier wirklich die Mathematik als Zugang, werden solche Existenzerklärungsmodelle an Genauigkeit und Fehlertoleranz nur von reinem Wahnsinn (0%=0 und 100%=1) über- oder unterboten – was jeweils perspektivisch gefällt, denn Wahnsinn hat auch so seine Potenziale. Ich jedenfalls weiß nicht, Gott bewahre, allerdings glaube ich zum Teufel noch mal, dass die Welt (noch) nicht so leicht zu kontrollieren ist, wie das die typischen Verschwörungstheorien impliziert. Nur in der Literatur funktioniert das so schön und reibungslos, das nennt sich Plot, Story oder Handlung. Solchermaßen glatt, genial und gleichförmig wie die pyramidalen Machtstrukturen der Welterklärung aufgebaut sind, die Verschwörungstheorie und Monotheismen gleichermaßen gerne für sich und ihre Anhänger konstruieren, ist die Welt nicht, geschieht der Leben nicht. Mit solchen kontrastreichen, schönen Weltbildern schützt sich der selbstverliebte und ängstliche Geist vor der Entropie dort draußen in der Wildnis der Existenz, wo sich Sein und Werden mischen. Letztlich sind alle Weltsichten die Innen- und Außenwelt, respektive die in Frage stehenden Phänomenmengen der Welt auf weniger als 33%=1/3 Begriffe hin unterscheiden und diese allseitig anerkennen, dubios. Sie sind eine einfache und bequeme epistemische Option oder lustiger formuliert, eine Wette auf die Wahrheit der eigenen Sache. Alles oder Nichts! Sinn und Bedeutung sind möglich, das muss ich abermals betonen, sonst missversteht man mich am Ende noch falsch. Wäre dem nicht so, was wollte ich sagen außer: nein, aber, nicht, kein, zu wenig? Abstrakt und philosophisch zusammenfassend ausgedrückt gilt es, ohne ungebührliche (>33%=Begriffsdifferenzierung der Phänomenmenge) Vereinfachung die Vieldimensionalität der Existenz (Sein+Werden+Bewusstsein) anzuerkennen.

Damit kehre ich ausdrücklich zurück auf den konkreten Gegenstand, den ich am Ende des roten Fadens soeben hinter dem philosophischen Bombast wiederentdeckt habe. Nun löse ich endgültig das zuvor nach der nun wohl erwiesenermaßen berechtigten  Warnung gegebene Versprechen wirklich ein und beende den notwendigen Exkurs wider die Einfältigkeit.

Ich behaupte anschaulich und gelegentlich aus dramaturgischen Gründen etwas derb: Es sind so verdammt viele unterschiedliche Akteure mit verflucht vielen unterschiedlichen Interessen im Spiel um Welt involviert, dass hier einfache Wahrheiten pures Gift für den Geist sind. Die Weltpolitik im medialen Zerrspiegel erblicken zu wollen und zu können, ohne Verschwörungstheorien zu erliegen, ist Bürgerpflicht. Auf die Masse an poltischen Wettkämpfern kommen immer mehr Bürger, die aufpassen könnten, auch wenn letztlich die großen Wettbüros allesamt gleichermaßen über den Tisch ziehen. Zudem treten sie alle in unterschiedlichsten Disziplinen auf wechselndem Spielplatz gegen- und miteinander an. Es gibt stärkere und schwächere Kontrahenten, das zwar, aber weder klare Regeln, noch genug effektive Schiedsrichter, nicht einmal der Einsatz und der Gewinn sind kalkulierbare Größen. Bei solchen nur vagen Voraussetzungen wage ich für meinen Teil keine Wette mit dem gefühlten Einsatz von Leben und Seelenheil, selbst wenn Recht, Gott und Wahrheit als Hauptpreise locken.

Schließlich schließt sich der Bogen zum Beginn und zum rahmende Text-Fast-Food mit einem langen und breiten Umweg über meine wildphilosophische Weigerung, mich als »Verschwörungstheoretiker« beschimpfen lassen zu wollen. Stattdessen habe ich den Weg des »Terroristenverstehers« gewählt. Der bisher verschwiegene und laue dritte Weg, der über die breit ausgetretenen Pfade politischer Korrektheit, bequemer Naivität und purer Ignoranz führt, stand für mich außer Frage. Er behagte mir trotz entgangener Lockungen wie kumpelhaftes Schulterklopfen, gütiges Kopfnicken und Unmengen Likes noch nie und nicht im Geringsten.

Also führt die Route auf den steinigen Rundkurs des Verstehenwollen ohne Hoffnung auf absolutes Verständnis, dabei hin und her, vom Sender zum Empfänger und wieder zurück, immer mit Rückblick auf die Strukturen der beteiligten (Mutter-)Sprachen, getragen von Respekt, Offenheit und Neugierde. Solche (Dis-)Kurse führen notgedrungen auf die Aussagen des anderen, verpflichten sich auf aktives Zuhören und eine Auseinandersetzung mit dem Gegenüber, je primärer, desto besser; je reicher an Quellen, desto besser. Unser Text-Attentäter und in ich in seinem Gefolge begnügen uns zunächst mit lediglich zwei Zugänge zur prekären Frage nach dem Terrorismus. Nun sind wir fast angelangt am zweiten Text-Fast-Food, dem angekündigten Primärmaterial.

Medienkritik spielt hier weiterhin eine wichtige Rolle, ist jedoch neben einer expliziten Stelle eher impliziter Metatext zum Interview. Geführt wurde es mit einem möglichen Terroristen, der wiederum gegen viele andere Terroristen kämpft, durch einen Vertreter aus der Rige des sog. Qualitätsjournalismus. Die Zeilen machen einen anderen Blick auf den Terror möglich, zeigen, durch die rhetorische Brechung des westlichen Journalisten hindurch, einen geschickt wie zynisch argumentierenden Diktator mit Terrortendenz. Dieser ist zuvor, oben im ersten Bezugstext medienkritisch relativiert und als Opfer manipulativer Verunglimpfung und weltpolitischer Schachzüge in Schutz genommen worden. Lesen oder hören wir nun also selbst frisches Denkmaterial für potenzielle Terroristenversteher. Es wurde lediglich übersetzt und wird nur ein bisschen zur Selbstinszenierung missbraucht.

Wie das Pamphlet gegen Verschwörer praktisch ausgelegt gebietet, dürfen Menschen und Kollektive weder als Teile eines unilateralen Puppenspiels, noch per se als die Bösen, nein Wilden, bloße Tiere oder grausame Monster betrachtet werden. Den Versuch, das zu vermeiden, wage ich immer wieder gerne. Beim Projekt, ein Verstehen von Baschar el-Assad voranzutreiben, stößt man bei gründlichem Hinhören auf zwar überspitzte, aber im Grunde überhaupt nicht so unzivilisiert und bestialisch klingende Bekundungen. Wie viel Ehrlichkeit diese Aussagen begleitet, bleibt – so ist es halt – medial-verworren und damit ungewiss, es sei denn, sie haben einen Augenzeugen oder Experten ihrer Wahl zur Hand, der zutiefst vertrauenswürdig, unbestechlich und unabhängig ist. Inwieweit diese Person existiert, hängt von der Wahl des Weltbildes bzw. des Existenzmodells ab, sie muss jedenfalls phänomenal umfassend im Bilde sein.

Neugier, Neutralität und Nachdenken – in dieser Reihenfolge versuche ich das Verstehenwollen von Terroristen und -anwärtern zu betreiben. Wenn Ereignisse nicht einfach und erst recht nicht leicht sind und also nicht elegant verklärt werden können, dann muss man, dann sollte man, dann darf man sich selbst erkundigen. Aufklärung tut Not, so viel wissen wir seit Jahrhunderten, aber ist das Motiv genug, sich wirklich selbst darum zu bemühen. Den wohlverdienten Feierabend für Recherche und Lektüre zu nutzen, anstatt es sich einfach gut gehen zu lassen, unterscheidet zwar nicht vom Verschwörungstheoretiker, macht aber noch lange keinen Terroristenversteher. Was also ist nötig und vor allem ist das irgendwie gefährlich?

Ja und viel, lauten die Antworten in Kurzform. Kurz und knapp ausgeführt ist die Langform: Gewissheiten und kostet der Schritt jeden, Zweifel gibt es dafür zuhauf, simpler Trost und manche behagliche Fantasie gehen einem verloren, bisweilen entfernen sich bei redseligen Gemütern sogar Freunde und insbesondere Verwandte sind betroffen, Kunden und Chefs mögen solcherlei Querelen auch nicht unbedingt. Aus pragmatischer Hinsicht sind also ein mental bis sozial dickes Fell und vor allem die Fähigkeiten der Diplomatie, der selektiven Heuchelei und der rhetorischen Blendung ein notwendiges Rüstzeug für die Reise in die Welt jenseits von Gut und Böse. Fantasie und Freizügigkeit, Furchtlosigkeit und Frechheit kommen beim Spielen, Spekulieren, Kritisieren und Reflektieren auf kognitiver Ebene zum Einsatz. Besonderes Merkmal dieser Haltung ist die stete Dynamik, die sie dem Verstehensaspiranten gnadenlos abfordert, denn gedanklich stillzustehen, an- und innezuhalten und sich bequem mit einer schmackhaften Erkenntnis oder einer deftigen Negation labend auszuruhen, ist verpönt. Fremd- und Selbstkritik folgen einander im raschen Wechsel. Frage, Einwand und Argument sind beherrschende Funktion der Sprache, Differenz, Wurzel und Wahrscheinlichkeit ständige Operationen. Wo Empathie und Zynismus sich noch zögerlich die Hände reichen, umarmen sich Ethik der Menschlichekit und Zerstörungswut fremden Gedankeneigentums bereits innig und Spott, Trost, Streit sowie Versöhnung kopulieren wild. Willkommen in der wunderbaren Welt abstrakt-öbszöner Idealisierungen.

Aber auch hier lockt erstrebenswerter Gewinn und sicherlich noch der ein oder andere Kollateralnutzen: Freiheit des Geistes plus Offenheit des Bewusstseins multipliziert mit mentalem Zirkeltraining minus Vorurteil, Intoleranz und Narzissmus, zuletzt geteilt durch Gewaltverzicht, Geduld und Gastfreundschaft. Terroristenversteher neigen aus augenfälligen Gründen auch dem Verständnis für Flüchtlinge, Verräter und dem x-beliebigen Sünder im Allgemeinen zu.

