Diskurse der Nacht

KGdM feat. Homo Deus: Harari’s History

Vor rund 13,5 Milliarden Jahren entstanden Materie, Energie, Raum und Zeit in einem Ereignis namens Urknall. Die Geschichte dieser grundlegenden Eigenschaften unseres Universums nennen wir Physik.

 

 

Etwa 300000 Jahre später verbanden sich Materie und Energie zu komplexeren Strukturen namens Atome, die sich wiederum zu Molekülen zusammenschlossen. Die Geschichte der Atome, Moleküle und ihrer Reaktionen nennen wir Chemie.

 

 

Vor 3,8 Milliarden Jahren begannen auf einem Planeten namens Erde bestimmte Moleküle, sich zu besonders großen und komplexen Strukturen zu verbinden, die wir als Organismen bezeichnen. Die Geschichte dieser Organismen nennen wir Biologie.

 

 

Und vor gut 70000 Jahren begannen Organismen der Art Homo sapiens mit dem Aufbau von noch komplexeren Strukturen namens Kulturen. Die Entwicklung dieser Kulturen nennen wir Geschichte.

 

 

Die Geschichte der menschlichen Kulturen wurde von drei großen Revolutionen geprägt. Die kognitive Revolution vor etwa 70000 Jahren brachte die Geschichte überhaupt erst in Gang. Die landwirtschaftliche Revolution vor rund 12000 Jahren beschleunigte sie. Und die wissenschaftliche Revolution, die vor knapp 500 Jahren ihren Anfang nahm, könnte das Ende der Geschichte und der Beginn von etwas völlig Neuem sein. Dieses Buch erzählt, welche Konsequenzen diese drei Revolutionen für den Menschen und seine Mitlebewesen hatten und haben.

 

 

Menschen gab es schon lange vor dem Beginn der Geschichte. Die ersten menschenähnlichen Tiere betraten vor etwa 2,5 Millionen Jahren die Bühne. Aber über zahllose Generationen hinweg stachen sie nicht aus der Vielzahl der Tiere heraus, mit denen sie ihren Lebensraum teilten. Wenn wir 2 Millionen Jahre in die Vergangenheit reisen und einen Spaziergang durch Ostafrika unternehmen könnten, würden wir dort vermutlich Gruppen von Menschen begegnen, die äußerlich gewisse Ähnlichkeit mit uns haben. Besorgte Mütter tragen ihre Babys auf dem Arm, Kinder spielen im Matsch. Von irgendwoher dringt das Geräusch von Steinen, die aufeinandergeschlagen werden, und wir sehen einen ernst dreinblickenden jungen Mann, der sich in der Kunst der Werkzeugherstellung übt. Die Technik hat er sich bei zwei Männern abgeschaut, die sich gerade um einen besonders fein gearbeiteten Feuerstein streiten; knurrend und mit gefletschten Zähnen tragen sie eine weitere Runde im Kampf um die Vormachtstellung in der Gruppe aus. Währenddessen zieht sich ein älterer Herr mit weißen Haaren aus dem Trubel zurück und streift allein durch ein nahe gelegenes Waldstück, wo er von einer Horde Schimpansen überrascht wird.

 

 

(Kapitel 1: Ein ziemlich unaffälliges Tier)


 

Vor 70000 Jahren war der Homo sapiens ein unbedeutendes Tier, das in einer abgelegenen Ecke Afrikas seinem Leben nachging. In den folgenden Jahrtausenden stieg es zum Herrscher des gesamten Planeten auf und wurde zum Schrecken des Ökosystems. Heute steht er kurz davor, zum Gott zu werden und nicht nur die ewige Jugend zu gewinnen, sondern auch göttliche Macht über Leben und Tod. Leider hat die Herrschaft des Sapiens bislang wenig hinterlassen, auf das wir uneingeschränkt stolz sein könnten. Wir haben uns die Umwelt untertan gemacht, unsere Nahrungsproduktion gesteigert, Städte gebaut, Weltreiche gegründet und Handelsnetze errichtet. Aber haben wir das Leid in der Welt gelindert? Wieder und wieder bedeuteten die massiven Machtzuwächse der Menschheit keine Verbesserung für die einzelnen Menschen und immenses Leid für andere Lebewesen.

 

 

Trotz unserer erstaunlichen Leistungen haben wir nach wie vor keine Ahnung, wohin wir eigentlich wollen, und sind so unzufrieden wie eh und je. Von Kanus sind wir erst auf Galeeren, dann auf Dampfschiffe und schließlich auf Raumschiffe umgestiegen, doch wir wissen immer noch nicht, wohin die Reise gehen soll. Wir haben größere Macht als je zuvor, aber wir haben noch immer keine Ahnung, was wir damit anfangen wollen. Schlimmer noch, die Menschheit scheint verantwortungsloser denn je. Wir sind Selfmade-Götter, die nur noch den Gesetzen der Physik gehorchen und niemandem Rechenschaft schuldig sind. Und so richten wir unter unseren Mitlebewesen und der Umwelt Chaos und Vernichtung an, interessieren uns nur für unsere eigenen Annehmlichkeiten und unsere Unterhaltung und finden doch nie Zufriedenheit.

 

 

Gibt es etwas Gefährlicheres als unzufriedene und verantwortungslose Götter, die nicht wissen, was sie wollen?

 

 

(Nachwort)

 

 

Yuval Noah Harari (1976 – ), Eine kurz Geschichte der Menschheit (2011), passim


Alles begann vor etwa 70.000 Jahren, als die kognitive Revolution die Sapiens in die Lage versetzte, über Dinge zu sprechen, die nur in ihrer Vorstellungswelt existierten. In den folgenden 60.000 Jahren flochten sie zahlreiche fiktionale Netze, doch diese blieben klein und lokal begrenzt. Der Geist eines verehrten Ahnen, der vom einen Stamm angebetet wurde, war bei den Nachbarn völlig unbekannt, und Muscheln, die an einem Ort wertvoll waren, wurden wertlos, sobald man die nächste Bergkette überquert hatte. Geschichten über die Geister von Ahnen und wertvolle Muscheln verschafften den Sapiens durchaus einen enormen Vorteil, weil sie es Hunderten und mitunter sogar Tausenden von ihnen ermöglichten, effektiv zusammenzuarbeiten, wozu Neandertaler oder Schimpansen nicht in der Lage waren. Doch solange die Sapiens Jäger und Sammler blieben, konnten sie nicht wirklich massenhaft kooperieren, denn es war schlicht unmöglich, eine Stadt oder ein Königreich allein mit Jagen und Sammeln zu ernähren. Folglich waren die Geister, Feen und Dämonen der Steinzeit relativ schwache Wesenheiten.

 

 

Die landwirtschaftliche Revolution, die vor ungefähr 12.000 Jahren begann, lieferte die erforderliche materielle Grundlage, um die intersubjektiven Netzwerke zu vergrößern und zu stärken. Der Ackerbau ermöglichte es, Tausende von Menschen in dicht besiedelten Städten und Tausende von Soldaten in disziplinierten Armeen zu ernähren. Doch dann standen die intersubjektiven Geflechte vor einer neuen Hürde. Um die kollektiven Mythen zu bewahren und massenhafte Kooperation zu organisieren, setzten die frühen Bauern auf die Datenverarbeitungsfähigkeiten des menschlichen Gehirns, und die waren nun einmal recht begrenzt.

 

 

Bauern glaubten an Geschichten über große Götter. Für ihren Lieblingsgott errichteten sie Tempel, zu seinen Ehren hielten sie Feste ab, sie brachten ihm Opfer dar und ließen ihm Land, Getreide und Geschenke zukommen. In den ersten Städten im antiken Sumer, vor rund 6000 Jahren, waren die Tempel nicht nur Zentren der Anbetung, sondern auch die wichtigsten politischen und ökonomischen Knotenpunkte. Die Götter der Sumerer erfüllten eine ähnliche Funktion wie moderne Marken und Unternehmen. Heute sind Unternehmen fiktive juristische Personen, die über Eigentum verfügen, Geld verleihen, Arbeitnehmer beschäftigen und ökonomische Risiken eingehen. In den antiken Städten Uruk, Lagasch und Schuruppak fungierten die Götter als solche Rechtspersonen, die Felder und Sklaven besitzen, Kredite vergeben und aufnehmen, Löhne bezahlen und Dämme sowie Kanäle bauen konnten.

 

 

(Kapitel 4: Geschichtenerzähler)

 

 

[…]

 

 

Vor 70.000 Jahren veränderte die kognitive Revolution des Geist des Sapiens und machte damit aus einem unbedeutenden afrikanischen Affen den Herrscher der Welt. Der verbesserte Geist des Sapiens hatte plötzlich Zugang zum riesigen Bereich des Intersubjektiven, was uns in die Lage versetzte, Götter und Unternehmen zu schaffen, Städte und Imperien zu errichten, die Schrift und das Geld zu erfinden und schließlich das Atom zu spalten und zum Mond zu fliegen. Soweit wir wissen, resultierte diese weltbewegende Revolution aus ein paar kleinen Veränderungen in der DNA des Sapiens und einer geringfügigen Neuverdrahtung im Gehirn. Wenn das so ist, so der Techno-Humanismus, reichen ein paar weitere Veränderungen in unserem Genom und eine weitere Neuverschaltung unseres Gehirns aus, um eine zweite kognitive Revolution ins Werk zu setzen. Die geistigen Neuerungen der ersten kognitiven Revolution verschafften Homo sapiens Zugang zum Bereich des Intersubjektiven und machten uns zu Herrschern über den Planeten. Eine zweite kognitive Revolution könnte Homo deus Zugang zu unvorstellbaren neuen Sphären verschaffen und uns zu Herren der Galaxie erheben.

 

 

Diese Idee ist eine aktualisierte Variante der alten Träume des evolutionären Humanismus, der schon vor einem Jahrhundert die Schaffung von Übermenschen forderte. Doch während Hitler und sein Gefolge solche Übermenschen mit Hilfe von Zuchtwahl und ethnischer Säuberung produzieren wollten, hofft der Techno-Humanismus des 21. Jahrhunderts, dieses Ziel weitaus friedlicher zu erreichen, nämlich mit Hilfe von Gentechnik, Nanotechnologie und Schnittstellen zwischen Gehirn und Computer.

 

 

(Kapitel 10: Der Ozean des Bewusstseins)

 

 

[…]

 

 

Kombiniert man die praktische Fähigkeit, den Geist zu manipulieren, mit unserer Unkenntnis des mentalen Spektrums und den eng gefassten Interessen von Regierungen, Armeen und Unternehmen, sind Probleme vorprogrammiert. Es könnte gut sein, dass wir unsere Körper und unsere Gehirne erfolgreich optimieren, dabei aber unseren Geist verlieren. Tatsächlich könnte der Techno-Humanismus die Menschen am Ende «downgraden». Denn das System dürfte zurückgestufte Menschen bevorzugen, nicht weil sie über irgendeinen übermenschlichen Knacks verfügen, sondern weil es ihnen an einigen wirklich störenden menschlichen Eigenschaften fehlen würde, die das System behindern und es verlangsamen. Wie jeder Bauer weiß, sorgt üblicherweise die schlauste Ziege für die größten Probleme, weshalb zur landwirtschaftlichen Revolution auch gehörte, die mentalen Fähigkeiten der Tiere zu beschneiden. Die zweite kognitive Revolution, von der Techno-Humanisten träumen, könnte das Gleiche mit uns machen, indem sie menschliche Verwandte produziert, die effektiver als je zuvor kommunizieren und Daten verarbeiten, aber nicht wirklich achtsam sein, träumen oder zweifeln können. Über Millionen von Jahren waren wir Schimpansen in verbesserter Ausführung. In Zukunft könnten wir zu Ameisen in Übergröße werden.

 

 

(Ich rieche Angst)

 

 

[…]

 

 

Die normalen Wähler spüren allmählich, dass ihnen der demokratische Mechanismus keine Macht mehr verschafft. Die Welt rings um sie herum verändert sich, und sie verstehen nicht, wie und warum das alles geschieht. Die Macht verschiebt sich weg von ihnen, aber sie können nicht sagen, wohin sie verschwunden ist. In Großbritannien glauben sie, die Macht sei an die EU übergegangen, und so stimmen sie für den Brexit. In den USA bilden sich die Wähler ein, das «Establishment» habe alle Macht an sich gerissen, und so unterstützen sie Anti-Establishment-Kandidaten wie Bernie Sanders und Donald Trump. Die traurige Wahrheit ist, dass niemand weiß, wo all die Macht hin ist. Fest steht nur: Sie wird nicht zu den gewöhnlichen Wählern zurückkehren, wenn Großbritannien aus der EU austritt oder Donald Trump ins Weiße Haus einzieht.

 

 

Das heißt nicht, dass wir in Diktaturen im Stile des 20. Jahrhunderts zurückfallen werden. Autoritäre Regime scheinen vom Tempo der technologischen Entwicklung und der Geschwindigkeit sowie der Menge des Datenflusses gleichermaßen überfordert zu sein. Im 20. Jahrhundert hatten Diktatoren große Zukunftsvisionen. Kommunisten und Faschisten waren gleichermaßen bestrebt, die alte Welt vollständig zu zerstören und an ihrer Stelle eine neue Welt zu errichten. Was immer man von Lenin, Hitler oder Mao halten mag, einen Mangel an Vision kann man ihnen nicht vorwerfen. Heute, so scheint es, hätten Politiker eigentlich die Möglichkeit, noch größere Visionen zu verfolgen. Während die Kommunisten und die Nationalsozialisten mit Hilfe von Dampf- und Schreibmaschinen eine neue Gesellschaft und einen neuen Menschen zu schaffen versuchten, könnten die heutigen Propheten mit Biotechnologie und Supercomputern arbeiten.

 

 

In Science-Fiction-Filmen bedienen sich hitlereske, rücksichtslose Politiker nur zu gerne solch neuer Technologien und stellen sie in den Dienst dieses oder jenes größenwahnsinnigen politischen Ideals. Doch Politiker aus Fleisch und Blut haben zu Beginn des 21. Jahrhunderts selbst in autoritären Ländern wie Russland, Iran oder Nordkorea nichts mit ihren Hollywoodverwandten gemein. Sie scheinen keine schöne neue Welt zu planen. Die kühnsten Träume von Kim Jong-un und Ali Khamenei reichen im Grunde nicht über Atombomben und Langstreckenraketen hinaus – das wirkt wie bei 1945 stehen geblieben. Putins Bestrebungen bleiben offenkundig darauf beschränkt, die alte Sowjetunion oder das noch ältere Zarenreich wiederzuerrichten. In den USA werfen paranoide Republikaner derweil Barack Obama vor, er sei ein rücksichtsloser Despot, der Verschwörungen aushecke, um die Grundlagen der amerikanischen Gesellschaft zerstören – doch in acht Jahren Präsidentschaft brachte er gerade einmal eine bescheidene Gesundheitsreform zustande. Neue Welten und neue Menschen zu schaffen liegt weit abseits seiner Agenda.

 

 

Gerade weil sich die Technologie heute so schnell entwickelt und Parlamente wie Diktatoren durch Daten, die sie nicht schnell genug verarbeiten können, förmlich erschlagen werden, denken heutige Politiker in viel kleineren Dimensionen als ihre Vorgänger vor 100 Jahren. Der Politik fehlt es Anfang des 21. Jahrhunderts folglich an großen Visionen. Regieren ist zu bloßer Administration geworden.

