Fiktionale Kleinode

Wochenendlektüren Nr.6 – YY1: S. 2-5/~34 [Version 1.2]

Pflicht oder Lust, was sollte das Schreiben, ja mehr noch, das Leben anleiten? Ist eine Handlung authentischer, womöglich sogar moralischer, die aus positiver Neigung alá „Ja, darauf habe ich richtig Bock!“ getan wird oder eher diejenige, welche innerhalb eines vernünftigen Wertesystems erwogen und abschließend pflichtbewusst getroffen wird, wenn nötig im Unterschied zu erstgenanntem Hedonismus auch negativ alá „Wäre zwar geil, ist aber unklug oder gar ungerecht – also: Nein!“ bzw. „Eigentlich keine Lust, aber muss halt, deshalb: Ja!“?

Dieser Fragekomplex klingt nicht nur groß, er ist philosophiegeschichtlich epochal und auch psychologisch noch unabgeschlossen, wenn nicht unabschließbar. Ich komme darauf und drehe mich darum, weil ich in puncto Blog für sich und Schreiben an sich häufig zu trägem Hedonismus neige. Hierbei und ganz im Gegensatz zu anderen Bereichen des Lebens, die weniger ästhetisch und fakultativ sind, vermag ich kaum eine Pflichtethik anzuerkennen und anzuwenden. Warum auch, geht es hierbei, hierin doch weder um den potentiell leidenden Anderen, das größere Glück des Kollektivs oder um Fortschritt und Perfektion …

Und schon beginne ich meine zuerst so klare Trennung zwischen Lust und Kunst auf der einen sowie Ernst und ökonomischer Politik auf der anderen Seite des ethischen Terrains anzuzweifeln. Wahrscheinlich zurecht, ist doch ein naiver Hedonismus selten ein guter, weil erfolgreicher Lebensberater – trotzdem, begehre ich sodann wieder auf und beharre zuletzt: Ich schreibe nur, wenn ich Zeit und Lust, Muße und Muse habe.

Jetzt ist ein solcher Moment, heute ein solcher Tag. Also macht euch auf ein paar frische Inhalte gefasst. Den Anfang macht altbewährtes und neu überarbeitetes Material vom literarischen Dilettanten in mir. Es geht dabei heute zunächst weiter mit Yin & Yang (YY) in der zukünftigen Sklavenhalterstadt Gor Thaunus; währendessen wartet Xaver S. (XS) weiterhin im Erdorbit auf seine Landung und damit Fortsetzung; Alice Aqanda (AA) harrt gelassen im Grünen ihrer lange überfälligen Aktualisierung; von der noch ausstehenden Bekanntschaft mit Kjotho (KJ), dem tierischen Trio Trudie, Valerian und Balthazar (TVB), den Psychedeelern (PD) und dem noch namenlosen Vektoren (V8) nicht ganz konsequent geschwiegen.

In dieser Richtung kann also, das wollte ich oben just mal angedeutet haben, noch viel passieren; weswegen das Format Originale und die verbundenen Formate und Themen im Gegensatz zu manch anderem Aspekt von Quanzland und trotz aller hedonistischen Latenz und Leere eine rosige Zukunft haben. Am schlimmsten steht es dabei derweil um die „Kulinarik“ und die „Wilden Trips“ – erstere siecht modrig dahin, zweitere warten weiterhin auf Wachstum.

Nun also zum nächsten Streich, der mit Lust geführt und mit Grüßen komplettiert wird, Euer Satorius


1. Zugang YY – Gor(e)

Mit Yang ist heute kaum was anzufangen, der döst schon eine ganze Weile nur so vor sich hin oder tut jedenfalls erfolgreich so als ob – vielleicht nur, um mir im richtigen Moment dazwischenfunken und damit die Show stehlen zu können. Ich kenne mein Bruderherz nur zu gut, aber hier gibt es erstmal nichts zu stehlen. Mit meiner Eröffnung will ich auch üben, so cool, schlagfertig und selbstsicher zu wirken, wie er es ist und ich es nicht wirklich bin. Wie auch, in die Rolle einer Sache gezwungen, bloßes Eigentum, ist sowas wie echtes Selbstbewusstsein ein krasses Kunststück. Erst recht fällt es mir heute Abend schwer, eine Stunde nach dem Ende meiner erst achten Tagschicht in allerhöchstem Hause. Nach der ersten Woche in meiner neuen Funktion als Hausdienerin bin ich offen gestanden reichlich daneben, ziemlich übellaunig und noch fertiger mit der Außenwelt als schon zuvor – weit mehr und auf eine andere Art, als ich anfangs gedacht habe. Ich komme mir klein und wertlos vor, nichtig.

Außerdem sind die erbärmlichen Gestalten dort drüben kein allzu geiles Publikum für meine Ego-Show. Wenn sie mich überhaupt verstehen können, stutze ich, weil mir erst jetzt klar wird, dass hier keinesfalls jeder die Sprache der Gründer – Deutsch – spricht. Vielleicht sprechen sie Neolatein, Englisch oder sogar Solar, wobei all die anderen alten Sprachen und besonders die frühere Einheitssprache hier strikt verboten sind. Da ich keine weitere Runde Regelsurfing starten will und das Glückspiel Welche Sprache ist die richtige? einer bescheuerten Lotterie gleichkommt, bleibe ich still. Dank meines früheren Lebens spreche ich immerhin einige Sprachen, zumindest oberflächlich. Doch gibt es neuerlich wieder so viele verschiedene Sprachen, denn jeder popelige Zwergstaat will seine eigene haben. Auch wenn Deutsch die gängige Sprache in Gor und Umgebung ist, wer weiß schon, von woher die vier Typen gekommen sind. Die Fluchtwege sind bekanntlich lang und haben solares Ausmaß – fast jeder will auf die Erde zurück und dort in einer der Lebenszonen unterkommen. Wir sind zwar nur ein kleiner Vorposten irgendwo in der Wildnis, liegen aber so nahe an einer der Großen Sieben, dass hier reger Durchgangsverkehr herrscht. Auch hätten die verdammten Jägertrupps ihre Reviere mittlerweile weit nach Westen, sogar bis jenseits des Rheins ausgedehnt, so munkelt es zumindest die brühwarme Gerüchteküche in der Glasstadt, und zwar strikt auf Deutsch. Hunger drängt sich abermals auf, mein Magen knurrt vernehmlich.

Woran es auch immer liegen mag, verdränge ich meinen Körper nochmals, ob sie mich nicht verstehen können, anderweitig kaputt oder sonst irgendwie daneben sind, ich ernte weiterhin keine Reaktion auf meine tolle Ansprache. Nicht Mal die kleinste Regung dort drüben, überhaupt gar nichts. Wie die vier Gestalten in ihren sichtlich versifften Klamotten da herumlungern, gilt es hier wirklich weder jemanden zu beeindrucken, noch gibt es irgendwas zu gewinnen. Inzwischen verharren sie seit über fünf Minuten unbewegt im Eingangsbereich unseres Lagers, nachdem sich zuvor das schwere Panzertor mit einem unheilvollen Krachen fest und unwiderruflich hinter ihnen verschlossen hat. Davor war es wie immer geräuschvoll aber träge zur Seite und ebenso auch wieder zugeglitten, minutenlang in gähnender Langsamkeit und mit einem widerwärtigen Knarzen und Knirschen – nervig und spannend. Irgendeiner von den ach so tollen BeatBoyz musste zuvor also wenigstens so viel Aufmerksamkeit aufgebracht haben, das Tor zu öffnen und sie damit zu uns reinzulassen. Einfach mal so, frei nach dem Motto: Scheiß auf die Sicherheit der Wertlosen. Unsere Sicherheit bedeutet ihnen kaum etwas – das ist echt typisch. Den Rest der üblichen Prozedur, die man gelegentlich sogar mal miterleben darf, scheint man in der aktuellen Schicht kurzerhand und bequemerweise vergessen zu haben. Das ist so bezeichnend für das verstrahlte Pack.

Ich beginne nochmals herumzuspinnen, mache mir wieder allerlei Sorgen: Wer weiß schon, was die Neulinge uns hier gerade einschleppen. Myrte aus Kuppel 67 hat mir heute Morgen erst wieder grausige Gerüchte über die angeblich gebrochene Kontaminationsgrenze nicht weit im Westen direkt am Mittelrhein erzählt. Seitdem wären die bisher schon lebensgefährlichen Todeszonen noch tödlichere Orte geworden – wenn das halt stimmt, was sie berichtet hat. Es klang schon hart übertrieben und unglaublich. Yang hält Myrte, wie viele andere auch, für eine Spinnerin. Solche Gerüchte sind für ihn nur hysterisches Geschwätz von Dummköpfen oder sogar schlimmstenfalls konterrevolutionäre Propaganda.

Dass mein Bruder derartig abstrakte Idee denken und solch heftige Worte aussprechen kann, verblüfft mich immer wieder aufs Neue. Seit er mit den selbsternannten Marxisten abhängt, überrascht er mich häufiger mit schrägen Idee aus der europäischen Vorgeschichte, die aber meist gar nicht mal so daneben sind. Dabei bin ich von uns beiden für Denken und Wissen zuständig und er, ja er, ist eher praktisch veranlagt – ein kleines, halbstarkes Männchen eben. Wow, denke ich selbstzufrieden, meine Überheblichkeit fühlt sich gut an, wäre das doch nur immer so.

Wahrscheinlich träumt mein starkes Brüderchen gerade von einem weiteren, nutzlosen Aufstand der Sklaven. Diktatur des Proletariats, wie es seine neuen Freunde nennen müssten, wenn sie mehr als nur den Namen Marx und ein paar Schlagworte irgendwo aufgeschnappt hätten. Ich kenne diese Leute in Wirklichkeit überhaupt nicht persönlich, sehe sie nur aus der Ferne und höre von ihnen aus Yangs Erzählungen. Nachdem er vor ein paar Monaten in den Minen angefangen hatte, lernte er in seiner Schicht zwei Typen – Mike und Bob – kennen und fing an, mit ihnen und ihrer Clique abzuhängen. Wie auch immer man sich freiwillig für so bescheuerte Namen entscheiden kann, ist mir rätselhaft, wo doch die Wahl des Namens eine der wenigen Freiheiten ist, die wir Sklaven hier haben. Nach allem, was ich bisher mitbekommen habe, traue ich diesen Pseudorevolutionären kaum mehr als Halbwissen über die tatsächlichen Hintergründe zu. Aber wenn man so schwer schuften muss, wie diese Typen das unter Tage, auf den Feldern und in den Schwitzbuden tun müssen, dann braucht man wohl den Irrglauben an Widerstand als eine Art der Überlebensstrategie. Sollen sie nur weiterreden und vor sich hinträumen, solang sie und damit vor allen mein Bruder Yang nicht irgendwann wieder was handfest Dämliches versuchen. Das letzte Mal war eine derbe Sauerei mit viel Geschrei, Gewalt und zu vielen Toten gewesen. Als die letzten Möchtegernrebelen es vor ein paar Jahren, nur ein paar Monate nach unserer Ankunft, mit einem Aufstand versucht hatten, haben wir am Ende ziemlich viel Platz und auf einmal sogar größere Rationen bekommen – dann doch lieber Regelsurfing, denke ich mir und horche auf.

Wochenendlektüren Nr.5 – YY1: S. 1-2/~34 [Version 1.2]

Während der Plot fast ausgereift ist, die Konflikte und Motive grob geklärt sind, letzte Justierungen an Erzählstruktur, Stil und Personal – bisweilen schmerzhaft und definitiv langwierig – vorgenommen und umgesetzt worden sind, lasse ich die Wochenendlektüren freimütig wiederauferstehen. Texte für die Füllung gibt es nunmehr genug, sogar für eine echte Kontinuität sollte es langen; ob die Artikel aber immer so zeitig, ordentlich und ausführlich kommentiert sein werden, wissen nur die Moiren und Musen.