Nun also, auf, auf! Die Gedankenpraxis steht klar im Vordergrund aller Verständnisambitionen, deren Ausübung sollte durch mich nicht länger textend hinausgezögert werden. Leset also, wie sich der Präsident Syriens öffentlich rechtfertigt, der seit gut 5 Jahren Krieg gegen sein eigenes Volk führt oder wie er sich ausdrückt, gegen die Teile der Bevölkerung, die zu Terroristen geworden seien und deren ausländische Unterstützer. Gemeinsames Ziel dieser Allianz sei es, auf dem Weg eines instrumentellen Terrorismus wandelnd die Verfassung des Staats Syrien nicht nur zu bedrohen, sondern nach ihrem Willen umzugestalten oder zur Not zu vernichten. Was er wohl ist, der Herr Präsident: Verschwörungstheoretiker, Terroristenversteher, Terrorist oder etwas ganz anderes, wie eventuell Alawit, Zahnarzt, Vater oder Mensch?

Nacht-diskursiv ermüdet und medial ver(un)sichert, Euer Satorius


ARD: Nehmen wir einmal an, Herr Präsident, ich wäre nicht ein Terrorist vom IS und der Al-Nusra-Front, sondern ein Aufständischer der Freien Syrischen Armee: Was sollte ich tun, damit Sie mich wieder als syrischen Zivilisten akzeptieren?

 

Assad: Legen Sie einfach die Waffen nieder – ob Sie nun am politischen Prozess teilnehmen möchten oder sich für diesen gar nicht interessieren, ob Sie überhaupt keine politische Agenda verfolgen – das spielt keine Rolle. Das Wichtigste für mich ist aus rechtlicher und verfassungsrechtlicher Sicht und im Hinblick auf das Interesse des syrischen Volkes und die in jedwedem Staat geltenden Grundsätze, dass Sie als Bürger nicht das Recht haben, mit Maschinengewehren herumzulaufen und diese gegen Menschen und deren Besitz zu richten. Mehr verlangen wir nicht. Wir verlangen überhaupt nichts. Wie schon gesagt, bekommen Sie eine uneingeschränkte Amnestie, und das ist auch schon der Fall gewesen. Sie sind der syrischen Armee beigetreten, und einige von ihnen auch dem politischen Leben.

 

[…]

 

ARD: Warum kann die syrische Regierung nicht akzeptieren, dass man es mit zwei verschiedenen Gruppen zu tun hat: Auf der einen Seite mit den Terroristen vom IS und der Al-Nusra-Front und auf der anderen Seite mit den Aufständischen, die, sagen wir, ziviler sind? Warum sagen Sie immer, Sie bekämpften lediglich Terroristen?

 

Assad: Wer bewaffnet gegen Zivilisten oder gegen privates oder öffentliches Eigentum vorgeht, ist von Rechts wegen ein Terrorist. Ich glaube, das ist bei uns nicht anders als in Ihrem Land. Sie akzeptieren bei Ihnen auch nicht, was man Aufständische nennt. Sie haben zwar eine Opposition, akzeptieren jedoch nicht, dass eine sogenannte „gemäßigte Opposition“ sich bewaffnet, um ihre Ziele zu erreichen. Das wird in keinem Land geduldet. Soweit ein Aspekt ihrer Frage.

 

Nun der andere: Wir bezeichnen nicht jeden Militanten als Extremisten. Es ist die Mehrheit derer, die über das Terrain die Kontrolle übernommen haben – das sind ausschließlich diese extremistischen Gruppen. Der andere Teil, den man als gemäßigt hervorgehoben hat, ist irrelevant und ohne Bedeutung. Sie haben gar keinen Einfluss vor Ort, so dass dort die meisten sich den Extremisten anschließen müssen – nicht weil diese Extremisten sind, eher vielleicht aus Angst oder wegen des Geldes oder eines Soldes. Daher sagen wir, dass wir die Extremisten bekämpfen, da der wahre Feind, nämlich der Terrorismus, aus diesen terroristischen Gruppen besteht – vorwiegend IS und al-Nusra aber auch Ahrar al-Sham sowie Jaish al-Islam.

 

[…]

 

ARD: Ich war im Jahre 2012 hier, als die ersten Parlamentswahlen stattfanden. Wie können Sie in Zeiten des Bürgerkrieges Wahlen abhalten?

 

Assad: Zunächst einmal gibt es keinen Bürgerkrieg, da die Definition nicht stimmt. In einem Bürgerkrieg sind gewisse Linien zu erkennen, gesellschaftliche Linien je nach religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit, oder andere, vergleichbare Linien. Diese haben wir derzeit jedoch nicht, da in den durch die Regierung kontrollierten Gebieten das gesamte Spektrum der syrischen Gesellschaft in all seiner Farbenvielfalt abgebildet ist. Mit der Definition „Bürgerkrieg“ liegen Sie daher nicht richtig. Tatsächlich muss es heißen „die Terroristen gegen den Rest“.

 

Zweitens zu den Wahlen: Die sind ja zunächst einmal keine Freizeitbeschäftigung und folgen nicht aus der Auffassung des Präsidenten oder aus der Stimmung in der Regierung. Damit haben sie gar nichts zu tun, sondern sie sind Ausdruck der Verfassung. In unserem Krieg geht es um die Unabhängigkeit unseres Landes, denn man – das heißt andere Länder und vor allem der Westen, Saudi Arabien und Katar – will die Regierung und den Präsidenten absetzen.

 

Man will den Staat zerstören und aus Syrien ein nach Religionen geteiltes Land wie den Libanon und vielleicht den Irak machen. Die Verfassung ist heute ein Symbol der Einheit und der Souveränität, und das Symbol für ein unabhängiges Land. Wir müssen uns an die Verfassung halten. Verfassung ist jedoch nicht das, was auf dem Papier steht, sondern die Art, wie man damit umgeht. Dazu gehören auch die Wahlen, und diese sind kein Recht der Regierung sondern das Recht jedes einzelnen syrischen Bürgers. Die Bürger entscheiden darüber, ob sie Wahlen wollen oder nicht. Und egal, welchen Syrer Sie fragen – sie alle wünschen sich ein neues Parlament.

 

[…]

 

ARD: Die überwältigende Mehrheit der Länder und der Organisationen in aller Welt sagen, es werde womöglich keine Lösung für Syrien geben, solange Sie an der Macht sind. Sind Sie zum Rücktritt bereit?

 

Assad: Für die genannten Länder und Offiziellen? Nein, natürlich nicht, denn das geht sie gar nichts an. Deswegen habe ich darauf nie reagiert. Wir hören diese Dinge jetzt seit fünf Jahren und es ist uns egal, was von dort kommt. Das ist nur unsere Sache, die Sache Syriens. Nur die syrischen Bürger haben das Recht zu befinden, wer ihr Präsident sein soll. Als Deutscher lassen Sie sich auch nicht von mir oder von wem auch immer sagen, wer bei Ihnen Kanzler sein soll und welches politische System Sie wollen. Das akzeptieren Sie nicht und das akzeptieren auch wir nicht. Also noch einmal: Nein – was immer von denen zu hören ist – mein politisches Schicksal hat nur mit dem Willen des syrischen Volkes zu tun.
… aber wenn es das syrische Volk will

 

ARD: Aber allgemein gefragt: Wären die Bedingungen so, dass das syrische Volk Ihren Rücktritt will – wären Sie dann dazu bereit?

 

Assad: Ja natürlich, keine Frage. Wenn das syrische Volk will, dass ich diesen Platz räume, dann habe ich das sofort und ohne Zögern zu tun. Wollen Sie als Offizieller, als Präsident, als gewählter Regierungschef oder was auch immer erfolgreich sein, dann brauchen sie die Unterstützung der Öffentlichkeit. Ohne diese erreichen sie gar nichts. Was könnten sie dann überhaupt anfangen? Die Dinge sind also eng verknüpft – der Wille der Bevölkerung und ihre Aussichten, etwas zu Stande zu bringen – beziehungsweise erfolgreich zu sein.

 

[…]

 

ARD: Hätte Deutschland – allgemein gesprochen – bezüglich der gesamten Syrien-Frage eine besondere Rolle zu spielen, oder ist es lediglich ein weiteres Land wie die USA und Saudi Arabien?

 

Assad: Wir hoffen, dass jedes Land eine Rolle spielen kann, insbesondere die Länder Europas und die wichtigsten Länder in der EU wie Deutschland mit der stärksten Wirtschaft, das vermutlich in der EU nicht nur wirtschaftlich sondern auch politisch die führende Rolle spielt. Praktisch gesprochen sehen wir eine solche Rolle allerdings noch nicht, da dies den entsprechenden Willen voraussetzt und der Wille mit Unabhängigkeit zu tun hat

.

Es stellt sich die Frage, wie viele europäische Politiker von der Haltung der USA unabhängig sind. Was wir bisher erkennen können, ist nicht mehr als die Kopie dessen, was amerikanische Politiker sagen – und dessen was sie tun. Das ist alles, was wir erkennen können. Ich kann also nichts zu einer möglichen Rolle sagen, wenn die Unabhängigkeit fehlt.

 

[…]

 

ARD: Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen sagt, im Jahre 2015 seien 94 Krankenhäuser mit staatlicher Hilfe bombardiert worden. Wie ist so etwas möglich? Sie können doch nicht behaupten, dass all diese, sagen wir einmal, Kriegsverbrechen lediglich durch die US-geführte Koalition verübt wurden. Einen Anteil daran hatten doch auch Russland und Syrien.

 

Assad: Tatsächlich wissen wir bei dem einen, insbesondere bei diesem besonderen Zwischenfall nicht, wer verantwortlich war. Aber wenn wir das wollten, hätten wir schon lange die Gelegenheit dazu gehabt. Wir sind doch hier und hätten das immer schon machen können. Es gab für uns keinen Grund, ein Krankenhaus anzugreifen.

 

Natürlich ist das, was Sie als Verbrechen erwähnen, ein Verbrechen, aber es kommt darauf an, von welchen Kriterien man diese Definition abhängig macht. Nach unseren Kriterien handelt es sich um ein Verbrechen. Nicht jedoch nach den Kriterien des Westens, und dies aus einem einfachen Grund: Der Westen hat bisher den Krieg gegen den Irak im Jahr 2003, während dessen mehr als eineinhalb Million Menschen umgebracht wurden, zu keinem Zeitpunkt als Kriegsverbrechen eingestuft. Ebenso wenig hat man das im Jemen getan, wo die Saudis Gräueltaten begangen haben. Und auch nicht in Syrien: Wenn die Aufständischen Tausende von Unschuldigen mit Granaten und Selbstmordattentätern umbringen, dann spricht man dort offen gesagt auch nicht von Verbrechen. Es ist also eine Frage der Kriterien. Nach unseren Kriterien ist jeder ein Verbrecher, der solche Taten verübt.

