Die Heimkehr des verspannten Fast-Magisters
Teil 1 von 12: Seiten 1 bis 4.
Zunächst kratzte er sich nur flüchtig. Im Nacken am Haaransatz begann er, ging aber sofort nahtlos dazu über, seine Nackenmuskulatur immer energischer zu massieren. Was dort seit einigen Stunden an Verspannung gewachsen war, entsprach proportional so ungefähr dem Maß an Veränderung, das sein Leben seit Längerem irritierte. Eine neuerliche Veränderung, eine epochale Entwicklung und ein akuter Zustand spielten in diesem Zusammenhang herausragende Rollen.
Entgegen seiner an sich sesshaften und gemütlichen Natur, die zu Kontemplation und Trägheit, leider aber auch zu Weltflucht neigte, befand sich Xaver Satorius [Hervorhebung durch Satorius] seit nunmehr 5 Aktuell-Tagen auf der Reise. Deren Ziel würde, so hoffte er, sein neues Zuhause werden. Für welche Dauer und ob überhaupt, stand dabei zunächst gänzlich offen. Trotz aller Fährnisse und Unannehmlichkeiten, die ein interplanetarer Umzug unter herrschenden Zuständen mit sich brachte, erwartete ihn dort die Chance auf eine verheißungsvolle Anstellung. Damit würde er in seiner beruflichen Laufbahn den Schritt vom Theoretiker zum Praktiker beschreiten. Über die klassischen Anforderungen an einen Bewusstseinsformer hinaus, kämen ihm die Rollen eines moralischen Erziehers und intellektuellen Mentors zu, vielleicht gar in späteren Jahren diejenige eines Vertrauten.
Heraus aus dem eben noch erträglichen, lunaren Exil, der nie so recht lieb gewonnenen Zuflucht, führte ihn sein Weg. Er hatte die mickrige, aber immerhin sehr sichere Siedlung verlassen, deren einzige Existenzberechtigung in ertragreichem Tiefenbergbau bestand und die nicht einmal einen echten Namen erhalten hatte. Warum gerade hier eines der Refugien der Academia Universalis verborgen war, beantwortete die schiere Irrelevanz dieses Ortes in solarer Perspektive eindrucksvoll. Keiner der diversen kriegstreibenden Akteure und vornehmlich deren todbringende Schergen interessierte sich für diese unbedeutende Gegend. Beginnend in jener trotz allen technischen Fortschritts noch immer schlecht erschlossenen Region auf der dunklen Rückseite des Mondes, hatte ihn seine bisheriger Route über nur wenige Zwischenstationen zum zentralen Raumknoten des Erdtrabanten in Eluna geleitet. Dort hatte er sich ohne Umschweife, so sah es nämlich seine rigide Planung vor, eine Passage in Richtung traumatische Vergangenheit gebucht: Destination Erde!
Ohne sich auf seinem Weg ernstlich mit seiner Umgebung zu beschäftigen, war er die meiste Zeit über in einer sensorisch-geschützten, digital-aufbereiteten Hyperrealität seines Gedankenkonzils unterwegs gewesen. In einem als Reisekokon bezeichneten Modus dieser Bewusstseinserweiterung, die ihm trotz minimalem Kontakt zur Außenwelt eine zielstrebige, hoch effiziente Fortbewegung ermöglichte; Mobilität fast ohne Reibung mit der Umwelt, der Kontrapunkt zu dem, was in früherer Zeit als Flanieren Kulturgeschichte geschrieben hatte. Er hatte diesen Daseinszustand öfter gesucht, als er sich das wünschte – mehr noch sehnlich erhoffte. Er musste sich unbedingt wieder mehr an die reale Welt, die Menschen dort und vor allem den Umgang mit beidem gewöhnen, sonst würde er es zukünftig schwer haben. Sowohl in professioneller, als auch existenzieller Hinsicht waren die Rückkehr in die wirkliche Welt und vor allem die Wiederaneignung des Sozialen essenziell. Die Fähigkeit zu Empathie und das Erzeugen von Bindung würden unumgängliche Ebenen seiner praktischen Arbeit sein, dabei half ihm all seine theoretische Kompetenz, mehr noch Brillanz, nur mäßig weiter. Die womöglich starken Emotionen, die unvermeidliche Folge dieses Pfades sein würden, bestünden angesichts der epochalen Entwicklung wahrscheinlich eher in Leid und Schmerz, denn in Glück und Freude.