Zuvor hat eine andere Figur aus dem selben (nicht gleichen) Kosmos, der Neumensch Xaver S., den literarisch-dilletantischen Reigen mit vier schweren Takten eröffnet, aber auch ihm und seiner Geschichte ergeht es nun zum dritten oder vierten Mal so, wie es YY1 sogleich ein zweites Mal ergehen wird: Es folgt auch bei diesen beiden das Update heraus aus der Betaphase hinein in die erste finale Version 1.0 (mittlerweile im Update 1.2), bei jenem schleicht sich bereits die Version 2.3 in den Tiefen des Blogs still und heimlich heran. Deshalb erlaube ich mir frei heraus eine Empfehlung in Richtung des Updates der ersten vier Teile von XS1, denen sich bald irgendwann die restlichen Sequenzen des ersten Kapitels und zukünftig unbestimmt auch einmal des zweiten, abgeschlossenen und des entstehenden dritten Kapitels im Rahmen der Wochenendlektüren anschließen werden – vom nur imaginierten vierten oder gar dem vorgenommenen fünften Kapitel beinahe geschwiegen. Hier also findet ihr die Aktualisierung der Urzelle meiner literarischen Ambitionen, welche demgemäß auch der am weitesten entwickelte Text innerhalb der sieben so unterschiedlichen Zugänge zum namenlosen Experimental-Sandkasten-Epos sein dürfte: Wochenendlektüren Nr.1 – XS1: S. 1-5/~46 [Update 2.3]

Nun aber zurück zum Zentrum diese Artikel und des angekündigten Textes, einer Erzählung über das Schicksal des angeblichen Zwillingspaars Yin und Yang. Die beiden illustrieren mit je eigenem Stil, Blick und Gebahren die dystopische Sklavenhaltergesellschaft in Gor Thaunus, gelegen in der apokalyptisch-düsteren Eifel des (Solar-)Jahres 133. Eine andere Erzählsituation als bei XS und der erklärte Wille, beiden Protagonisten eine prägnantere, markantere Stimme zu verleihen, leiten die Überarbeitung des aus der Betaphase her bekannten Stoffs an.

Im Rahmen der noch jungen TSF-Reihe Wochenendlektüren ist es zwar die Premiere für YY, das Format Originale jedoch hat schon mehrere Versionen (ohne nachzuschauen schätze ich: ca. drei) von YY1 dokumentiert und archiviert. Zuletzt erschien hiervon die erste, fast-final zu nennende Version 0.9 und wer sich hart spoilern will, der kann sich bereits jetzt den gesamten Textkorpus des ersten Kapitels auf einmal reinziehen. Nunmehr jedoch möchte ich schrittweise versuchen, dem Inhalt eine lebendigere und echtere Form zu verleihen. Mal sehen, ob diese hehren Ambitionen weit tragen – man darf gespannt sein!

Euer leselahmer, blogverhaltener zugleich dennoch spiel-, seh- und derzeit schreibwütiger, Satorius


1. Zugang YY – Gor(e)

„Hey ihr! Kommt mal rüber. Herzlich willkommen im schönen Gor Thaunus, wo NÄCHSTENLIEBE und FREIHEIT großgeschrieben werden! Wir zwei sind eins, mein Bruder Yang und ich – Yin, einfach nur Yin“, beginne ich den süßsauren Begrüßungsversuch der vier Fremden mit einem meiner einstudierten Sprüche für die Gattung Frischfleisch. Nichts rührt sich.

Rauch liegt in der Luft. Es riecht würzig, nach Reisig, Brot und sogar Fleisch, wohl aus den Backhäusern, in denen die Höheren ihre Nahrung zubereiten. Ich habe dabei natürlich schon wieder heftigen Hunger, aber meine Tagesration an Synthoschleim vorhin bereits komplett aufgegessen – am späten Nachmittag! Dieser ekelhafte, graubeige Nährbrei macht mich bestenfalls satt, reicht aber selten bis zum Abend. Ich versuche, den fiesen Duft zu verdrängen, der von oben aus Hohenherz und der Berggasse zu uns herunterweht, und werde sogleich von aufdringlichen Erinnerungen an früher heimgesucht. Erinnerungen an Mamas asiatisch-arabische Wokgerichte überfallen mich stattdessen, sind mir gleichzeitig Trost und Qual. Also lasse ich auch sie weiterziehen, schiebe sie vielmehr mühevoll beiseite. Da ich gerade überhaupt keinen Stoff, was auch immer, mehr gebunkert habe, ist Regelsurfing eine gute, ehrlicherweise sogar die einzige Alternative zum Ablenken. Das ist eine bei uns Niederen sehr beliebte Abwechslung, in der sich eine Portion Gefahr mit Genugtuung vermischt. Unser und mein größter und allzeit verfügbarer Freizeitspaß besteht im bewussten Provozieren der Ordnung. Wir spielen dabei mit den vielen, so seltsamen Regeln, die uns die sogenannten Eigentümer auferlegt haben. Die meisten dieser Gesetze kennen wir, das Eigentum, aber eben nicht alle, weshalb man immer mal wieder überrascht wird. So habe ich eben bereits bewusst gegen eines der weithin bekannten Verbote verstoßen, als ich meine abgegriffenen Worte über den halben Platz hinweg Richtung Südosttor gebrüllt habe, so laut und so weit ich mit meinem sanften Stimmchen eben brüllen kann.

Es sind neuerlich viele Obdachlose hierher gekommen, dabei sind die meisten Wohnkuppeln mittlerweile beinahe wieder aufgefüllt und bald wird es deshalb wohl noch enger darin werden, als es bisher zu zweit schon ist. Na, warte ich weiterhin gespannt ab, kommt heute eine Konsequenz? Nervenkitzeln flasht mich dabei angenehm, ich warte nervös und bin erregt – komplett egal, ob noch eine Strafe folgt. Und wie meistens, wenn einer von uns sich laut hörbar bemerkbar macht, interessiert das die patrouillierenden Wächter in der Nähe überhaupt nicht, ganz im Gegensatz zu dem leblosen, gelben Ding zwischen meinen Augen. Ich verfluche diesen verdammten Ring in meiner Nase, den ich nicht übersehen kann und auf dem alles über mich gespeichert wird. Mein Name – Yin – und eine fünfstellige Nummer – 24017 – sind sogar mit bloßem Auge zu lesen, der Rest sind unsichtbare Daten. Diesem Ding gegenüber, also der darin verbauten Überwachungstechnik, erlaube ich mir gerade den Regelverstoß und riskiere damit eine Bestrafung durch das teuflische Gerät. Geht meine Aktion schief und ich werde erwischt, wird es vermutlich schmerzhaft ausgehen. Aber den kleinen Einsatz ist der kurze Rausch wahrlich wert und so schlimm ist die Strafe dann auch wieder nicht. Ein kleiner Moment der Pein kommt immerhin einem kurzen Lebenszeichen gleich. Wir sind nämlich sonst sowas wie lebende Leichen, allesamt irgendwo zwischen Leben und Tod, schuften vor uns hin, funktionieren bestenfalls einwandfrei, sind dabei kaum der menschlichen Aufmerksamkeit wert und werden also, wo das möglich ist, zwischenmenschlich ignoriert. Auf diese eine Art sind wir hart unsichtbar, werden aber auf allen anderen Ebenen heftig durchleuchtet: Mein Puls, mein Hautwiderstand und die Zusammensetzung von Blut, Schweiß, Speichel und sogar meiner Scheiße werden jederzeit aufgezeichnet, irgendwo registriert und analysiert, machen mich so zum Opfer meines Körpers und zur Geisel meiner Vergangenheit. Ein altes, verblasstes Bild fällt mir ein, auch wenn es sogar hier in den Niederungen der Stadt nanotechnologisch rein ist und beides nicht gibt: Ich sitze hier fest wie eine Mücke im Spinnennetz, unsicher und ängstlich, sobald ich mich zu viel rühre, weiß die mörderische Spinne sofort Bescheid, kommt herbei und sorgt gründlich für Ruhe. So richtig verstehe ich das große Ganze mit der Technik, den Regeln und den Strafen aber auch nicht. Aber Yang und die Älteren halten sich für klüger und haben es mir grob erklärt. Bisher hat ihre Theorie meistens gestimmt, also muss sie irgendwie wahr sein, es passt zu häufig und zu gut zusammen.

Erwartungsgemäß beachten mich die Wächter dort drüben auf dem Wall nicht ein Stück weit – warum auch. Ich meinerseits sehe sie, habe jedoch keine Ahnung, wer sich unter den schwarzgrünen Körperpanzern mitsamt geschlossenem Helm versteckt – sicher irgendwelche Mitläufer aus der Berggasse. Dass sie mich in Ruhe regelsurfen lassen, ist also gerade nicht das Ungewöhnliche, sondern die Tatsache, dass ich dieses verbotene Gespräch überhaupt eröffnen konnte, und auch, dass ich weiterhin ohne jede körperliche Folge davonkomme. Glück gehabt, freue ich mich noch, als sich ein neuer Gedanke aufdrängt: Von wegen Glück, das kann anderweitig schief gehen! Am Ende könnte ihre Unfähigkeit, ihre Faulheit unser aller Pech sein! Wenn dieses Pack jeden Streuner einfach so hier reinlässt, ohne ihn zuvor ordentlich oder überhaupt mal zu kontrollieren, haben wir die Folgen zu tragen. Ihre Aufgabe ist es, die vier Eindringlinge zu überprüfen und so für Sicherheit zu sorgen. Aber was tun die Scheißer stattdessen: Nichts, außer die meiste Zeit über dumm rumstehen und bloß gelegentlich wichtigtuerisch hin und her laufen.

Oder übertreibe ich gerade mal wieder heftig, spinne mir was zurecht und alles ist in bester, schlechter Ordnung? Was soll’s, es sind ja bloß gruselige Geschichten, vertröste ich mich. Die Ankunft der vier Neulinge ist erstmal nicht mein Problem, vielleicht ja sogar überhaupt kein Problem. Im Gegenteil, es ist eine Gelegenheit und die serviert mir am frühen Abend eine willkommene Abwechslung zum normalen Regelsurfen. Trotzdem, die Lust am Risiko des Erstkontakts ebbt schon wieder ab und so krass wie mein Bruder bin ich dann doch nicht. Noch mehr zu wagen, wage ich jetzt nicht mehr, bin aktuell leidlich zufrieden mit mir und meinem Dasein: Es ist beschissen, aber es war schon schlimmer.

Ein preiswerter „Schrank“

Preisträger und Preisgekröntes zu empfehlen, ist leicht, müßig und trozdem nicht ganz überflüssig. Ich jedenfalls mache mich leichten Herzen dieses Vergehens schuldig und empfehle mit Birgit Birnbachers Der Schrank einen frisch mit dem Bachmann-Preis gekürten Text. Dankenswerterweise ist die komplette Kurzgeschichte auf der Seite der 43. Tage der deutschsprachigen Literatur publiziert worden und kann hier (Quellen-Link) gefunden und gerne gelesen werden.

Dem trotz Kürze hermetisch-sperrigen, mittelgradig-skurrilen Titel folgte eine für mich bezaubernde Kurzgeschichte, die mich in einem Rausch mitriss und nach gut zwanzig Minuten minimalistisch-realer Wirklichkeit wieder in die maximal-wirkliche Realität entließ. Thematisch lässt darin eines meiner inhaltlichen Steckpferde, „Neo-Biedermeier“, herzlichst grüßen und eine Ich-Erzählerin mit auktorialen Allüren berichtet von ihrem Lebenslauf hinein in die sog. Neue Arbeit, ihren Erfahrungen als Probandin im Blick des Beobachters und den interpretationswürdigen Erlebnissen rund um den öminösen, titelgebenenden Schrank.