 

ARD: Zur Klarstellung – die meisten Kriegsbeobachter sagen, die syrische Armee und die russische Luftwaffe seien dafür verantwortlich – und zwar nicht als Kollateralschaden, denn das Bombardieren von Schulen und Krankenhäusern sei Teil ihrer Kriegsstrategie. Lastet da nicht ein hohes Gewicht auf Ihren Schultern?

 

Assad: Angesichts eines solchen Diskurses müssen Sie sich eine einfache Frage stellen: Was würde uns das bringen? Welches Interesse könnten wir daran haben? Aber ganz unabhängig davon und wenn wir Werte und Prinzipien einmal bei Seite lassen, so müssen wir doch erkennen, dass der Staat diese Gebäude errichtet hat und dass er sie für die Menschen und für sich selbst benötigt. Wenn er die Menschen auf seiner Seite wissen will, dann muss er ihnen ein Minimum an Infrastruktur und an Dienstleistungen bieten. So einfach ist das. Aber unabhängig davon bleibt doch die Frage, was uns das bringen würde. Wir würden nur verlieren und gar nichts gewinnen. Wir haben also keinerlei Interesse an einem derartigen Vorgehen.

 

[…]

 

ARD: Schauen wir fünf Jahre zurück in die Zeit, als die Aufstände in der arabischen Welt begannen, und zwar auch in Daraa im Süden Syriens und an der Grenze zu Jordanien. Wir haben den Eindruck, dass dort ein paar übermütige Jugendliche Graffitis an eine Mauer sprühten und dafür inhaftiert wurden. Als ihre Eltern sie zurückhaben wollten, haben die Sicherheitskräfte mit äußerster Härte zurückgeschlagen. War es klug, derartige Verrücktheiten von jungen Menschen so hart zu bekämpfen und damit den Startschuss für den Bürgerkrieg zu geben?

 

 

Assad: Zunächst einmal hat es die ganze Geschichte gar nicht gegeben. Sie ist einfach nicht passiert, sondern war reine Propaganda. Wir haben davon gehört, aber nie auch nur eines dieser Kinder gesehen, die ins Gefängnis gekommen sind. Es war eine Lügengeschichte. Angenommen, das nicht Geschehene sei geschehen – vergleichen wir es dann doch einmal mit den Ereignissen in den USA im vergangenen Jahr, wo alle über die Tötung vieler Schwarzer durch die Polizei diskutierten, die in den USA von sehr vielen Menschen verurteilt wird.

 

 

Hat da etwa irgendjemand den Leuten gesagt, sie sollten sich Maschinengewehre besorgen und andere Menschen umbringen, nur weil der Polizeibeamte einen Fehler begangen hat? Das ist natürlich keine Entschuldigung. Also – geschehen ist das Erwähnte nicht, wäre es jedoch geschehen, so wäre es kein Vorwand für irgendjemanden, sich zu bewaffnen, gegen die Regierung zu kämpfen und unschuldige Zivilisten zu töten.

 

 

Und die nächste Frage, welche Gegenmaßnahmen würden Sie ergreifen, wenn auf Ihren Straßen Menschen andere Menschen umbringen und sich an fremdem Besitz vergreifen. Sagen Sie denen: „Macht, was ihr wollt. Wir sind offen für alles. Und reagieren werden wir auch nicht“? Das wäre nicht in Ordnung. Wir haben da keine Wahl: Wir müssen ihnen Einhalt gebieten und sie am weiteren Töten hindern. Andererseits kommen sie mit Maschinengewehren, und da können wir sie nicht mit Luftballons bekämpfen. Gegen diese militanten Kräfte können wir nur mit unseren eigenen Waffen angehen. Eine Alternative hatten wir seinerzeit nicht.

 

 

Auszüge aus dem ARD-Interview von Thomas Aders mit Baschar al-Assad am 28.02.2016 in Damaskus (Direktlink zur Quelle)

Wahr oder unwahr – das ist hier die Interpretation

Entbirgt Sprache Seiendes, bezeichnen Worte Bedeutungen, ja einen fundamentalen Sinn, der hinter ihrer Lautgestalt und den zur Konservierung verwendeten Buchstaben zu Grunde liegt, fern allen arbiträren Zufällen? Ja, sagt Gadamer und ist damit der gleichen Ansicht wie die meisten unter uns; Nein, sagen hingegen auf ihre je ganz eigene Weise sowohl Derrida als auch Nietzsche, uvm.

Ich bin da höchst ambivalent, wandle mich, wende mich von der Mehrheit ab und tendiere zunehmend zur Fraktion der Skeptiker. Ich hoffe noch auf die monistische Kraft der Sprache, sei sie gesprochen oder geschrieben, befürchte jedoch, dass sich ihre „absolute Wahrheit“ letztlich performativ-paradox verflüchtigen wird. Um es positiv zu wenden: Ich glaube pragmatisch an die kommunikative Funktion, wie ich moralisch von der Möglichkeit und Notwendigkeit einer vernünftigen Verständigung überzeugt sein möchte; halte zudem eine von totalitären Zwängen befreite Sprache für wünschenswert, weil sie frei wäre für Neuheit, Zukunft und Fortschritt, aber auch für ein bloßes Spielen im Garten der rhetorischen Künste, insbesondere im Sandkasten poetischer und literarischer Leichtigkeiten.

Mit einer Zitatmontage gesprochen: Ist eine Rose eine Rose und wird immer eine Rose bleiben oder könnte dereinst eine Rose etwas anderes sein, vielleicht gar eine Rose?

Es mag Bereiche geben, in denen zu Recht auf Exaktheit und Stabilität von sprachlichen Zeichen gepocht wird: Recht, Mathematik, naturwissenschaftlich-technische Disziplinen, analytische Philosophie und dergleichen mehr, dennoch sollten wir zusammen mit den Sprachkritikern anerkennen, dass ein lebendiger Austausch zwischen Subjekten sich weder auf objektive, noch gar auf totale Gewissheiten reduzieren lässt. Im Zweifelsfall muss man darüber reden, nachhaken, fragen, dabei stotternd, erklärend und um Verständigung ringend, immer der Möglichkeit gewahr, dass die eigene Interpretation fehlgehen könnte, daneben liegen können muss. Je mehr Zurückhaltung ist dabei angeraten, desto fremder der Mensch, desto indirekter und technischer das Medium des Gesprächs, desto größer die eigenen Erwartungen, das eigene Ego.

Also kurz und gut: Nehmt mich, meine und die Sprache überhaupt nicht sonderlich ernst; habt allem voran Freude im spielerischen Umgang mit Sender, Empfänger und eurem Medium, vertraut auf die gelingende Praxis und lasst die Theoretiker in ihren kargen Kämmerlein einsam, trost-, furcht- und fruchtlos vor sich hingrübeln!

Im wilden Wechsel von dunklem Sinn und lichtem Unsinn, Euer Satorius


Natürlich hat Gadamer auf seine Weise recht. Wer redet, will verstanden werden. Nur, wie Derrida sogleich bemerkt hat, der Wille ist ein äußerst fragwürdiger Garant dafür, dass das Verstandenwerden auch realisiert wird. Wieso sollte der Wille des einen den anderen verpflichten? Und außerdem: Wieso sollte man eigens etwas wollen, zu dem soweiso alle verpflichtet sind. Die Garantie auf Verständigung, die der Wille geben soll, muß den weiten Umweg über die Installation als transzendentalpragmatische Norm nehmen, um den Leser überhaupt zu erreichen. Und selbst dann hängt alles davon ab, ob er auch bereit ist, sich der Norm zu fügen. Das aber ist zunehmend unwahrscheinlich. Es genügt jemand wie Nietzsche, der kurzerhand erklärt:

„Man will nicht nur verstanden werden, wenn man schreibt, sondern ebenso gewiss auch nicht verstanden werden.“ (Nietzsche: KSA 3, S. 633)

Den Preis den Gadamers Hermeneutik entrichtet, um der Möglichkeit der Alternative von Verstehen und Missverstehen zu entgehen, besteht letztlich in der Streichung des Lesers als Adressaten der Interpretation, und zwar zugunsten von Sedimenten des Seins, die sich an seinen Entscheidungsspielräumen vorbei in ihm ablagern.

„Die eine träumt davon, eine Wahrheit und einen Ursprung zu entziffern, die dem Spiel und der Ordnung des Zeichens entzogen sind, und erlebt die Notwendigkeit der Interpretation gleich einem Exil. Die andere, die dem Ursprung nicht länger zugewandt bleibt, bejaht das Spiel und will über den Menschen und den Humanismus hinausgelangen, weil Mensch der Name des Wesens ist, das die Geschichte der Metaphysik und der Onto-theologie hindurch, das heißt im Ganzen seiner Geschichte, die volle Präsenz, den versichernden Grund, den Ursprung und das Ende des Spiels geträumt hat.“ (Derrida: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen. In: Die Schrift und die Differenz, S. 441)

Matthias Schöning, Gesten der Interpretation, Gadamer und Derrida, S. 6f.

Trübsinnig-tristes Epochenquartett

125.
Der tolle Mensch. − Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: „ich suche Gott! Ich suche Gott!“ − Da dort gerade Viele von Denen zusammen standen, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein grosses Gelächter. Ist er denn verloren gegangen? sagte der Eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der Andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? − so schrieen und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. „Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, − ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch Nichts von dem Lärm der Todtengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch Nichts von der göttlichen Verwesung? − auch Götter verwesen! Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet, − wer wischt diess Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnfeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Grösse dieser That zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine grössere That, − und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser That willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!“ − Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, dass sie in Stücke sprang und erlosch. „Ich komme zu früh, sagte er dann, ich bin noch nicht an der Zeit. Diess ungeheure Ereigniss ist noch unterwegs und wandert, − es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Thaten brauchen Zeit, auch nachdem sie gethan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese That ist ihnen immer noch ferner, als die fernsten Gestirne, − und doch haben sie dieselbe gethan!“ − Man erzählt noch, dass der tolle Mensch des selbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur diess entgegnet: „Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?“

Friedrich Nietzsche (1844 – 1900), Fröhliche Wissenschaft, S. 86 (la gaya scienza; 1882)


Die Krähen schrei’n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnei’n –
Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat!

