Vor rund 13,5 Milliarden Jahren entstanden Materie, Energie, Raum und Zeit in einem Ereignis namens Urknall. Die Geschichte dieser grundlegenden Eigenschaften unseres Universums nennen wir Physik.
Etwa 300000 Jahre später verbanden sich Materie und Energie zu komplexeren Strukturen namens Atome, die sich wiederum zu Molekülen zusammenschlossen. Die Geschichte der Atome, Moleküle und ihrer Reaktionen nennen wir Chemie.
Vor 3,8 Milliarden Jahren begannen auf einem Planeten namens Erde bestimmte Moleküle, sich zu besonders großen und komplexen Strukturen zu verbinden, die wir als Organismen bezeichnen. Die Geschichte dieser Organismen nennen wir Biologie.
Und vor gut 70000 Jahren begannen Organismen der Art Homo sapiens mit dem Aufbau von noch komplexeren Strukturen namens Kulturen. Die Entwicklung dieser Kulturen nennen wir Geschichte.
Die Geschichte der menschlichen Kulturen wurde von drei großen Revolutionen geprägt. Die kognitive Revolution vor etwa 70000 Jahren brachte die Geschichte überhaupt erst in Gang. Die landwirtschaftliche Revolution vor rund 12000 Jahren beschleunigte sie. Und die wissenschaftliche Revolution, die vor knapp 500 Jahren ihren Anfang nahm, könnte das Ende der Geschichte und der Beginn von etwas völlig Neuem sein. Dieses Buch erzählt, welche Konsequenzen diese drei Revolutionen für den Menschen und seine Mitlebewesen hatten und haben.
Menschen gab es schon lange vor dem Beginn der Geschichte. Die ersten menschenähnlichen Tiere betraten vor etwa 2,5 Millionen Jahren die Bühne. Aber über zahllose Generationen hinweg stachen sie nicht aus der Vielzahl der Tiere heraus, mit denen sie ihren Lebensraum teilten. Wenn wir 2 Millionen Jahre in die Vergangenheit reisen und einen Spaziergang durch Ostafrika unternehmen könnten, würden wir dort vermutlich Gruppen von Menschen begegnen, die äußerlich gewisse Ähnlichkeit mit uns haben. Besorgte Mütter tragen ihre Babys auf dem Arm, Kinder spielen im Matsch. Von irgendwoher dringt das Geräusch von Steinen, die aufeinandergeschlagen werden, und wir sehen einen ernst dreinblickenden jungen Mann, der sich in der Kunst der Werkzeugherstellung übt. Die Technik hat er sich bei zwei Männern abgeschaut, die sich gerade um einen besonders fein gearbeiteten Feuerstein streiten; knurrend und mit gefletschten Zähnen tragen sie eine weitere Runde im Kampf um die Vormachtstellung in der Gruppe aus. Währenddessen zieht sich ein älterer Herr mit weißen Haaren aus dem Trubel zurück und streift allein durch ein nahe gelegenes Waldstück, wo er von einer Horde Schimpansen überrascht wird.
(Kapitel 1: Ein ziemlich unaffälliges Tier)
Vor 70000 Jahren war der Homo sapiens ein unbedeutendes Tier, das in einer abgelegenen Ecke Afrikas seinem Leben nachging. In den folgenden Jahrtausenden stieg es zum Herrscher des gesamten Planeten auf und wurde zum Schrecken des Ökosystems. Heute steht er kurz davor, zum Gott zu werden und nicht nur die ewige Jugend zu gewinnen, sondern auch göttliche Macht über Leben und Tod. Leider hat die Herrschaft des Sapiens bislang wenig hinterlassen, auf das wir uneingeschränkt stolz sein könnten. Wir haben uns die Umwelt untertan gemacht, unsere Nahrungsproduktion gesteigert, Städte gebaut, Weltreiche gegründet und Handelsnetze errichtet. Aber haben wir das Leid in der Welt gelindert? Wieder und wieder bedeuteten die massiven Machtzuwächse der Menschheit keine Verbesserung für die einzelnen Menschen und immenses Leid für andere Lebewesen.
Trotz unserer erstaunlichen Leistungen haben wir nach wie vor keine Ahnung, wohin wir eigentlich wollen, und sind so unzufrieden wie eh und je. Von Kanus sind wir erst auf Galeeren, dann auf Dampfschiffe und schließlich auf Raumschiffe umgestiegen, doch wir wissen immer noch nicht, wohin die Reise gehen soll. Wir haben größere Macht als je zuvor, aber wir haben noch immer keine Ahnung, was wir damit anfangen wollen. Schlimmer noch, die Menschheit scheint verantwortungsloser denn je. Wir sind Selfmade-Götter, die nur noch den Gesetzen der Physik gehorchen und niemandem Rechenschaft schuldig sind. Und so richten wir unter unseren Mitlebewesen und der Umwelt Chaos und Vernichtung an, interessieren uns nur für unsere eigenen Annehmlichkeiten und unsere Unterhaltung und finden doch nie Zufriedenheit.