Im Anflug einer Marotte – damit zum akuten Zustand – rechnete er in Nanosekunden-Schnelle mithilfe einer der verbliebenen, recht simplen Kognitivfunktion seines zur Zeit eigentlich inaktiven Gedankenkonzils um: „5 Aktuell-Tage entsprechen, laut letztem von Googol recherchiertem Kurs für den Planeten Erde, 1,23 alten Tagen. Zudem besitzt diese vergleichsweise weit verbreitete Kalendarik sowohl im Zentralknoten Frankfurt Rhein/Main, als auch im gesamten übrigen Einflussbereich der Karlus-Korporation und insgesamt in weiten Teilen Europas Gültigkeit. Also wäre ich bereits 5 mal 1,23 Tage unterwegs gewesen; damit im Ergebnis exakt 6,15 Tage, bevor damals plötzlich die ganze Welt auf die schiefe Bahn geraten ist – knapp 6 Tage!“, rief er sich sofort gedanklich und damit gleich doppelt zur Ordnung.
Nicht in neurotischem Ausmaß detailverliebt zu sein, war als mentale Einstiegsübung zunächst noch relativ leicht machbar, da an sich emotional wenig brisant. Sich ganz alleine seinen übrigen Existenzmustern und der neuerlichen Entwicklung zu stellen, war hingegen schon reichlich zermürbend. Einerseits galt es damit einiges zugleich zu beherrschen und andererseits täuschte der wohlfeile Fachbegriff Potenzialreduktion über die praktischen Schwierigkeiten seiner Umsetzung hinweg. Gezielt und kontrolliert wenig Wiederholung sowie Verstärkung von ungewolltem Denken und Verhalten zuzulassen, war zwar schon konkreter, aber dennoch nicht leichter zu realisieren. Denn ohne die mannigfachen Formen medialer Zerstreuung und schlimmer noch ohne höhere augmentale Unterstützung musste er derzeit sein Dasein fristen. Seine Existenz wurde derzeit durch mentale Disziplin, die kärglichen Eindrücke aus der realen Umgebung und sporadische, kaum hilfreiche Impulse seines Gedankenkonzils bestimmt; fast nur sein nacktes Ich war im Moment präsent – ein höchst ungewohnter Bewusstseinszustand für Xaver. Hierbei bereitete ihm neben seiner ausgeprägten Weltfremde, der mangelnden Veränderungsintoleranz und der sozialen Inkompetenz besonders eine Aufgabe höchste Pein: Es galt die existenzielle wichtige Herausforderung zu bewältigen, seine mehr als schmerzlichen Gedanken an die mittlerweile vernarbten Wunden der Vergangenheit zu bannen und dabei zugleich der bitter-süßen, nostalgischen Versuchung romantisch-naiven Heimwehs zu widerstehen.