Nun stehst du starr,
Schaust rückwärts ach! wie lange schon!
Was bist du, Narr,
Vor Winters in die Welt – entflohn?

Die Welt – ein Tor
Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer Das verlor,
Was du verlorst, macht nirgends Halt.

Nun stehst du bleich,
Zur Winter-Wanderschaft verflucht,
Dem Rauche gleich,
Der stets nach kältern Himmeln sucht.

Flieg‘, Vogel, schnarr‘
Dein Lied im Wüsten-Vogel-Ton! –
Versteck‘ du Narr,
Dein blutend Herz in Eis und Hohn!

Die Krähen schrei’n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnei’n –
Weh dem, der keine Heimat hat!

Friedrich Nietzsche (1844 – 1900), Die Krähen schrei’n – Vereinsamt – Der Freigeist – Abschied – Heimweh – Aus der Wüste, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden – KSA. Band 11: Nachgelassene Fragmente, 1884 – 1885, S. 329 (1884 – 1894)


Auf einem Häuserblocke sitzt er breit.

Die Winde lagern schwarz um seine Stirn.

Er schaut voll Wut, wo fern in Einsamkeit

Die letzten Häuser in das Land verirrn.

Vom Abend glänzt der rote Bauch dem Baal,

Die großen Städte knieen um ihn her.

Der Kirchenglocken ungeheure Zahl

Wogt auf zu ihm aus schwarzer Türme Meer.

Wie Korybanten-Tanz dröhnt die Musik

Der Millionen durch die Straßen laut.

Der Schlote Rauch, die Wolken der Fabrik

Ziehn auf zu ihm, wie Duft von Weihrauch blaut.

Das Wetter schwelt in seinen Augenbrauen.

Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt.

Die Stürme flattern, die wie Geier schauen

Von seinem Haupthaar, das im Zorne sträubt.

Er streckt ins Dunkel seine Fleischerfaust.

Er schüttelt sie. Ein Meer von Feuer jagt

Durch eine Straße. Und der Glutqualm braust

Und frißt sie auf, bis spät der Morgen tagt.

Georg Heym (1887 – 1912), Der Gott der Stadt, in: Der ewige Tag, S. 13 (1911)


Zuerst die wirre Prophetie des nahen Todes, dann die ahnungsvolle Kühle des spürbaren Verfalls, zuletzt das ungestüme Wüten einer neuen götllichen Tyrannis – bis wohin hat sich das Rad der Zeit wohl für uns im 21. Jahrhundert weitergedreht?

Ewige Wiederkehr, dekadente Degenration oder zivilisatorischer Fortschritt sind die abstrakten, allzu reinen Denkmöglichkeiten, die sich einem heutigen Epochenrichter anböten, wollte er ein gutes Jahrhundert nach diesen beiden zugleich sensiblen wie kritischen Geistern neuerlich kulturhistorische Bilanz ziehen. Ich allerdings wage nicht, die Rolle eines solchen Richters zu spielen. Einerseits gebändigt durch intellektuelle Redlichkeit im Angesicht einer komplexen, eben konkreten und nicht abstrakten Wirklickeit, andererseits geblendet und sediert durch all die Waren, Dienstleistungen und Produkte, all die Genüsse, Zerstreuungen und Anhaftungen. Derart werden große (Sinn-)Fragen und die sie tragende grundsätzliche Neugier hart demotiviert, herb deklassiert und heftig desavouiert.

Pah – genug der vorgeschobenen, geradezu beschwörenden Zurückhaltung: Versuch gescheitert! Die Dämme bröckeln und knirschen, brechen sodann; der Gedankenstrom ergießt sich ungebremst und ungeschlacht in die Niederungen, reißt dort angelangt Allerlei mit sich, pflügt Schneisen, schlägt Breschen und erschüttert dabei Stadt wie Land gleichermaßen.

Was also ist geworden, wohin hat es sich entwickelt hier im vermeintlichen Zentrum der Welt, an der Speerspitze der kulturellen Entwicklung und wie sieht es in der Peripherie, im Speckgürtel des globalen Dorfes aus?

Globalisierung, Pluralismus und Liberalismus, dieser Triade voran sind Wachstum, Bildung, Freiheit und Wohlstand derzeit die wohlklingend Substantive, die uns der Zeitgeist anbietet, um die erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts vergessen zu machen. Das nagende Bedürfnis zu vergessen, so nachvollziehbar, so von echtem Leid getränkt oder von bloßem Weltschmerz betäubt es sein mag, sei zugestanden, dennoch bleibt fraglich, was in dessen historischer Folge noch so über uns kam, uns unterwanderte und überflügelte. Was war gewesen, was ist geworden, nachdem sich die ungeheurlichsten Abgründe der tiefsten Höllen, schlimmer als sie fiktiv bis faktisch von Nietzsche bis Heym vorgestellt, ja vorgezeichnet worden waren, zweifach aufgetan und wieder versiegelt hatten? Welche kuriosen Ismen brachen sich wirklich Bahn, welche Götter machte sich die Menschen, die Völker der Erde Untertan, was beeinflusst, bestimmt, beherrscht das zeitgenössische Denken? Ist es einfach, zweifach oder vielfach? Gründen sich Entwicklung und Dynamik in einem dialektisch-strukturalen Schicksal oder folgen sie einer bewussten, gar kontrollierten Entscheidung? Wenn gelenkt, wie wird die Wahl getroffen, in bürgerlicher Freiheit und getragen von politscher Verantwortung oder regiert der Eigensinn und niedere Zwecke? Wie divers sind die regionalen, nationalen und womöglich globlen Spielarten der neuen Weltordnung(en)?

Fragen über Fragen sprudeln munter hervor aus dem geborstenen, mentalen Mauerwerk und unterspülen fröhlich die Fundamente des Selbstverständlichen, plätschern durch die Straßen der Städte und in dringen in die Keller der Menschen.

Für die angemessene, also sachliche und umfassende, Bentwortung der angedeuteten Fragekomplexe sollte mutmaßlich ein Großteil des Arsenals der Wissenschaften in Stellung gebracht werden, müsste sicherlich eine stattliche Phalanx an diversen Disziplinen mobilisiert werden. Oder aber ich eifere den verehrten lyrisch-literarischen Vorläufern nach, verzichte also auf solcherlei hehren Anspruch, entsage einfach und entledige mich solcherart bequem allen Ballasts von Ordnung und Methode, Wissen und Wahrheit. Dieser Entschluss klingt einladend, ja verlockend, transformiert gleichsam die Kraft der intellektuellen Wissbegierde in ästhetische Gewalt, verdichtet und verschiebt die Energie, entspannt den Geist und befreit das Bewusstsein.

Auf, auf also – mitten hinein in ein kreuz- und querreimendes Quartett, getragen von lyrischem Leichtsinn heran an schweres Material: Die Vermessung von Gestern und Heute.

Mit einer Verbeugung vor den Dichtern aller Zeiten und ihren Musen, Euer Satorius


Mars in globaler Totale, schlachtet der Generationen in irdenem Feld.

Prinzen gemeuchelt, geschleudert der Blitz nach Ost wie nach West,

Erschüttert der Welten Kreis, geopfert – zerrüttet, selbst der größte Held.

Papier und Licht, von weiß bis grell, besiegeln blutig den trostlosen Rest.

Brüder, frei und gleich, mit Rosen herzlich vereint, gebunden montan,

Mitsam einigen Rechten, ebenso frei, neu erzogen in goldenen Jahr’n.

Der kalten Götter zwei, Zwillingszwist, drei oder fünf, stehen zur Wahl,   

Dialektisch verschränkt – Prometheus und Mammon Gaia zur Qual.

Vereint der Welt Völker von der Blumen Reigen und der Bürger Marsch.

Hinaus ins Blau, in die Schwärze hinein, Grau-Weiss statt Grün-Braun,

Trikont übt Terror, Eins/Null besiegt den Dezimal, nieder metallener Zaun.

Auf zur Arbeit, hin zum Projekt, Fülle dank Mangel der Pole unartig harsch.

Terror die Zweite, plural Wissen und Welt, untreu gebrochen die Sprachen,

Derweil politischer Götter Zorn die Herzen der Hetzer von Neuem beseelt.

In zyklischer Krisis deprimiert, wachsen wir stetig, kehrt wieder die alte Angst,

bar jeder Utopie, des Eigentums voll, hektisch gefläzt in Karriere und Couch.


Oder, um es in den ebenso kurzen wie inspirierenden Worten einer geschätzeten Praktikantin aus den Reihen der Metatext-Redaktion auszudrücken:

Pummelige Puppen pupsen punktuell pures Pudding-Pulver.

Bhagavad Gita feat. 2016 – Mit vorsätzlichem Edelmut hinein in unausweichliche Exzesse

2. Gesang – Über die Erkenntnis

[…]

Wer jede sinnliche Begier,

O Sohn der Pritha, von sich weist,

In sich und durch sich selbst beglückt,

Den, Tapferer, nennt man fest im Geist.

Wen nie ein Leid erschüttern kann,

Kein Freudentaumel überwand,

Wer frei von Gier, von Furcht und Zorn

Ein „Schweigender“ wird er genannt.

Wer nicht frohlockt, nicht mürrisch wird,

Ob Glück, ob Unglück ihn befällt.

In allem frei von Leidenschaft,

Der heißt, o Freund, ein Geistesheld.

Die Schildkröte, berührt man sie,

Zieht alle ihre Glieder ein,

So halte von der Sinnenwelt,

Wer standhaft ist, die Sinne rein!

[…]

 

5. Gesang – Über die Entsagung

[…]

Entsagung zwar und Tätigkeit,

Sie führen beide wohl zum Heil.

Doch wird vor dem Entsagenden

Dem Tätigen der Preis zuteil,

Wer nicht begehrt und wer nicht hasst,

Übt wahrhaft die Enthaltsamkeit,

Entrückt jedwedem Gegensatz

Er von der Bindung sich befreit.

„Vernunft“ (Sankhya), und „Andacht“ (Yoga),

sondern sich.

Kein Weiser spricht so, nur ein Kind,

Wenn eins von beidem man erlangt,

Man aller beiden Frucht gewinnt.

Gleich stehen, wer „Andacht“ sich

Und wer sich der „Vernunft“ befleißt,

Wer nur ein Ziel in beiden sieht,

O Freund, der sieht mit hellem Geist.