Gibt es etwas Gefährlicheres als unzufriedene und verantwortungslose Götter, die nicht wissen, was sie wollen?
(Nachwort)
Yuval Noah Harari (1976 – ), Eine kurz Geschichte der Menschheit (2011), passim
Alles begann vor etwa 70.000 Jahren, als die kognitive Revolution die Sapiens in die Lage versetzte, über Dinge zu sprechen, die nur in ihrer Vorstellungswelt existierten. In den folgenden 60.000 Jahren flochten sie zahlreiche fiktionale Netze, doch diese blieben klein und lokal begrenzt. Der Geist eines verehrten Ahnen, der vom einen Stamm angebetet wurde, war bei den Nachbarn völlig unbekannt, und Muscheln, die an einem Ort wertvoll waren, wurden wertlos, sobald man die nächste Bergkette überquert hatte. Geschichten über die Geister von Ahnen und wertvolle Muscheln verschafften den Sapiens durchaus einen enormen Vorteil, weil sie es Hunderten und mitunter sogar Tausenden von ihnen ermöglichten, effektiv zusammenzuarbeiten, wozu Neandertaler oder Schimpansen nicht in der Lage waren. Doch solange die Sapiens Jäger und Sammler blieben, konnten sie nicht wirklich massenhaft kooperieren, denn es war schlicht unmöglich, eine Stadt oder ein Königreich allein mit Jagen und Sammeln zu ernähren. Folglich waren die Geister, Feen und Dämonen der Steinzeit relativ schwache Wesenheiten.
Die landwirtschaftliche Revolution, die vor ungefähr 12.000 Jahren begann, lieferte die erforderliche materielle Grundlage, um die intersubjektiven Netzwerke zu vergrößern und zu stärken. Der Ackerbau ermöglichte es, Tausende von Menschen in dicht besiedelten Städten und Tausende von Soldaten in disziplinierten Armeen zu ernähren. Doch dann standen die intersubjektiven Geflechte vor einer neuen Hürde. Um die kollektiven Mythen zu bewahren und massenhafte Kooperation zu organisieren, setzten die frühen Bauern auf die Datenverarbeitungsfähigkeiten des menschlichen Gehirns, und die waren nun einmal recht begrenzt.
Bauern glaubten an Geschichten über große Götter. Für ihren Lieblingsgott errichteten sie Tempel, zu seinen Ehren hielten sie Feste ab, sie brachten ihm Opfer dar und ließen ihm Land, Getreide und Geschenke zukommen. In den ersten Städten im antiken Sumer, vor rund 6000 Jahren, waren die Tempel nicht nur Zentren der Anbetung, sondern auch die wichtigsten politischen und ökonomischen Knotenpunkte. Die Götter der Sumerer erfüllten eine ähnliche Funktion wie moderne Marken und Unternehmen. Heute sind Unternehmen fiktive juristische Personen, die über Eigentum verfügen, Geld verleihen, Arbeitnehmer beschäftigen und ökonomische Risiken eingehen. In den antiken Städten Uruk, Lagasch und Schuruppak fungierten die Götter als solche Rechtspersonen, die Felder und Sklaven besitzen, Kredite vergeben und aufnehmen, Löhne bezahlen und Dämme sowie Kanäle bauen konnten.
(Kapitel 4: Geschichtenerzähler)
[…]
Vor 70.000 Jahren veränderte die kognitive Revolution des Geist des Sapiens und machte damit aus einem unbedeutenden afrikanischen Affen den Herrscher der Welt. Der verbesserte Geist des Sapiens hatte plötzlich Zugang zum riesigen Bereich des Intersubjektiven, was uns in die Lage versetzte, Götter und Unternehmen zu schaffen, Städte und Imperien zu errichten, die Schrift und das Geld zu erfinden und schließlich das Atom zu spalten und zum Mond zu fliegen. Soweit wir wissen, resultierte diese weltbewegende Revolution aus ein paar kleinen Veränderungen in der DNA des Sapiens und einer geringfügigen Neuverdrahtung im Gehirn. Wenn das so ist, so der Techno-Humanismus, reichen ein paar weitere Veränderungen in unserem Genom und eine weitere Neuverschaltung unseres Gehirns aus, um eine zweite kognitive Revolution ins Werk zu setzen. Die geistigen Neuerungen der ersten kognitiven Revolution verschafften Homo sapiens Zugang zum Bereich des Intersubjektiven und machten uns zu Herrschern über den Planeten. Eine zweite kognitive Revolution könnte Homo deus Zugang zu unvorstellbaren neuen Sphären verschaffen und uns zu Herren der Galaxie erheben.