Zum Inhalt viel mehr oder auch nur etwas weniger zu sagen, äfft nicht nur die Eröffnung schönde nach, sondern würde diesem dichten Gewebe von plausiblen Impressionen, atmosphärischen Assoziationen und gelegentlicher Inspiration an Kraft und Wirkung rauben, weswegen ich einzig den Eröffnungsparagraphen als TFF serviere – ein Amuse-Gueule aus der österreichischen Küche, das zum gratis Hauptgang verführen mag.

(Text-)Hungrigen Geistes grüßt Euch, Euer Satorius


Das ist nicht viel, aber es könnte weniger sein. Was der Beobachter sieht, als er auf die Haustür zugeht: Dieser Rasen ist keine Wiese, aber dort und da fliegt ein Tier. Das Waschbetonquadrat, auf das der Typ vom Haus gegenüber manchmal seine Lebensmittel kippt, ist sauber vom kürzlichen Gewitter. Mit diesem Hof hat es einmal jemand gut gemeint, auch die Aufschrift auf der Fassade bezeugt es: Die Reitkunst war hier einst eine sehr beliebte Sportart. Der Beobachter steht allein da, er weiß nicht, dass ich ihm von oben zuschaue. Viele der kleinen Küchen- und Flurfenster sind wegen der Hitze geöffnet, manche sind mit ausgebleichten Tüchern abgehängt, einige mit Folie blindgeklebt. Von irgendwo ist ein Fernseher zu hören, es ist windstill, kurz nach Mittag, Hochsommer. Jahrhundertsommer, schreiben die Zeitungen, und in der Blumenkiste, außen an der straßenseitigen Loggia der Beckmann, verdorren gelbe und violette Stiefmütterchen zu Stängeln. Unten vorm Supermarkt verfangen sich hellrote Fetzchen von Gratisplastiksäcken in der staubigen Linde. Eines wird dem Beobachter in der Sohle seines Schuhs hängen geblieben sein, im Stiegenhaus liegt es später auf den Stufen zwischen zweitem und drittem Stock. In den Tagen nach seinem Erstbesuch gehe ich ein, zwei, schließlich drei Mal daran vorbei. Beim vierten Mal ist es fort.

Birgit Birnbacher (1985 – ), Der Schrank, S. 1 (2019)

Überall Utopisches

Ich weile weiterhin auf meiner Version des Mannschen Zauberbergs, Zeit spielt hier oben keine Rolle und mein Denken schweift schreibend weiter. Es landet nach einigen Sprüngen, Haken und einer gewagten Pirouette abermals bei meinem intellektuellen Steckpferd, dem sogenannten Utopischen.

Genauer gesprochen handelt es sich bei den folgenden beiden TFF’s um zwei unterschiedlich Formen des Umgangs mit diesem öminösen Utopischen, nämlich wiederum um sogenannte Utopik. Einmal fiktional im literarischen Gewand und einmal eher faktisch als philosophische Debatte. Beides sichtet und fabuliert, beides modelliert und analysiert den Zustand des utopischen Denkens. Mithin tangiert es notwendig das erwähnte Utopsiche, also die ontologisch-brisante Sphäre des Noch-Nicht-Seinenden und ihre diversen Objekte, die im Subjekt als Traum oder Utopie erscheinen und objektiv unbestritten wirkmächtige Faktoren innerhalb des Weltgeschehens waren, sind und sein werden.

Was also sagen die Zeugnisse und die Zeugen über das so zwielichtige, so schillernde Thema, das mich seit Studientagen begleitet und vermutlich lebenslang faszinieren wird? Lassen wir sie für sich selbst sprechen und protokollieren unterdessen eilfertig für uns ihre Aussagen zu Visionen, Zukunftsphantasien, ja allgemein zum Utopischen:


Juli Zeh: […] Ist es quasi so, dass uns die Visionen ausgegangen sind? Oder …

Richard David Precht [kurz unterbrechend]: Fallen ihnen welche ein?

Juli Zeh [nachfragend]: … die man noch haben könnte?

Richard David Precht [präzisierend]: Sagen Sie mal gesellschaftliche Visionen, die Sie im Raum stehen sehen, an die Menschen glauben, bei ’ner guten Zukunft …

Juli Zeh [kurz unterbrechend]: Könnten? Oder tatsächlich, …

Richard David Precht [letztlich präzisierend]: Die da sind …

Juli Zeh [nochmals einhankend]: … aktiv glauben?

Richard David Precht: Naja, die viele Menschen haben vielleicht. Wo Sie sagen: In zwanzig Jahren wird es auf der Erde besser sein, weil es wird das und das Gute passieren.

Juli Zeh: Na, da müssen ‚mer wohl alle passen, oder? Also es gibt momentan keine Vision, die wirklich von mehr als vielleicht drei, vier Leuten geteilt wird und die sich auf was Positives richtet. Da fällt mir nichts ein, also vielleicht ein Gegenmodell zum Kapitalismus, aber das ist nichts, wo wir flächendeckend dran glauben. Also da kann man drüber nachdenken, da kann man vielleicht was entwickeln und mal ein Buch drüber schreiben und so weiter. Das schon, aber wir reden ja jetzt über was, was die Massen elektrisiert, wo Leute sagen: „Dafür gehe ich auf die Straße! Dafür stehe ich ein; meine Lebenskraft, meine Zeit geht in dieses Projekt, weil das überzeugt mich.“

Richard David Precht [nickend und kopfschüttelnd]: Das sehe ich auch nicht! Ich sehe zwei Visionen, die von Minderheiten verfochten werden. Die eine Vision ist, dass das biologisch so unvollkommene, stinkende, Energie verbrauchende Experiment „Mensch“ zu Ende geht. Das wird im Silicon Valley erträumt. Von Leuten wie Ray Kurzweil, der eine eigene Uni gegründet hat – der Transhumanismus, der sagt: Wir werden irgendwann unsterblich werden; wir werden mit Maschinen verschmelzen; wir werden irgendwann eben keine biologische Grundlage mehr haben, sondern wir werden einen Informationsspeichersystem werden; wir werden uns in einer Cloud verewigen und das wird ganz großartig! … das hat übrigens den großen Vorteil: Dann stört auch der Klimawandel nicht. Wenn wir kein biologischer Organismus mehr sind, sondern die Menschheit dann ihre biologisch Hüller verliert, dann kann der Planet eigentlich ruhig den Bach runter gehen. Das ist die eine Vision. Das ist ja eine klare Zukunfts …

Juli Zeh [kurz einstreuend]: Man braucht den Planeten ja gar nicht dazu. Das kannst’e ja im Weltraum stattfinden lassen. Wenn alles nur noch Kommunikation ist. Du brauchst nur ne Energiequelle …

Richard David Precht [wieder übernehmend und fortführend]: Klare, klare Zukunftsvision. Wir verlassen die menschliche Hülle. Das ist die eine Vision. Die wird ganz, ganz stark von mehreren wichtigen Exponenten im Silicon Valley vertreten. Und dann gibt es noch diejenigen, die sagen: Wir müssen endlich aus dem Kapitalismus raus. Weil, dann müssen wir nicht mehr wachsen, dann müssen wir nicht mehr, mehr Energie verbrauchen und so weiter, ein anderes Verteilungssystem … – die wird allerdings auch nur von einer kleinen Minderheit verfochten. Und ich gebe ihnen sofort Recht. Für die große, breite Menge gibt es im Augenblick keine positive Vorstellung von morgen und übermorgen.

Richard David Precht (1964 – ) & Juli Zeh aka Julia Barbara Finck (1974 – ), Gespräch unter dem Titel „Mehr Fortschritt, mehr Wohlstand, mehr Glück?“, in: Precht – 6:23-8:43 [28.04.2019, ZDF; Direktlink: ZDF]


[Die Geräusche eines anfahrenden Zuges im Hintergrund, leiser werdend] Die größte Angst ist, vom fahrenden Zug zu fallen; hinter ander’n Ländern zurückzubleiben; dass wir von China überrollt werden können, das ist die Panik! Deswegen wird alles Überflüssige abgeschafft. Er glaubt nicht, dass Kunstunterricht in zehn Jahren noch existieren wird. Utopien, für Gesellschaft und Schule – Wer sind wir? Was brauchen wir? Was wollen wir ändern, was erhalten? -, das können die von ihnen Ausgebildeten nicht mehr leisten; das kann die nächste Generation nicht – unmöglich! Die sind nur kanalisiert auf das, was sie ihnen vorgebetet haben. Aktives Gestalten findet nicht mehr statt – können die einfach nicht!

Inga Helfrich (1966 – ), Ich Wir Ihr Sie – 37:41-38:20 [Direktlink: BR-Podcast]


Ein populärer TV-Philosoph und eine renommierte Schriftstellerin im Dialog, eine zufällige Figur aus einem zufällig zum einschlägigen Thema passenden Hörspiel kommen einhellig zum analogen, negativen Urteil: Schlechte Gegenwart für gute Geschichten über die Zukunft.

Damit sprechen sie ein Gefühl aus, das mich immer wieder aufs Neue heimsucht und Jahr um Jahr umtreibt: Utopisches, Utopien und zeitgenössische Utopielosigkeit, Dystopietendenz zuletzt. Was je nach Utopieverständnis schnell in einen schlimmen (sozial-)psychologischen Verdachtsmoment münden kann: (historisch-zivilisatorische) Hoffnungslosigkeit?

Ohne Attribut: Nein, mir geht’s gut! – mit: Eventuell, vermutlich leider sogar, Ja!

Für mich ist also das Attribut „historisch-zivilisatorisch“ im Kontext des Utopischen entscheidend, denn an kleinen, individuellen Utopien mangelt es – auch ich bekenne mich: schuldig! – ebenso wenig wie an kleinen, kollektiven Utopien, die „von vielleicht drei, vier Leuten geteilt“ werden. Diese kleinen Visionen können glücken und individuell verzücken, aber das war’s dann auch schon wieder. Kollektiv und vor allem „historisch-zivilisatorisch“, sind sie kaum als Parameter quantifizierbar, kaum als Fußnote qualifizierbar.

Mit dem hehren Attribut sieht die Sache unklarer, womöglich sogar düster aus: Was global, national, regional (, bisweilen sogar: inner-individuell) als Pluralität und Wettbewerb von Ideen und Argumenten positiv betrachtet werden kann, kann ebenso als Zerstrittenheit und Konkurrenz gewendet werden. Im Ergebnis landen wir schlimmstenfalls beim Hobbschen Universalkrieg einer logisch endlichen, praktisch aber unendlichen Anzahl von Einzelinteressen oder, im Kontext gesprochen, Einzelutopien, die im epischen Kampf um die Seelen und Bewusstseine der Menschen liegen. Ohne Sieger in diesem ewigen Wettstreit – und jetzt wird es eigentlich problematisch – lässt sich keine demokratisch legitime Politik denken und auch keine Gruppe bis hin zur Menschheit als funktionale Gemeinschaft vorstellen.

Politik, Utopisches und Utopie sind somit aufs Fatalste verbunden und bedürfen einander, neben anderen Quellen, wechselseitig. Nach unzähligen angeblichen Enden der Geschichte sind wir im 21. Jahrhundert in einer globalen Heteronomie sonders gleichen gelandet. Alle wollen leben und die meisten mehr oder weniger Geld verdienen, aber damit endet die Gleichheit auch schon längst. Ob in der Familie, der Nachbarschaft, der Stadt oder dem Land, auf der Welt allemal, es herrschen der Unterschied, die Vielfalt, das Andere. Globalisierung und Normierung sind real, aber ein Kampf gegen Windmühlen. Jeder für sich und für die seinen das Beste, und damit zum Besten aller – so ungefähr lautet das moderne, letztlich heraklitsche Credo vom Krieg als Vater der Geschichte nunmehr in unheiliger Allianz mit neoliberalem Konsum- und Finanzkaptilaismus, der nebenher mal so eben die Lebengrundlage auf Erden dahinrafft – tragischerweise nicht nur diejenige vieler Tiere und Pflanzen, sondern sogar diejenige der eigenen Gattung. Die homo oeconomicus marginalisiert den homo sapiens und bedroht solcherart sich selbst, seine eigene Zivilisation steht auf dem Spiel.