[…]

Dem äußern Sinneseindruck fern,

Mit starrem, unverwandtem Blick,

Den Atem durch der Nase Spalt

Bald vorwärtsstoßend, bald zurück,

Wer Sinne, „Herz“, „Vernunft“ beherrscht,

Von Gier, Furcht, Zorn sich hat befreit

Und einzig die Erlösung sucht,

Der ist erlöst für alle Zeit.

[…]

 

6. Gesang – Über die Meditation

[…]

So sitzt er in Ergebenheit.

Wer so im Geist die Andacht übt

Beherrschten Denkens, frei von Gier,

Der geht zum Frieden, zum Verwehn,

Das wurzelt ganz und gar in mir.

Nicht ist ein Yogi, wer zu viel,

Noch auch wer nichts isst, Ardschuna,

Noch wer zu viel des Schlafes pflegt,

Noch wer stets wacht, o Pandava.

Wer maßvoll speist und sich erholt,

Wer maßvoll handelt jederzeit,

Wer maßvoll schläft und maßvoll wacht,

Bei dem tilgt Yoga jedes Leid.

Wer einen wohlbezähmten Sinn

Im Innern tief befestigt hat,

Von keinerlei Begier befleckt,

Der hat Andacht sich genaht.

„Das Licht am stillen Platz,

Das nicht des Windes Hauch bewegt“,

Ein Gleichnis für den Yogi ist’s,

der steten Sinns der Andacht pflegt.

[…]

 

18. Gesang – Über die Befreiung

[…]

Denn der Verzicht ist dreierlei.

Auf Schenken leiste nicht Verzicht,

Auf Buße noch auf Opferung,

Denn Schenken, Buße und Opfer sind

Der Einsichtsvollen Läuterung.

Doch ohne Hang stets übe sie

Und ohne Rücksicht auf die Furcht,

Das ist der ganz entschied’ne Rat,

O Printhasohn, den du gesucht.

Entsagung vorgeschrieb’nen Werks

In keinem Fall sich gebührt;

Wer aus Verblendung dieses tut,

Der wird durch „Dunkelheit“ verführt.

Wer unbequemes Werk nicht tut,

Weil es dem Leib Beschwerde schafft,

Gewinnt nicht des Verzichtes Frucht,

Denn ihn beherrscht die „Leidenschaft“.

Wer vorgeschrieb’nes Werk vollzieht

Ganz ohne Hang und nur aus Pflicht,

Der übt, weil er nicht Lohn erstrebt,

Den „wesenhaften“ Werk-Verzicht.

Der weise „wesenhafte“ Mensch

Auch unerwünschtes Werk nicht scheut

Und frei von Zweifel, frei von Hang,

Am Angenehmen sich nicht freut.

Kein Sterblicher vermag jemals

Das Handeln aufzugeben ganz,

Doch wer aufgibt den Wunsch nach Lohn,

Der strahlt in des Verzichtes Glanz.

[…]

 

Diverse Brahmanen, Krishna und Co., Robert Boxberger (Übers.) und Helmuth von Glasenapp (Hrsg.) (um das 0, +- 300 Jahre), Bhagavad Gita (Das Lied der Gottheit), in: Mahabharata


Das nenne ich mal große Vorsätze für das neue Jahr, die auf spirituellem Sprachniveau, mit prominetem, historisch tiefem Colorit wunderschön gebunden daherkommen. Vom Ursprung zweier Weltreligionen her rühren die Worte von Krishnas Avatar, der Aruna in höchster Not beisteht und ihn weise bis dogmenbildend belehrt und unterweist.

An dieser Poetik und rhetorischen Gewandheit sollte sich der durschnittliche Bibelautor ein Vorbild nehmen und bei den indischen Urmeistern der Weisheitslehre und Sprachbildung Unterweisung suchen. Ex oriente lux mal wieder und wie immer, aber das ist nur meine bescheiden kommentierende Spöttermeinung: Zurückhaltung und Verzicht, Konzentration und Achtsamkeit, dennoch Fortschritt und Wachstum, diese Formel führt in den westlich-östlichen Divan hinter Postmoderne, Neorealismus und Populismus. Von schamanistischem Ethos in seiner ethnograpischen Breite und historischen Tiefe möchte ich garnicht erst anfangen zu fabulieren.

Was bleibt noch übrig von der technisch-wissenschaftlich-industriellen Modernität westlicher Provenienz nach einer tugendhaften Bereinigung alá Yoga? Wieviel digital naitiv darf der urbane Informationskrieger sein, will er noch yoga genug sein für Krischnas hehre Ideale?

Ein wenig mehr Bewusstsein für Grenzen und Folgen der eigenen Gewohnheiten sind sicher nie schädlich. Wenn dann noch ein Quantum lebenslangen Lernens stattfindet, das nicht einzig durch entfremdete Motive angetrieben wird, begründet sich eine moderne Form von minimalem Moralismus. Er würde sich anschließend an einen Moment der Bekenntnis, motiviert durch die Lust am und auf den nächsten Trippelschritt entlang des acht- oder – zeitgemäß und plural besser formuliert – n-fachen Weges mit diversem Ziel: Selbstvervollkommung, Perfektion, Erwachen, Alchemie des Selbst und dergleichen mehr oder in den nihilistisch anmutenden Worten der Erleuchteten aus dem ferneren Osten im Verwehn, durch Verlöschen – Nirvana lockt.

Bis dahin bleibt noch viel Zeit, für Genüsse, Lüste, Freuden und Begehren, all die schönen, angeblich so leidvollen Anhaftungen und Bindungen des Lebens. Zwischen den besinnlichen Tagen, auf deren Ende wir allesamt nun zusteuern, findet es statt das wirkliche Leben, der Alltag, der sie herausfordert, die ach so schönen und allzu guten Vorsätze, wie groß oder klein, nötig oder nutzlos, ernsthaft oder vorgespielt sie auch sein mögen.

Welchen Pfad ihr Euch für das kommende Jahr auch immer vorgezeichnet haben mögt, ich wünsche Euch, dass ihr ihn nicht gänzlich aus den Augen verliert, wenn ihr die genauso wünschenwerten, weil existenziell erfrischenden Ausflüge fern des Weges unternehmt.

Möge es edel und exzessiv gleichermaßen werden, auf ein existenziell erquickendes 2016, Euer Satorius

 

1 Text, 3 Bilder, 18. Jahrhunderte

Warum ich als Agnostiker wohl so häufig dann doch auf und an biblischen Motiven sowie Texten hängenbleibe? Manchmal glaube ich fast, von diesen verfolgt zu werden, frei nach dem Grundsatz: Wenn du nicht glaubst, dann überfallen wir dich so lange, bis du in deiner Skepsis ermüdest und uns endlich metaphysisch anerkennst.

Dann aber, nach kurzem Innehalten und sanfter Selbstkritik, komme ich zu dem einfachen Schluss, dass es wohl vor allem meine Affinität zu Kultur und Literatur ist, die mich immer wieder auf die mächtigsten Inspirationsquellen Europas zurückverweist. In leicht variierten Sentenzen ausgedrückt:  keine Progression ohne Tradition, keine Zukunft ohne Vergangenheit, keine Erwartung ohne Erinnerung. Außerdem artikulieren sich in mythischen und mystischen Texten immer auch Antworten auf grundlegende Fragen, und was, wenn nicht eine Faszination für die großen und kleinen Fragen der Existenz, ist denn eine zeitlos-allgemeine Qualität von Philosophie?

Nicht zufällig entwickelten sich zwei epochal prägende Stile des (europäischen) Philosophierens in kritischer Auseinandersetzung mit eben solchen, Text gewordenen, religiösen Ideenwelten. Zuerst emanzipierte sich die griechische Philosophie von ihrem epischen Doppel Illias/Odyssee und dem darin konservierten polytheistischen Paradigma und ebnete damit der ersten Blüte der Wissenschaften den Boden; daraufhin – so ein kleines Adverb verpackt hier mal eben fast 2000 Jahre Geschichte – stimulierte die scholastische Theologie des Hochmittelalters eine Loslösung des rationalistischen Denkens von unserer vermeintlich monotheistischen Bibel und verhalf dadurch den Wissenschaften in der Renaissance zur Wiedergeburt und ihrem zweiten, seither ungebrochenen Höhenflug. Wenn ich hierbei die spannende Dialektik innerhalb des zweifachen Weges vom Glauben zur Vernunft unterschlage, so möge man mir das nachsehen. Wollte ich die mannigfachen Oppositionen und Synthesen respektieren, wie sie sich in Denkergegensätzen von Heraklit/Parmenides über Aristoteles/Platon bis später Thomas v. A./Bonaventura zeigten, würde dieser Text hier am Ende kein spielerischer Kommentar, sondern ein ernsthaft ermüdender Traktat, wenn nicht mehr als das.

So grobschlächtig (ver-)kläre ich mir also meine anfängliche Irritation und kann nun wieder beruhigt in religiösen Texten schwelgen, zumal ich mir hier mit einer Passage der Offenbarung des Johannes einen literarisch sehr reizvollen, kryptisch-prophetischen und derzeit voll im Trend liegenden Text vorgenommen habe. Eine dekadente Lust am Weltuntergang zu unterstellen, ist vielleicht zu gewagt, aber eine zeitgenössische Tendenz zu Dystopie und Apokalypse ist spätestens seit dem Jahr 2000 nicht mehr zu leugnen. Ich verzichte hier bewusst auf einen objektiven Blickversuch hinsichtlich der tatsächlichen historischen, ökologischen und politischen Dimension des Untergangspathos und beschränke mich bewusst auf die subjektiv-ästhetische Seite dieses Phänomens. Womöglich unterliegen (nicht nur) solche Vorstellungen einer Art ideengeschichtlicher Konjunktur, womit Derpession und Boom in diesem Kontext einen wortwitzigen Doppelsinn bekommen.

Tröstlich bei all dem biblischen Katastrophismus, der bisher nur angedeutet wurde und gleich Schlag auf Schlag folgen wird, bleibt die exegetische Tatsache, dass die läppischen vier Reiterlein als bloßer Auftakt für spätere, wirklich erschütternde Stufen des Weltuntergangs dienen. Also immer die Ruhe bewahren, wenn Krieg, Hunger, Seuch und Tod umgehen, es könnte weit schlimmer werden. Bevor aber dieser mäßig gebändigte und kaum noch zu strukturierende Gedankensturm restlos chaotisch wird, empfehle ich mich und zugleich einen Blick auf einen Text und drei Bilder, die zusammen schlappe 18. Jahrhunderte überbrücken.