Diese Idee ist eine aktualisierte Variante der alten Träume des evolutionären Humanismus, der schon vor einem Jahrhundert die Schaffung von Übermenschen forderte. Doch während Hitler und sein Gefolge solche Übermenschen mit Hilfe von Zuchtwahl und ethnischer Säuberung produzieren wollten, hofft der Techno-Humanismus des 21. Jahrhunderts, dieses Ziel weitaus friedlicher zu erreichen, nämlich mit Hilfe von Gentechnik, Nanotechnologie und Schnittstellen zwischen Gehirn und Computer.
(Kapitel 10: Der Ozean des Bewusstseins)
[…]
Kombiniert man die praktische Fähigkeit, den Geist zu manipulieren, mit unserer Unkenntnis des mentalen Spektrums und den eng gefassten Interessen von Regierungen, Armeen und Unternehmen, sind Probleme vorprogrammiert. Es könnte gut sein, dass wir unsere Körper und unsere Gehirne erfolgreich optimieren, dabei aber unseren Geist verlieren. Tatsächlich könnte der Techno-Humanismus die Menschen am Ende «downgraden». Denn das System dürfte zurückgestufte Menschen bevorzugen, nicht weil sie über irgendeinen übermenschlichen Knacks verfügen, sondern weil es ihnen an einigen wirklich störenden menschlichen Eigenschaften fehlen würde, die das System behindern und es verlangsamen. Wie jeder Bauer weiß, sorgt üblicherweise die schlauste Ziege für die größten Probleme, weshalb zur landwirtschaftlichen Revolution auch gehörte, die mentalen Fähigkeiten der Tiere zu beschneiden. Die zweite kognitive Revolution, von der Techno-Humanisten träumen, könnte das Gleiche mit uns machen, indem sie menschliche Verwandte produziert, die effektiver als je zuvor kommunizieren und Daten verarbeiten, aber nicht wirklich achtsam sein, träumen oder zweifeln können. Über Millionen von Jahren waren wir Schimpansen in verbesserter Ausführung. In Zukunft könnten wir zu Ameisen in Übergröße werden.
(Ich rieche Angst)
[…]
Die normalen Wähler spüren allmählich, dass ihnen der demokratische Mechanismus keine Macht mehr verschafft. Die Welt rings um sie herum verändert sich, und sie verstehen nicht, wie und warum das alles geschieht. Die Macht verschiebt sich weg von ihnen, aber sie können nicht sagen, wohin sie verschwunden ist. In Großbritannien glauben sie, die Macht sei an die EU übergegangen, und so stimmen sie für den Brexit. In den USA bilden sich die Wähler ein, das «Establishment» habe alle Macht an sich gerissen, und so unterstützen sie Anti-Establishment-Kandidaten wie Bernie Sanders und Donald Trump. Die traurige Wahrheit ist, dass niemand weiß, wo all die Macht hin ist. Fest steht nur: Sie wird nicht zu den gewöhnlichen Wählern zurückkehren, wenn Großbritannien aus der EU austritt oder Donald Trump ins Weiße Haus einzieht.
Das heißt nicht, dass wir in Diktaturen im Stile des 20. Jahrhunderts zurückfallen werden. Autoritäre Regime scheinen vom Tempo der technologischen Entwicklung und der Geschwindigkeit sowie der Menge des Datenflusses gleichermaßen überfordert zu sein. Im 20. Jahrhundert hatten Diktatoren große Zukunftsvisionen. Kommunisten und Faschisten waren gleichermaßen bestrebt, die alte Welt vollständig zu zerstören und an ihrer Stelle eine neue Welt zu errichten. Was immer man von Lenin, Hitler oder Mao halten mag, einen Mangel an Vision kann man ihnen nicht vorwerfen. Heute, so scheint es, hätten Politiker eigentlich die Möglichkeit, noch größere Visionen zu verfolgen. Während die Kommunisten und die Nationalsozialisten mit Hilfe von Dampf- und Schreibmaschinen eine neue Gesellschaft und einen neuen Menschen zu schaffen versuchten, könnten die heutigen Propheten mit Biotechnologie und Supercomputern arbeiten.