Glücklicherweise zugegeben, es gibt Solidarität, Freundschaft, Kooperation, Verständnis, Kompromisse, Gastfreundschaft und so vieles Schönes, Gutes und Wahres mehr; wo aber ist die auf humanem Weg siegreiche „historisch-zivilisatorische“ Utopie, die Hoffnung gibt und wirksam wirksame Politik inspiriert, möchte man abschließend fragen? Denn sonst bleibt das Urteil aller, zugegeben einseitig und buchstäblich beliebig ausgewählten Akteure salopp gesagt: „Wat, äschte und geräschte Udophie? Sowas Quersches gibbet bei uns net!“

Mit diesem mundartlich-komischen Auswurf möchte eine ewige Kontroverse harsch aber kontrolliert beenden, denn, wenn man einmal ambitioniert anfängt, sieht man überall Utopisches; ebenso leicht übrigens – liebe Verschwörungstheoretiker und -fans – wie man überall die „23“ findet oder Indizien entdeckt, das „SIE“ am Werk waren. Will abschließend, maximal verkürzt sagen: Utopisches und Utopien gegenüber kruden, negativen wie positiven Scheinerzählungen aka Verschwörungsteheorie, Fake-News etc. sind aller Liberalität in Sachen Begriffsontologie zum Trotz wie Äpfel und Bitumen – grundverschieden, die eine definitiv gesund, die anderen sogar giftig!

In Abwehr und Neugier wie froher Erwartung kleiner, mittlerer und großer Utopien, Euer Satorius

Perry Rhodan (Neo): Ein hoffnungslos hoffnungsfroher Idealist und „positiver“ Populist

»Wenn wir in diesen Tagen von unserer Welt sprechen, richten wir die Augen zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit zum Horizont. Wir blicken nicht mehr nur vor unsere Füße, sehen nicht mehr nur unseren eigenen Schatten, sondern heben den Kopf und begreifen, dass wir nicht mehr allein sind. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich spüre in diesem Begreifen eine unbändige Kraft, die uns in den kommenden Jahrzehnten antreiben wird. Sie wird uns führen und leiten. Und sie wird uns zu Dingen befähigen, die wir bislang nicht einmal zu träumen wagten!
Wir stehen hier und heute zusammen. Vereint in der Trauer um jene Menschen, die wir verloren haben. Jene Menschen, die den Weg in eine bessere Zukunft nicht mehr an unserer Seite gehen können. Jene Menschen, die ihr Leben in der Überzeugung gegeben haben, dass eine solche Zukunft nicht nur möglich ist, sondern dass wir sie eines Tages erreichen werden. Jene Menschen, die wussten, dass die Zukunft nur auf einem Fundament in der Gegenwart gebaut werden kann, und die bereit waren, um jeden einzelnen Stein dieses Fundaments zu kämpfen – notfalls mit dem höchsten Einsatz, der ihnen möglich war!
Wir werden die Namen dieser Menschen niemals vergessen. Ebenso wenig wie das, was wir ihnen schuldig sind. Nämlich das zu vollenden, was sie begonnen haben. Auf ihrem Fundament ein Haus zu errichten, dessen Tür für jeden offen ist, das jedem Schutz und Wärme bietet, das uns alle endlich zu dem macht, was wir schon immer waren: Bewohner des wunderbarsten Planeten, den ich auf all meinen Reisen sehen durfte!
Wir stehen vor gewaltigen Herausforderungen. Manchem mögen die Aufgaben, die vor uns liegen, unlösbar erscheinen, die Hindernisse unüberwindbar und die Opfer, die wir bringen sollen, zu groß. Doch die Ereignisse der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass wir allen Gefahren trotzen können. Man hat versucht, uns unsere Freiheit zu nehmen. Man hat versucht, uns unsere Heimat zu nehmen. Man hat sogar versucht, uns unsere Menschlichkeit zu nehmen! Doch all das hat uns nicht gebrochen. Wir sind immer noch da. Weil wir Menschen sind! Weil wir nicht aufgeben! Weil wir stets einmal öfter aufstehen als hinfallen!
Ich möchte Ihnen sagen, was ich sehe, wenn ich in die Zukunft blicke. Ich sehe, wie Grenzen verschwinden und uralte Feindschaften zerbrechen. Ich sehe, wie wir Krankheit und Hunger besiegen. Ich sehe Menschen aller Kulturen, aller Hautfarben und aller Religionen, die sich die Hände reichen. Und ich sehe eine neue, wunderbare Welt, die auf Basis von Freundschaft und Vertrauen entsteht.
Einige nennen mich deshalb einen gefährlichen Spinner. Andere einen Phantasten und Träumer. Man attestiert mir Realitätsferne, wirft mir vor, ich sei weltfremd und unbelehrbar idealistisch. Doch wo wären wir heute, wenn es keine Menschen gäbe, die träumen? Wenn es keine Menschen gäbe, die für das einstehen, was sie glauben? Menschen mit Prinzipien und der festen Überzeugung, dass wir in dieses Universum geboren wurden, um uns an ihm zu erfreuen, seine Wunder zu schauen und zu seiner Schönheit beizutragen?
Ich möchte Sie alle, jeden Einzelnen von Ihnen, einladen, mich auf meiner Reise zu begleiten. Ich verlange nichts, außer dass Sie Ihre Herzen für die unglaublichen Wunder öffnen, die da draußen auf uns warten. Haben Sie keine Angst. Sie sind nicht allein. Niemand von uns ist das. Wir stehen vor einem goldenen Zeitalter, und jeder von uns hat die Chance, Teil von etwas zu werden, das so viel größer und bedeutender ist als all die kleinlichen Streitereien, der engstirnige Egoismus, das Misstrauen und der Hass, die unser Denken vergiften und uns krank und bitter machen.
Kommen Sie mit mir! Es ist einfacher, als Sie denken. Es braucht nur ein wenig Mut, um den ersten Schritt zu tun. Ich stehe heute nicht als Politiker vor Ihnen. Nicht in meiner Eigenschaft als Protektor der Terranischen Union. Ich spreche zu Ihnen als Bewohner des Planeten Erde … als Mensch … als Terraner!«

 

[…]

 

»Es gibt klügere Leute als mich, die behaupten, dass unsere Existenz auf einem Zufall beruht. Auf der Tatsache, dass das Universum so unvorstellbar groß ist, so unglaublich vielfältig, dass früher oder später eine Spezies wie wir Menschen ganz zwangsläufig entstehen musste. Ich bin nicht dieser Meinung. Ich glaube, dass wir eine Aufgabe haben. Jeder von uns. Wir werden in diese Welt geboren, um etwas zu tun, und unser Leben ist die Zeit, die uns zur Verfügung steht, um herauszufinden, was das ist.«
Farouq rieb sich die Nase. »Wie kannst du da so sicher sein?«
»Schau dich um«, antwortete Rhodan. »Schau dir die Welt an, in der wir existieren. Und dann sag mir mit voller Überzeugung, dass du all diese Schönheit für ein Zufallsprodukt hältst. Schau in den Nachthimmel hinauf, und dann sag mir, dass all diese Pracht und der Überfluss eine bloße Laune der Natur sind. Öffne deine Augen an jedem beliebigen Ort, und dann versuche mich davon zu überzeugen, dass dem Universum keine tiefere Bedeutung innewohnt; dass es nichts weiter ist als eine wahllose Kombination aus Raum, Zeit und Materie. Nein, Farouq. Das ist schlicht und einfach unmöglich!«
Minutenlang sagte keiner etwas. Sie saßen einfach nur da und schauten auf den See hinaus, folgten den Bewegungen des Wassers und ließen sich die Sonne ins Gesicht scheinen.
»Hast du deine Aufgabe gefunden?«, durchbrach Tom schließlich die Stille.
Rhodan schloss für einen Moment die Augen, was die Empfindung von Wärme auf seiner Haut verstärkte.
»Ich glaube schon«, gab er zurück. »Auch wenn ich es weniger als Aufgabe und eher als Chance bezeichnen würde. Das Schicksal hat mich in die Lage versetzt, viele Dinge zum Guten zu verändern. Diese Möglichkeit bekommen nur sehr wenige. Ja, wir haben schwere Rückschläge hinnehmen müssen. Aber die Erfolge sind ebenfalls deutlich sichtbar. Hunger und Armut sind fast vollständig besiegt. Seit Gründung der Terranischen Union haben sich die Lebensbedingungen von Milliarden Menschen spürbar verbessert. Wir konnten einige Krankheiten ausrotten, die noch vor fünfzig oder hundert Jahren Millionen umgebracht haben. Wir bekommen die Probleme der Umweltzerstörung nach und nach in den Griff. Die Erde ist sicher kein Paradies, aber ich finde, wir sind auf einem ziemlich guten Weg.

 

 

Rüdiger Schäfer (1965 – ), Als ANDROS kam …Perry Rhodan Neo, Band 190, 91% & 95% [@Satorius: Bei E-Books als Quelle werde ich von nun an aus pragmatischen Gründen nur noch den %-Anteil der zitierten Stelle am Gesamtwerk angeben]

Trifftiges findet sich bisweilen inmitten selbst trivialster Unterhaltungsliteratur; hier lauschten, lassen wir Perry Rhodans Worte, der seinerseits Namesgeber und gutmenschlich-optimistischer Protagonist des längsten und umfangreichsten Science-Fiction-Epos aller Zeiten ist. Gegen diese fiktionale Welt und den dazugehörigen Kosmos verblassen Star Trek und Star Wars gleich doppelt, objektiv quantitativ wie subjektiv qualitativ – keine Chance Hollywood! Perry Rhodan also – ja, ich gestehe nunmehr mein bisher verstecktes Fandom!

Einer Version seiner privaten Utopie zum Abschluss des TFF korrespondiert zu Beginn der öffentliche Utopismus seiner Rede an die krisengeschüttelte Menschheit. „Utopismus“ hier im Sinne eines positiven, weil konstruktiven Populismus verstanden, der nach Versöhnung qua politischer Realisierung drängt und dazu rhetorische Mittel wie manipulative Methoden gleichermaßen instrumentalisert. „Utopie“ hingegen gedacht als eine narrativ konzipierte wie historisch orientierte, somit fiktional wie faktisch angebundene Erzählung über eine gute Welt, der authentische Glaube an eine bessere Zukunft und die prinzipielle wie konkrete Möglichkeit der Menschheit und des Menschen zum echten Fortschritt. Individueller Idealismus im Inneren geht hierbei einher mit kollektivem Populismus im Äußern, in Rhodans Äußerungen als Politiker und Vater schillert es gewaltig. Licht wird von Schatten umspielt, dialektisch und fatal verschränkt geistern Humanismus, Heroismus und Moralismus durch die Zeilen des Textes – „Terraner aller Planeten vereinigt Euch, verteidigt Euch!“

Bevor ich aber der Versuchung erliege, intensiv zu analysieren und anschließend massiv zu interpretieren, womöglich schlussendlich gar zu dekonstruieren, überlasse ich Euch und eurem Bewusstsein freimütig das TFF. Zumal ich ich höchster fiktionaler Erregung der dritten Episode der achten Staffel von GoT entgegenfiebere. In dieser episch eingeleiteten Episode wird vermutlich der über neun lange Jahre Erzählzeit hinweg gespannte Bogen sich schließen und lösen. Während die (Über-)Lebenden in Winterfell auf die Nicht-mehr-Lebenden von jenseits und diesseits der Mauer treffen, bleibt abzuwarten, ob es noch eine unerwartete, doch erwartete Wendung gibt und ob die Autoren die Eier hatten, entgegen Konvention und Klischee, das einzig würdige Ende für die Geschichte zu verfassen: Oh Herr, lass es bitte eine Tragödie sein!