Mit adventlich-apokalyptischen Grüße, Euer Satorius

P.S.: Die Metatext-Redaktion wird im Laufe der nächsten Wochen hoffentlich ihren Dienst wieder aufnehmen, nachdem sich die reaktionellen Mitglieder von ihrer katastrophalen Reise erholt haben werden. Ihre physische und psychische Gesundheit ist derzeit schon nahezu wiederhergestellt und wird sich dann im saftig verspäteten Beitrag zum ersten Jahresjubiläum von Quanzland (15.10.2015) zu bewähren haben.


 

Und ich sah, daß das Lamm der Siegel eines auftat; und hörte der vier Tiere eines sagen wie mit einer Donnerstimme: Komm! Und ich sah, und siehe, ein weißes Pferd. Und der daraufsaß, hatte einen Bogen; und ihm ward gegeben eine Krone, und er zog aus sieghaft, und daß er siegte.
Und da es das andere Siegel auftat, hörte ich das andere Tier sagen: Komm! Und es ging heraus ein anderes Pferd, das war rot. Und dem, der daraufsaß, ward gegeben, den Frieden zu nehmen von der Erde und daß sie sich untereinander erwürgten; und ward ihm ein großes Schwert gegeben.
Und da es das dritte Siegel auftat, hörte ich das dritte Tier sagen: Komm! Und ich sah, und siehe, ein schwarzes Pferd. Und der daraufsaß, hatte eine Waage in seiner Hand. Und ich hörte eine Stimme unter den vier Tieren sagen: Ein Maß Weizen um einen Groschen und drei Maß Gerste um einen Groschen; und dem Öl und Wein tu kein Leid!
Und da es das vierte Siegel auftat, hörte ich die Stimme des vierten Tiers sagen: Komm! Und ich sah, und siehe, ein fahles Pferd. Und der daraufsaß, des Name hieß Tod, und die Hölle folgte ihm nach. Und ihnen ward Macht gegeben, zu töten das vierte Teil auf der Erde mit dem Schwert und Hunger und mit dem Tod und durch die Tiere auf Erden.

 

Johannes von Patmos, Martin Luther (Hrsg.) et al. (Nicht zuverlässig datierbar), Die Offenbarung des Johannes. In: Die Bibel – Das Neue Testament, 6,1 – 6,8 (68 – 96 n. Chr.).


Peter von Cornelius (1783 - 1876), Die Apokalyptischen Reiter (1841 - 1867)Peter von Cornelius (1783 – 1876), Die Apokalyptischen Reiter (1841 – 1867)


Viktor Michajlovič Vasnecov (1848 - 1926), Die apokalyptischen Reiter (1887)Viktor Michajlovič Vasnecov (1848 – 1926), Die apokalyptischen Reiter (1887)


Albrecht Dürer (1471 - 1528), Die vier apokalyptischen Reiter (1498; Holzschnitt)

Albrecht Dürer (1471 – 1528), Die vier apokalyptischen Reiter (1498; Holzschnitt)

Hedonistischer Übermensch vs. weiser Gutmensch

Kallikles: O gewiß, mein Sokrates. Wie könnte denn ein Mensch glücklich werden, wenn er irgend jemandes Sklave ist? Nein, das ist das Schöne und Rechte von Natur, das ich dir jetzt frei und offen bekenne, daß derjenige, welcher richtig leben will, seine eigenen Begierden so groß als möglich werden lassen muß, ohne sie im Zaum zu halten; wenn sie aber recht groß sind, dann muß er imstande sein, ihnen zu fröhnen durch Tapferkeit und Einsicht und die Begierde zu befriedigen, worauf sie sich auch jedesmal richten mag. Aber das können, denke ich, die meisten nicht. Daher tadeln sie Männer dieser Art aus Ärger, um ihre eigene Ohnmacht zu verbergen, und bezeichnen die Zügellosigkeit als häßlich. Was ich in meiner früheren Auseinandersetzung sagte, sie knechten die von Natur besseren Menschen, und weil sie ihren Lüsten keine Befriedigung schaffen können, so loben sie die Besonnenheit und Gerechtigkeit um ihrer eigenen Feigheit willen. Denn was wäre für diejenigen, welche etwa von vornherein so glücklich sind. Königssöhne zu sein, oder die imstande sind, sich eine Herrschaft, Tyrannis oder einen Königsthron zu verschaffen, in Wahrheit häßlicher und schlimmer als deine Besonnenheit? Während sie ja alles Gute genießen könnten, ohne daß ihnen jemand in den Weg träte, würden sie sich selbst das Gesetz, Gerede und Geschimpfe der Masse zum Herrn erküren? Oder würden sie nicht unglücklich geworden sein von der Ehre der Gerechtigkeit und Besonnenheit, wenn sie ihren eigenen Freunden nicht mehr zuteilen könnten als ihren Feinden, und zwar als Herrscher im eigenen Staate? Nun, Sokrates, so steht’s in der Wahrheit, der du ja nachzutrachten behauptest. Wohlleben, Zügellosigkeit, Freiheit, wenn sie festen Rückhalt hat, das ist die Tugend und Glückseligkeit. Das andere all ist Flitterstaat, widernatürliche Satzungen, menschlicher Aberwitz und taugt nichts.

 

[…]

 

Sokrates: Indes ist das Leben auch, wie du es haben willst, mißlich. Denn es sollte mich nicht wundern, wenn Euripides recht hat, wenn er sagt: „Wer weiß, ob nicht das Leben nur ein Sterben ist, Das Sterben aber Leben?“ Und vielleicht sind wir in Wirklichkeit tot. Das habe ich auch schon von einem weisen Manne gehört, daß wir jetzt tot seien und daß der Leib unser Grab sei; der Teil unserer Seele aber, in welchem sich die Begierden befinden, sei so, daß er sich leicht bereden lasse und von der einen nach der anderen Seite umschlage. Das hat denn auch ein geistreicher Mann, vielleicht ein Sizilier oder Italer, in der Namensableitung in mythischer Bekleidung dargestellt, wenn er ihn wegen seiner leicht zu überredenden Art und Faßbarkeit ein Faß genannt hat und die Uneinsichtigen Uneingeweihte. Der Teil der Seele aber in den Uneingeweihten, dem die Begierden angehören, der so zügellos ist und bodenlos, sei einem durchlöcherten Fasse vergleichbar, indem er von der Unausfüllbarkeit das Bild hernahm. Dieser also beweist gerade das Gegenteil von deiner Meinung, lieber Kallikles, daß nämlich unter den Bewohnern der Unterwelt – dabei meinte er natürlich das Unsichtbare – diese Uneingeweihten am unglücklichsten seien, welche in das durchlöcherte Faß Wasser trügen mit einem ebenfalls durchlöcherten Siebe. Unter dem Siebe verstand er, wie mein Gewährsmann sagte, die Seele. Die Seele der Unverständigen aber verglich er mit einem gleichsam durchlöcherten Siebe, weil sie nichts festfassen kann aus Unfaßlichkeit und Vergeßlichkeit.

 

Platon (428/27 – 348/47 v.Chr.), Gorgias: ~491e – 493d (Stephanus-Paginierung)

Milde Blasphemie von, mit und über Hiob

Dass Lesen keine nüchterne, einseitige Aufnahme von Informationen vom konkreten Medium ins aktuelle Bewusstsein ist, wirkte so abstrakt wie es trivial ist. Als Zugang zu diesem Phänomen braucht es keine Literaturtheorie, keine Sprachphilosophie oder sonst einen (inter-)diziplinären Zugang aus den Gefilden der Wissenschaft. Es ist viel einschlägiger und anschaulicher ein und dasselbe Buch – ja, materielles, physisch hartes Buch; ich vermeide hier säuberlich eine Konotation von Text und selbst – in verschiedenen Lebensphasen neu zu lesen. Das Feld zwischen Text und Leser wird ein gänzlich verschiedenes sein, das Leseerlebnis dementsprechend ein neues trotz gleichem Satz auf gleicher Seite in gleicher Zeile.

Wenn dieses Buch (oder E-Book, aber dieses gedankliche Faß öffne ich jetzt nicht auch noch), wie in meinem heutigen Fall, sogar noch die Anthologie der Anthologien ist, und dessen kursorische Lektüre in nahezu jeder Alterstufe mit gleichzeiitg größtmöglichen Lücken stattgefunden hat, dann wird die Interaktivität von Text und Bewusstsein augenfällig, buchstäblich spürbar. Meine Bibelgeschichte ist schnell abgerissen: Zuerst erfahren als Kind in Gestalt meiner Oma im Alltag und besonders bei allabendlicher (Gute-)Nacht-Bibel-Lektüre, gestütz durch wöchentliche Besuche von Kindergottestdienst und Festtagpredigten, dann nörgelnd erduldet als halbstraker, geldgeiler Konfirmand, wiederentdeckt als angehender Philosoph und neugieriger Sucher sowie zuletzt gelesen als Adept in und Liebhaber von literarischer Finesse.

Ein Filetstück der fantastischen Sprachmagie aus dem Hause des Herrn und dem Griffel eines seiner diversen Herausgeber – Martin „The Thesenklopper“ Luther – sprang mir bei meiner Relektüre von Hiob ins Bewusstsein und gereicht nur deshalb nun Euch als Text-Fast-Food bald hoffentlich zur geistigen Freude. Während das Buch Hiob insgesamt existenziell gewichtige Themen auf eine facettenreiche und komplexe Art hin- und herwälzt, und nicht zuletzt deshalb seit Generationen eine unerschöpflliche Inspirationsquelle bildet, gelingt es der zitierten Stelle im besonderen, ein detailreiches, starkes Bild von etwas zu entwerfen. Man könnte es beinahe als Gebrauchsanweisung für bildende Kunst lesen und sogleich gestaltend die Umsetzung des beschriebenen Etwas im Medium der Wahl wagen. Am Ende käme dannach wohl vor allem eines zu Tage, dämonische Bruchstücke aus dem individuellen Unterbewussten des Künstlers aka Lesers alias des Menschen für sich.

Wie meine kindlindlichen Bibelbilder sich anfühlten, vermag ich im Detail zwar nicht mehr zu sagen, aber sie waren ganz sicher anders – ehrfurchtgebietender, glaubhafter, kraftvoller; öder, uncooler und fader; faszinierder, wahrheitsfähig, und begehrlicher -, aber ein hatten sie gemeinsam, sie lasen in einer anderen Zeit, einer anderen Welt mit einem anderen Bewusstsein den gleichen Text.