In Science-Fiction-Filmen bedienen sich hitlereske, rücksichtslose Politiker nur zu gerne solch neuer Technologien und stellen sie in den Dienst dieses oder jenes größenwahnsinnigen politischen Ideals. Doch Politiker aus Fleisch und Blut haben zu Beginn des 21. Jahrhunderts selbst in autoritären Ländern wie Russland, Iran oder Nordkorea nichts mit ihren Hollywoodverwandten gemein. Sie scheinen keine schöne neue Welt zu planen. Die kühnsten Träume von Kim Jong-un und Ali Khamenei reichen im Grunde nicht über Atombomben und Langstreckenraketen hinaus – das wirkt wie bei 1945 stehen geblieben. Putins Bestrebungen bleiben offenkundig darauf beschränkt, die alte Sowjetunion oder das noch ältere Zarenreich wiederzuerrichten. In den USA werfen paranoide Republikaner derweil Barack Obama vor, er sei ein rücksichtsloser Despot, der Verschwörungen aushecke, um die Grundlagen der amerikanischen Gesellschaft zerstören – doch in acht Jahren Präsidentschaft brachte er gerade einmal eine bescheidene Gesundheitsreform zustande. Neue Welten und neue Menschen zu schaffen liegt weit abseits seiner Agenda.
Gerade weil sich die Technologie heute so schnell entwickelt und Parlamente wie Diktatoren durch Daten, die sie nicht schnell genug verarbeiten können, förmlich erschlagen werden, denken heutige Politiker in viel kleineren Dimensionen als ihre Vorgänger vor 100 Jahren. Der Politik fehlt es Anfang des 21. Jahrhunderts folglich an großen Visionen. Regieren ist zu bloßer Administration geworden.
Man verwaltet das Land, führt es aber nicht mehr. Die Regierung sorgt dafür, dass Lehrer pünktlich bezahlt werden und die Abwasserkanäle nicht überlaufen, aber sie hat keine Ahnung, wo das Land in 20 Jahren sein wird.
In mancher Hinsicht ist das durchaus eine gute Sache. Wenn man bedenkt, dass einige der großen politischen Visionen des 20. Jahrhunderts uns nach Auschwitz, nach Hiroshima und zum «Großen Sprung nach vorn» führten, sind wir in den Händen kleingeistiger Bürokraten heute möglicherweise besser aufgehoben. Die Verbindung aus gottgleicher Technologie mit größenwahnsinniger Politik würde der Katastrophe Tür und Tor öffnen. Viele neoliberale Ökonomen und Politikwissenschaftler behaupten, am besten sollte man alle wichtigen Entscheidungen dem freien Markt überlassen. Damit liefern sie Politikern die perfekte Entschuldigung für Nichthandeln und Nichtwissen, die als tiefreichende Klugheit uminterpretiert werden. Politiker glauben nur zu gerne, dass sie die Welt deshalb nicht verstehen, weil sie sie nicht verstehen müssen.
Doch auch die Verbindung von gottgleicher Technologie mit einer Politik, die auf kurze Sicht fährt, hat ihre Schattenseiten. Ein Mangel an Visionen ist nicht immer ein Segen, und nicht alle Visionen sind zwangsläufig schlecht. Im 20. Jahrhundert zerfiel die historische Vision der Nationalsozialisten nicht von selbst. Sie wurde von den gleichermaßen groß angelegten Visionen des Sozialismus und des Liberalismus besiegt. Unsere Zukunft den Kräften des Marktes zu überlassen ist gefährlich, denn diese Kräfte tun, was gut für den Markt ist, und nicht, was gut für die Menschheit oder für die Welt ist. Die Hand des Marktes ist ebenso blind wie unsichtbar, und wenn man sie sich selbst überlässt, wird sie gegen die Bedrohung durch den Klimawandel oder das gefährliche Potenzial künstlicher Intelligenz nichts tun.
Manche Leute glauben, dass trotzdem jemand verantwortlich ist. Nicht demokratische Politiker oder autokratische Despoten, sondern eine kleine Clique von Milliardären, die insgeheim die Welt regieren. Aber solche Verschwörungstheorien funktionieren nie, weil sie die Komplexität des Systems unterschätzen. Ein paar Milliardäre, die in irgendeinem Hinterzimmer Zigarren rauchen und Whisky trinken, können nicht alles verstehen, was auf der Welt passiert, und es schon gar nicht kontrollieren. Rücksichtslose Milliardäre und kleine Interessengruppen florieren in der chaotischen Welt von heute nicht deshalb, weil sie die Karte besser lesen können als alle anderen, sondern weil sie sehr eng gesteckte Ziele haben. In einem chaotischen System ist der Tunnelblick immer von Vorteil, und die Macht der Milliardäre entspricht genau ihren Zielen. Wollte der reichste Mensch der Welt eine weitere Milliarde US-Dollar verdienen, könnte er das System problemlos manipulieren, um sein Ziel zu erreichen. Wollte er jedoch die weltweite Ungleichheit verringern oder den globalen Klimawandel stoppen, wird nicht einmal ihm das gelingen, weil das System viel zu komplex ist.