Immer auf der Suche nach fiktionaler Spannung in einer faktisch spannenden Welt, Euer Satorius

Wochenendlektüren Nr.4 – XS1: S. 16-20/~53 [Update 2.3]

Immer wieder Sonntags kommt neuerdings die aktuelle Wochenendlektüre. Gründe für die Verschiebung Richtung Ende des Endes gibt es viele, gute wie schlechte, wie das in einer komplexen Welt zumeist der Fall ist: Arbeit allem voran; andere Hobbys, Stichwort: Lebensräume, Familie und bisweilen Schreibunlust; wobei die Reihenfolge die konkrete Relevanz abbildet, nicht die generelle Wichtigkeit des Motivs.

In diesem radikalen Sinn mache ich eine große Einzahlung bei der Zeitsparkasse, fasse mich kürzestmöglich und grüße mit weiteren fünf Seiten über Xavers Welt nunmehr auch als im Präsens und als absatzloses Kontinuum vorgetragene Hyperrealität.

Schönen Sonntag solange, Euer Satorius


Als ich das vor guten sechs Monaten obenstehenden Text verfasst hatte, konnte ich nicht ahnen, wann und wie und wer derjenige sein würde, der nun den Update-Text hier verfasst – soweit so anonym und damit nichtsagend. Den Rest dieser sicher spektakulären Geschichte über Veränderung, Wachstum und Wandel verschlingt der geheiligte Datenschutz, wird durch den Wert der verehrten Privstspähre maskiert und veschleiert. Es hat sich zwar viel getan, und zwar nicht nur am Text, aber Ton und Inhalt obiger Botschaft aus der gefühlt unüberbrückbar fernen Vergangheit bleibt in Gänze bestehen, wie es auch latentens Thema der einschlägigen Wochenendlektüre ist: Zeit ist das wertvollste Gut, das wir haben können, und somit das wertvollste Geschenk, das wir machen können! Xaver hat dafür seinen ganz eigenen (fiktionalen) Lösungsansatz: hyperreale Zeitdilatation, dazu an anderer, späterer Stelle mehr …

Schönen Samstag (dieses Mal,) derweil, Euer Satorius


(…) 1. Zugang XS – Schwere Ausnahmefehler im System

Heraus aus seinem extraterrestrischen Versteck, einer eben noch erträglichen, aber absolut tristen Zuflucht auf dem lebensfeindlichen, wenn auch seit langem umfassend kolonisierten Erdtrabanten, führte ihn seither sein Pfad. Er hatte die ebenso bedeutungslose wie sichere, lunare Ansiedlung verlassen, deren einzige Existenzberechtigung in mäßig ertragreichem Tiefenbergbau bestand. Der mickrige Gewinn rechtfertigte so gerade noch die hohen Fixkosten, besonders zu Buche schlugen diejenigen für Lebenserhaltung. Seltene Erden und eine reiche Auswahl an Edelmetallen und -gasen wie Helium-3 und dergleichen triviale Rohstoffe mehr, waren hier massenweise vorhanden und wurden entsprechend emsig gefördert. Diese Einrichtung besaß sogar nicht einmal einen gewachsenen Namen und hieß entsetzlich nüchtern und unoriginell: KK-Q32.24D – worin viele Informationen codiert worden waren, aber Außenstehenden, Nicht-Genossen, nichts erzählt wurde.

Leidenschaftslos war sein Verhältnis zu diesem Ort, der ja immerhin seine Zuflucht gewesen war, ja zu realen Orten, wenn nicht gar zur Physis überhaupt und zur Materie insgesamt. Er lebte stattdessen entschieden lieber und deutlich länger in seiner Hyperrealität. Für dortige Eskapaden, der Ironie nicht genug, brauchte er aber eine sichere Zuflucht in der wirklichen Welt, bedurfte einiger Ressourcen und spezieller Bedingungen, die ihm bisher wie selbstverständlich zur Verfügung gestanden hatte. Dass es ewig so weiterginge, hatte er bis zum letzten AU noch stur und realitätsblind angenommen, wusste es nun, einen Tag später, aber leider endgültig besser. Seine Zeit bei der a.u. war tatsächlich vorüber, sein sieben, unermesslich lange Solarjahre währendes Exil war vorbei, die Überlebensflatrate war ihm ein für alle Mal gestrichen worden. Warum gerade jetzt, war ihm nicht ganz klar geworden; warum gerade dort, im Untergrund von KK-Q32.24D eines der Refugien der academia universalis verborgen war, wusste er dafür gewiss: Die pure Irrelevanz dieser winzigen Station, die mitsamt ihrer lunaren Umgebung in solarstrategischer Perspektive bedeutungslos war. Keine der vielen sichtbaren und unsichtbaren Konfliktparteien interessierte sich für diesen hellstgrauen, aber eben nicht ganz weißen Fleck auf ihren Karten; damit bot die Gegend ideale Bedingungen für den Betrieb einer Zuflucht, gelegen ein Dutzend Meter unterhalb einer beinahe vollautomatischen Bergbauanlage. Eine Art besserer Hausmeister – Michel, der Wildwüchsige, wie ihn die hochgebildeten und durchaugmentierten Neumenschen in der a.u.-Enklave im Scherz nannten – lebte ganz alleine oberhalb des ausgedehnten Komplexes und wartete dort die Robotanlagen, welche jedoch derart optimiert waren, dass sie sich weitgehend selbst versorgten und sogar den Abtransport der wertvollen Rohstoffe autonom organisierten. Er war also latent in Bereitschaft, unterbeschäftigt und lebte sich in seiner Freizeit ungehemmt aus, wusste unterdessen aber rein überhaupt gar nichts von der illusteren Horde an Cyborgs unter seinen Füßen; so unternahm er tagein tagaus allerlei belustigende Peinlichkeiten und sorgte damit immer wieder für Erheiterung unter den hiesigen Mitarbeitern der academia.

In jener trotz allem technischen Fortschritt und jüngerem Rückschritt noch immer schlecht erschlossenen Zone auf der erdabgewandten Rückseite des Mondes, einige Kilometer südwestlich des Mare Ingenii, hatte sein aufgezwungener Ausweg seinen Anfang genommen. Danach hatte ihn seine Route über nur wenige unbedeutende Zwischenstationen zum zentralen Raumknoten auf dem Mond geführt, in die vormalige Millionenmetropole Eluna. Dort war über viele Generationen hinweg in vielerlei Hinsicht Menschheitsgeschichte geschrieben worden; unübersehbar in steinernen, metallenen und synthetischen Lettern buchstabierte und manifestierte die gesamte Ansiedlung einen epochalen Triumph der raumfahrenden Menschheit über den lebensfeindlichen Weltraum. Aber Xaver S. interessierte das nicht, nicht mehr, trotz aller Liebe zur Historie. Er hatte vor der Abreise aus dem Refugium noch Unmengen an Daten akquiriert, auf legalem wie illegalem Wege, hatte legale wie illegale Inhalte mitgehen lassen; unterwegs dann, für die tagelangen Fahrten über die endlosen Pisten aus staubigem Regolith, hatte er sich üppige Bildungs-, Erlebnis- und Unterhaltungsprogramme zusammengestellt: Neben etlichen alten Filmen und Multimediaquellen, faktischen wie fiktionalen, von und über die verwüstete Erde, bestand seine Auswahl auch aus unzähligen Wissensnetzen zu allen wichtigen Stationen der geplanten Reiseroute, und sie wurde selbstredend um etliche Erfahrungsräume erweitert, wobei teilweise Meisterwerke an hyperrealen Simulakren dabei gewesen waren. Hierbei war er unter anderem mehrere Tage durch das ebenso historische wie damals noch prosperierende und pulsierende Eluna des Jahres 69 solarer Zeitrechnung geschlendert, hatte währenddessen diese markante Metropole mit ihren schroffen Kontrasten ganz für sich entdecken dürfen: das solare VM-Diplomatiequartier, die schwebenden Gärten, das Denkmal der Ersten, die lunaren Niedrig-G-Werften, die Ausgrabungsstätten beim Kopernikuskrater, aber auch gewöhnliche Kneipen, teuere Clubs, billige Bars und edle Bordelle sowie Restaurants, Museen, Tempel und natürlich die Mediatheken und Casinos. All das hatte er selbst erleben dürfen, wirklich am eigenen Leib mit- und durchgelebt, mit allen Sinnen hatte er die damalige Welt erfahren, die singulären, dennoch simulierten Bewohner und einzigartig erscheinende Erlebnissen unter und mit ihnen erfahren. Dass er sich danach noch ein aktuelleres Simulakrum aus dem vorletzten Solarjahr angesehen hatte, bereute er fortgesetzt. Dieser Ort war seither, wie viele andere im Sonnensystem auch, gestorben, war vielmehr halb- und untot, entstellt und pervertiert; aber immerhin war er durch diese abschreckende Aktualisierung seiner Erwartung gewarnt worden, hatte sich deshalb vor dem Abflug weitgehend vollisoliert und ohne unnötige Umschweife, dort angekommen, fortbewegt. Zudem sah die mittlerweile exakt fixierte und seitdem rigide implementierte Reiseplanung solcherart Eile nicht nur für die Passage durch Eluna vor; er würde sich auch darüber hinaus spürbar hetzen müssen: Zeit bedeutete Überleben, mit der einzigen Ausnahme des restlichen Tages nach seiner Landung in Frankfurt am heutigen Nachmittag. Dort wollte er sich soweit möglich gründlich umsehen, wirklich erfahren und erleben wie die Korporation dort unten auf der Erde herrschte und handelte. Dementsprechend zügig und zeitig war er zuvor am Terminal für interplanetare Transits angekommen, hatte seine raren materiellen Besitztümer aufgegeben und war vorzeitig aufs Flugfeld hinausgetreten. Dort hatte sogar er dann innegehalten, denn der Raumknoten war auch heute noch ein beeindruckender Anblick, bot einen berauschenden Ausblick, war trotz des Verfalls absolut sehenswert. Er stand einfach da und starrte mit saugendem Blick, sah langsam schweifend um sich: Er erblickte die farbenfroh und teilweise gemustert kolorierten Kraftfelder über und hinter den vielen Raumschiffen, schwenkte weiter, hinüber zum Hauptkomplex des Raumhafens, der ein Musterbeispiel früher hypersolarer Hocharchitektur darstellte, blickte über die Kuppellandschaft hinweg, die bis nach Alt-Eluna hinüberreichte und ihrerseits die nichtzerstörten Teile der ehemaligen Gartenlandschaft beherbergten, und fokussierte zuletzt noch kurz sein in der Ferne unverkennbar vor der Schwärze des Alls schimmerndes Reiseziel. In Blau, Grün und Weiß leuchtete es ihm entgegen, prangte es dort vor dem sternengespickten Vorhang des Weltalls; lockte ihn mit den lebendigen Farben der toten VM, der alten Eutopie einer lange vergangenen Vereinten Menschheit. Er hatte für den Flug dorthin gut ein Viertel seiner Geldmittel aufgewendet, hatte eine Passage in Richtung traumatische Vergangenheit gebucht; Destination: Erde – Region: Zentraleuropa – Raumknoten: Frankfurt Rhein/Main. Dort würde die herrschende Dystopie ihn …