Nunmehr ist wieder alles anders, frage ich mich wieder andere Fragen: Was lauert im Abgrund zwischen den Zeilen, im Schweigen zwischen den Worten, ihren Silben, im Weiß zwischen den Buchstaben, zuletzt in all dem Nichts um das Etwas herum? Pragmatischer und wieder positiv gewendet, was also kommt zur Darstellung, besser zum Ausdruck?

Hier schließt sich der Kreis des Textes, denn nicht alleine der Text, sein Inhalt, seine sog. Inten(s/t)ion bestimmen des Ereignis unseres Lesens; auch nicht alleine die Person des Lesers, seine Erfahrungen, Gewohnheiten, Prägungen. Analytisch schlicht erschaffen beide Quellen von Bedeutung diese zusammen, im Wechselspiel mit ungleichen sich verschiebenden Anteilen und Aspekten; oder mit ein Prise Poesie, Subjekt und Objekt schwingen miteinander, musizieren im Duett, durchsetzt von Zufällen und durchwaltet von Willen. Was am Ende hinten rauskommt, bleibt offen, ist notwendig singulär, wie sovieles Entscheidendes im Leben. Gerechterweise erlebt also jeder Leser, geschieht in jeder Situation für sich, je nach Alterstufe, Vorliebe, Geschichte und vor allem nach kognitiv-mentaler, metaphysischer Tagesform, was beim Lesen seines Textes, wie beispielsweise eine Bibelstelle, eben so alles Wunderliches geschieht.

Zur Auswahl für die Grob-Interpretation des folgenden Exempels an Textsingularität stehen die unterschiedlichste Intentionen und Motive – mein finaler Gedankensturm brandet unwiderstehlich auf, abstrahiert zunehmend:

ein psychedelisch-fürchterlicher Löwenhybrid, Behemoth oder Leviathan, die Wildheit und das Ungezähmte, böse Natur, Offenbarung, Gottes allmächtiges Wesen, geheimes Wissen der Menschheit, der Alten, ewige Wahrheit, Kreativität und Rhetorik von Gläubigen und Heuchlern, Stille-Post-Effekt über die Grenzen von Jahrtausenden, Sprachen und Kulturkreisen, oder die heilige Lust des Menschen, sich narzissitisch an seiner eigenen Fantasie zu berauschen – und so weiter und sofort bis ans Ende allen Bewusstseins, aller Raumzeit, allen Textes…

In biblischer Umnachtung und übersatt an altbackenem Text, Euer Satorius


 

Ich will nicht schweigen von seinen Gliedern, wie groß, wie mächtig und wohlgeschaffen er ist. Wer kann ihm den Panzer ausziehen, und wer darf es wagen, ihm zwischen die Zähne zu greifen? Wer kann die Tore seines Rachens auftun? Um seine Zähne herum herrscht Schrecken. Stolz stehen sie wie Reihen von Schilden, geschlossen und eng aneinandergefügt. Einer reiht sich an den andern, daß nicht ein Lufthauch hindurchgeht. Es haftet einer am andern, sie schließen sich zusammen und lassen sich nicht trennen. Sein Niesen läßt Licht aufleuchten; seine Augen sind wie die Wimpern der Morgenröte. Aus seinem Rachen fahren Fackeln, und feurige Funken schießen heraus. Aus seinen Nüstern fährt Rauch wie von einem siedenden Kessel und Binsenfeuer. Sein Odem ist wie lichte Lohe, und aus seinem Rachen schlagen Flammen. Auf seinem Nacken wohnt die Stärke, und vor ihm her tanzt die Angst. Die Wampen seines Fleisches haften an ihm, fest angegossen, ohne sich zu bewegen. Sein Herz ist so hart wie ein Stein und so fest wie der untere Mühlstein. Wenn er sich erhebt, so entsetzen sich die Starken, und vor Schrecken wissen sie nicht aus noch ein. Trifft man ihn mit dem Schwert, so richtet es nichts aus, auch nicht Spieß, Geschoß und Speer. Er achtet Eisen wie Stroh und Erz wie faules Holz. Kein Pfeil wird ihn verjagen; die Schleudersteine sind ihm wie Spreu. Die Keule achtet er wie einen Strohhalm; er spottet der sausenden Lanze. Unter seinem Bauch sind scharfe Spitzen; er fährt wie ein Dreschschlitten über den Schlamm. Er macht, daß die Tiefe brodelt wie ein Topf, und rührt das Meer um, wie man Salbe mischt. Er läßt hinter sich eine leuchtende Bahn; man denkt, die Flut sei Silberhaar. Auf Erden ist nicht seinesgleichen; er ist ein Geschöpf ohne Furcht. Er sieht allem ins Auge, was hoch ist; er ist König über alle stolzen Tiere.

 

Moses/Salomo, Martin Luther (Hrsg.) et al. (Autorenschaft kontrovers), Das Buch Hiob. In: Die Bibel – Das Alte Testament, 41,4 – 41,26 (5. – 3. Jahrhundert v. Chr.)

Die unheimliche Dritte im Bunde: Die Sprachphilosophie

Spätestens seit Hegels „Phänomenologie des Geistes“ ist klar, dass das Problem des Geistes ein Problem der Sprache ist. Folgerichtig entwickelte sich die Kritik der Hegelschen Philosophie etwa bei Schopenhauer und Nietzsche auch als Sprachphilosophie. Spätestens seit Nietzsche wird Metaphysik als in die Sprache eingeschrieben gedacht. Und das bedeutet die Erkenntnis, dass die Sprache selbst das Hindernis für die sprachliche Überwindung der Metaphysik ist. Nietzsche sowie die metaphysikkritischen Philosophen nach ihm versuchen deshalb, mit unterschiedlichen Strategien, dem Zirkel der Metaphysikkritik zu entkommen. Die Hinwendung zu poetischer Diskursivität findet hier ihre rationale Erklärung. Sie ist nicht nur poetischen Neigungen zu verdanken, sondern ist eine philosophisch motivierte Strategie, den Zirkel der Metaphysikkritik zu durchbrechen.

 

Peter Engelmann (1947 – ), Jacques Derrida. Die différance: S. 23f. (Einleitung – Semiotik und Metaphysikkritik; 2004)


Kürzlich (Direktlink) sprach ich von Seinslehre (Ontologie) und Erkenntnistheorie (Epistemologie), wies ihnen eine herausragende Stellung im Korpus der philosophischen Disziplinen zu und nun das: Metaphysik und Sprachphilosophie seien die neuralgischen Punkte des verehrten Fachs?

Ja und Nein, äh Jain – möchte ich fast sagen, denn zwischen Metaphysik und Ontologie gibt es keine strikte, und wenn überhaupt dann eine fließende Grenze. Was allerdings die Sprachphilosophie betrifft, da lenke ich gerne reumütig ein und gestehe zu: Sie ist allerdings zentral und hochrelevant, mehr noch, ohne sie ist keine zeitgenössische Philosophie denkbar und damit verständlich. 

Neben den erwähnten zweieindrittel Begriffen – Ontologie/Metaphysik und Epistemologie – darf sie im historischen Inventar der modernen philosophischen Trickkiste keinesfalls unterschlagen werden. Ohne einen Sprung auf die Metaebene der Sprache, sei sie Medium oder gar umfassende Grenze von Denken und damit Philosophieren, bliebe ein allzu großer blinder Fleck in der Reflexionslandschaft bestehen. 

Dabei sind es typischerweise auch die im vorausgehenden Artikel bedachten (neo-)transzendentalen Ansätze, die seit Kant so ihre liebe Last mit der Sprachlichkeit des Denkens haben. Während die diversen Neukantianer in der Folge des Königsberger Klopses für eine Vermittlung von Geist und Materie eintraten, blieben bei ihnen eben die sprachlichen Strukturen bisweilen noch unterbelichtet. Damit standen sie zwar weiterhin und immerhin zwischen den Fronten eines den Geist überbelichtenden Idealismus und eines diesen sträflich verdunkelnden Materialismus, dennoch war noch ein Stück Denkweg zu gehen bis zum sog. lingustic turn zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Erwähnens- und anerkennenswerte Trittsteine auf diesem ideengeschichtlichen Weg waren für die philosophische Seite des Diskurses vor allem Ernst Cassirers Philosophie der Symbolischen Formen und Wittgensteins Philosophische Untersuchungen. Dessen vielbeachtetem Frühwerk Tractatus logico-philosophicus verweigere ich hier mal bewusst die Ehrerbietung, auch wenn es sich dem Problem der Sprache für das Denken explizit annimmt – zu explizit und logisch, um noch einer lebendigen Welt angemessen zu sein. Erst recht war noch ein weite Reise zu machen, bis man bei der analytischen Philosophie auf Basis des Pragmatismus und den vielen, mir hochsympathischen Formen von Differenzphilosophie und kritischer Theorie landen würde. Insbesondere Jacques Derridas Dekonstruktion möchte ich hier andeutungsweise hinsichtlich des Text-Fast-Foods erwähnen. Das 21. Jahrhundert also, war noch fern und einige ausgewiesen hässliche Perioden der Menschheitsgeschichte mussten erst noch durchschritten werden, aus denen dann auch die (Sprach-)Philosophie ihre bitteren Lehren zu ziehen hatte. 

Hier kommen wir nach dem womöglich etwas ermüdenden, philosophiegeschichtlichen Umweg von einer Ergänzungen zum letzten Denkwelt-Artikel endlich zum eigentlichen Anlass dieses Textes. Bevor hier jedoch der falsche Eindruck von Wissenschaftlichkeit aufkommt, bei all den Anflügen von Struktur, Argument und Chronologie, lasse ich nun Poesie über Sprache sprechen. Damit gewähre ich dem Nachdenken über Sprache seinen ihm gebührenden Platz neben den bereits besagten zwei Teildisziplinen der nicht nur akademischen Philosophie. Dass ich sie zunächst vergessen habe, mag mit der Unheimlichkeit zusammenhängen, die sie und den Sprung auf die Metaebene begleiten, oder einfach mit der Kürze von Zugang und Anspruch. Das zuvor besagte sprachlose X dankt mir die Wiedergutmachen sicherlich ebenso, wie mein schließlich damit wieder zu beschwörender Agnostizismus.

Aus dem Landschaftspark zwischen Philosophie, Poesie und Linguistik grüßt zweifelnd, Euer Satorius


Für Nelly Sachs, die Freundin, die Dichterin, in Verehrung

 

Ihr Worte, auf, mir nach!,
und sind wir auch schon weiter,
zu weit gegangen, geht’s noch einmal
weiter, zu keinem Ende geht’s.