(Wo ist all die Macht geblieben?)
[…]
Wenn es dem Dataismus gelingt, die Welt zu erobern, was wird dann mit uns Menschen geschehen? Anfangs wird es wahrscheinlich das menschliche Streben nach Gesundheit, Glück und Macht beschleunigen. Der Dataismus breitet sich gerade deshalb aus, weil er diese menschlichen Sehnsüchte zu stillen verspricht. Um Unsterblichkeit, Glück und göttliche Schöpfungskraft zu erlangen, müssen wir ungeheure Datenmengen verarbeiten, welche die Kapazitäten des menschlichen Gehirns weit überschreiten. Also werden die Algorithmen das für uns erledigen. Doch sobald die Macht von den Menschen auf die Algorithmen übergeht, könnten die humanistischen Projekte irrelevant werden. Sobald wir die homozentrische Weltsicht zugunsten eines datazentrischen Weltbilds aufgeben, könnten Gesundheit und Glück der Menschen immer weiter an Bedeutung einbüßen. Denn warum sollte man sich um obsolete Datenverarbeitungsmaschinen kümmern, wenn es bereits deutlich bessere Modelle gibt? Wir streben danach, das «Internet aller Dinge» zu entwickeln, weil wir hoffen, dass es uns gesund, glücklich und mächtig macht. Doch sobald das «Internet aller Dinge» existiert und funktioniert, könnten wir von Entwicklern zu Mikrochips und dann zu Daten schrumpfen und uns am Ende im Datenstrom auflösen wie ein Klumpen Erde in einem reißenden Fluss.
Der Dataismus droht somit, Homo sapiens das anzutun, was Homo sapiens allen anderen Tieren angetan hat. Im Verlauf der Geschichte haben die Menschen ein globales Netzwerk geschaffen und alles nach seiner Funktion in diesem Netzwerk bewertet. Jahrtausendelang nährte das den menschlichen Stolz und menschliche Vorurteile. Da wir Menschen die wichtigsten Funktionen in diesem Netzwerk erfüllten, war es ein Leichtes für uns, uns selbst die Errungenschaften des Netzwerks anzurechnen und uns als Krone der Schöpfung zu betrachten. Das Leben und die Erfahrungen aller anderen Tiere galten als minderwertig, weil sie weit weniger wichtige Funktionen erfüllten, und wenn ein Tier gar keine Funktion mehr hatte, wurde es ausgerottet. Doch sobald die Menschen ihre funktionale Bedeutung für das Netzwerk verlieren, werden sie erkennen, dass sie gar nicht die Krone der Schöpfung sind. Die Maßstäbe, die wir selbst entwickelt haben, werden uns dazu verdammen, den Mammuts und den chinesischen Flussdelphinen ins Vergessen zu folgen. Rückblickend betrachtet, wird die Menschheit nichts weiter gewesen sein als ein leichtes Kräuseln im großen kosmischen Datenstrom.
Wir können die Zukunft nicht wirklich vorhersagen. All die hier in diesem Buch entworfenen Szenarien sollten als Möglichkeiten und weniger als Prognosen verstanden werden. Wenn wir über die Zukunft nachdenken, sind unsere Horizonte üblicherweise durch gegenwärtige Ideologien und Gesellschaftssysteme beschränkt. Die Demokratie ermuntert uns dazu, an eine demokratische Zukunft zu glauben. Der Kapitalismus erlaubt es uns nicht, uns eine nicht-kapitalistische Alternative vorzustellen. Und der Humanismus macht es uns schwer, über eine posthumane Bestimmung nachzudenken. Bestenfalls recyceln wir mitunter vergangene Ereignisse und betrachten sie als alternative Zukünfte. So dienen beispielsweise der Nationalsozialismus und der Kommunismus des 20. Jahrhunderts als Blaupause für viele Dystopien, und Science-Fiction-Autoren bedienen sich des Vermächtnisses von Mittelalter und Antike, um sich Jedi-Ritter und galaktische Kaiser vorzustellen, die mit Raumschiffen und Laserwaffen gegeneinander kämpfen.