 

 

Man verwaltet das Land, führt es aber nicht mehr. Die Regierung sorgt dafür, dass Lehrer pünktlich bezahlt werden und die Abwasserkanäle nicht überlaufen, aber sie hat keine Ahnung, wo das Land in 20 Jahren sein wird.

 

 

In mancher Hinsicht ist das durchaus eine gute Sache. Wenn man bedenkt, dass einige der großen politischen Visionen des 20. Jahrhunderts uns nach Auschwitz, nach Hiroshima und zum «Großen Sprung nach vorn» führten, sind wir in den Händen kleingeistiger Bürokraten heute möglicherweise besser aufgehoben. Die Verbindung aus gottgleicher Technologie mit größenwahnsinniger Politik würde der Katastrophe Tür und Tor öffnen. Viele neoliberale Ökonomen und Politikwissenschaftler behaupten, am besten sollte man alle wichtigen Entscheidungen dem freien Markt überlassen. Damit liefern sie Politikern die perfekte Entschuldigung für Nichthandeln und Nichtwissen, die als tiefreichende Klugheit uminterpretiert werden. Politiker glauben nur zu gerne, dass sie die Welt deshalb nicht verstehen, weil sie sie nicht verstehen müssen.

 

 

Doch auch die Verbindung von gottgleicher Technologie mit einer Politik, die auf kurze Sicht fährt, hat ihre Schattenseiten. Ein Mangel an Visionen ist nicht immer ein Segen, und nicht alle Visionen sind zwangsläufig schlecht. Im 20. Jahrhundert zerfiel die historische Vision der Nationalsozialisten nicht von selbst. Sie wurde von den gleichermaßen groß angelegten Visionen des Sozialismus und des Liberalismus besiegt. Unsere Zukunft den Kräften des Marktes zu überlassen ist gefährlich, denn diese Kräfte tun, was gut für den Markt ist, und nicht, was gut für die Menschheit oder für die Welt ist. Die Hand des Marktes ist ebenso blind wie unsichtbar, und wenn man sie sich selbst überlässt, wird sie gegen die Bedrohung durch den Klimawandel oder das gefährliche Potenzial künstlicher Intelligenz nichts tun.

 

 

Manche Leute glauben, dass trotzdem jemand verantwortlich ist. Nicht demokratische Politiker oder autokratische Despoten, sondern eine kleine Clique von Milliardären, die insgeheim die Welt regieren. Aber solche Verschwörungstheorien funktionieren nie, weil sie die Komplexität des Systems unterschätzen. Ein paar Milliardäre, die in irgendeinem Hinterzimmer Zigarren rauchen und Whisky trinken, können nicht alles verstehen, was auf der Welt passiert, und es schon gar nicht kontrollieren. Rücksichtslose Milliardäre und kleine Interessengruppen florieren in der chaotischen Welt von heute nicht deshalb, weil sie die Karte besser lesen können als alle anderen, sondern weil sie sehr eng gesteckte Ziele haben. In einem chaotischen System ist der Tunnelblick immer von Vorteil, und die Macht der Milliardäre entspricht genau ihren Zielen. Wollte der reichste Mensch der Welt eine weitere Milliarde US-Dollar verdienen, könnte er das System problemlos manipulieren, um sein Ziel zu erreichen. Wollte er jedoch die weltweite Ungleichheit verringern oder den globalen Klimawandel stoppen, wird nicht einmal ihm das gelingen, weil das System viel zu komplex ist.

 

 

(Wo ist all die Macht geblieben?)

 

 

[…]

 

 

Wenn es dem Dataismus gelingt, die Welt zu erobern, was wird dann mit uns Menschen geschehen? Anfangs wird es wahrscheinlich das menschliche Streben nach Gesundheit, Glück und Macht beschleunigen. Der Dataismus breitet sich gerade deshalb aus, weil er diese menschlichen Sehnsüchte zu stillen verspricht. Um Unsterblichkeit, Glück und göttliche Schöpfungskraft zu erlangen, müssen wir ungeheure Datenmengen verarbeiten, welche die Kapazitäten des menschlichen Gehirns weit überschreiten. Also werden die Algorithmen das für uns erledigen. Doch sobald die Macht von den Menschen auf die Algorithmen übergeht, könnten die humanistischen Projekte irrelevant werden. Sobald wir die homozentrische Weltsicht zugunsten eines datazentrischen Weltbilds aufgeben, könnten Gesundheit und Glück der Menschen immer weiter an Bedeutung einbüßen. Denn warum sollte man sich um obsolete Datenverarbeitungsmaschinen kümmern, wenn es bereits deutlich bessere Modelle gibt? Wir streben danach, das «Internet aller Dinge» zu entwickeln, weil wir hoffen, dass es uns gesund, glücklich und mächtig macht. Doch sobald das «Internet aller Dinge» existiert und funktioniert, könnten wir von Entwicklern zu Mikrochips und dann zu Daten schrumpfen und uns am Ende im Datenstrom auflösen wie ein Klumpen Erde in einem reißenden Fluss.

 

 

Der Dataismus droht somit, Homo sapiens das anzutun, was Homo sapiens allen anderen Tieren angetan hat. Im Verlauf der Geschichte haben die Menschen ein globales Netzwerk geschaffen und alles nach seiner Funktion in diesem Netzwerk bewertet. Jahrtausendelang nährte das den menschlichen Stolz und menschliche Vorurteile. Da wir Menschen die wichtigsten Funktionen in diesem Netzwerk erfüllten, war es ein Leichtes für uns, uns selbst die Errungenschaften des Netzwerks anzurechnen und uns als Krone der Schöpfung zu betrachten. Das Leben und die Erfahrungen aller anderen Tiere galten als minderwertig, weil sie weit weniger wichtige Funktionen erfüllten, und wenn ein Tier gar keine Funktion mehr hatte, wurde es ausgerottet. Doch sobald die Menschen ihre funktionale Bedeutung für das Netzwerk verlieren, werden sie erkennen, dass sie gar nicht die Krone der Schöpfung sind. Die Maßstäbe, die wir selbst entwickelt haben, werden uns dazu verdammen, den Mammuts und den chinesischen Flussdelphinen ins Vergessen zu folgen. Rückblickend betrachtet, wird die Menschheit nichts weiter gewesen sein als ein leichtes Kräuseln im großen kosmischen Datenstrom.

 

 

Wir können die Zukunft nicht wirklich vorhersagen. All die hier in diesem Buch entworfenen Szenarien sollten als Möglichkeiten und weniger als Prognosen verstanden werden. Wenn wir über die Zukunft nachdenken, sind unsere Horizonte üblicherweise durch gegenwärtige Ideologien und Gesellschaftssysteme beschränkt. Die Demokratie ermuntert uns dazu, an eine demokratische Zukunft zu glauben. Der Kapitalismus erlaubt es uns nicht, uns eine nicht-kapitalistische Alternative vorzustellen. Und der Humanismus macht es uns schwer, über eine posthumane Bestimmung nachzudenken. Bestenfalls recyceln wir mitunter vergangene Ereignisse und betrachten sie als alternative Zukünfte. So dienen beispielsweise der Nationalsozialismus und der Kommunismus des 20. Jahrhunderts als Blaupause für viele Dystopien, und Science-Fiction-Autoren bedienen sich des Vermächtnisses von Mittelalter und Antike, um sich Jedi-Ritter und galaktische Kaiser vorzustellen, die mit Raumschiffen und Laserwaffen gegeneinander kämpfen.

 

 

Dieses Buch spürt den Ursprüngen unserer gegenwärtigen Konditionierung nach, um ihren Griff zu lockern und uns in die Lage zu versetzen, weit fantasievoller als bisher über unsere Zukunft nachzudenken. Statt unsere Horizonte durch die Prophezeiung eines einzigen definitiven Szenarios einzuengen, will dieses Buch sie erweitern und uns vor Augen führen, dass es ein viel breiteres Spektrum an Möglichkeiten gibt. Wie ich mehrfach betont habe, weiß niemand wirklich, wie der Arbeitsmarkt, die Familie oder die Ökologie im Jahr 2050 aussehen und welche Religionen, Wirtschaftssysteme oder politischen Strukturen die Welt beherrschen werden.

 

 

Doch eine Horizonterweiterung kann sich auch als Bumerang erweisen, wenn wir danach verwirrter und tatenloser sind als zuvor. Worauf sollten wir angesichts so vieler Szenarien und Möglichkeiten unsere Aufmerksamkeit richten? Die Welt verändert sich schneller als je zuvor, wir werden von unglaublichen Mengen an Daten, Ideen, Versprechungen und Bedrohungen überschwemmt. Die Menschen überlassen nicht zuletzt deshalb, weil sie mit der Datenflut nicht mehr zurechtkommen, die Macht dem freien Markt, der Weisheit der Crowd und externen Algorithmen. In der Vergangenheit funktionierte Zensur dadurch, dass der Informationsfluss blockiert wurde. Im 21. Jahrhundert bedeutet Zensur, die Menschen mit irrelevanten Informationen zu überschwemmen. Die Menschen wissen einfach nicht, worauf sie achten sollen, und vergeuden ihre Zeit oft damit, sich mit Nebenaspekten zu beschäftigen. In früheren Zeiten bedeutete Macht, Zugang zu Daten zu haben. Heute bedeutet Macht zu wissen, was man ignorieren kann. Worauf von all dem, was in unserer chaotischen Welt geschieht, sollten wir uns also konzentrieren?

 

 

Wenn wir in Monaten denken, sollten wir unser Augenmerk vermutlich auf unmittelbare Probleme wie die Wirren im Nahen Osten, die Flüchtlingskrise in Europa und die Abschwächung der chinesischen Wirtschaft richten. Wenn wir in Jahrzehnten denken, spielen der Klimawandel, die wachsende Ungleichheit und der Zusammenbruch des Arbeitsmarkts eine zentrale Rolle. Wenn wir aber das Leben im Großen und Ganzen in den Blick nehmen, werden alle anderen Probleme und Entwicklungen von drei miteinander verknüpften Prozessen überschattet:

 

 

  1. Die Wissenschaft konvertiert zu einem allumfassenden Dogma, das behauptet, Organismen seien Algorithmen und Leben sei Datenverarbeitung.
  2. Intelligenz koppelt sich vom Bewusstsein ab.
  3. Nicht-bewusste, aber hochintelligente Algorithmen könnten uns schon bald besser kennen als wir uns selbst.

 

 

Diese drei Prozesse werfen drei Schlüsselfragen auf, die Sie, so hoffe ich, noch lange nach der Lektüre dieses Buches beschäftigen werden:

 

 

  1. Sind Organismen wirklich nur Algorithmen, und ist Leben wirklich nur Datenverarbeitung?
  2. Was ist wertvoller – Intelligenz oder Bewusstsein?
  3. Was wird aus unserer Gesellschaft, unserer Politik und unserem Alltagsleben, wenn nichtbewusste, aber hochintelligente Algorithmen uns besser kennen als wir uns selbst?

 

 

(Ein Kräuseln im Datenfluss)

 

 

Yuval Noah Harari (1976 – ), Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen (2015), passim


Das nenne ich mal einen ordentlichen Klopps an Text, der macht ordentlich satt und zugleich ziemlich voll. Deshalb habe ich mir entgegen des zuletzt beschriebenen Leseplans zunächst und zuvor die beiden oben zitierten Schinken o(h)ral als leidlich gut gelesenes Hör-Buch gegönnt und dadurch in ihrer nötigen Schwere moderat abgemildert. Ich konnte also doch nicht umhin, nach dem reizvollen Lektürebeginn der dritten populär(-wissenschaftlich-)en Monographie aus dem letzten Blog-Artikel zuerst die beiden älteren Bücher in einem zwanghaften Anflug von Werkschronologitis zu konsumieren.

Immehrin und insgesamt will Herr Harari („Danke!“ für diesen lautmalerisch-alliterierenden Namen) darin einiges an Gehalten auftischen: nichts weniger als die gesamte Geschichte der Menschheit, im großen Abriss ebenso wie in der kleinen Alltagsimpression. Derart vielsichichtig wird dieser buchstäblich epische Gegenstand umsichtig beschrieben und klar analysiert, zudem obendrauf noch fleißig kommentiert und reflektiert sowie zuletzt auch politisiert und polemisiert.

Schon an der Grenze zwischen Text-Fast-Food und Text-Slow-Food gelegen, zitiere ich hier tatsächlich querbeet über gut 1100 Druckseiten hinweg und versuche unterdessen ganz unambitioniert, das sog. Wesentliche von sowohl Inhalt (Argument, Beschreibung, etc.) als auch Form und Stil (Erzählung, Wortwahl, Stilistik, usw.) schlimmstenfalls nur anzudeuten oder bestenfalls sogar zu treffen. Bei diesem qualitativ also spannenden und quantitativ eindeutigen Verhältnis von Original zu Abbild kann ich mithin nur von „TFF“ sprechen, auch, weil ich mir zudem erlaube, kurzerhand zwei Werke zitierend in einem Artikel zu kombinieren: Ein kurze Geschichte der Menschheit feat. Homo Deus – namensgeben und eben nicht umgekehrt.

„Feat.“ also und deshalb auch klarer Zitatevorteil für Homo Deus! Denn in Summe lese ich die KGdM als Overtüre zu Homo Deus, weil der Geschichtswissenschaftler von der ersten Seite an förmlich danach drängt, den Bogen, den er nacherzählend zuvor historisch aufgespannt hat, praktisch anzubinden, sprich prognostisch fortzuführen, politisch zu problematisieren und bisweilen prophetisch weiterzuspinnen. Nach der Vergangenheit, die Gegenwart aus besagter und zuvor beschriebener dritten Monografie elegant überspringend, folgt also die Bruch-Landung irgendwo und irgendwann in möglichen Zukünften des Homo sapiens als Selfmade-Gott. Dessen und deren Entwurf sowie Kritik bedarf notwendig und wiederkehrend der Rückbindung an die Geschichte über die Geschichte und nunmehr endlich auch die bisher weithin ausgesparte Gegenwart; und macht zusammengenommen den intellektuell spannenderen Teil des Werkes aus, insbesondere da er auch praktisch-politisch von höhrer Relevanz ist, im Gegensatz zum theoretisch-deskriptiven Anspruch der bloßen Geschichtswissenschaft typischen Schlages, die Harari weit hinter sich zurücklässt.

Der bündige Blick auf 13.500.070.000 (In einem Wort: „Dreizehnmilliardenfünfhundermillionenundsiebzigtausend“) Jahre ist nichtsdestotrotz bewundernswert kompakt gehalten und dabei dennoch so anschaulich erzählt, dass Historie teilweise erlebar wird, in sie so plastisch wie humorvoll nachvollziehbar gemacht wird, wie das noch eben wünschenswert sein dürfte. Stereotypen treffen deshalb bisweilen auf Allgemeinplätzen aufeinander, was jedoch angesichts von Ironie und der zusätzlich brisanten Poly- und Ambivalenz von „Geschichte beschreiben“ und „Geschichten schreiben“ durchaus als Kompliment gemeint sein soll. Abstrakte Geschichte, die konkretes Geschehen für ihre Theoriarbeit zuvor vereinfacht hat, wird nachträglich wieder konkretisiert, indem ihr Farbe, Form und Gefühl zurückgegeben werden. Dadurch widerlegt der Schriftsteller Harari schon sehr früh das im letzten Artikel vorschnell gemachte Vorurteil von stilistischer Karg- und Nüchternheit. Er schreibt einfach und effektiv, was im Blick auf seine offenkundige Intention, (be-)schreibend insbesondere einen historisch aufgeklärten Einfluss auf den Zukunftsdiskurs der Menschheit zu üben, absolut stimmig ist.