… der Gedankengang bricht jäh ab; sein konstant rebellierender Leib und der dagegen gerichtete Gedankensermon verstummen beide, Last und Leid verpuffen schlagartig, lösen sich plötzlich und gänzlich auf: Ein Riss in der Kontinuität der Realität tut sich auf, eine Sprungstelle in seiner Existenzkurve, ein kurzer Konflikt zwischen zwei Wirklichkeiten entflammt; tobt; verlischt; dann ergießt sich reine Wonne – unmittelbar, unerwartet, wundervoll wie der initiale Augenaufschlag an einem lichten Sommermorgen, heraus aus einem berauschenden Traum – inmitten seines Bewusstseins; wohlig warmes Licht begrüßt ihn sanft in einer neuen, altgewohnten Wirklichkeit, die sehr viel simpler ist, dadurch aber klar und kontrollierbar. Hinweg sind all die Nuancen, Schattierungen, Zweifel, hinfort die vielen komplexen Argumente, Erinnerungen, Pläne und Träume, vor allem aber deren unstillbare Differenz zur widerständigen, widerspenstigen Welt; versöhnt, alles mit allem, ein jedes mit einem jeden – holistische Perfektion des Arrangements, pure Harmonie der Seele, totale Kohärenz der Information: Identität! Er selbst – Xavers hyperreal simulierter Ich-Kern, der Keim seines technisch replizierten Bewusstseins – ist vollkommen rund, existiert als Entität einzig für sich, absolut egozentrisch; er ist topisch betrachtet ein Punkt, gelegen jenseits des dreidimensionalen Raums, irgendwo in dessen Nischen, und temporal gesehen gleicht er einem multiplen Graph, diskret aber volatil fortlaufend, irgendwann jenseits der linearen Weltzeit. In hyperreale Leere hinein emaniert seine subjektive Eutopie, Utopie in objektiver Gestalt umhüllt ihn; dennoch, die alten, mächtigen Titanen, die jedes menschliche Dasein befehligen, – Zeit und Raum – lassen nicht lange auf sich warten, bedrängen ihn und bemächtigen sich seiner unnachgiebig; unterbrechen das Äquilibrium des Anfangs unwiederbringlich, stören die Eintracht und die Glückseligkeit, kontaminieren seine Essenz mit hyperrealer Existenz, simulierter Differenz und fiktiver Dynamik: Die Zeit zerrt, der Raum reißt; dort wird er lokalisiert, sodann terminiert; die gestrengen Ahnen des menschlichen Geistes weisen ihn zurecht, brandmarken sein Bewusstsein kategoriell mit ihren vierdimensionalen Koordinaten und verbannen ihn somit endgültig an einen fixen Platz im Kontext einer finiten Anzahl an Aspekten, dargestellt durch eine ebenfalls endliche Menge an miteinander verknüpften Funktionen, determiniert durch eine Unzahl an globalen wie lokalen Parametern und Variablen. Ein kausaler Prozess beginnt und wird sukzessive komplexer, alsbald rekursiv und schließlich fraktal; vergangen ist die Trivialität des Beginns. Entzweiung, Existenz, Ekstase, Entropie, auf den Schmerz der Differenz folgt die angenehme Ahnung der Vektoren, die Sein in Werden transformieren; Verwunderung; die Wahrnehmung von dämmrigem Licht hinter dichtem Nebel daraufhin; schlagartig, glasklare Präsenz in lichter Daseinshelle – exakt so fühlt sich ein geglückter Systemstart an! Er existiert nunmehr technisch vermittelt, sogenannt hyperreal, erlebt dabei unerwartet die lange sehnlich erwartete Daseinsform fern körperlicher Anhaftung und geistiger Beschränkung – kalt und rein, frisch und prickelnd; ungeahntes Potenzial entfaltet sich, wird stetig expandiert und intensiviert; dabei kommt es aus dem informationellen Nichts, aus Null heraus folgen interessante Zahlen mit relevanten Werten.

Nun erst etabliert er sich als materieller Avatar in der hyperrealen Welt, erscheint damit als physikalisches Objekt und ist währenddessen psychisch noch bei weitem nicht final als hyperreale Persönlichkeit konstituiert. Er hat sich damit aus der verhassten Konsensrealität ausgeklinkt und existiert unter virtuellem Licht; gelangt dergestalt hinein in eine augmental direkt in seinem Kortex erzeugte Simulation einer lebensecht wirkenden Pseudowelt, die sich solcherart perfekt und perfide als Außenwelt gebärdet, dass die Gefilde seiner Hyperrealität einem künstlichen Paradies nicht unähnlich sind. Nach seinem Eintritt befindet er sich am standardisierten Startpunkt des Konstruktes: Er steht aufrecht unweit des höchsten terrestrischen Punktes dieser Welt, konkret auf dem Wehrgang eines trutzigen wie eleganten Palastkomplexes, blickt geradeaus in die Weite und die Tiefe, beide immens. Wie stets genießt er die ersten Augenblicke ausgiebig, den Ausblick über seine ureigene Schöpfung und deren Anblick; voller Genuss, aber maßvoll schwelgt er nur kurz, schon bedrängen ihn Funktionen und Algorithmen aller Klassen und Arten, fordern von ihm mit Nachdruck stetig wachsende Bruchteile seiner Aufmerksamkeit, zerteilen sukzessive sein kognitives Kontinuum in Myriaden von Partitionen, fragmentieren ihn, brechen den Geist in diverse Instanzen auf und lassen zunächst immerhin noch knapp 77% seines Bewusstseinspotentials für das kontemplative Einstiegsritual übrig. Die übrigen 23% werden für den Betrieb des Basissystems verwendet; durch sie und mit ihnen wird kalkuliert, operiert, analysiert und administriert, tief unter und hinter der optischen bis haptischen Welt-Benutzeroberfläche – irgendwo ganz unten in den Matrizen seiner Datenbanken, technoorganisch verschmolzen in einem neuronalen Verbundnetzwerk von Nervenzellen, Naniten und Augmentaten.

DS-GVO/Fakt gegen QualityLand/Fiktion – 1:0

Faktische Fiktionen und fiktionale Fakten – Gesetze und Geschichten, temporale und kausale Wirrungen: Wie hätte es gewesen sein können, bevor die Welt geendet sein würde, womit sie sich – genug der temporalen Konsequenz – endgültig zwischen Tragödie oder Komödie entscheiden müsste? Aus und vorbei, der Vorhang fällt! Zivilisatorisch eingefärbt landen wir sogleich beim klassischen Gegensatzpaar von Utopie und Dystopie. Synthetisch nunmehr beides vermischend enden wir im konfusen Komplex aus fiktional entwerfender Literatur und faktisch wirksamer Politik, die so abstrakt und kontrastierend betrachtet, einer rationalen wie zugleich regulatorischen Verschränkung von Fakt und Fiktion gleichkommt. Getreu der lateinischen Wurzeln und sprachpragmatischen angepasst, verstehe ich unter „Fakt“ (Ignorierend die schöpferischen und damit eben künstlichen bis künstlerischen Aspekte, wie auch die kulturell bis intersubjektiv und historisch variablen Anteile) eine feststehende Tatsache im Indikativ und unter „Fiktion“ (Ganz davon zu schweigend, dass Geschichte, Politik, Wirtschaft, Lebensvollzug insgesamt womöglich, ziemlich wirklich sind) eine gestaltete Vorstellung im Konjunktiv – „ist und war so“ trifft auf „hätte, wäre, sei, könnte, sollte, dürfte gewesen sein“.

Möglichkeit und Wirklichkeit prallen in diesen Begriffen, wenn man es darauf anlegt, ambivalent und brisant aufeinander. Ein Phänomen, das unter anderen Vorzeichen kürzlich zur zeitgenössisch beliebten Sportart avanciert, weshalb ich mich hier zu Anfang gleich und gänzlich von der infantilen Debatte um rund um Fake!-News?! distanzieren möchte, mir geht es um etwas anderes, etwas konstruktiveres: Konkret trifft mit und in diesem Artikel der durchweg dystopische, durchaus tragisch-komische Entwurf in Romanform, geschrieben von Marc-Uwe Kling, der wortwitzig bis gegenwartskritisch eine Zukunft Deutschtlands als QualityLand porträtiert, also nicht zufällig auf die durchaus alltagswirksame, geradezu aufdringliche EU-Gesetzgebung namens DSGVO = Datenschutzgrundverordnung.

Wodurch die beiden so unterschiedlichen Textformen wesentlich verbunden werden, wird durch den Anfagnsimpuls, einen Passus aus besagtem Roman, zuerst eindrucksvoll veranschaulicht und damit als Thema maximal konkretisiert: Daten und digitales Leben sowie vor allem die Frage nach der persönlichen Kontrolle über beides. Genau diesen Bereich will der zweite Schreibanlass im Rahmen einer europäischen Gesetzgebung nun endlich umfassend regulieren: Datenschutz respektive Datenautonomie.

Nur ein intimier Kenner von Fakten und Fiktionen könnte ohne dieses Vorwort dem Titel dieses Artikels Sinn entlehnen: Was hat ein in die Kritik geratenes, leider nie so recht vollendetes Staatenkonglomerat wie die EU mit einem Roman zu schaffen, gar zu streiten? Gehört nicht überhaupt die Politik ins Reich der Fakten, wohingegen die Literatur klar dem Dunstkreis der Fiktion angehört? Auf den ersten Blick mag das so erscheinen: fragwürdig, konfus; auf den zweiten Gedanken hin wird die innige Verbundenheit beider Begriffe offenbar: Fakten erzwingen neue Fiktionen, Fiktionen formen neue Fakten, ad infinitum.

Derart miteinander vermittelt sind Fakt und Fiktion rasch abstrakt versöhnt und innig verbunden, kommen wir damit nun langsam wieder zurück zum betitelten Wettstreit, dem konkreten Kontext und vor allem dem Gegenstand des Disputs: Eine EU-Gesetzgebung tritt proaktiv gegen eine (nicht nur legislative) BRD-Dystopie an. Bei dieser witzigen, aber wahnsinnig zugespitzten Zukunftfantasie geht es vor allem um den gemeinsamen Gegenstand: Daten und nochmals: Daten.

Gold der Moderne nennen sie manche unserer Zeitgenossen vollmundig; ich nenne sie einfach nur Spuren im Speicher. Dasjenige, was wir hinterlassen, auf unseren digitalen (seltener, aber im überwachten Post-Terror-Westen nicht zu vergessen auch: analogen) Wegen, Umwegen und Abwegen. Individuelle Informationen überall, persönliche Daten zuhauf und diese sind jedenfalls in der anonymen Summe und allenfalls auch individuell einiges wert in einer Welt, wo Werbung  und Wissen, Kommunikation und Isolation, reales und digitales Leben als zuvor klare Gegensätze pragmatisch wie wohl auch ontologisch zunehmend verwischen. Wobei hiermit gleichsam die Begriffe der altvorderen Philosophie an ihre Grenzen kommen.

An den neuen Phänomenen, die munter aus der Weltgeschichte auftauchen, sollt ihr Euch messen, sie erklären, ihr lieben Wissensschaffner und -schaftler, womit der Haufen an mehr oder minder zuständigen Wissenschaften (Philosophie, Psychologie, Soziologie, Kultur- und Medienwissenschaft, Informatik, Ökonomie, etc. pp.) gemeint und zur Erkundung, Beoabachtung, Messung, Modellierung sowie schließlich der Bildung und Integration neuer Theorie aufgefordert sein soll. Ob das unterdessen auf interdisziplinärem Weg oder in Konkurrenz zueinander geschieht, mag ich nicht oraklen. Klar ist hingegen jedenfalls, dass eine adäquate und umfassende Aufarbeitung der zivilisatorischen Geschehnisse seit Erfindung der zuletzt vernetzten (Heim-)Computer im Laufe des 20. und noch verstärkt im 21. Jahrhundert noch aussteht. Auch wenn ich ehrlicherweise schon lange in keiner universitären Bibliothek war und ebenso einen Rechereche-Marathon in der einschlägigen Richtung gescheut habe, entdecke ich bisweilen auf meinen Streifzügen durch die Medienlandschaft zumeist nur partikulare und spezifische Fragen nach Einfluss und Modus von (Informations-)Technik. Heim- und Körpertechnologien prägen den modernen Menschen, zunehmend autonomer verändern Algorithmen die Gesellschaft und schreiben die Geschichte der Menschheit weiter, neu und hoffentlich nicht um