Dieses Buch spürt den Ursprüngen unserer gegenwärtigen Konditionierung nach, um ihren Griff zu lockern und uns in die Lage zu versetzen, weit fantasievoller als bisher über unsere Zukunft nachzudenken. Statt unsere Horizonte durch die Prophezeiung eines einzigen definitiven Szenarios einzuengen, will dieses Buch sie erweitern und uns vor Augen führen, dass es ein viel breiteres Spektrum an Möglichkeiten gibt. Wie ich mehrfach betont habe, weiß niemand wirklich, wie der Arbeitsmarkt, die Familie oder die Ökologie im Jahr 2050 aussehen und welche Religionen, Wirtschaftssysteme oder politischen Strukturen die Welt beherrschen werden.
Doch eine Horizonterweiterung kann sich auch als Bumerang erweisen, wenn wir danach verwirrter und tatenloser sind als zuvor. Worauf sollten wir angesichts so vieler Szenarien und Möglichkeiten unsere Aufmerksamkeit richten? Die Welt verändert sich schneller als je zuvor, wir werden von unglaublichen Mengen an Daten, Ideen, Versprechungen und Bedrohungen überschwemmt. Die Menschen überlassen nicht zuletzt deshalb, weil sie mit der Datenflut nicht mehr zurechtkommen, die Macht dem freien Markt, der Weisheit der Crowd und externen Algorithmen. In der Vergangenheit funktionierte Zensur dadurch, dass der Informationsfluss blockiert wurde. Im 21. Jahrhundert bedeutet Zensur, die Menschen mit irrelevanten Informationen zu überschwemmen. Die Menschen wissen einfach nicht, worauf sie achten sollen, und vergeuden ihre Zeit oft damit, sich mit Nebenaspekten zu beschäftigen. In früheren Zeiten bedeutete Macht, Zugang zu Daten zu haben. Heute bedeutet Macht zu wissen, was man ignorieren kann. Worauf von all dem, was in unserer chaotischen Welt geschieht, sollten wir uns also konzentrieren?
Wenn wir in Monaten denken, sollten wir unser Augenmerk vermutlich auf unmittelbare Probleme wie die Wirren im Nahen Osten, die Flüchtlingskrise in Europa und die Abschwächung der chinesischen Wirtschaft richten. Wenn wir in Jahrzehnten denken, spielen der Klimawandel, die wachsende Ungleichheit und der Zusammenbruch des Arbeitsmarkts eine zentrale Rolle. Wenn wir aber das Leben im Großen und Ganzen in den Blick nehmen, werden alle anderen Probleme und Entwicklungen von drei miteinander verknüpften Prozessen überschattet:
- Die Wissenschaft konvertiert zu einem allumfassenden Dogma, das behauptet, Organismen seien Algorithmen und Leben sei Datenverarbeitung.
- Intelligenz koppelt sich vom Bewusstsein ab.
- Nicht-bewusste, aber hochintelligente Algorithmen könnten uns schon bald besser kennen als wir uns selbst.
Diese drei Prozesse werfen drei Schlüsselfragen auf, die Sie, so hoffe ich, noch lange nach der Lektüre dieses Buches beschäftigen werden:
- Sind Organismen wirklich nur Algorithmen, und ist Leben wirklich nur Datenverarbeitung?
- Was ist wertvoller – Intelligenz oder Bewusstsein?
- Was wird aus unserer Gesellschaft, unserer Politik und unserem Alltagsleben, wenn nichtbewusste, aber hochintelligente Algorithmen uns besser kennen als wir uns selbst?
(Ein Kräuseln im Datenfluss)
Yuval Noah Harari (1976 – ), Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen (2015), passim
Das nenne ich mal einen ordentlichen Klopps an Text, der macht ordentlich satt und zugleich ziemlich voll. Deshalb habe ich mir entgegen des zuletzt beschriebenen Leseplans zunächst und zuvor die beiden oben zitierten Schinken o(h)ral als leidlich gut gelesenes Hör-Buch gegönnt und dadurch in ihrer nötigen Schwere moderat abgemildert. Ich konnte also doch nicht umhin, nach dem reizvollen Lektürebeginn der dritten populär(-wissenschaftlich-)en Monographie aus dem letzten Blog-Artikel zuerst die beiden älteren Bücher in einem zwanghaften Anflug von Werkschronologitis zu konsumieren.