Ebenso stimmig ist sein Portrait des Menschen als seßhaft und verkopft gewordenem ehemaligen Wildbeuter, der auf eine evolutionäre bewegte Vorgeschichte zurückblickt und dessen Geschichte unter eingängigen Schlagworten strukturiert und rekonstruiert wird: Auf die „Kognitive Revolution,“ in der wir fiktiv und abstrakt Denken und sozial interagieren gelernt haben, folgte die „Landwirtschaftliche Revolution“, die uns domestizierte und die ersten Hochzivilisationen hervorbrachte, worafhin sich zuletzt die „Wissenschaftliche Revolution“ ereignete, durch die wir technisiert und globalisiert wurden und dabei derart mächtig geworden seien, dass wir nunmehr gottgleich „Krieg, Hunger und Tod“ besiegen könnten oder gar schon hätten. Mit diesem unschuldig-beiläufigen Kippen in den Konjunktiv vollzieht sich bei Harari auch der im Text immer wieder angedeutete Übergang von der Beschreibung des Gewesenen in die Besprechung des Werdenden. Sein Ausblick auf das Zukommende ist dabei neugierig und bisweilen sorgenvoll und wendet sich unbestimmt auf die nähere und moderat fernere Zukunft im von mir grob geschätzten, von ihm nicht explizierten Intervall von 30 bis 100 Jahren.

Der globalisierte Humanismus, plausibel in seine liberale, evolutionäre und sozialistische Traditionslinie differenziert, könnte auf tragische Weise vielfach in die Krise geraten. Nachdem der Mensch sich zum Meister der Erde emporgearbeitet hat, indem er bei seiner Expansion ganze Ökosysteme samt Tieren, Pflanzen und Lebensraum schlicht zerstört oder funktional unterjocht hat, beherrscht er den Planeten zur Gänze. Die technologische Machtfülle hat jedoch massive Kosten verursacht und bringt ebensolche Konsequenzen mit sich: Während die Ressourcen rar werden und die natürlichen Puffer für fast jeden Umweltstressor gefühlt zur Neige gehen, das Klima sich jedenfalls zu unseren Unbilden wandelt, drängen zukünftige Gefahrenpotentiale auf uns ein und uns zu einer gestalterischen Proaktivität in Politik und Wirtschaft.

Nach Harari bedroht insbesondere der sog. „Dataismus“ den in sich spannungsvoll aufgespaltenen Humanismus und profitiert dabei, so lese ich seine Darstellung, von den offensichtlichen Widersprüche zwischen dessen libraler, sozial(-istisch-)er und evolutionärer Prägung. Um diesen drei Begriffen spontan ein griffigeres Bild zu geben: liberal wäre beispielsweise der in die Jahre gekommene „American Dream“, sozial bis sozialistisch der nie verwirklichte, vollendete „Kommunismus“ und evolutionär ein zumal noch biotechnologisch aufgerüsteter „Neo-Faschismus“; überall steht eine Idee, ein Ideal des Menschen im Zentrum, wohingegen Umwelt, Götter, Tiere überall, wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle spielen. Wie also mit der Bedrohung durch den Dataismus, d.h. der potentiellen Allmacht der Datenströme – der KI’s, Algorithmen und sonstigen neuen technologischen Unwesen – umgehen? So ungefähr lautet einer der wichtigsten Fragekomplexe, die Harari an den Anwärter auf den Göttertitel Homo Deus heranträgt.

Dass hier nebenbei eine gänzlich neue Phänomenklasse an Entitäten entsteht, interessiert wohl nur die wenigen Ontologen unter den wenigen Philosophen; der praktische Rest an Konsequenzen sollte aber definitiv jeden angehen. Denn jeder ist – Stichworte: Facebook, Amazon und Google – bereits betroffen und wird das zukünftig womöglich in noch stärkerem Maße sein. Je nach dem, wo man auf unserem Planeten zukünftig zufällig geboren wird, wird man womöglich von autonom fahrenden Autos befördert, in virtuellen Schulen E-unterrichtet, an jeder Ecke von künstlichen Intelligenzen bedient und beraten, sogar von ihnen operiert und stimuliert, bezahlt und gefeuert oder schlussendlich sogar politisch beherrscht. Dieser Klimax wird freilich mehr oder weniger, hier oder dort der Fall sein, aber die Herrschaft der Daten dämmert definitiv.

Ebenso dämmert die Nacht und mir zugleich, dass ich trotz vieler Aknüpfungspunkte und Ideen hier und jetzt einen schließenden Punkt machen sollte, um mich nicht von Hararis Universalitätsgebahren anstecken zu lassen: Er überzeugt in beiden Büchern durch seine lockere Art und die Fähigkeit, schwierige Sachverhalte einprägsam zu illustrieren, klar zu strukturiere, zugleich durch die selbstkritische Schonungslosigkeit seiner Analyse und die trotz versuchter Offenheit und Neutralität immer wieder durchscheinde strikt rationale Grundüberzeugung und einen zustiefst humanen Wertkanon. Deshalb gibt es eine klar Leseempfehlung von mir für Euch!

Gute Nacht und glückliches Gelingen im geschichtlichen Geschehen, Euer Satorius

Auf ein Neues: Hallo Gutenberg, hallo Gegenwart!

Was ist denn hier passiert, frage ich mich als müde gewordener, bisweilen verzagter Blogaspirant nach einer trägen Phase? Gutenberg bringt mich auf Trab, macht nicht nur alles anders, sondern auch vieles neu bei uns in Quanzland! Beispielsweise und konkret ist die ehemalige Formatierung von Text-Fast-Food im Detail unmöglich geworden und vermutlich auch die Form vieler anderer Formate. Deshalb heißt nun die Devise: Nicht zwanghaft am Alten kleben, lieber frei heraus das Neue erschaffen.

Block für Block entsteht hier und heute aus Anlass eines gelesenen Textes, der zuvor gefunden und für relevant oder wenigstens witzig befunden wurde, die neue Konvention für zukünftiges TFF. Mal sehen und abwarten, was hier in wenigen Sekunden erzählter Erzählzeit erscheint und wie lange die wirkliche Arbeitszeit auf dem Weg aus dem soliden Hardcover in meinen Händen heraus hinein in die hiesige Blogsphäre braucht.


Der Philosophie, der Religion und der Wissenschaft läuft die Zeit davon. Die Menschen diskutieren seit Jahrtausenden über den Sinn des Lebens. Wir können diese Debatte nicht endlos fortsetzen. Die sich anbahnende ökologische Krise, die wachsende Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen und das Aufkommen neuer, disruptiver Technologien werden das nicht erlauben. Wichtiger noch: Künstliche Intelligenz und Biotechnologie verschaffen der Menschheit die Macht das Leben zu verändern und zu manipulieren. Schon sehr bald wird irgendjemand entscheiden müssen, wie wir diese Macht nutzen – und zwar auf der Basis irgendeiner impliziten oder expliziten Erzählung über den Sinn des Lebens. Philosophen sind sehr geduldige Menschen, doch Ingenieure sind weit weniger geduldig, und am allerwenigsten Geduld haben Investoren. Wenn wir nicht wissen, was wir mit der Macht, Leben zu manipulieren, anfangen sollen, werden die Marktkräfte nicht ein Jahrtausend lang warten, bis wir eine Antwort darauf gefunden haben. Die unsichtbare Hand des Marktes wird uns ihre eigene, blinde Antwort aufzwingen.

Yuval Noah Harari (1976 – ), 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert, S. 17 (Einleitung)


Et voilà – ohne die Minuten tatsächlich gezählt zu haben, ist es zwischenzeitlich passiert: Das neue Gewand für den schnellen Texthappen von Heute und Morgen ist fertig geschneidert. Vor allem aber ist ein Bann gebrochen, bin ich wieder frei von Lese-/Schreibunlust und lustig auf Lese-/Schreibgenuss. Auf den Regress folgt nun wieder der Progress – so und soweit zumindest das aktuelle Credo!

Damit zurück zum Wesentlichen: Dem Text und dem Text über den Text, was nicht zufällig an Derridas Bild der Spur der Spur bei simultanem Verlöschen der Spur gemahnt. Hararis Spuren zu folgen, wie sie sich im Staub der Geschichte abzeichnen und durch den Sand der fließenden Zeit winden, immer mit Blick auf das Zukommende orientiert, erfüllt mich mit Vorfreude. Denn schon nach nur kurzer Aufwärm-Recherche, wenigen Seiten der Einleitung und der ursprünglich durch persönliches Gespräch geweckten Neugierde auf diesen Autoren, verspüre ich eine Sympathie für Hararis Denkstil und Werte. Wenn auch der literarische Stil bisher eher karg und nüchtern ausgefallen ist, so tut das der Relevanz der Themen und vermuteten Brillanz des Historikers keinen Abbruch.

Er unternimmt Großes, will vieles auf einmal und wagt große Schritte und Würfe. In seiner dritten Monographie nach Eine kurze Geschichte der Menschheit (2011) und Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen (2015) setzt er sich dennoch bisweilen demütig das ambitionierte Ziel, die wichtigsten Entwicklungsstränge der Gegenwart zu entwirren. Nach der Schnellvariante der Menschheitsgeschichte, also aus der beruflichen Domäne heraus mit Blick auf die Vergangenheit, gefolgt von dem inspirierenden Exkurs in die Zukunft, wagt er sich nun also an das Zeitgeschehen und nimmt die Gegenwart in den Fokus seiner Betrachtung. Es geht ihm damit ausdrücklich um den undenkbar schmalen Grat namens Präsens, das zwischen den beiden (Un-)Endlichkeiten Futur und Präteritum fristet, eingekeilt, flüchtig dahineilt, noch keine Erinnerung, kein Dokument, nicht mehr Erwartung, fern der Prognose, stattdessen ereignet sich bloßes, nacktes Geschehen – feucht, heiß, glitschig und mysteriös.

Ob es dem Historiker auf dem Weg durch gefährlichste der drei Zeitebenen abermals gelingt, klare, kritische und konstruktive Begriffe zu entwerfen, um die jüngsten Entwicklungen und Ereignisse stattlich einzukleiden und so gesellschaftsfähig, also verständlich und zumutbar zu machen, bleibt abzuwarten. Die nächsten Wochen werden mich jedenfalls durch die 21 Lektionen führen, soweit ich eben bereit bin, mich belehren zu lassen und gelehrig zu bleiben. Der Lehrer hinterlässt bei mir allenfalls und zunächst einen guten ersten Eindruck – mach‘ was daraus, Yuval!

Euer optimistischer Denk-/Lese- und Schreib-Re­ha­bi­li­tand, Satorius

Gretchenfrage 2.0: Und wann killst du Mutter Erde dieses Jahr?


Liste weiterführender Links zum Themenkomlpex:


Von nun an prellen wir die Zeche – und wir tun dies zudem höchst unsolidarisch, also kaum auf unsere eigene Rechnung, sondern wir schreiben die Kosten auf den Deckel anderer Regionen und zukünftiger Genetationen! Denn der Tag, an dem der globalen Durchschnittsmenschen die Erde dieses Jahr „abgeschossen“ hat, oder genauer und weniger heftig formuliert: ihre Ressourcen und Regeneration „überlastet“ hat, liegt jetzt bereits hinter uns. Deutschlands Durchschnitt fällt dabei noch schlechter aus: Wir Bundesbürger haben Mutter Erde bereits Anfang Mai gekillt und bedürfen zum Erhalt unseres aktuellen Lebensstandards ganze drei Erden. Den Rest unseres Jahres leben wir nun nach dem Motto „Nach uns die Sintflut“ oder, um die Redewendungen letztlich auf die Spitze zu treiben, werden wir dem Mutterschiff Erde zu den sprichwörtlichen Ratten, die das Schiff (wenigstens durch Unterlassung) versenken. 

Mein Zugang mag etwas morbid im Abgang wirken, aber die Drastik der Darstellung dient eindeutig pädagogischen Zwecken, wie insgesamt das zu Grunde liegende Konzept des ökologischen Fußabdrucks. Dabei hat dieser Sachverhalt auch etwas zutiefst Tröstliches, gibt er  uns doch die Verantwortung zurück und erhöht damit unseren Einfluss: Es liegt an uns; wir handeln und unterlassen; jeder einzelne Mensch ist alltäglich gefragt. Ökonomie, Ökologie und insbesondere Politik werden praktisch und konkret, finden bei uns zuhause statt, sind nicht mehr nur theoretisch und abstrakt.

Der Preis dessen, wenn man diese Sache (mit oder ohne den Selbsttest des eigenen Fußabdrucks) denn überhaupt ernst nimmt, ist vermutlich ein gerüttelt Maß an kognitiver Dissonanz, also dem unangenehmen Gefühl und der entsprechenden (verdrängten) Erkenntnis, dass das eigene Handeln und Denken, unser Leben und unsere Werte im Spannungsverhältnis, womöglich sogar im Widerspruch zueinander stehen. Was an dieser Stelle bleibt, ist psychologisch gesehen recht einfach: Umdeutung oder Leugnung der Fakten, Anpassung durch Umgewöhnung des Verhaltens oder eine teuer erkaufte Ignoranz bei fortschreitendem Missverhältnis. Zwei dieser Wege führen in oder an den Abgrund heran, die goldene Mitte ist das Ideal, aber wie die meisten echten Lösungen mit Anstrengung und Verzicht verbunden: Wer will schon radfahren oder laufen, Bus- oder Bahnfahren, statt sich mit dem Auto fortzubewegen; Urlaub in der Nähe, Deutschland oder Europa, machen, statt die weite Welt zu entdecken; globalen Burger, Steak, Käse und Wurst für regionales Gemüse, Obst, Nuss und Brot eintauschen; statt des Filmabends mit Smartphone-Intermezzo bei hellstem Lampenschein und optimalem Klima, einfach nur dasitzen und ohne Strom Spaß haben; zuletzt die luxuriöse Higtech-Stadtvilla in bester Lage räumen und in die spartanische Blockhütte im Wald ziehen?

Nur der Anwärter zum totalen Gutmenschen bejaht hier weitreichend und zweifelsfrei, aber das ist auch nicht der Punkt, denn es geht nicht bloß ums gute Gewissen, sondern um eine ernsthafte Reflexion über das eigene Verhalten. Was und wie weit man seinen Alltag dann verändert, ist überhaupt erst der zweite Schritt nach dem ersten. Spieglein, Spieglein an der Wand, was tue ich und was könnte ich tun, wollte ich besser leben, steht ganz am Anfang und ist mein bescheidenes Artikel-Ziel. Denn nur, wer sich der Möglichkeit von mentalen Misstönen, der besagten „Kognitiven Dissonanz“, öffnet, kann sich selbst überzeugen oder von anderen überzeugt werden. Überreden also, bloßes Erlassen und Verordnen zumal, mag manchem als Mittel demokratisch-liberaler Politik erscheinen, ich jedoch begnüge mich mit diesem Diskursangebot und vertraue den Rest Euch selbst an. Ob daraufhin persönliche Klugheit, kalkulierendes Selbstinteresse, Moralität und was dergleichen mehr ist, letztendlich nur zu Denk- oder gar zu Verhaltensänderung führen, bleibt jedem Selbst überlassen. Wir Westler leben, (fast) wie wir wollen und können wählen – glücklicherweise!