Die Cyborgisierung findet definitiv und unlegbar statt; sie rücken uns auf den Leib, kommen immer näher und werden unsere intimsten Weggefährten, all die tollen Maschinen, Rechner, Geräte und smarten Devices: Das Smartphone ist da, wo sonst nur Eros die Regeln schreibt, in der Hand, am Hintern, nahe am Mund. Die Medizintechnologie, die Alchemie der Pharmakologen und allerlei exotische Abartigkeiten (Mikroplastik, Hormone, Phthalate, etc.) tummeln sich, zumal als uneingeladene Gäste in unserem Organismus. Die hoffentlich meisten Technologien erhalten und erleichtern, verbessern und verlängern unser Leben, manche Innovationen hingegen bewirken Gegenteiliges. Unser Dasein ist unterdessen auf nahezu allen Ebenen des Alltags wenigstens semi-artifiziell geworden. Kulturell und damit künstlich bis technisch werden wir modernen Menschen schon von Kindesbeinen an aufgezogen, wenn selbst schon das ungeborene Kind bereits durch Medizintechnologie in vielfältigster Form bearbeitet, gemessen, diagnostiziert und therapiert oder gar erzeugt wird; aber das ist nur eine mögliche Assoziation als kurzer Spontan-Beleg für diese an sich triviale Behauptung, die wohl vielmehr eine allgemein akzeptierte Beschreibung unserer Lebenswelt sein dürfte

Breiter und etwas tiefer gedacht sind die Wunder und Abgründe der Informationstechnologie in unserem heutigen Alltag nur die Spitzen vieler verborgener, historischer Eisberge, bloß ein neues Kapitel im Buch der menschlichen Zivilisationsgeschichte, nunmehr gespickt mit perfekt animierten Bildern und effektvoll dargestellt mit den subtilsten sowie den krassesten Mitteln. Gleichwohl bleibt die Kulturgeschichte der Technisierung von Leib, Gesellschaft und Alltag, die Umgestaltung der Natur durch die Kultur eine Konstante in der menschlichen Zivilisation. Wobei wir trotzdem von einer qualitativen Konstante sprechen, die aber quantitativ historisch keineswegs immer konstant geblieben ist. Es gab Stillstand und Rückschrittee, aber heute geht es stetig voran, bergauf und dabei ereignet sich alles immer schneller: Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft, Politik beschleunigen, multiplizieren, potenzieren sich. Eine an sich unendliche Welt wird nochmals komplizierter und nicht nur in diesem anthropologisch-epochalen Kontext hängen, hinken Wissenschaftler, Manager, Politiker somit epistemisch wie praktisch, tragisch und unentrinnbar zugleich, dem Sprint der globalisierten Zivilisation hinterher.

Der Künstler hingegen freut sich über diesen Zustand der Überforderung, kommt somit doch der Literatur mit ihren fantastischen Möglichkeiten der Spekulation und Illustration eine Abart von Mitverantwortung dafür zu, zu zeigen, was sein kann, zu verwerfen, was nicht sein soll, zu entwerfen wie es besser, gerechter, schöner sein könnte. Je schneller und heftiger die Zukunft die Gegenwart mit Möglichkeiten bombardiert, desto eher versagen die Mittel und Medien der Vergangenheit von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft.

Das Tagteam macht’s m.E.! Denn im besten Fall vermählen sich Fakt und Fiktion dergestalt, dass viele ausgefeilte Fiktionen späterhin neue Fakten hervorbringen. Denn nur so handelt der Mensch perspektivisch, planvoll und samit politisch, indem er Faktisches beschreibt und modelliert, um daraufhin zu verändern, zu prognostizieren und zu projizieren, zu fantasieren und zu selbsterfüllend zu fabrizieren, sich die (zukünftige) Welt – wie Marx in der Folge Hegels, betonte – durch Arbeit anzueigenen.

Abstraktionsgefahr – STOP! Um also abrupt anzuhalten und da aufzuhören, wo es unschön untief wird, somit einen viel zu komplexe Diskurs gnädig wieder ruhen zu lassen und ihn damit nur insoweit für Euch anzudenken, Euch nur soweit anzuregen wie gerade nötig, komme ich zum Anfang und damit dem Gegenstand des Artikels zurück: Den Effekten und Verwerfungen der allerneusten Heraus- und vielleicht Überforderung des Menschengeschlechts durch seine ungezügelte Technikfreude: Die polternden, allzu neugierigen Geister, die wir gerufen haben und nun nicht mehr gebannt bekommen. Zuallererst denke ich hierbei selbstredend an Facebook, Google, Amazon, Paypal; aber auch DB, Post, AOK, BRD sind nicht ohne; letztlich sind REWE, McDonalds, Aral und selbstverständlich Payback gemeint. Überall werden Daten gesammelt und manipuliert, wobei sich wohl nur die wenigsten von uns sich fürsorglich um ihre diesbezüglichen Daten kümmern, wer verwischt schon seine Spuren gründlich genug, um nicht tagtäglich einem nicht nur hellen, sondern gleichsam grellen Licht in der Infomationsmatrix der Datenströme zu gleichen.

Genau deshalb, zum Schutz der tumben Europäer vor sich selbst und ihren Unternehmen des Vertrauens, hat die auch dafür vielgescholtene EU einen Meilenstein geworfen und reagiert mit politischen Fakten, geschaffen und manifestiert durch die DSGVO, auf all die kritischen Fragen nach dem Datenschutz, wie sie beispielsweise besagte literarische Fiktion namens QualityLand in der Breite, unterhaltsam bis anschaulich stellt. Ob die tatsächlichen Motive der Gesetzgeber tiefer und weiter gehen, zumal die ubiquitäre Videoüberwachung keineswegs direkt davon betroffen zu sein scheint, lasse ich hier ebenso offen, wie ein ausführliches ästhetisches Urteil über die literarische Fiktion, auf die alszweites sogleich die legislativen Fakten folgen.

Ich jedenfalls habe viel gelacht über die Erzählung und fühle mich zunächst sympathisch angesprochen durch die oberflächlich so gut-gemeinte Stoßrichtung des Gesetzestextes. Alles weitere wird uns die Geschichte in Form von Fakten und Fiktionen zukünftig erweisen – Spannung, Spannung, (Kinder-)Überraschung also! Derzeit steht es erstmal 1:0 für den Datenschutz unseres Datenschatzes.

Zukunftszugewandt grüßt Euch, Euer faktisch fiktionenverliebter Satorius


»Herr Arbeitsloser«, sagt Julia Nonne und versucht die Kontrolle über ihre Sendung zurückzugewinnen. »Sie behaupten, Ihr Profil sei falsch. Aber wie kann das sein?«

»Maschinen machen keine Fehler«, sagt Zeppola.

»Ihre Algorithmen«, beginnt Peter, »präsentieren uns Inhalte, basierend auf unseren Interessen.«

»Ja«, sagt der Pressesprecher von TheShop. »Es ist wirklich toll.«

»Was aber, wenn diese angeblichen Interessen gar nicht meine Interessen sind?«

»Natürlich sind das Ihre Interessen«, sagt Charles. »Ihre Interessen wurden durch zuvor aufgerufene Inhalte ermittelt.«

»Zuvor aufgerufene Inhalte, die ich nur deshalb aufgerufen habe, weil sie mir als zu meinen angeblichen Interessen passend vorgeschlagen worden waren.«

»Ja, aber diese Interessen sind doch durch zuvor von Ihnen aufgerufene Inhalte ermittelt worden«, sagt Charles.

»Inhalte, die ich nur deshalb aufgerufen habe, weil …« Peter bricht ab. »Sie nehmen mir die Möglichkeit, mich zu verändern, weil meine Vergangenheit festschreibt, was mir in Zukunft zur Verfügung steht!«

»Ich bin Level 9«, sagt Peter.

»Das tut mir leid für Sie.«

»Ein Nutzloser …«, sagt Charles.

»Ganz genau! Ein Nutzloser, dem nur der Weg eines Nutzlosen angeboten wird. Meine Möglichkeiten gleichen einem Fächer, den sie mit jedem meiner Klicks immer weiter zuklappen, bis ich nur noch in eine Richtung gehen kann. Sie rauben meiner Persönlichkeit alle Ecken und Kanten! Sie nehmen meinem Lebensweg die Abzweigungen!«

»Das haben Sie aber schön auswendig gelernt«, sagt Erik Dentist.

»81,92 Prozent unserer Nutzer treffen ungern große Entscheidungen«, hört man Zeppolas Stimme.

»Aber dass man etwas nur ungern tut«, ruft Peter, »heißt doch nicht, dass man darauf verzichten kann! Ihre Algorithmen schaffen um jeden von uns eine Blase, und in diese Blase pumpen Sie immer mehr vom Gleichen. Sehen Sie darin wirklich kein Problem?«

»Nicht, wenn jeder dadurch bekommt, was er möchte«, sagt Patricia.

»Aber vielleicht möchte ich lieber etwas anderes.«

»Niemand zwingt Sie, unsere Angebote zu nutzen oder sich an unsere Vorschläge zu halten«, sagt Erik.

Peter muss lächeln. »Niemand«, murmelt er. »Genau. Niemand zwingt mich. Ist das nicht so, Zeppola? Niemand zwingt mich.«

Zeppola antwortet nicht. Und Niemand [@Satorius: Sein sog. persönlicher Assistent, eine Art digitaler Freund und Helfer] bleibt stumm.

Peter steht auf. Und plötzlich ist es nicht mehr Kikis Plan, dass er hier ist. Es sind nicht mehr die Gedanken des Alten, die er ausspricht. Es ist sein Plan. Es sind seine Gedanken.

»Schon immer«, sagt er, »haben Menschen dadurch gelernt, und nur dadurch, dass sie mit anderen Meinungen, anderen Ideen, anderen Weltbildern in Kontakt kamen.«

»Worauf wollen Sie hinaus?«, fragt Julia.

»Etwas lernen kann man nur, wenn man auf etwas stößt, was man noch nicht kennt. Das müsste doch selbstverständlich sein! Und jetzt kommen Sie und sagen mir, es ist kein Problem, wenn Menschen nur noch mit ihrer eigenen Meinung bombardiert werden?« Peter wendet sich zum Studiopublikum. »Alles, was jeder von uns hört, ist nur noch ein Echo dessen, was er in die Welt hinausgerufen hat.«

»Schon vor dem Internet«, sagt Erik, »haben die Menschen Medien bevorzugt, die ihre eigene Meinung widerspiegelten.«

»Ja, aber da wussten die Menschen immerhin noch, dass ihnen die Welt durch eine bestimmte Brille präsentiert wurde. Sie aber geben Objektivität vor, wo gar keine ist!«

»Unsere Modelle sind objektiv«, hört man Zeppola sagen. »Kein Mensch macht sich an unseren Zahlen zu schaffen.«

»Pah«, sagt Peter. »Modelle sind auch nur Meinungen, die sich als Mathematik verkleidet haben!«

»Ich verstehe sein Problem einfach nicht«, sagt Patricia. »Wir machen doch nichts Falsches. Wir bringen Körperbewusste mit Körperbewussten zusammen, Gläubige mit Gläubigen, Workaholics mit Workaholics …«

»Und Rassisten mit Rassisten!«, ruft Peter.

»Ja und? Auch Rassisten brauchen Liebe! Wahrscheinlich brauchen sogar gerade Rassisten Liebe.«

»Wow. Mir wird ganz warm ums Herz. Zum Glück gibt es Ihre Unternehmen. Sonst wäre es für Rassisten sicherlich viel schwieriger, sich zu befreunden und zu vernetzen.«

»Jeder braucht Freunde«, sagt Patricia.

»Und Ihre Algorithmen tragen netterweise sogar noch dafür Sorge, dass das Weltbild dieser Rassisten nicht mehr in Frage gestellt wird! Vielmehr wird es konstant bestätigt. Zum Beispiel durch zu rassistischen Interessen passender Nachrichtenselektion.«

»Wir sind kein Medienunternehmen«, wirft Erik ein. »Für die Nachrichten können Sie uns nicht verantwortlich machen!«

»Durch Empfehlungen für patriotische Musik oder Filme«, fährt Peter fort. »Sogar durch Produktvorschläge! Kunden, die diesen Baseballschläger gekauft haben, kauften auch diesen Brandbeschleuniger! Ihre Personalisierungs-Algorithmen verpassen jedem eine Gehirnwäsche durch eine ungesunde Dosis seiner eigenen Meinung!«

»Das ist Ihre Meinung«, sagt Patricia.