Immehrin und insgesamt will Herr Harari („Danke!“ für diesen lautmalerisch-alliterierenden Namen) darin einiges an Gehalten auftischen: nichts weniger als die gesamte Geschichte der Menschheit, im großen Abriss ebenso wie in der kleinen Alltagsimpression. Derart vielsichichtig wird dieser buchstäblich epische Gegenstand umsichtig beschrieben und klar analysiert, zudem obendrauf noch fleißig kommentiert und reflektiert sowie zuletzt auch politisiert und polemisiert.
Schon an der Grenze zwischen Text-Fast-Food und Text-Slow-Food gelegen, zitiere ich hier tatsächlich querbeet über gut 1100 Druckseiten hinweg und versuche unterdessen ganz unambitioniert, das sog. Wesentliche von sowohl Inhalt (Argument, Beschreibung, etc.) als auch Form und Stil (Erzählung, Wortwahl, Stilistik, usw.) schlimmstenfalls nur anzudeuten oder bestenfalls sogar zu treffen. Bei diesem qualitativ also spannenden und quantitativ eindeutigen Verhältnis von Original zu Abbild kann ich mithin nur von „TFF“ sprechen, auch, weil ich mir zudem erlaube, kurzerhand zwei Werke zitierend in einem Artikel zu kombinieren: Ein kurze Geschichte der Menschheit feat. Homo Deus – namensgeben und eben nicht umgekehrt.
„Feat.“ also und deshalb auch klarer Zitatevorteil für Homo Deus! Denn in Summe lese ich die KGdM als Overtüre zu Homo Deus, weil der Geschichtswissenschaftler von der ersten Seite an förmlich danach drängt, den Bogen, den er nacherzählend zuvor historisch aufgespannt hat, praktisch anzubinden, sprich prognostisch fortzuführen, politisch zu problematisieren und bisweilen prophetisch weiterzuspinnen. Nach der Vergangenheit, die Gegenwart aus besagter und zuvor beschriebener dritten Monografie elegant überspringend, folgt also die Bruch-Landung irgendwo und irgendwann in möglichen Zukünften des Homo sapiens als Selfmade-Gott. Dessen und deren Entwurf sowie Kritik bedarf notwendig und wiederkehrend der Rückbindung an die Geschichte über die Geschichte und nunmehr endlich auch die bisher weithin ausgesparte Gegenwart; und macht zusammengenommen den intellektuell spannenderen Teil des Werkes aus, insbesondere da er auch praktisch-politisch von höhrer Relevanz ist, im Gegensatz zum theoretisch-deskriptiven Anspruch der bloßen Geschichtswissenschaft typischen Schlages, die Harari weit hinter sich zurücklässt.
Der bündige Blick auf 13.500.070.000 (In einem Wort: „Dreizehnmilliardenfünfhundermillionenundsiebzigtausend“) Jahre ist nichtsdestotrotz bewundernswert kompakt gehalten und dabei dennoch so anschaulich erzählt, dass Historie teilweise erlebar wird, in sie so plastisch wie humorvoll nachvollziehbar gemacht wird, wie das noch eben wünschenswert sein dürfte. Stereotypen treffen deshalb bisweilen auf Allgemeinplätzen aufeinander, was jedoch angesichts von Ironie und der zusätzlich brisanten Poly- und Ambivalenz von „Geschichte beschreiben“ und „Geschichten schreiben“ durchaus als Kompliment gemeint sein soll. Abstrakte Geschichte, die konkretes Geschehen für ihre Theoriarbeit zuvor vereinfacht hat, wird nachträglich wieder konkretisiert, indem ihr Farbe, Form und Gefühl zurückgegeben werden. Dadurch widerlegt der Schriftsteller Harari schon sehr früh das im letzten Artikel vorschnell gemachte Vorurteil von stilistischer Karg- und Nüchternheit. Er schreibt einfach und effektiv, was im Blick auf seine offenkundige Intention, (be-)schreibend insbesondere einen historisch aufgeklärten Einfluss auf den Zukunftsdiskurs der Menschheit zu üben, absolut stimmig ist.