Hoffen und Handlen darf und werde ich. Jedenfalls mir gefiel das Bild nicht, das ich zu sehen bekam, als ich mich zuerst vor den Spiegel stellte, um mich selbstkritisch zu betrachten. Und es geht mir weiterhin noch so, wenn auch nur (noch) relativ, verbrauche ich doch angeblich derzeit nur 1.1 Erden pro Jahr und werde erst ab dem 29.11.2018 zum Täter. Dass meine Opfer namen-, ort- und zeitlos sind, macht die Tat zwar leichter und bequemer, ändert aber nichts an meinem Spiegelbild und bringt die existenzielle Kakophonie zwischen meinen Ohren nicht zum Verstummen. Vielleicht sollte ich alternativ ganz laut „Fake News!“ schreien, mich konsumierend Zestreuen oder schlicht und einfach ganz und gar Betäuben? Eher nicht, wenn ich mir die Tendenz anschaue und eine Prognose auch nur vage vorstelle:

Euer immer-ambivalenter Adept zwischen Gut- und Schlechtmenschentum, Satorius

Lebensräume, die Zweite: utopsiche(s) Gesellschaft(sbecken)

In der heutigen, abermals anonym aufgetauchten Bilderfolge teilen sich drei (von dreißig; wie eine der Metatext-Redaktion vollständig vorliegende, als Anhang dem Video beigefügte Excel-Tabell belegt) Gattungen (Guppy, Garnele, zwei Schneckearten) einen Lebensraum, der perspektivisch monoton auf eine verwackelte Nahaufnahme beschränkt bleibt. Zusammen damit geradzu minimalistisch anmutend, wird im gesamten Video auf eine Tonspur radikal verzichtet, womit das Sehen absoluten Vorrang erhält.

Als Vorbereitung für die zweite Bilderfolge erlaube ich mir jedoch zunächst, ein kleine Portion an Nervennahrung für den hoffentlich neugierigen Kopf zu kredenzen. So bleibt das anschlißende Video nicht so stumm, zusammenhanglos und unvermittelt, wie es das unkommentiert wäre. Drollig sind die Dutzend Tiere sicherlich, wie sie ihr jeweils natürliches Verhalten zeigen: die quirllige Zwerggarnele (Neocaridina davidi var. „Red-Fire“), die verspielten Guppyjungen (Poecilia reticulata spec.) und die träge dahinschlurfenden zwei Arten an Schnecken-Dudes, die gut sichtbaren, blauen Posthornschnecken (Planorbella duryi) und die nur mit Kennerblick (und mit einem detaillierten Fauna-Inventar als Excel-Sheet) unten rechts erkennbaren (Quell-)Blasenschnecken (Physa fontinalis spec.), die kleinwüchsiger sind und ein längsgewundenes Gehäuse mit goldigen Schimmer ihr Häuslein nennen.

Als Gesellschaft, alle zusammen tun sie das, was dieses Hobby, so spannend und reizvoll macht, sie leben gut miteinander, wie sie eben miteinander leben können und sollen und wollen, also artgerecht und plavoll abgestimmt; währendessen lassen sie uns (ja, zwangsweise – zugegeben) teilhaben an ihrem zufriedenen und friedvollen Zusammenleben. Homöostase und Harmonie herrschen hierbei; jede Art hat ihre Nische, ihre Funktion, sozialverträgliches Futter mitsamt Fressverhalten. Keiner knabbert den anderen also an, eines der wichtigsten, wenn selbst auch nur minimales Kriterien für ein sog. Gesellschaftsbecken. Ruhe und Frieden regieren in einem sozialen Kleinod: Blubber-Spaß und Wohlfahrt für alle!



Polizisten und Richter, Beamte und Politiker braucht es hier nicht, Ordnung und Recht, Effektivität und Gerechtigkeit erhalten sich beinahe von selbst, solange das Becken kompetent betrieben, befüttert und gewartet wird. Eine assoziativ naheliegende, tendenziell bissige Parodie-Analogie zu menschlichen Gesellschaften und dem (Nicht-)Funktionieren innerhalb ihres Lebensraumes drängt sich ebenso stark auf, wie ich diesen Impuls präventiv unterbinde. Mir und euch erspare ich damit ein neuerliches zu tiefes Abdriften in die Diskurse der Nacht, wo doch der Ausgang dieses Artikels abermals recht proto-politisch bis trüb ausfallen wird. Wer mag zusätzlich und willig ist, sich und seiner aktuellen Lebenswelt einen simplifizierenden Spiegel vorzuhalten, der denke über folgenden (Kon-)Text nach: (sozialer) Frieden, Population, Ressourcen(um)verteilung, (Arten-)Vielfalt, (subjektiver) Mangel, Konkurrenz, Grenze und Gewalt.

Um eine nachtdiskursive Allusion und deren Abstraktion komme ich also abschließend nicht herum, wie ich insgesamt merke, dass die Lebensräume eine stärkere Affinität zu den Diskursen der Nacht denn zu den Denkwelten entwickeln. Dabei gäbe es aus der Warte unterschiedlichster Wissenschaften, vieles zum Thema beizutragen: Chemie des Aquariumwassers, Physik der Beleuchtung, Biologie auf all ihren Ebenen, Ökonomie des Betriebs beispielsweise. Noch mehr Lebensräume also, noch mehr unterschiedliche Lebenwesen mithin und somit der ethisch brisante Fragekomplex, den ich bewusst twitterfreundlich auf Englisch ausformuliere: Who’s first – (e)quality for all or quality for some?

Für mich ist die Position hier absolut glasklar: Bedingungsloses Grundeinkommen in Form von globaler Grundversorgung und gleiche Grundrechte für alle primären, sekundären und (unschädlichen) tertieren Bewohner – eine analytisch-funktionale Differenzierung, die im Ideal kein moralisches Gefälle legitimieren soll. Die drei Stufen sind daraufhin rasch damit erklärt, dass der Primärbewohner (Guppy) der Hauptbesatz eines jeden Lebensraumes ist, Sekundärbewohner (Schnecke, „Bodenpolizei“) alle hinzugefügten, anspruchsloseren und z.T. maßenhaft vorkommenden Begleiter mit unterstützender Funktion sind und sich zuletzt die Tertierbewohner (Fliegen, Grillen, Schaben, Spinnen) aus diversen Futtertieren und eingewanderten Nicht-Schädlinge zusammensetzen. Die wirklichen Schädlinge (Planarien, Schimmelpilze, Milben und dergleichen) werden begrifflich gesondert und müssen in der Praxis leider aus katgorischen Gründen bestenfalls sanft reduziert oder schlimmstenfalls hart eleminiert werden. Die Gesetzgebung des Notstands also, wobei die Grenze für diese inanimalische Diskriminierung sensibel, offen und durchlässig, von Situation zu Situation verhandelbar ist, Klugheit muss hier her, und vor allem gilt: VORSICHT – Lebensgefahr! Denn jedes Tier, jede Pflanze, auch jeder Pilz, jedes Kleinstleben oder ganz buddhistisch einfach, jedes Lebewesen, dass unseren Lebensraum gewollt oder ungewollt bevölkert hat, besitzt unverbrüchliche Lebensrechte und diese liegen mitunter qua sog. Intelligenz in unserer Verantwortung als Züchter/Halter/Pfleger/Diener von Lebewesen. Dieses prinzipielle Zugeständnis sind wir der (Um- &Tier-)Welt schuldig: Nichts Lebendes ist eine Ware, nichts ontologisch unser Eigentum!

Euer Hohepriester des Lebens und Administrator seiner Räume, Satorius

Politische Wahrheit zwischen, über, unter Himmel und Erde

Dabei konnte uns das, was das politische Leben eigentlich ausmacht, garnicht in den Blick kommen: Nicht die große Freude, die dem schieren Zusammensein mit seinesgleichen innewohnt; nicht die Befriedigung des Zusammen-Handelns und die Genugtuung öffentlich in Erscheinung zu treten; nicht die für alle menschliche Existenz so entscheidende Möglichkeit, sich sprechend und handelnd in die Welt einzuischalten und einen neuen Anfang zu stiften.

Denn worum es mir in diesen Betrachtungen ging, war zu zeigen, dass dieser politische Raum trotz seiner Größe begrenzt ist; dass er nicht die Gesamtheit der menschlichen Existenz und auch nicht die Gesamtheit dessen umfasst, was in der Welt vorkommt. Was ihn begrenzt sind die Dinge, die Menschen nicht ändern können, die ihrer Macht entzogen sind und die nur durch Lügen und Selbstbetrug zum zeitweiligen Verschwinden gebracht werden können.

Die Politik kann die ihr eigene Integrität nur wahren und das ihr innewohnde Versprechen an die Menschheit, dass sie die Welt ändern können, nur einlösen, wenn sie die Grenzen, die diesem Vermögen gezogen sind, respektiert.

Wahrheit könnte man begrifflich definieren als das, was der Mensch nicht ändern kann. Metaphorisch gesprochen ist sie der Grund auf dem wir stehen und der Himmel, der sich über uns erstreckt.

Hannah Arendt (1906 – 1975), Wahrheit und Politik – Eine philosophische Studie, 1:17:38 – 1:19:13 (1969, Rundfunkbeitrag – Direktlink)


Zwischen Himmel und Erde, in der Mitte der Dinge, motivisch sogar zwischen Text und Welt, lebt der Mensch. Ich, du, er, wir, ihr, sie und es, das gnadenlose Geschehen und das unermessliche Universum, das unheimliche Unbewusste und der geniale Gedanke. Alles tendiert zur Tat, vita passiva unterliegt vita activa.

Diese treffsicheren Schluss-Betrachtungen zur metaphysischen Grenze und Verortung ihrer politischen Philosophie sind ein solcher Geniestreich des tätigen Geistes, der dem genius loci gleichermaßen Tribut zollt, wie er seine Wurzeln tief in den Boden unserer nacherzählten Lebenswelt treibt. Vom Himmel herab in die Herzen der Menschen holt Hannah Arendt die Sterne der Politik, gibt sie in die Hand von Gutmenschen; integer und engagiert, kompetent und interessiert sowie vor allem sozial sollen sie sein, sollen wir Bürger einer guten Demokratie bestenfalls sein.

Wer sich hier ein klein wenig überfordert fühlt, der hebe die Hand und werfe mit ihr den ersten Wattbausch kräftig in die einschlägige Richtung: Moralmonster. Der kleine Mann soll große Geschichte schreiben, soll Gratwanderer und Silver-Surfer eines irgendwie gearteten sozial-strukturalistischen Idealismus werden. Rebell trifft Reformer, Vater und Mutter kondolieren dem General und der Nihilist gratuliert dem Fundamentalist zur soliden Basis. Die wenig verdeckte Forderung zum Guten, Schönen und Wahren wirkt trotz aller Sympahtie wie ein allzu große Synthese nach dem historischen Tiefpunkt, wie die große Äquivalenz nach absoluten Differenzerfahrung. Schnell und salopp wird eine gigantische Brückenkonstruktion zwischen Leben, Politik und Denken geschlagen, quasi die eierlegende Wollmilchsau der praktischen Philosophie (nach Auschwitz) ersonnen. Der implizite Imperativ gipfelt in aktuelle individuelle Überforderung, statt und nach historischer kollektiver Überforderung: Gleichzeitg mit beiden Beinen fest auf dem Boden der politischen Tatsächlichkeit stehen, sich bewährend, die Bedinungen des politische Möglichen kennend und weise erwägend, zugleich aber ebenso mit dem Kopf hoch in den Wolken wahrer Tugend schwelgen und empathisch mitfühlen, mitleiden, miteinander leben – puh! Viel zu versöhnen für eine jede Epoche und jedes Menschenleben erst recht. Einfach mal vom Narren zum Magier werden, als Gruppe gar Menschehit den Kursus der Alchemie durchlaufen – Schwarz, Weiß, Rot, fertig ist der Tod!

Warum dabei naturalistisch fehlschließen, wenn man kurzerhand narrativ-normativ hochstapeln kann? Ausgehend von einer gesunden Basis aus Humanismus und positiver Psychologie landet Arendt letztlich dann doch bei der guten alten Wahrheit, um die es fast allen Philosophen (leider) am Ende ihrer Argumentation und ihres Lebens bestellt ist. Wahrheit findet sich auch bei ihr, ganz klassisch, außerhalb, vor und also jenseits des Menschen wieder, draußen in der weiten Welt, tranzendent entrückt. Aber eben nicht entrückt, denn ein Zipfel Wahres ragt hinein in die Immanenz, wird zum griffbereiten ethischen Strohhalm für die gute Form politischer Praxis und die eigene Parteinahme. Der Genuss der gemeinsamen Aktion lockt den politischen Aktionisten zum Handeln in der Gruppe, lässt ihn aber im Ideal nicht blind werden für die Widerstände seiner Um- und Mitwelt, fern von Herde und Heimat, und schult Geduld und Gelassenheit, Passion und Eifer gleichmaßen. Demütig zieht der politische Ideal-Soldat aus, die Wahrheit zu suchen, vor der er seine politische Aktion heiligen lassen kann. Und Gott segnete den Menschen und gab ihm die Erde mit all ihren Tieren und Pflanzen, Bergen und Flüßen, Wäldern, Wiesen und alle dem Leben darinnen zur Pflege und Obhut, überließ sein Schöpfung der Führung seiner geliebten Kinder, auf das sie sich seiner Aufgabe als würdig erweisen. Amen!

Wie sähe wohl die aktuelle Zwischenbilanz inpuncto Weltpolitik und bzgl. des erreichten Niveaus an Zivilisation und Fortschritt aus, das uns von Seiten welcher Wahrheitsintanz und ihrer Jünger auch immer ausgestellt werden würde? Oder was würde Frau Arendt zu Trump, Netanjahu, Putin, Erdogan und der arabischen Rasselbande sagen, wie fände sie wohl Frontex, Orban, AFD und Co. KG? Ich überlasse die Antwort großzügig Äther und Archiv, überlasse ihre Beantwortung der Globalgeschichte, aber vor allem der persönlichen, politischen Aktion wie nicht zuletzt sondern zuerst der öffentlichen philosophischen Reflexion – auf die Plätze fertig, Schluss aus!

Euer gottesunfürchtiger Kurz-Diskurser (mitten in) der Nacht, Satorius

Die erste Bilderfolge Quanzlands: K(l)eine Utopien in „Bone“ oder Neo-Bied feat. NRx


Nein, wie schön, alles so grün und vital – von wegen!

Dieses prächtige und authentisch-verwackelte Amateur-Video, vermutlich aufgenommen in der Heimstatt besagten Amateurs, wurde mir über die Metatext-Redaktion anonym zugespielt. Es ist daraufhin Anlass geworden, für diesen allusionsreichen, aber letztlich argumentativ viel zu anfänglichen Artikel über eine politisch-pikante Polarität. Dieses Spannungsfeld versteckt sich als reflexiver Abgrund unter und hinter der zunächst beschaulichen bis erbaulichen Fassade eines Terraristik-Heim-Videos; es verbirgt sich eine politisch-brisante Problematik hinter der konkreten Oberfläche. Eine vemeintlich zyklisch wiederkehrende Systematik historischen Ausmaßes kündigt sich schlussendlich an: Rückzug trifft Reaktion!