So in etwa artikulierten sich die Ansprüche an eine rational wie emotional kluge Haltung in der aktuellen Situation und nur eine solche war der Lebenskunst eines Magister Universalis angemessen. Eines Fast-Magisters genauer gesagt, wie er bei den anfangs immer seltener gewordenen und dann irgendwann ausgebliebenen, heiteren Gelegenheiten zu scherzen gepflegt hatte. Nun würde es bei diesem Titel bleiben müssen, denn die materiellen wie ideellen Strukturen der ehemals einflussreichen Academia Universalis existierten nur noch in verstreuten Bruchstücken, wie die vieler anderer Institutionen und Errungenschaften menschlicher Kultur; aber immerhin sie existierten, noch immer, nach Allem! Bis diese zivilisatorischen Scherben, wenn überhaupt, je wieder zu einem lebendigen, noch gar harmonischen Ganzen zusammengesetzt sein würden, waren geachtete Titel, renommierte Abschlüsse und wichtige Prüfungen weitestgehend abgeworfene Aspekte. Deren Verlust allerdings wog weit weniger schwer, als derjenige des selbstverständlich gewordenen, kulturellen Erbes der solaren Menschheit: Sicherheit im Einklang mit Freiheit, Gerechtigkeit gepaart mit Frieden, Humanität im Angesicht radikaler Pluralität sowie nicht zuletzt Fortschritt im Verbund mit Hoffnung! Alles zusammen höchst allgemeine Begriffe, die durch die letzten Epochen der Menschheitsentwicklung an historischer Kontur gewonnen und erstaunliche Wirksamkeit entfaltet hatten. Notwendig ging mit dieser Konkretisierung eine Wandlung einher, sodass Interpreten des 21., noch gar solche des 16. oder sogar vorchristlicher Jahrhunderte sie kaum noch wiedererkannt hätten. Jedoch galt Entsprechendes in eklatanterem Ausmaß auch für die letzte Generation. Xaver selbst hatte bereits und würde weiterhin die Spuren dieser großen utopischen Idee der Kulturgeschichte in kuriosen, abwegigen Windungen sich verändern sehen.
„Nicht wieder daran denken; schau doch nicht immer zurück Richtung Vergangenheit, sondern voraus in eine unweigerlich bessere Zukunft!“, schallte es kraftlos und ziemlich plakativ durch sein Bewusstsein. So waren ihm die Mitglieder seines Gedankenkonzils wahrlich keine Hilfe bei der Bewältigung der akuten Krise. In ihrer existenziellen Problematik schon anspruchsvoll genug, wurde diese Last ihm ganz alleine aufgebürdet. Ohne zuverlässige technisch-kognitive Unterstützung, geriet die Situation zunehmend zu einer Grenzerfahrung.
In einem zynischen, inneren Lachanfall über die Tortur an Reflexionsakrobatik und Gedankengymnastik kehrte er ins Hier und Jetzt und damit zu einer simplen, noch immer beharrlich dumpf-schmerzenden Nackenmuskulatur zurück. Er wünschte sich in diesem Moment, in den letzten Jahren Gymnastik ernster genommen zu haben; er hätte wirklich mehr Zeit mit der Pflege seines Körpers verbringen sollen, anstatt sich fast nur noch im technologischen Äther des Gedankenkonzils und in Gegenwart dessen diverser Module aufzuhalten. Anfangs, gerade für seine Profession, in soeben noch zulässigem Maße betrieben, wurde seine Weltflucht ab einem bestimmten Punkt wirklich problematisch. Er hatte begonnen, sich immer öfter und immer länger mit den Möglichkeiten des Konzils sowie der Hilfe und Gesellschaft der mittlerweile 6 Mitglieder an alles erdenkliche und greifbare Wissen über verlorene Welten und verlorene Zeiten zu klammern. Wo es zu Beginn noch berufliche gesetze sowie private motivierte Schwerpunkte in seinem Handeln gegeben hatte, wurden seine Forschungen zunehmend willkürlicher und wahlloser – zuletzt waren sie zum reinen Selbstzweck degeneriert. Diese Eskapaden hatten schließlich sogar fast seine komplette Freizeit und die eben noch vertretbaren Anteile der an sich schon geringen Arbeitszeit ausgefüllt. Immerhin hatte er sich während dieser Aufenthalte in den künstlichen Paradiesen Unmengen an totem, besser verstorbenem Geschichtswissen erworben. Den eigentlichen, unsagbaren Grund dieser zweiten Flucht, die unvorstellbaren, milliardenfachen Schrecken der solaren Wirklichkeit und deren naher Vergangenheit, hatte er tief vergraben; vergraben unter Unmengen frischer Graberde einer beständig fort exhumierten historischen Erinnerung – selbstverständlich unter Aussparung der neueren Geschichte.
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