Ebenso stimmig ist sein Portrait des Menschen als seßhaft und verkopft gewordenem ehemaligen Wildbeuter, der auf eine evolutionäre bewegte Vorgeschichte zurückblickt und dessen Geschichte unter eingängigen Schlagworten strukturiert und rekonstruiert wird: Auf die „Kognitive Revolution,“ in der wir fiktiv und abstrakt Denken und sozial interagieren gelernt haben, folgte die „Landwirtschaftliche Revolution“, die uns domestizierte und die ersten Hochzivilisationen hervorbrachte, worafhin sich zuletzt die „Wissenschaftliche Revolution“ ereignete, durch die wir technisiert und globalisiert wurden und dabei derart mächtig geworden seien, dass wir nunmehr gottgleich „Krieg, Hunger und Tod“ besiegen könnten oder gar schon hätten. Mit diesem unschuldig-beiläufigen Kippen in den Konjunktiv vollzieht sich bei Harari auch der im Text immer wieder angedeutete Übergang von der Beschreibung des Gewesenen in die Besprechung des Werdenden. Sein Ausblick auf das Zukommende ist dabei neugierig und bisweilen sorgenvoll und wendet sich unbestimmt auf die nähere und moderat fernere Zukunft im von mir grob geschätzten, von ihm nicht explizierten Intervall von 30 bis 100 Jahren.
Der globalisierte Humanismus, plausibel in seine liberale, evolutionäre und sozialistische Traditionslinie differenziert, könnte auf tragische Weise vielfach in die Krise geraten. Nachdem der Mensch sich zum Meister der Erde emporgearbeitet hat, indem er bei seiner Expansion ganze Ökosysteme samt Tieren, Pflanzen und Lebensraum schlicht zerstört oder funktional unterjocht hat, beherrscht er den Planeten zur Gänze. Die technologische Machtfülle hat jedoch massive Kosten verursacht und bringt ebensolche Konsequenzen mit sich: Während die Ressourcen rar werden und die natürlichen Puffer für fast jeden Umweltstressor gefühlt zur Neige gehen, das Klima sich jedenfalls zu unseren Unbilden wandelt, drängen zukünftige Gefahrenpotentiale auf uns ein und uns zu einer gestalterischen Proaktivität in Politik und Wirtschaft.
Nach Harari bedroht insbesondere der sog. „Dataismus“ den in sich spannungsvoll aufgespaltenen Humanismus und profitiert dabei, so lese ich seine Darstellung, von den offensichtlichen Widersprüche zwischen dessen libraler, sozial(-istisch-)er und evolutionärer Prägung. Um diesen drei Begriffen spontan ein griffigeres Bild zu geben: liberal wäre beispielsweise der in die Jahre gekommene „American Dream“, sozial bis sozialistisch der nie verwirklichte, vollendete „Kommunismus“ und evolutionär ein zumal noch biotechnologisch aufgerüsteter „Neo-Faschismus“; überall steht eine Idee, ein Ideal des Menschen im Zentrum, wohingegen Umwelt, Götter, Tiere überall, wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle spielen. Wie also mit der Bedrohung durch den Dataismus, d.h. der potentiellen Allmacht der Datenströme – der KI’s, Algorithmen und sonstigen neuen technologischen Unwesen – umgehen? So ungefähr lautet einer der wichtigsten Fragekomplexe, die Harari an den Anwärter auf den Göttertitel Homo Deus heranträgt.
Dass hier nebenbei eine gänzlich neue Phänomenklasse an Entitäten entsteht, interessiert wohl nur die wenigen Ontologen unter den wenigen Philosophen; der praktische Rest an Konsequenzen sollte aber definitiv jeden angehen. Denn jeder ist – Stichworte: Facebook, Amazon und Google – bereits betroffen und wird das zukünftig womöglich in noch stärkerem Maße sein. Je nach dem, wo man auf unserem Planeten zukünftig zufällig geboren wird, wird man womöglich von autonom fahrenden Autos befördert, in virtuellen Schulen E-unterrichtet, an jeder Ecke von künstlichen Intelligenzen bedient und beraten, sogar von ihnen operiert und stimuliert, bezahlt und gefeuert oder schlussendlich sogar politisch beherrscht. Dieser Klimax wird freilich mehr oder weniger, hier oder dort der Fall sein, aber die Herrschaft der Daten dämmert definitiv.
Ebenso dämmert die Nacht und mir zugleich, dass ich trotz vieler Aknüpfungspunkte und Ideen hier und jetzt einen schließenden Punkt machen sollte, um mich nicht von Hararis Universalitätsgebahren anstecken zu lassen: Er überzeugt in beiden Büchern durch seine lockere Art und die Fähigkeit, schwierige Sachverhalte einprägsam zu illustrieren, klar zu strukturiere, zugleich durch die selbstkritische Schonungslosigkeit seiner Analyse und die trotz versuchter Offenheit und Neutralität immer wieder durchscheinde strikt rationale Grundüberzeugung und einen zustiefst humanen Wertkanon. Deshalb gibt es eine klar Leseempfehlung von mir für Euch!
Gute Nacht und glückliches Gelingen im geschichtlichen Geschehen, Euer Satorius
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