Beginnen wir am Anfang am Ende, zunächst also auf der schönen Oberfläche: Mit der allzu positiven und allzu unvermittelten Einladung einer hörbar wohlbehaltenen Stimme, die für ein unbestimmtes „Uns“ spricht und den Zuschauer einlädt, einen vermeintlichen realexistierenden Ort namens „Bone“ zu besuchen, was nuschelinduziert an „Bonn“ oder auch „Baun“ erinnern könnte, aber tatsächlich ungewiss bleibt, endet das ansonsten vermeintlich selbstevidente Video.

Das Ganze hier ist, nebenbei und metatextuell bemerkt, der erste Auftritt bewegter Bilder innerhalb der neuerlich auch katergoriell wieder sanft expandierenden Grenzen Quanzlands. Ein neues Medium manifestiert sich damit in unserer bunten und vielfältigen Zwischenwelt und bildet damit den Ursprung für eine neue Unterform des Formats Lichtrausch: die Bilderfolgen. Nicht einzelne, fokussierte Motive, sondern großzahlige Folgen von ca. dreißig, nicht bewusst wahrgenommenen Bildern pro wahrgenommener Sekunde Lebenszeit malgenommen mit der Länge der jeweiligen Folge laden ziemlich hochzahlig zu einer rasanten Serien-Variante des bisher so kontemplativen Lichtrausches ein.

Von diesem singulären, finalen Satz aus also, vielmehr von seinem einzigen semantisch-markanten Wort aus, von diesem Leuchtturm des Sinns her, lässt sich das komplette und inhaltlich sonst unterkomplex scheinende Stück erhellen, durchleuchten und damit in seinen letztlich zutiefst politischen Konsequenzen überhaupt erst verstehen: „Bone“ (Man beachte: kursiv & „Ausrufung“) bezeichnet hierbei in meiner Lesart gewissermaßen nur grammatikalisch-lexikalisch einen echten Ort. Denn dieser profunde Nicht-Ort existiert exakterweise in Form einer virtuellen Utopie und ist damit ontologisch-redaktionell gesehen bloß ein fiktionales Fragment von Quanzland; ein gebrochener Splitter reinster Hyperrealität herausgesprungen aus einer spährischen Blase von Lebenswelt; in der nunmehr ein obskures Cyberkonstrukt seine kristallinen Strukturen chronologisch in die Höhe zu schrauben, zu stapeln beginnt.

Vor allem aber bietet dieses ominöse bis mysteriöse „Bone“ ziemlich viel Leben einiges an Raum, schafft Lebensräume, so viel steht neben aller unötiger Posie ganz faktisch fest und ist für alles Weitere der leitende Impuls. Natur wird dort in diversen Lebensräumen kultiviert, gleichsam geschützt und gehegt, augenscheinlich umfassend umsorgt. Vermutlich von einem gütigen Hausherren, man könnte ihn einen Mäzen des Lebens nennen. Er herrscht, regiert und reguliert das pflanzliche und tierische Leben dort gemäß seiner Gesetze, zugleich stehend unter den komplementären Kategorien, den Idealen von Ökologie wie Ökonomie, wohl immerdar versuchend, eine optimale Synthese aus beidem zu erreichen. Dort in „Bone“ hat er ein echtes Idyll, ein Kleinod von Heimlichkeit und Heiterkeit geschaffen und dafür schlussendlich nüchtern-rhetorisch betrachtet schlicht einen echten Neologismus geprägt. Soweit meine erst aufwärmende An-Interpretation des Videos.

[Kommentar @ Metatext-Redaktion: Vorsicht und Verzeihung lieber Leser! – fortgesetzte Lesegefährdung durch den folgenden Nerd-Absatz nach bereits wiederholt erfolgter Prosa-Poesie-Attacke, die wir schon beinahe als „Lyrik-Alarm!“ klassifiziert hätten]

Für Freunde der lateinischen Sprache und neugierig Etymologen sei nebenbei hinzugefügt, dass es sich prinzipiell um den semantisch unmöglichen Lokativ des substantivierten Adjektivs „bonus“=“gut“ handelt. Soweit der Latein-Bedeutungs-Noob, der aber immerhin ein respektabler Kenner der grammatischen Strukturen ist; der vokablegestählte Bedeutungsforscher hingegen differenziert tiefergehend und entdeckt dabei erstaunt, dass „bouns“ nicht bloß adjektivsch schlicht „gut“ sondern vielmehr auch „brav, gütig, tauglich, tüchtig, nützlich, ehrenhaft etc. pp.“ bedeutet und überdies substantivisch noch soviel meint wie „Ehrenmann, Herr, Kavalier, reichere Leute“, also im Prinzip die Pratrizier im alten Rom bezeichnet haben dürfte.

Es geht also, etymologisch hinter den Neologismus geschaut, um einen kosmopolitisch organisierten Ort, der von guten Gesetzen, geschaffen von einem unsichtbaren Philosophen-König, weise und klug, regiert wird; überdies um eine Welt der natürlichen Tüchtigkeit und der Lebensleistung, wo Taugliche und Untaugliche in kleinen Habitaten artgerecht eingepfercht, wettkämpfend dort gehalten und gezüchtet werden. Einen Förderer des Lebens scheinen wir vor uns zu haben, stillt er doch jedenfalls die Grundbedürfnisse seiner Schutzbefohlenen und lässt überdies der Natur nur wo nötig und dann nur technisch, nach Gusto und Gutdünken ihren sonst so freien Lauf. Mal wird er wohl in seinem Handeln liberal sein, mal paternalistisch, immer irgendwie idealistisch und am Überleben des Habitats und seiner (Primär-)Bewohner interessiert. Gott gewordenen Gutmensch oder terraristschen Spießer könnte man ihn somit auch nennen. Genaueres wissen wir ja derzeit nicht über den Urheber des Videos, die unsichtbaren Hand, die an die Glasgefäße und die Play-Taste gelegt wurde. Wir kennen ja nur ihr Werk und können dabei ihre Präsenz bloß durch Schatten und Schöpfung hindurch, also höchst indirekt erahnen; müssen somit notwendig spekulieren, zum wem die Hand wohl gehört und welche Attribute dem Besitzer der Hand wohl zukommen, welche Ideale womöglich in seinem Kopf herumspucken und wodurch sein Handeln letztlich also beeinflusst wird. Viel Raum trifft auf wenig Substanz.

Theologisch gesprochen suchen wir die Eigenschaften Gottes; hoffen wir, dass wir beim Finden keinem Terrarien-Teufel auf dem Leim gegangen sein werden. Die Klassiker von Allmacht und Allwissen jedenfalls können wir schon mal demütig von der Liste der Attribute streichen. Dennoch kommt dem Halter von Heimtieren, insbesondere bezogen auf die Bewohnern solcher Habitate, eine derart große Macht zu, dass er praktisch relativ nah an Allmacht herankommt. Für die Geschöpfe, die arglos in ihren gläsernen Gefängnissen sitzen, spielt der Protagonist der Bilderfolge eine herausragende, lebensbestimmende Rolle. Er ist gewiss kein Gott, aber etwas konkret sehr Ähnliches ist er schon, eine Art transzendentes Wesen, das jenseits der Lebenswelt der Heimtiere wohnt, Wunder wirkt und seinen Schützlingen willkürlich gewährt und wieder entzieht.

Sollen wir hier netterweise, weil seine Schöpfung ja so hübsch anzuschauen ist, von einem kompetenten Herrscher, einem „tüchtigen Ehrenmann“ der Terraristik ausgehen? Ja das könnten wir, oder nein, das lassen wir, hinterfragen lieber kurz den thematischen Zusammenhang des Videos: Die Haltung (exotischer) Tiere und Pflanzen zu Hause. Denn wie kann sich ein tieferes, gar analytisches Verständnis unseres bewegten, bebilderten „Textes“ entfalten, ohne dass zuvor seine Inhalte thematisch erhellt wurden. Ohne ein wenigstens grundlegendes Vorwissen über die zu beurteilende Materie, das was der Fall ist also, kein legitimes Urteil. Ohne Verfahren und Beweise erscheinen weder Richter noch Angeklagter, noch Zeugen und Anwälte oder gar Polizisten und Henker auf unserer Bühne. Ohne einen vernünftigen Maßstab gibt es hier wie überall keinerlei Gut – ein fataler Eindruck, der tunlichst vermieden werden soll; weil banalerweise das Gute nur dann logisch überhaupt möglich ist, solange Hoffnung und Handlung auf Verbesserung zielen könnten.

Ist unser Halb-Gott mit Kamera nun „gut“ oder „böse“, ein Förderer des Lebens oder bloß ein machtbessener Teufel? Was verbirgt sicht unter der kitschig dekorativen Oberfläche dieser hübschen Heimtier-Oase; was also sind nun eigentlich Ideale und Werte einer „guten“ Terraristik; was also ist nötig, um solche schönen und sogenannten „Becken“ am Leben zu erhalten? Fragen, von deren Beantwortung her erst das nächste im Text verständlich werden wird. Denn die Sprungstelle zur hintergründigen, noch herbeizuführenden Politikdimension des zunächst harmlosen Hobbys erhellt sich argumentative erst ganz allmählich. Der Name des neuen Seiten-Themas deutet die dabei Problematik auch bestenfalls vage an: Lebensräume.

Glücklicherweise, und im Angesicht der Situation ein geradezu kosmisch-komischer Zufall, bin ich selbst Heimtierhalter von allerfrühesten Kindesbeinen an bis heute. Als langjähriger Pfleger von Säugetieren, Reptilien, Amphibien, Insekten und als Züchter diverser Algen, Bakterien, Pilzen und Pflanzen, vermag ich einiges zur Thematik beizusteuern, halte mich aber gerade deshalb maßvoll zurück – versprochen!

Meine Tiere und Pflanzen (dem Stil zuliebe diskriminiere ich den Rest der biologischen Systematik im Folgenden – Tschüss: Algen, Bakterien und insbesondere ihr armen Pilze!) ihrer nirgendwo verbrieften Persönlichkeitsrechte zu berauben, fiele mir persönlich zwar trotzdem nicht ein; ich danke dem Regisseur jedoch dafür, dass er sich für uns seine ethischen Fingerchen schmutzig gemacht hat. Dank ihm bekam ich den Anstoß zu diesem Artikel und beiläufig die Gelegenheit mich zu outen: Ja ich halte Heimtiere, betreibe und beherrsche selbst Lebensräume!

Das Prinzip eines Lebensraumes ist hierbei denkbar simple, wenn auch die Praxis schwierig; für jede Gattung, jede Art und Weise der Haltung beginnt sie mit einer z.T. sehr steilen Lernkurve (Aquaristik war zunächst z.B. meine Nemesis). Es geht also um viel Lebenszeit und Arbeitkraft in Form von Lektüre, Planung, handwerklicher Umsetzung, Wartung und Optimierung. Letztlich zählt dabei immer die einfache Formel: Kenne die Bedürfnisse deiner Pfleglinge, die primären wie Raum, Licht, Wärme, Luft, Nahrung, Wasserqualität ebenso wie die sekundären Bedürfnisse, die sehr teilweise sehr divers sein können, und erfülle sie immerdar bestmöglich. Das klar formulierte Ideal hierbei lautet: Immer mindestens so artgerecht wie nötig und maximal so wie ökonomisch und ökologisch möglich; denn jedes Haus hat begrenzten Raum und jeder Mensch ein limitiertes Budget. Daraus folgt für die Praxis, dass der Schwierigkeitsgrad eines jeden spezifischen Lebensraumes von den technischen und methodischen Anforderungen abhängt, die nötig sind, um seine Bewohner bedürfnis-zu-befriedigen. Der Schimmelpilz (Ha, getrickst!) unter’m Klo beispielsweise lebt Leichterhand, fast wie von selbst; das Multi-Habitat-Gesellschaftsbecken mit 10 Primärbewohnern, die von circa 20 weiteren Tierarten und ebensovielen Pflanzenarten begleitet werden, hingegen erfordert ein hohes Maß an Wissen und Wartung, einen ganzen Technikpark und jahrelange Erfahrung, zudem viel Baumaterial und im Betrieb Unmengen Subsistenzmittel und einiges an Energie. Vor allem aber wird es immer wieder vorkommen, dass harte Entscheidungen über Leben und Tod rational erwogen und emotional vor dem eigenen Gewissen verantwortet werden müssen. Es geht um Leben und Tod.

So weit, so klar, aber was tun, wenn die Komplexität der Lebensraum-Parameter zunimmt, die potentiellen Lösungsstrategien für immer wieder auftauchende Herausforderungen kontrovers sind oder es schlicht keine greifbare Evidenz oder profunde Vorerfahrung gibt – die prognostische Qualität bröckelt manchmal einfach dahin. Gute Entscheidungen jedoch berücksichtigen nicht nur alle relevanten Fakten und die Interessen der betroffenen Lebensform, vor allem müssen sie die Zukunft in den Blick nehmen und kalkulierbar, kontrollierbar machen. Dabei hilft und orientiert ein wenig die Vergangenheit, hilft ein wenig die Erfahrung, aber ein lebensbedrohliches Risiko bleibt notwendig ständig bestehen. Leben ist also bedroht.

Das Offene und Unbestimmte des Werdens lässt sich also weder beim Betreiben häuslicher Lebensräume aufheben, tendenzielle Laborbedingung hin oder her; noch vermag selbst ein idealer Betrieb des großen, menschlichen Lebensraumes, einer ganzen Gesellschaft gar oder sogar das globale Treiben der Menschheit dieses konstitutive Merkmal von Herrschaft und Politik aufzuheben. Ob eine dbzgl. Entscheidung also „gut“ oder nur „richtig“ ist, kann bisweilen bloß retrospektiv und somit selten eindeutig aus der Gegenwart heraus entscheiden werden. Zumal sich Werte und Emotionen, ideologische Blockaden und partielle Interessen als weitere Zumutungen in die sprachliche Gleichung einschreiben. Im Übergang vom Kleinen zum Großen, vom Hobby zur Politik, potenzieren sich die Widerstände und Komplexitäten. Denn wo sich die Heimtiere und Pflanzen in relativ geschlossenen Räumen effizient und diktatorisch regulieren lassen, da ist der mündige Mensch und ist die weite Welt eine unvergleichlich andere Herausforderung an Lebensraum-Politik, an Biomacht, um mit Foucault zu sprechen. Beiden Formen der Herrschaft geht es zuallererst um eine günstige und bestenfalls gütige Regulation von Lebensräumen und ihren Lebewesen, um das Über-Leben beider zu sichern. Hier wie dort ist Präzedenz in der Entscheidung eine seltene Angelegenheit, sind Fakten häufig nicht zweifelsfrei objektiv und Fiktionen nicht einheitlich intersubjektiv vermittelbar. Deshalb, trotz aller konkreten Differenz in Qualität und vor allem Quantität, taugen Terrarium, Aquarium, Paludarium und dergleichen mehr als Miniatur-Modelle für  bio-politische Dynamiken und deren Konzeption. Fortpflanzung, Nahrungsaufnahme, Gesundheit sind in beiden Kontexten bedeutsame (Be-)Handlungsfelder, die es zu kontrollieren und zu prognostizieren gilt, will man hierbei erfolgreich sein. Jedoch reicht die Analogiebildung nicht allzu weit, sprengen also bereits nur wenig höhere und zivilisatorisch feinere Domänen von Politik wie z.B. Wirtschaft, Wissenschaft und Diplomatie den Vergleich der beiden Welten.