 

Es hellt nicht auf.

 

Das Wort
wird doch nur
andre Worte nach sich ziehn,
Satz den Satz.
So möchte Welt,
endgültig,
sich aufdrängen,
schon gesagt sein.
Sagt sie nicht.

 

Worte, mir nach,
dass nicht endgültig wird
– nicht diese Wortbegier
und Spruch auf Widerspruch!

 

Lasst eine Weile jetzt
keins der Gefühle sprechen,
den Muskel Herz sich anders üben.

 

Lasst, sag ich, lasst.

 

Ins höchste Ohr nicht,
nichts, sag ich, geflüstert,
zum Tod fall Dir nichts ein,
lass, und mir nach, nicht mild
noch bitterlich,
nicht trostreich,
ohne Trost,
bezeichnend nicht,
so auch nicht zeichenlos –

 

Und nur nicht dies: das Bild
im Staubgespinst, leeres Geroll
von Silben, Sterbenswörter.

 

Kein Sterbenswort,
Ihr Worte!

 

Ingeborg Bachmann (1926 – 1973), Ihr Worte (1961)


Halte mich in deinem Dienst
lebenslang
in dir will ich atmen

 

Ich dürste nach dir
trinke dich Wort für Wort
mein Quell

 

Dein zorniges Funkeln
Winterwort

 

Fliederfein
blühst du in mir
Frühlingswort

 

Ich folge dir
bis in den Schlaf
buchstabiere deine Träume

 

Wir verstehen uns aufs Wort
Wir lieben einander

 

Rose Ausländer (1901 – 1988), Sprache (1976)

Unterwegs zum sprachlosen X? … oder doch nicht!

Thema des transzendentalen Ansatzes sind weder Strukturen noch Prozesse des Seins. Ihm geht es vielmehr um die Interaktion eines menschlichen Subjekts mit einem unbekannten Gegenüber aus dem Objektbereich, welche aus der Perspektive des Subjekts zu beschreiben ist. Einschlägige Analysen bringen zahlreiche Belege dafür, dass der Mensch seine im Zuge dieser Interaktion stattfindenden Erfahrungen sehr erfolgreich nach dem Vorbild von Interpretationsmustern deutet, die sich im Zuge seiner Kontakte mit menschlichen Kommunikationspartnern bewährt haben. Alle naturwissenschaftlichen Begriffe und Modellvorstellungen verweisen damit letztlich auf Vorbilder aus dem Bereich der Typisierung von sozialen Strukturen und Prozessen.

 

Karl Czasny (1949 – ), Quantenphysik als Herausforderung der Erkenntnistheorie (Direktlink zum Artikel) [Rev. 18.09.15]

Wenn daher das Selbstbewusstsein [~Subjekt, D.Q.] ein Gegenstand ist, der ausschließlich im Rahmen von symbolvermittelter sozialer Interaktion erfahrbar und nachweisbar ist, weil er ausschließlich im kollektiven Vollzug dieser Art des Handelns existiert, dann ist es prinzipiell von der auf naturwissenschaftlich restringierter Beobachtung von Reiz-Reaktions-Mustern fußenden materialistischen Ontologie weder begreifbar noch ableitbar.

 

Karl Czasny (1949 – ), Schrödingers Katze endlich zur Ruhe gebettet? (Direktlink zum Artikel) [Rev. 18.09.15]


Im Herzen der zeitgenössischen Philosophie gibt es zwei Kammern: Ontologie und Epistemologie. Um den Angriff auf das Metaphern-Verbot – von manchen Akademikern gepriesen und geheiligt – in rhetorisch-heftiger, weil doppelter Form als Personifizierung konsequent fortzusetzen: Die Ontologie aka. Metaphysik ist der Hirnstamm der Weisheitsliebe und die Erkenntnistheorie das evolutionär neuere Großhirn der (philosophischen) Wissenschaft.

Nüchtern betrachtet sind beide Disziplinen also zentrale, doch historisch und methodisch differente Bereiche der Philosophie. Ideengeschichtlich sympathisieren sie mit allerlei Ismen; je nach Zeit und Vorliebe entweder mit Nominalismus, Materialismus und Empirismus oder mit Realismus, Idealismus und Rationalismus. Sein und Denken taugen als differenzierende Bezugspunkte eben so sehr wie viele andere Polarisierungen, welche die Geistesgeschichte in ihrer produktiven Kreativität unablässig hervorgebracht hat und weiterhin hervorbringt.

Neuzeit, Moderne und insbesondere Postmoderne haben hierbei die einst noch überschaubare Lagerbildung unendlich kompliziert. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert ist es im Detail zu vielfältigen Mischformen gekommen. Besonders die (Natur-)Wissenschaften sind hierbei zum kontroversen Schlachtfeld für den uralten Titanenkampf der Philosophie geworden. Dabei lässt sich diese tiefe und breite Trennlinie im Denken besonders gut, wie oben im Text-Fast-Food zu lesen, am Begriffspaar Subjekt-Objekt verdeutlichen, wenn auch einige mir besonders lieb gewordene Positionen innerhalb dieses epochalen Diskurses jenseits dieser Dichotomie operieren oder wenigsten operieren wollen.

Nun aber zeichnet sich ein neuer, vielleicht dereinst befriedender Impuls aus Richtung der modernen Physik ab. Auch wenn berechtigte Zweifel an der verfrühten Freude über die ersehnte Harmonie angeraten sind, die sich am Horizont erhoffen lässt, so hat die Quantenphysik unbestritten das Potential, der Vielfalt an Standpunkten – seien sie mal eher ontologisch, mal eher epistemologisch – eine Vereinfachung zu verschaffen.

Fraglich bleibt gleichwohl und prinzipiell immer eines: Bin ich, bist du, sind wir als beschränkte, endliche und bedürftige Menschen überhaupt je im Stande, näher heranzukommen an Wahrheit und Gott oder besser an das sprachlose X?

Zurückgelehnt im Ohrensessel agnostischer Bequemlichkeit, begnüge ich mich heute und jedenfalls mit Fragen, Zweifeln und verhaltenen Hoffnungen und überlasse die Antworten Euch da draußen und insbesondere den Wissenschaftlern, die darin Meister sind!

Mit gebändigter Neugierde und entfesselter Gelassenheit, Euer Satorius

 

Nervig-notwendiger Nietzsche

Daß die einzelnen philosophischen Begriffe nichts Beliebiges, nichts Für-sich-Wachsendes sind, sondern in Beziehung und Verwandtschaft zueinander emporwachsen, daß sie, so plötzlich und willkürlich sie auch in der Geschichte des Denkens anscheinend heraustreten, doch ebensogut einem Systeme angehören als die sämtlichen Glieder der Fauna eines Erdteils: das verrät sich zuletzt noch darin, wie sicher die verschiedensten Philosophen ein gewisses Grundschema von möglichen Philosophien immer wieder ausfüllen. Unter einem unsichtbaren Banne laufen sie immer von neuem noch einmal dieselbe Kreisbahn: sie mögen sich noch so unabhängig voneinander mit ihrem kritischen oder systematischen Willen fühlen; irgend etwas in ihnen führt sie, irgend etwas treibt sie in bestimmter Ordnung hintereinander her, eben jene eingeborne Systematik und Verwandtschaft der Begriffe. Ihr Denken ist in der Tat viel weniger ein Entdecken als ein Wiedererkennen, Wiedererinnern, eine Rück- und Heimkehr in einen fernen uralten Gesamt-Haushalt der Seele, aus dem jene Begriffe einstmals herausgewachsen sind – Philosophieren ist insofern eine Art von Atavismus höchsten Ranges. Die wunderliche Familien-Ähnlichkeit alles indischen, griechischen, deutschen Philosophierens erklärt sich einfach genug. Gerade, wo Sprach-Verwandtschaft vorliegt, ist es gar nicht zu vermeiden, daß, dank der gemeinsamen Philosophie der Grammatik – ich meine dank der unbewußten Herrschaft und Führung durch gleiche grammatische Funktionen – von vornherein alles für eine gleichartige Entwicklung und Reihenfolge der philosophischen Systeme vorbereitet liegt: ebenso wie zu gewissen andern Möglichkeiten der Welt-Ausdeutung der Weg wie abgesperrt erscheint.

Friedrich Nietzsche (1844 – 1900), Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft: S. 34f. (1886)


Wirklich mögen kann man ihn zwar schwerlich, aber in stummer Ehrfurcht sein Haupt zu einem respektvollen Kopfnicken in Richtung des fiesen Friedrichs zu bewegen, erscheint mir angemessen. Kaum ein Dichter-Philosoph hat mich länger auf meinem intellektuellen Weg begleitet als der große Spötter und fröhliche Skeptiker Friedrich Nietzsche. Eine geistige Hass-Liebe begleitet mich seither und führte zu einer On/Off-Beziehung, die bereits über ein Jahrzehnt anhält.

Ob er der (Post-)Moderne den Weg planiert, der philosophischen Tradition ins gemachte Nest spuckt oder die Abgründe und Gipfel von Kultur und Geschichte stilsicher in Worte fügt, immer tat er es auf unvergleichliche, unerträgliche und unverzichtbare Art. Ich, wie viele andere, können deshalb nicht mit ihm, aber auch nicht ohne ihn – denken, schreiben oder vielleicht gar leben.

Was er in seinen Schriften eigenhändig zertrümmert, und das ist viel mehr, als man gemeinhin großzügig erwartet, destruiert er mit großer Berechtigung und meinem kräftigen Beifall. Was er schonungslos attestiert oder hellsichtig prophezeit, ist mehr als bloße Spekulation und krude Fiktion. Was er in der Grauzone zwischen gutem Denken und gutem Darstellen gedichtet hat, verdient diese Bezeichnung gewiss – dichten-, denn er hat die (deutsche) Sprache geprägt, sie gleichzeitig bereichert und entschlackt.

Dennoch, er bleibt mit all seiner paradoxen Arroganz, seinem kruden Chauvinismus und seinem ätzenden Ethos ein neurotisch-neunmalkluger Nörgler. Manchmal möchte ich fast einen Fluch ausstoßen, indem ich laut rufe: „Nietzsche, Nietzsche…“, und nochmal: „Nietzsche“! Was dann wohl Wunderliches passieren würde?

In Anerkennung und Abneigung gleichermaßen, Euer Satorius