Dennoch: Wer als terraristischer Autokrat auf der einen oder als wenig bis stark demokratisch legitimierter Souverän (Führer, König, Kanzler, Parteivorsitzender, Minister, Präsident oder wie auch immer betitelt) auf der anderen Seite die Leitung eines Lebensraumes übernimmt, muss Macht auf Lebewesen ausüben. Schlimmstenfalls bedeutet dies, in die Rolle eines hoffentlich immerhin utilitaristisch motivierten Massenmörders zu schlüpfen. Dann werden Leichterhand der Stabilität oder schlimmer noch der Bequemlichkeit wegen invasive Lebensformen dezimiert oder ganz eliminiert, werden schweren Herzens sekundäre Bewohner zugunsten von primären geopfert und letztlich wird als Ultima Ratio sogar die gutwillige Zerstörung und freiwillige Neuerschaffung eines Lebensraumes, die Apokalypse einer ganzen Welt billigend in Kauf genommen. Frei nach dem kalten reuelosen Optimierungscredo: Schluss jetzt damit; und nochmal von vorne – jetzt aber bitte richtig!

Biopolitik also, das weiß ich als leidgeprüfter Patron von Heimtieren und -pflanzen, ist ein schmutziges Geschäft, wobei Ethik und Edelmut gleichzeitig von Effektivität und Effizienz sowie von Eitelkeit und Eigensinn eingeschränkt werden. In jedem Fall findet eine Form der bewussten oder natürlich-blinden Selektion statt, werden die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen geworfen. Denn auch im gutbürgerlichen Glasskasten tobt, aller Rundumversorgung zum Hohn, eine selektive Schlacht ums Überleben.

Inwieweit nun die Lebensräume im einschlägigen Bewegtbild diesen Idealen genügen oder nicht, kann ich zwar so besehen nur erahnen, glaube aber, den Anspruch der Artgerechtheit erblickt zu haben. Ob und wie weit dieser Anspruch tagtäglich erfüllt und somit geheiligt wird, weiß nur der biopolitische Lebensraum-Halbgott selbst zu sagen; wenn das überhaupt jemand exakt zu sagen vermag. Denn nur wenn Natur und ihre Systematik vollständig verstanden und modellierte worden sind, werden die Kriterien und Bedingungen einer total artgerechten Natursimulation zweifelsfrei ermessen worden sein. So lange das aussteht, bleibt dem ambitionierten Biopolitiker dreierlei zu tun übrig: stete Wachsamkeit, kompetente Pflichterfüllung und besonnenes Eingreifen.

Lebensräume bedürfen, wie jedes andere Hobby, wie jede Form existenzieller Praxis überhaupt, vor allem auch dreierlei: Investition, Aufmerksamkeit und insbesondere Zeit. Womit wir uns nach dem ersten politisch-finsteren Tal der Biopolitik einem zweiten Polit-Abgrund nähern: dem Rückzug ins private Idyll oder der sog. Politikverdrossenheit.

Frustriert von der Komplexität des Systems, der empfundenen Ineffektivität politischer Teilhabe und dem Mär vom alternativlosen Automatismus der Tagespolitk zieht man sich sich sukzessive aus der politischen Öffentlichkeit zurück, man diskutiert und demonstriert nicht mehr, deliberiert und  debattiert nicht mehr und überlässt das tunlichst und gefälligst den Anderen, schlimmestenfalls den bösen Politikern. Wenn sich solcherart die Bürger in ihrem alltäglichen Leben nicht mehr für ihre politischen Belange, die gesamte Gesellschaft und die sie formierenden Regeln und Prozesse interessieren, wird aus vermittelter Selbstherrrschaft zunehmend Fremdherrschaft; aus einer ursprünglichen Demokratie ein andere „…-kratie“.

Ein vermeintlich ewig wiederkehrender Kreislauf vollzieht sich, das Rad der politischen Zeit beginnt sich von neuem zu drehen und historische Veränderungen liegen in der Luft. Klassischerweise dargestellt bei Aristoteles, dem Urvater der politischen Philosophie (erweitert um sein modernes Google/Wiki-Simulakrum), klingt die Reflexion auf dieses Phänomen dergestalt an:

Anzahl der Herrscher Gemeinwohl Eigennutz
Einer(-Wenige) Monarchie Tyrannis
Einige(-Viele) Aristokratie Oligarchie
Alle Politie Demokratie

Derzeit herrscht wohl lokal irgendwas in Richtung von Oligarichie/Demokratie bzw. Aristokratie/Politie, je nach dem, ob Optimismus oder Pessimismus beim einem vorherrschen; oder in ein paar anderen, moderner klingenden Worten: Technokratie, Infokratie und Bürokratie, alles gründlich ökonomisch („kapitalistisch“) eingefärbt. Ganz offiziell besteht eine freiheitlich-demokratische und soziale, rechtsstaatliche und föderale „Bundesrepublik“. Viele Worte, aber wer kennt sie alle schon ganz und gar, weiß exakt, was sie bedeuten sollen; selbst nach Schule und Studium der Materie bleibt ein großer Gedankenraum für Subjektivität übrig. Zumal global gesehen  sowieso die absonderlichsten Permutationen regieren. Es herrschen „X-Kratien“. 

Hinzu kommt, dass laut Aristoteles und vieler seiner namenhaften Fans in der historischen Rezeption, also quer und längs durch in Epochen und Traditoinen der Geistesgeschichte Geschichte an sich als zyklisch gedacht wurde und wird. Es dreht sich also das Rad der Regierungsformen munter und unablässig weiter, ohne dabei je etwas wirklich anderes, so etwas wie echten historischen Fortschritt hervorzubringen – so die Denkart. Eine erzkonservative Vorstellung, die der Pendellogik der meisten modernen Demokratien mit ihrem effektiven Zweiersystem (Links gegen Rechts, bürgerliches Lager vs. sozial(istisch)e Partei, konservative contra progressive Politik) auf fatale Art zu ähneln scheint. Hier ändert die Regierungspartei/-koalititon binär ihren Namen, dort gibt es echte, aber systematische enge Abwechslung; hier scheinbar nur den Wechsel zwischen 0 oder 1 – böse Zugen sprechen sogar aus diversen Gründen (ewige Mitte, politische Ökonomie, wahlfixierter Aktionismus etc.) von dauerhaftem 0,5 -, dort klar klassifizierte Wertebereiche zwischen 0 und 1. Genug der metaphorischen Zahlenanalogie, denn wie dem im analytischen Detail auch immer sei, auch Geschichte lebt: Überall enstehen neue Formen und Varianten des Neuen aus dem Alten, passen sich Mensch und System jeweils veränderten Bedingungen an.

Klar ist: Geschichte permutiert ständig und eventuell gibt es dabei gewisse Grundtypen oder Muster, eine Art politischer Attraktor. Die Zeit jedenfalls ist im Fluß; und wir schwimmen darin oder sitzen bestenfalls mit anderen zusammen in einem kleineren oder größeren Boot; suchen Halt und gründen Familien, Dörfer, Länder bilden Rudel, Herden, Nationen und erfinden Religionen, Ideologien, Strukturen; letztlich vermischt sich sowies wieder alles und mündet in das harmlose Abstraktum: Gesellschaft. Die meisten von uns sitzen also durch Geburt zufällig in dem einen oder anderen der Boote, sind Teil der einen ode anderen Gesellschaft, je nach Charakter und Situation um die Strömungen und Turbulenzen der Historie wissend oder sie geflissentliche ignorierend. Aber jedes Boot, externe Strömungsdynamik hin oder her, wird gesteuert. Es bewegt willentlich, ändert seine Position in einem schwierigen Terrain; weiß nicht, was kommt, was hinter der nächsten Biegung, des Flußes seiner nächsten Eng-, Sprung- und/oder Flachstelle auf ihn zukommt. Fluß oder Ozean, Werden oder Sein, in jedem Fall wird navigiert und das tun immer: Der Menschen.

Denn die tolldreiste, simple-reduzierende Metaphern-Genealogie der sozial-historischen Wirklichkeit führt uns zum Wesenskern der Bildfolgen-Analyse zuück; zur politischen Praxis und der ganz konkreten Frage: Reagieren oder relaxen, ein unklares Verhältnis, ein bisschen von beidem, oder keines – wie die Logik uns gnadenlos und klar gebietet. Oder nicht?!

Bevor ich hier am Ende der Analyse eines schönden Heimvideos, des davon ausgelösten, assoziativ-argumentativen Roadtrips unter die Oberfläche des Phänomens, hin zur Oberfläche der (Bio-)Politik, nun auch noch anfange spekulativ frei zu drehen, zu sinnieren, zu fabulieren, zu explodieren, beende ich die Gedankenkette lieber abrupt mit einem doppelten Text-Fast-Food hinter dessen wiederum eigener Oberfläche sich ganz eigene Abgründe auftun würden.

Das Lager des Reagierens vertritt hierbei historisch konkret eine obskure Ideologie, die sog. Neoreaction oder NRx. Primär im Angelsächsischen verwurzelt ähnelt dieses Amalgam aus Monarchie, Markt und Science-Fiction der Art der Regierungsführung bei unseren lieben Lebensräumen. Mit Hilfe von Technik reguliert ein guter Vater, KI und/oder CEO, den Lebensraum optimal und effizient – Qualityland!

Die Adepten des Relaxens enden schließlich exemplarisch im Neo-Biedermeier, betrieben die extravagantesten Freizeitkativitäten, zerstreuen und optimieren sich unsterschiedlichst: bloggen, bauen Lebensräume, erlernen alte und erfinden neue Handwerke, betreiben krasse Sportarten und reisen pauschal bis abenteuerlich individuell, ernähren sich bewusst vegan bis ohnmächtig industriell. Neo-Bied ist überall und droht, in der wirklichen Lebenswelt noch weniger, wie es in der digitalen Technik-Blase mit ihren autistischen Tendenzen lockt – Stichwort: MEINE Virtualität. Umgeben sind wir von einem Wirr-Warr an Produkten und Dienstleistungen, Netzwerken und Plattformen, Freunden und Folllowern. Wir leben dort, wo sich permanent alles Mögliche ereignet, und existieren dann, wann sich mit nur einem Klick respektive Tap alles permanent warenförmig verwirklichen lässt – hierbei rhetorisch-polemisch mal eine perverse bis paradoxe Ressourcenvielfalt angenommen: Viel hart erarbeitetes Gehalt ausgeben in einer zugleich und zeitgleich stattfindenden, üppigen wie erholsamen Freizeit. Ein klassisches Dilemma wiederholt sich: Leben um zu arbeiten und arbeiten um zu leben.

Fatal wäre es definitiv, nicht das dies auf breiter Front drohte, würden politikverdrossener Freizeitjünger und (progressiv-)reaktionärer Technonerd politisch zusammenkommen. Den einen interessiert die Politik nicht, der andere sieht die Geschicke der Gesellschaft gern in den Händen einer guten Hierarchie, den Fängen eines weisen Oberhauptes demütig übereignet. Viel Spaß also mit: Neo-Bied feat. NRx!

Your high-quantity, divers-quality Content-Blogger, Satorius


Neo-Bied (Neo-Biedermeier)

Gerne bezeichnet man das aktuelle Zeitalter als Neo-Biedermeier, was auch zutrifft, beschränkt man den Begriff auf einen Rückzug ins Private. Doch die Zeitgenossen des historischen Biedermeier waren immerhin nur Untertanen, die sich ins erzwungene Schweigen schickten und Blumenbilder malten, statt Bajonette gegen die Paläste zu richten. Die jetzigen Biedermeier dagegen sitzen mit in den Palastkanzleien, verwalten die Unterdrückung und spekulieren darauf, ihren Clan dort zu halten, wenn sie Blumenbilder ins iPad malen. Die historischen Biedermeier versuchten auch nicht, sich durch Charity-Spenden und organische Produktion von ihrer Mitschuld freizukaufen. Sie hatten ihre irren Despoten wenigstens nicht gewählt, sondern waren ihnen ausgeliefert.

Leo Fischer (1981 – ), Neo-Biedermeier (https://www.neues-deutschland.de/artikel/1050869.neo-biedermeier.html, zuletzt: 18.06.18)


NRx (Neo-Reaction)

Reading Moldbug is like listening to somebody who informs you of his plan to take care of the termites by burning his mansion down and then starts romanticizing life in a log cabin despite never having lived in one.

But then Moldbug, unlike a lot of his followers, doesn’t want to move into the log cabin, even if he’d take it over his current digs. So what’s the actual prescription?

It’s this: Democratic governments will be replaced with sovereign joint-stock corporations, their shares to be owned perhaps but not necessarily by property holders or residents of the realm. The shareholders will elect an executive, who will have plenary authority to rule as he wishes, kill as he wishes, enslave as he wishes, etc. But he won’t do such nasty things, because it would be simply incompetent. The corporation gets its income from property taxes; subjects of the realm may leave whenever they wish; and so genocide will be terrible for business. Should the executive prove to be incompetent, the shareholders may string him up at will and replace him with someone abler.

Jason Lee Steorts, Politics & Policy: Against Mencius Moldbug’s ‘Neoreaction’ (June 5, 2017; https://www.nationalreview.com/2017/06/problems-mencius-moldbug-neoreaction/, zuletzt: 18.06.18)


Link-Sammlung zu Neo-Bied:

  1. https://de.wikipedia.org/wiki/Biedermeier (Übersicht zur namensgebenden, historischen Epoche)
  2. http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesellschaft-rueckkehr-des-biedermeier-138495.html (Zeitdiagnostisches Exempel, zufällig dem sog. Qualitätsjournalismus entnommen)
  3. https://www.pinterest.de/pin/362539838727116043/ (Bunte Vielfalt eines biederen bis paternalistischen Hobbys)

Link-Sammlung zu NRx:

  1. http://neoreaction.net/ (Primäre Plattform der brisanten Bewegung)
  2. http://unqualified-reservations.blogspot.com/ (Kontext des TFF und somit programmatischer Primärtext)
  3. http://slatestarcodex.com/2013/10/20/the-anti-reactionary-faq/ (Sekundärer Überblick, der beginnende Viralität belegt)

Russels Gute-Nacht-Geschichte: Mit vier Stunden ins Glück

Wenn auf Erden niemand mehr gezwungen wäre, mehr als vier Stunden täglich zu arbeiten, würde jeder Wissbegierige seinen wissenschaftlichen Neigungen nachgehen können und jeder Maler könnte malen, ohne dabei zu verhungern, und wenn seine Bilder noch so gut wären. Junge Schriftsteller brauchten nicht durch sensationelle Reißer auf sich aufmerksam zu machen, um wirtschaftlich so unabhängig zu werden, dass sie die monumentalen Werke schaffen können, für die sie heute, wenn sie so weit gekommen sind, gar keinen Sinn und keine Kraft mehr haben. Menschen, die sich als Fachleute für eine besondere wirtschafts- oder staatspolitische Phase interessieren, werden ihre Ideen entwickeln können, ohne dabei im luftleeren akademischen Raum zu schweben, was der Arbeit der Volkswirtschaftler an den Universitäten so häufig einen wirklichkeitsfremden Anstrich gibt. Die Ärzte werden Zeit haben, sich mit den Fortschritten auf medizinischem Gebiet vertraut zu machen, die Lehrer werden sich nicht mehr erbittert bemühen müssen, mit routinemäßigen Methoden Dinge zu lehren, die sie in ihrer Jugend gelernt und die sich in der Zwischenzeit vielleicht als falsch erwiesen haben.

 

Vor allem aber wird es wieder Glück und Lebensfreude geben, statt der nervösen Gereiztheit, Übermüdung und schlechten Verdauung. Man wird genug arbeiten, um die Muse genießen zu können, und doch nicht bis zur Erschöpfung arbeiten müssen. Wenn die Menschen nicht mehr müde in ihre Freizeit hineingehen, dann wird es sie auch bald nicht mehr nach passiver und geistloser Unterhaltung verlangen.

 

Bertrand Russell (1872 – 1970), Lob des Müßiggangs, S.30f (1957)


All human activity is prompted by desire.

[…]

The desires that are politically important may be divided into a primary and a secondary group. In the primary group come the necessities of life: food and shelter and clothing.

[…]

But other desires kept them [@Satorius: „the humans“ as a spices are driven by those „infinite“, secondary desires, and are moreover led by passions like excitement, hate and fear] active: four in particular, which we can label acquisitiveness, rivalry, vanity, and love of power.

[…]

I think every big town should contain artificial waterfalls that people could descend in very fragile canoes, and they should contain bathing pools full of mechanical sharks. Any person found advocating a preventive war should be condemned to two hours a day with these ingenious monsters. More seriously, pains should be taken to provide constructive outlets for the love of excitement. Nothing in the world is more exciting than a moment of sudden discovery or invention, and many more people are capable of experiencing such moments than is sometimes thought.

 

Interwoven with many other political motives are two closely related passions to which human beings are regrettably prone: I mean fear and hate.

[…]

You might regard Mother Nature in general as your enemy, and envisage human life as a struggle to get the better of Mother Nature. If men viewed life in this way, cooperation of the whole human race would become easy. But schools are out to teach patriotism; newspapers are out to stir up excitement; and politicians are out to get re-elected. None of the three, therefore, can do anything towards saving the human race from reciprocal suicide.

[…]

You may have been feeling that I have allowed only for bad motives, or, at best, such as are ethically neutral. I am afraid they are, as a rule, more powerful than more altruistic motives, but I do not deny that altruistic motives exist, and may, on occasion, be effective.

[…]

I would say, in conclusion, that if what I have said is right, the main thing needed to make the world happy is intelligence. And this, after all, is an optimistic conclusion, because intelligence is a thing that can be fostered by known methods of education.

 

Bertrand Russell (1872 – 1970), Nobel Lecture – What Desires Are Politically Important? (Stockholm: 11.12.1950; Link zum Volltext)



Hört, hört – gut gebrüllt Herr Philosoph!

Diesen beiden klaren wie bissigen Analysen eines weisen wie spöttischen Mannes möchte ich sofort schlicht und unkritisch zustimmen. Das aber scheitert ebenso rasch und so frage ich mich unweigerlich, beinahe noch reflexartig: Ja, aber…?! Warum kann etwas so Offensichtliches so offen und unverblümt ignoriert werden? Wie kann man, können wir als arbeitende Bürger, also zugleich als potentielles Opfer und potentieller Überwinder, derart demütig einen zivilisatorischen Zustand erdulden oder zumindest versiert verdrängen, vielleicht sogar selbstverleugnend gutheißen? Ist nicht die Wirklichkeit unserer (wirtschaftlichen) Welt weit komplexer, nicht so simpel zu abstrahieren und zu kritisieren, die Lösung damit doch nicht so trivial – 4 Stunden? Oder vielleicht – flüstert ungefragt die zischende Stimme des fatalistischen Verschwörungstheoretikers suggestiv fragend aus den dunklen Regionen des Großhirns – sind SIE so mächtig, kompetent und effizient, dass diese zählbaren Wenigen leichterhand die unzähligen Vielen manipulieren und letztlich kontrollieren können?

Stop! – genug wild und gefährlich gefragt und überhaupt: SIE?! Zudem kann jede echte Antwort, insbesondere eine, die als gelebte Konsequenz nicht weniger als echten Mut darstellt, mit spitzfindigen bis stumpfen Fragenkaskaden aus dem existenziellen Off heraus besudelt werden. Dabei steckt in Russells zwei ausdrücklichen Antworten politisches Potential für unsere (zukünftige) Zeit, zeugen seine beiden betrachteten Texte zudem zugleich von Klar-, Weit- und Hellsicht. Er beschreibt geradezu prophetisch die Tendenzen, die den persönlichen Alltag vermutlich vieler und die politische Praxis sicherlich fast aller Bürger in (kapitalistischen Post-)Demokratien auch im 21. Jahrhundert noch immer prägen: Multiple Vertrauenskrise, insbesondere gegenüber Politiker, Journalist, Lehrer und Wissenschaftler (Priester sind immerhin raus; Bänker/Manager bisweilen drin; aber man ist ja so vergesslich dieser Tage), die Liebe zur Macht, heftige Ökonomisierung, Rivalität, (Selbst-)Ausbeutung, Entfremdung, Habgier, Zerstreuung(s-Sucht), Furcht (nunmehr vor Terrorismus und etwas weniger vor verfeindeten Ideologien) sowie Hass und Eitelkeit. Diesem durchaus biblisch klingenden Heer aus Dämonen gesellen sich einige für Russell notwendig unbekannte Bonus-Monster (bspw. Populismus und Renationalisierung, Klimawandel und Ressourcenpeaks, Globalisierung und Konsumismus) hinzu und gemeinsam trotzt das Pack den bereits erkämpften zivilisatorischen Errungenschaften; vereint attackieren diese Teufel all die unschätzbar wertvollen Annehmlichkeiten unserer Lebenswelt, von denen regulierte Arbeit, politische Teilhabe, Kultur und Kommunikation sowie weitreichende Selbstbestimmung und (innere wie äußere) Sicherheit nur die im Zitat thematischen Güter einer langen Liste an historischen Errungenschaft sind.

Aber vor allem untersucht Bertrand Russell in seiner Rede und in seinem Werk auf einer breiten Basis von (Geistes-)Wissenschaften (Psychologie, Soziologie, Politik und Pädagogik, meine ich gewittert zu haben, wobei Mathematik, Philosophie und Logik sicher unterstützen) die positiven Möglichkeiten, der dunklen Seite der Geschichte entgegenzuwirken, ist also tatsächlich mutig und wagt den politischen Entwurf: In der Tradition von Humanismus und Aufklärung stehend und vom Sozialismus verführt, psychologisiert Russell zunächst wie gelesen und kommt dabei letztlich zu dem Schluss, dass Erziehung und Bildung sowie eine daraufhin ausgerichtete Neuorientierung von Schule, (medialer) Öffentlichkeit und Politik den weiteren Weg der (Post-)Moderne anleiten sollen.

Dass dabei die Ökonomie bestenfalls zweitrangig ist und somit im Bruch mit Marx eine ökonomische Politik angenommen wird, werte ich mal als inhaltlichen Kompromiss zwischen Idealismus und Pragmatismus; zumal die Folgerungen ähnlich, wenn auch gewaltloser ausfallen als noch bei Marx: Reform vs. Revolution – der ewige Zwist. Wie dem auch sei, auch in einer Welt des Diktats durch Kapitalien bleibt Bezugspunkt jeder konkreten Utopie notwendig der Mensch, mithin also das Dilemma von Menschheit und Mensch, Kollektiv und Individuum, Phylogenese und Ontogenese. In diesem Hinblick sieht Russell den Fortgang der Menschheit dann gewährleistet, wenn die Entwicklung des Menschen durch Erziehung und Sozialisation über (Schul-)Bildung hin zu adulter Autonomie führt und schließlich im (utopischen) Ziel der Russellschen Argumentation kulminiert: Intelligenz!

Ergo setzt er mit seiner Strategie dort an, wo ernstliche Widerstände der hurtigen Herausbildung von Intelligenz im Wege stehen und fordert deshalb, den (beruflichen) Alltag so umzugestalten, dass wir allesamt wieder Lust an intrinsisch motivierter Selbstvervollkommnung bekommen, überhaupt nur wieder bekommen können. Denn nur wer lustvoll lernt statt kunstvoll zu konsumieren oder angestrengend zu arbeiten, schult seine Intelligenz – kontinuierliches Denken macht halt (leider) einzig klug. Indem wir höchst hypothetisch mit nur noch vier Stunden entschieden weniger arbeiten und damit mehr Freizeit haben, kann ein jeder diesseits und jenseits von Schulen und Universitäten seine Talente entdecken und entwickeln – spielerisch, ohne Hast, Druck und Stress. In Teilzeit, satt und zufrieden wird der befreite Mensch auch nicht mehr so sehr vom Bedürfnis nach Rausch und Zerstreuung geplagt – so zumindest Russell, wohingegen ich da anderer Ansicht bin.

Eingerahmt und bewirkt wird die simple Maßnahme, die Arbeitszeit generell auf vier (oder weniger) Stunden zu begrenzen, was wohl nicht nur zufällig mit den von Marx seinerzeit errechneten vier Stunden an notwendiger Arbeit gepaart wurde, von einer ganz besonderen Politik. Denn die von Russell präferierten Maßnahmen und Konzepte erzeugen bei mir eine recht kunterbunte Liste an Attributen: Humanistisch, aufklärerischen, sozialistischen, liberal, demokratisch, Politik und einem sicherheitspolitischen Geflecht aus Institutionen, deren Wirken den analysierten (Grund-)Bedürfnissen, Motiven und Leidenschaften des Mängel- und Gängelwesens Mensch Rechnung trägt. Heißt so viel wie: Wir verkappten Jäger können uns austoben, Sex haben, kämpfen, tanzen und was wir sonst so wollen, wobei uns gemäß Russell Wissenschaft und Technik schon effektiv weiterhelfen und gewähren dem Naturwesen qua sozial reibungsfreiem Triebleben sozialen und globalen Frieden.

All diese Schritte führen laut Russell letztlich beim befriedigten sowie hochgebildeten Individuum zu einer erwarteten Einsicht, die übrigens seinerzeit zu seinem Leidwesen von den sog. Moralisten als eigennützig („selfish“) gebrandmarkt wurde, dass es rational betrachtet am vernünftigsten ist, jenseits von partiellen Gruppendynamiken immer auf die größtmögliche Gruppe und sein Handeln auf ihre Interessen auszurichten. Denke also nicht an deinen kleinen Klan, sondern an die ganze Gattung und ihre Probleme, was konkret bedeutet: die Menschheit und insbesondere ihren globalen Kampf mit der Natur. Dieser gemeinsame Kampf, Kooperation insgesamt speist sich ihrerseits aus positiven, im Text nur relativ kurz angesprochenen Aspekten psychologischer Anthropologie: Altruismus, Mitleid und die zentrale Intelligenz. Wenn die Menschen also nur glücklich sind, alle Bedürfnisse von Staat und Wirtschaft befriedigt werden und ihrem naturgegeben Schatten politisch Rechnung getragen wird, dann herrschen Solidarität, Kooperation, Frieden und bringen Arbeit, Kultur, Wissenschaft zum erblühen. Am Ende der hier höchstens angedeuteten Utopielogik steht dann ein ideales „Parlament der gebildeten Egoisten“, das die Welt der Menschheit im allgemeinen und den Menschen, also sich selbst, im besonderen verwaltet und regiert. Diese demokratische bis republikanische Herrschaftsform steht unter einer angenommen, aber unangenehm unklaren, irgendwie monistisch imaginierten Perspektive von Gemeinwohl und vervollkommnet die Geschichte auf europäische Art – well done, Bingo, et voilà!

Utilitarismus und Liberalismus, Demokratie und Sozialismus mal eben szientifisch grundiert und flux vereint, schön harmonisch konvergiert, fast ohne alle die Dialektiken und Widersprüche. Das funktioniert so leicht, weil nämlich das Naturwesen Mensch technologisch und bildnerisch absolut in sich versöhnt wird und sich selbstbestimmt wie sozialverträglich perfektioniert. Der Rest ist unsere Geschichte geworden und von heutiger Warte hat sich einiges positiv in Richtung der Russellschen Ideale entwickelt; ebenso sind aber einige seiner dystopischen Negationen weiterhin wahr und überdies selbstverständlich auch vieles Singuläres, Unerwartetes passiert. Netterweise will ich hiermit nur grob zusammenfassend und vage angedeutet Kritik an der Russellschen Position üben, die in Hinblick auf ihren naiven Positivismus, ihre Vagheit (ist womöglich dem Medium geschuldet), die massiver Unterschätzung von Ökonomie und der (für ihn unvorhersehbar sogar digital und viral gewordenen) Kapital-Globalisierung einige offene Flanken böte.

Zurück also zum Positiven, nunmehr zu den Gelegenheiten der Gegenwart, denn wie eingangs betont, stimme ich der Tendenz nach Russells zu: Bestmögliche Bildung macht notwendig den Anfang und der Rest kommt dann später schon ganz von selbst. Wohlwissen um die chronologische Paradoxie von Henne und Ei und eingedenk der idealistischen General-Abstraktion finde ich hierbei insbesondere eine Idee persönlich sehr reizvoll, nämlich Alltag und Beruf so auszurichten, dass diese den eigenen Bedürfnissen und Fähigkeiten sowie deren steter Befriedigung und Entwicklung dienen. Einen solchen zivilisatorischen Luxus können sich heutzutage viele von uns durchaus eher gönnen als zu Russells Lebzeit.

Dennoch, selbst ein verhaltenes Dankeschön in Richtung unserer global betrachtet recht eigennützigen Version von liberalem Kapitalismus kommt mir im Angesicht der globalen Zustände nicht so recht über die Finger in die Tasten auf den Schirm. So stehen wir mit unserer post-industriell avancierten Digitalwirtschaft wohl, wenn zugegeben weltweit auch nur punktuell, national bis regional, historisch an dem bedeutsamen Punkt, an dem vielleicht erstmals in der Weltgeschichte ein unfassbares Ausmaß menschlichen Potentials fern von reproduktiven und damit repetitiven Tätigkeiten freigesetzt worden ist und (~exponentiell) zunehmend noch freigesetzte werden wird. Automatisierung und Produktivitätssteigerung machen die Menschen frei zu gehobener Arbeit, befähigen ihn zu allerlei kulturellen und intellektuellen Aktivitäten. Diese Transformation spüren wir heute umso stärker, was wohl auch keiner der viele Verwalter, Künstler, Forscher, Lehrer, und Coaches anzweifeln; all die geistig dienstleistenden Arbeitnehmer, lange geschult und breit gebildet, bringen täglich ihre Intelligenz auf Touren und damit in die Gesellschaft. Die Tertiarisierung der Wirtschaft sollte ein unbestreitbarer Beleg für die Existenz einer avancierten (Wissens-)Wirtschaft und damit das Vorliegen einer wichtigen Prämisse von Russells utopischer Argumentation sein, wie eine Vollendung von Industrie und Technologie auch bei Marx‘ und vielen anderen zur utopischen Pforte stilisiert wird.

Diesem Trend entspricht im Bereich der (Aus-)Bildung, eine immer höhere weltweite Alphabetisierung und sukzessive Akademisierung der Bevölkerung. Wissenschaft und Forschung, inklusive der angeschlossenen angewandten Technologie (Heckler & Koch, Google, JPMorgen Chase und kapitalistische Konsorten), erzielen in jeder Hinsicht heftigste Wachstumsraten und repräsentieren damit gegenüber klassischeren Wertquellen wie Kraft, Geschicklichkeit und Rhetorik einen überproportional großen Anteil der globalen Wertschöpfung. Exponentiell gedacht, wird es zukünftig zunehmend rascher vorangehen in dieser Richtung. Roboter und künstliche Intelligenzen entfesseln und potenzieren nunmehr nicht mehr nur in der Fantasie die menschliche Arbeitskraft; wovon Generationen in ihren Büchern und später Filmen träumten, umgibt uns wie selbstverständlich im Alltag und gibt uns historisch gesehen an Magie grenzende Fähigkeiten. Aber nicht nur das, auch die Basis stimmt, denn dank Arbeitsteilung und Produktivitätssteigerung werden potentiell genug Lebensmittel hergestellt, dass niemand mehr Hunger leiden müsste. Aktuell kann ich den nötigen altruistischen Willen und alles zu dessen Verwirklichung nötige, wie eine ideale Logistik, den notwendigen radikalen Technologie- und Kapitaltransfer, die Befriedung sozialer wie militärischer Konflikte sowie eine Heilung psychischer wie physischer Krankheiten, nur hier in meinem Text und auch nur für wenige Zeilen voraussetzten. Deswegen begnüge ich mich mit dem faktischen und verlasse das fiktionale: Subsistenz-Arbeit bindet nur noch einen Bruchteil der Arbeitleistung und in unseren Breiten ist die Versorgung mit Lebensmittel so gut, wie es sich Russell nur hätte wünschen können.

Wobei ich den moralischen Gedankenabschluss nicht unterdrücken kann, dass Marketing und weitere professionelle Verwerflichkeiten die Menschen zur guten alten Völlerei verleiten: Erst der Flatrate-Fressflash bei McDonalds oder beim x-ten all-you-can-eat/all-inclusive Ereignis, dann die Gegenmaßnahmen wie Magenschlingen, Diätpillen, dazu passende Diät-Programme, Light-Produkte (man beachte die womöglich systematisch bedingte hohe Anglizismen-Quote) und einige der neusten Ess-Ideologien. Solcherart pervertiert könnte das Subsistenz-Ideal kippen und in ein Dekadenz-Real stürzen. Dennoch will ich meine Russellsche Utopielaune nicht trüben und positiv mit seiner liebenswerten Position umgehen.

Kulturbudgets und die Quantität an kreativen Erzeugnissen, um noch eine weiter erfreuliche Facette kurz und zuletzt zu schneiden, erzielen seit Jahrzehnten riesige absolute wie relative Zuwächse und haben dabei hohe Wachstumsraten, wenn sie auch nicht vergleichbar zu den hartexponentiellen Raten von (Digital-)Wirtschaft und Wissenschaft sein dürften. Die Qualität der Produkte in Kunst und Kultur bleibt, grobschlächtig und unparteiisch gedacht, ebenso außen vor wie die schlechterdings freche und damit unzulässige Frage, ob das bisher entwickelte objektive Fakten oder subjektive Fiktionen sind.

„Eigentlich würde ich ja gerne mal A (Yoga machen) oder B (Arabisch & Französisch lernen), aber mit meinem (Vollzeit-)Job, der Familie und meinen Steckenpferden: X (Vivarium),Y (Fahrrad) und Z (Lesen/Schreiben) bin ich voll ausgelastet. Das kostet mir leider zuviel, vor allem zuviel von meiner Lebenszeit!“, ist ein sicherlich nicht ganz und gar ungewohnter Gedanken. Für alle, die mit ihm sympathisieren, klingt der Slogan Russels (und meine notwendige Ergänzung) sicher gut an: „Nur 4 Stunden Arbeit (und das bei vollem Lohnausgleich)!“ Voller Nutzen, wenig Kosten bringen den homo oeconomicus in uns zum Jubeln. Denn der Mangel sitzt ihm immer im Nacken, treibt ihn vor sich hin und kerkert ihn ein. Da sitzt er nun in seinem dunklen kleinen Kabinett und zählt und kalkuliert und eruiert. Dabei scheut er je nach Temperament mehr oder weniger die Investition von Energie, Geld und Zeit. Solcherart limitiert erwirbt sich der gediegene Haushälter des Lebens kaum neues Inventar für sein Oberstübchen, zumal er ohne ein ordentliches extrinsisches Motiv in einer grauen und leidenschaftslosen Welt schon mal garnicht darüber nachdenkt loszulegen. Da zerstreut er sich doch lieber wie gewöhnlich und konsumiert unterdessen brav allerlei Produkte; dafür hat er ja immerhin 8+ geschuftet, damit er es sich so richtig gut gehen lassen kann!

Polemisch bis in die Satzzeichen, zugegeben, aber der argumentative Kern bleibt klar und plausibel: Solange die öffentlich-private Doublette aus Konsumismus und Erwerbsarbeit, katalysiert durch Unmengen an freiem Kapital und ausgestattet mit den nötigen Produktionsmitteln, einen Gutteil der Bevölkerung in Schach halten darf, herrscht gemäß Russell politischer Handlungsbedarf. Das ist definitiv der Fall, in welchem Maße mag ich nicht quantifizieren, qualifizieren kann ich es hingegen ausreichend. Der Lohndruck lockt und lethargiert zugleich. Was also tun?

Aller Voraussicht zum Trotz bleibt ein wichtiger Faktor in Russells Gleichung außerhalb seines Definitionsbereichs und der Wert der Gleichung stimmt deshalb vielleicht derzeit in seinem prognostizierten Betrag, von Intelligenz, Arbeitskraft, Kreativität und dergleichen mehr, nicht jedoch im erwarteten Vorzeichen; obwohl er doch durch Marx sensibilisiert gewesen sein dürfe, unterschätzen die Texte (Ironie mal ignoriert) die strukturelle und damit überindividuelle Kraft des Kapitals. Zumal es im digitalen Zeitalter mächtige Alliierte, eine zusätzlich künstliche Dimension und Repräsentanz in Hard-, Soft- und Wetware erhalten hat. Die Myriaden an Maschinen und Millionen von Programme dienen dabei deterministisch, einflussreiche bis gewöhnliche Mensch aus fraglicheren Gründen. Hier jedenfalls verfängt das Bildungsideal als Lösungsstrategie nicht, denn das Kapital absorbiert alles hocheffizient, setzt dabei aus Widerständen und Spannungen sogar Energie frei, die es kurzerhand kommerzialisiert. Bedenkt man zudem noch das institutionelle Gerippe, das sich der Kapitalismus gleich einem schützenden Exoskelett zu- und angelegt hat und attestiert überdies, dass Bildung zunehmend warenförmiger und berufsbezogener wird, könnte man rebellisch werden. Vollbeschäftigungsdogmatik, Wettbewerbsideologie, Wachstumslogik, Leistungslust und Exportüberschüsse tun ihr übriges und schon war Russells Traum eine Geschichte unter vielen und alles andere als Geschichte, vergangen, verflogen, dahin.

Eine entscheidende Frage ist und bleibt schlussendlich unbeantwortet: Wie beginnen und sodann den Übergang gestalten? Solange Bildung nicht notwendig und hinreichend zu multipler, insbesondere emotionaler Intelligenz einer kritischen Masse an poltischen Akteuren führt, heilt und versöhnt sie gleichsam keineswegs. Bei seinem idealistischen Wahlprogramm, angenommen es würde denn überhaupt ernstgenommen und glaubhaft gegenfinanziert, würden wohl viele Menschen Russels Partei für neue, gerechtere Lebenspraxis in das UN-Parlament entsenden, wenn es sie denn beide eines Tages gäbe und man dann nicht gerade besseres, spannenderes und schöneres zu tun hätte. Bevor ich jetzt also der Verführung erliege, zu resignieren oder zu theoretisieren, also nicht mehr nur einem verblichenen Utopiker möglichst nett zu huldigen und seine Aktualität abzuklopfen, sondern womöglich noch missmutig oder übermütig beginne, zu verunglimpfen und zu schimpfen, gar eigene Utopien zu entwickeln, mich somit zwischen Reform und Revolution entscheiden müsste – lass ich es lieber und überlasse die Geschichte(n) sich selbst!

In neuer, ungeahnter Schreibwut, Euer Satorius

 

#MCE8 @ Tschüss, Dystopia – Hallo, Utopia

So also fühlt sich ein ganzes, langes Quartal in der rauen Wirklichkeit (oder für philsophisch ambitionierte Monisten: Realität) an. Nun reicht es aber damit, genug der Fakten und verkappten Fiktionen; also bin ich heimgekehrt, hier nach Quanzland. Abermals kehre ich solcherart zurück in die technologische Freiheit, flüchte aus Dystopia und begrüße Utopia.

Viel ist unterdessen passiert dort draußen, in der Mitwelt von Quanzland, direkt vor der Haustür, in der nahen und fernen Nachbarschaft sowie in der großen weiten Welt: England scheidet sich, die Türkei und Amerika radikalisieren sich je für sich, Frankreich erfindet sich mal eben neu und die werte EU hofft mitsamt ihrer wachen Bürger auf eine gemeinsame Zukunft. Von Flucht, von Krieg und vom Terrorismus und all deren Folgen für Freiheit und Sicherheit, Leib und Leben zu sprechen, wäre bei meinem Temperament und dem daraus resultierenden Denkstil nur noch zynisch möglich. Denn für einen angemessenen Umgang, also aus sachlicher Distanz differenziert oder mit empathischer Nähe umsorgt, ist hier nicht der Ort; und ist jetzt nicht die Zeit. Deshalb werde ich schlichtweg schweigen. Wo immer wieder Menschen sterben, sollten Worte bisweilen ruhen. Genug also mit Komödie in diesen Belagen, wo selbst Tragödie verblasst und bloßes Wort bleibt. Ebenso hält es übrigens – nur noch soviel – der in Quanzland berühmt und auch ein wenig berüchtigt gewordene, zugleich global total ignorierte Gedankenterrorist: Er schweigt seit Wochen, scheut die Aktion im Zeichen seines sanften, beinahe humanen Terrorismus. Der gemeinsame Begriff, die verbindende Kategorie ist derart blutverschmiert, angstdurchtränkt und hassverfemt, dass Gleichklang unmöglich wird.

So sitze ich nun da, hölzern und starr, hocke am Rande dieses digitalen Raumes und blicke hinaus in eine lebensfeindliche Kraterlandschaft. Mein vielstimmiges, multimediales Sprachrohr säuselt so leise wie es staubbedeckt ist und nur zaghaft getraue ich mich, meine Stimme erneut zu erheben. Es herrschen schwere Zeiten für Spötter wie mich, allemal dort draußen in Dystopia aber auch hier drinnen in Utopia. Die Fenster und Türen zur Welt bleiben bisweilen offen, werden durch mich sogar denkbar weit aufgehalten, denn sonst würde Quanzland zur Einzelhaft in einem Gefängnis names virtueller Eskapismus.

Mit demütig-deprimierter Dissonanz, Euer Satorius


Maurits Cornelis Escher (1898 – 1972), Other World (1947; Lithografie)

Ambivalenzen von Wort und Mensch

Es gibt zwei Arten von Propaganda – vernünftige Propaganda für Handlungen, welche mit dem aufgeklärten Eigennutz derjenigen, die sie machen, und derjenigen, an die sie gerichtet ist, übereinstimmen, und unvernünftige Propaganda, welche mit niemands aufgeklärtem Eigennutz übereinstimmt, sondern von Leidenschaften, blinden Regungen, unbewussten Begierden oder Befürchtungen diktiert wird und sich an alle diese wendet. Wo es sich um die Handlungen von Individuen dreht, gibt es höhere Beweggründe als aufgeklärten Eigennutz. Wo aber auf den Gebieten der Politik und Wirtschaft kollektiv gehandelt werden muss, ist aufgeklärtes Selbstinteresse wahrscheinlich der höchste aller wirksamen Beweggründe. Wenn Politiker und ihre Wähler immer so handelten, dass sie auf lange Sicht ihr oder ihres Landes Interesse förderten, wäre unsre Welt das Paradies auf Erden. Tatsächlich aber handeln sie oft gegen ihr eigenes Interesse, bloß um ihren am wenigsten rühmlichen Leidenschaften zu frönen; folglich ist die Welt eine Stätte des Elends. Propaganda für solche Handlungen, die sich mit aufgeklärtem Eigennutz vertragen, wendet sich an die Vernunft mittels logischer Argumente, welche auf das beste verfügbare, voll und ehrlich dargelegte Beweismaterial gegründet sind. Propaganda für solche Handlungen, die von niedrigeren Impulsen als aufgeklärtem Eigennutz diktiert sind, bietet falsches, verfälschtes oder unvollständiges Beweismaterial, meidet logische Argumente und sucht ihre Opfer durch bloße Wiederholung von Schlagworten zu beeinflussen, durch wütende Anprangerung fremder oder heimischer Sündenböcke und durch listige Verquickung der niedrigsten Leidenschaften mit den höchsten Idealen, so dass Gräuel im Namen Gottes verübt werden und die zynischste Art von Realpolitik zu einer Sache religiöser Grundsätze und patriotischer Pflicht wird.

 

Mit John Deweys Worten: »Eine Erneuerung des Glaubens an die gemeinsame menschliche Natur und ihre Möglichkeiten im allgemeinen und an ihre Fähigkeit, auf Vernunft und Wahrheit anzusprechen im besonderen, ist ein sichereres Bollwerk gegen Totalitarismus, als eine Schaustellung materiellen Erfolgs oder eine devote Verehrung besonderer rechtlicher und politischer Formen.« Die Fähigkeit, auf Vernunft und Wahrheit anzusprechen, ist in uns allen vorhanden. Vorhanden ist aber leider auch der Hang, auf Unvernunft und Unwahrheit anzusprechen – besonders in denjenigen Fällen, in denen die Unwahrheit ein Lustgefühl hervorruft oder der Appell an die Unvernunft eine antwortende Saite in den primitiven, untermenschlichen Tiefen unsres Wesens zum Erklingen bringt.

 

Aldous Huxley (1894 – 1963), Dreißig Jahre danach oder Wiedersehen mit der „Wackeren neuen Welt“, S. 21f. (1960)

16 Jahre danach oder Rückkehr zur verehrtesten Schullektüre

Des Witzes Seele kann zur leibhaftigen Unwahrheit werden. So elegant und einprägsam
Kürze auch sein mag, kann sie naturgemäß nie allen Tatsachen eines vielfältigen
Sachverhalts gerecht werden. Über einen solchen vermag man sich nur mittels Weglassens
und Vereinfachens kurz zu fassen. Weglassungen und Vereinfachungen helfen uns,
zu verstehen – aber in vielen Fällen das Falsche; denn was wir erfassen, sind vielleicht
nur die säuberlich formulierten Vorstellungen des Vereinfachers, nicht die ungeheure,
vielverzweigte Wirklichkeit, von der diese Vorstellungen ein so willkürlicher Auszug
sind.

 

Aldous Huxley (1894 – 1963), Dreißig Jahre danach oder Wiedersehen mit der „Wackeren neuen Welt“, S. 3 (Vorwort; 1960)