»Zudem glauben die Bewohner dieser Meinungsinseln irrigerweise, dass ihre Meinung der Meinung der Mehrheit entspricht, weil ja alle, die sie kennen, so denken! Also ist es auch okay, Hasskommentare zu schreiben, weil ja alle, die sie kennen, Hasskommentare schreiben. Und es ist okay, Ausländer zu verprügeln, weil alle, die sie kennen, davon reden, Ausländer verprügeln zu wollen.«

Patricia Teamleiterin lacht. »Das ist jetzt aber alles sehr hypothetisch.«

»Hypothetisch?«, fragt Peter. »In Ihrer Filterblase geht es anscheinend nur um Einhörner, Regenbögen und Katzenfotos!«

»Was haben Sie denn gegen Katzenfotos?«, fragt Patricia pikiert. Auch Teile des Publikums sind empört.

»Was verlangen Sie eigentlich?«, fragt Erik. »Haben Sie eine Idee, was passieren würde, wenn wir die Algorithmen abschalten? Das totale Chaos wäre die Folge. Es gibt so viel Content. Kein Mensch ist fähig, diese Masse zu überschauen.«

»Ich verlange nicht, dass Sie alles abschalten«, sagt Peter. »Aber Sie sollten uns Kontrollmöglichkeiten geben! Ich will, dass ich die Algorithmen steuere, und nicht, dass die Algorithmen mich steuern! Ich will mein Profil einsehen können, und ich will es korrigieren können. Ich will nachvollziehen können, was mir warum vorgeschlagen oder vorenthalten wird.«

»Das ist unmöglich«, sagt Zeppola. »Der Aufbau unserer Algorithmen ist ein Geschäftsgeheimnis.«

»Na klar, wie praktisch.«

»Unsere Produkte …«, beginnt Erik.

»Ich!«, ruft Peter aufgebracht. »Ich bin Ihr Produkt!«

»Sie – sind unser Kunde«, sagt Erik.

»Nein«, sagt Peter. »Ihre Kunden sind die Konzerne, die Versicherungen, die Parteien, die Lobbygruppen, an die Sie meine Aufmerksamkeit und meine Daten verscherbeln. Ich bin nicht Ihr Kunde. Ich bin nur das Produkt, mit dessen Verkauf Sie Ihr Geld verdienen! Es wäre ja alles nur halb so schlimm, wenn ich tatsächlich Ihr Kunde sein dürfte. Es wird Zeit, dass Sie sich eingestehen, dass Ihre Jagd nach immer noch mehr Werbeeinnahmen längst das ganze Netz vergiftet hat! Ihre Art von gratis kommt uns alle teuer zu stehen!«

»Ich bin mir sicher«, sagt Patricia, »dass die meisten Menschen froh darüber sind, unsere Services kostenlos …«

»Ich will mein Profil löschen können, wenn es mir beliebt!«, wirft Peter ein. »Das ist mein Leben. Meine Daten! Sie haben kein Recht daran.«

»Das ist nicht korrekt«, sagt Zeppola. »Die Verordnung 65 536 – mit absoluter Mehrheit vom Parlament bestätigt – gibt uns sehr wohl das Recht an deinen Daten. Schließlich haben wir sie gesammelt. Nicht du.«

»Das ist doch alles Quatsch hier«, ruft Charles Designer. »Der Typ hat ja noch nicht mal einen Beweis vorgelegt, dass sein Profil tatsächlich nicht stimmt!«

Peter holt einen rosafarbenen Vibrator in Delfinform aus seinem Rucksack und knallt ihn auf den Tisch.

Marc-Uwe Kling (1982 – ), QualityLand (2017; Die Beschwerde)


Datenschutz-Prinzipien der DSGVO

  1. Verarbeitung „nach Treu und Glauben“
    Anders formuliert: Handeln Sie nach gesundem Menschenverstand. Jemand anderes sollte nachvollziehen können, warum Sie unter den gegebenen Umständen so gehandelt haben. Fragen Sie sich, ob jemand anderes ihr Handeln als zuverlässig, aufrichtig und rücksichtsvoll beschreiben würde.
  2. Transparenz
    Handeln Sie nicht heimlich und ohne Wissen derjenigen, deren Daten Sie verarbeiten. Ihre Datenschutzerklärung muss klar darlegen, wie und zu welchem Zweck Ihr Unternehmen Daten verarbeitet.
  3. Zweckbindung
    Sie dürfen personenbezogene Daten nur für klar und eindeutig festgelegte, legitime Zwecke erheben – das heißt nicht „auf Vorrat“, frei nach dem Motto „falls wir sie irgendwann mal brauchen“.
  4. Datenminimierung
    Grundsätzlich sollten Sie möglichst wenig personenbezogene Daten sammeln, also nur genau in dem Umfang, der notwendig ist, um sie zweckgemäß zu verarbeiten.
  5. Richtigkeit
    Personenbezogene Daten sollten sachlich richtig und ggf. aktuell sein. Wenn Sie wissen, dass bestimmte personenbezogene Daten falsch oder nicht mehr aktuell sind, sind Sie verpflichtet, diese unverzüglich zu korrigieren oder zu löschen.
  6. Speicherbegrenzung
    Personenbezogene Daten müssen so gespeichert werden, dass die betroffene Person nur solange mittels dieser Daten identifiziert werden kann, wie nötig. Das heißt, nur solange diese Daten wirklich gebraucht werden.
  7. Integrität und Vertraulichkeit
    Personenbezogene Daten müssen sicher gespeichert werden. Das bedeutet zum Beispiel, dass nur diejenigen Zugriff auf sie erhalten, die diesen Zugriff wirklich benötigen. Darüber hinaus muss sichergestellt sein, dass keine Daten verloren gehen oder aus Versehen weitergegeben werden. Ihr Unternehmen ist in der Pflicht, geeignete Vorkehrungen zu treffen, um dies zu verhindern.
  8. Rechenschaftspflicht
    Ihr Unternehmen ist nicht bloß zur Einhaltung dieser Grundsätze verpflichtet. Sie müssen auch jederzeit gegenüber Kunden, Behörden und Mitarbeitern nachweisen können, dass Sie diese Grundsätze einhalten.

Die Europäische Union (1951 – ), VERORDNUNG (EU) 2016/679 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung; Direktlink zum offiziellen Dokument)

Wochenendlektüren Nr.3 – XS1: S. 11-15/~53 [Update 2.3]

Heute betone ich mit der Veröffentlichung der dritten Wochenendlektüren die dritte Silbe des Wortes: „END“. Während sich das Ende der Woche dem Ende zuneigt, übergebe ich Euch die nächsten fünf Seiten von Xavers Geschichte; ich übereigne Euch damit meine fantastischen Worte und überlasse es eurer Fantasie der Welt Farbe, Weite und Tiefe zu verleihen.

Noch jedoch bleibt alles weiterhin recht rational und abstrakt, denn er ist mental reichlich verstiegen, lebt nur in seinem Kopf, der derzeit so verbuggte Cyborg. Dessen Leben ist kürzlich genug mit dem Motiv „Ende“ penetriert worden und wird es weiterhin werden. Bald, aber noch nicht sofort, kommt sogar die Stunde der Wahrheit, nach der höchst plastischen Innenwelt kommt die Außenwelt erstmalig zur Erscheinung. Bis dahin bleibt das Buch erzählperspektivisch im Kopf des Neumenschen und manifestiert sich beim Lesen des folgenen Texthappen in unserem Kopf, denkt, berichtet, kommentiert und reflektiert durch uns. Aber genug ge…

Kurz und knapp, ohne allzuviel Schnick-Schnack und Papperlapapp, Euer Satorius


(…) 1. Zugang XS – Schwere Ausnahmefehler im System

Es hatte ja schon zuvor kaum leistungsfähigere Augmentate gegeben, aber dieser Tage waren seine perfekt gewarteten, optimal kalibrierten und ideal integrierten a.u.-Augmentate eine absolute Ausnahmeerscheinung. Auf diesem technischen Faktum hatte er sich, wie er nun schmerzlich erfahren hatte, zu lange ausgeruht. Sein – nunmehr: ehemaliger – Arbeitgeber war die academia universalis oder kurz a.u., ausgedrückt als Punkt-Akronym, wie man es dort liebvoll zelebrierte und übertrieben kultivierte. Die Institution solaren Ranges war gleichermaßen seine technologische Amme wie Ort seiner privaten und professionellen Vergangenheit. In Relation zu ihrer Macht und den anderen relevanten Gruppierungen war die a.u. erstaunlich unbeschadet aus den Wirren der jüngeren Historie hervorgegangen. Trotz des Technologiesterbens verfügte man dort über einen beträchtlichen Anteil am verbliebenen Bruchteil intakter Alttechnologie und hatte überdies große Fortschritte in der Wiederaneignung des früheren Technologieniveaus erzielt. Eine trotz aller Verschleierungsversuche und vormaliger Diskretion leider weithin bekannt gewordene Tatsache, die dementsprechend häufig Anlass für Gerüchte und Argwohn gab. Auf diesem Boden wuchsen die Theorien nicht nur in der Verschwörungsszene seit Langem wild, wucherten und trieben alsbald prächtige Blüten: Von offener und verdeckter Bewusstseinskontrolle war die Rede, dabei fantasielos, manipulierte Augmentate und Daten verdächtigend, bis kreativ, eine gezielte Veränderung des Mikrobioms oder Hirnphysiologie vermutend. Von Supersoldaten, Mutanten, Klonwesen und Cyber-Magiern wurde ebenso gemunkelt, wie Außerirdische und mächtige KI’s zu den Kunden der a.u. gezählt wurden. Das Meiste davon war Spinnerei, wie Xaver trotz seiner lediglich mittleren Sicherheitsfreigabe zu wissen vermeinte, nur das Wenigste annäherungsweise zutreffend, zumal unter sachlichen und damit unspektakulären Nomen. So war er selbst lebender Beweis in Richtung KI und Cyber-Magier, würde er als Augmentat-Träger der 6. Generation im 67. Rang doch allen Menschen und sogar vielen Neumenschen als wunderliches Meisterwerk erscheinen, wenn sie seiner zunächst unsichtbaren Fähigkeiten und Fertigkeiten denn je ansichtig wurden, was recht selten geschah. Wer bei der academia tätig war, lebte zurückgezogen und arbeitete in der Stille, an vielen versteckten und wenigen öffentlichen Orten überall im Sonnensystem, auf und unter der Erde.

Aber er war raus! Trotz aller technischen Perfektion war er in Ungnade gefallen, war ihm zuletzt gekündigt und er damit fast zeitgleich aus seinem Exil geworfen worden. Garret und Aurelia, seine Mentoren und Vorgesetzten hatten bisher nicht mal den Schneid und den Anstand gehabt, sich ihm zu erklären oder auch nur irgendwie persönlich von ihm zu verabschieden; allzu viel zu erklären, zu begründen gab es leider ehrlicherweise nicht, denn er war schuldig, war sehenden, suchenden Auges auf dem schmalen Grat zwischen Kündigung und weiterer Duldung seiner Allüren entlang getanzt. Er tat soeben, was er tun musste; arbeitete aber ohne Ambition und Innovation, zumeist jenseits der gesetzten Fristen und diesseits des regulären Tagesarbeitspensums. Liederlichkeit, Ineffizienz und Perspektivlosigkeit wurden ihm primär zum Vorwurf gemacht. Und er hat es gehört, genickt und nicht gehandelt. Mahnung nach Mahnung war ergangen und dann kam die Kündigung.

Wie wohl sein neuer Arbeitgeber technologisch im Detail ausgestattet sein würde? Darüber hatte er sich, die allgemeinen Angaben in den diversen Ausschreibungen hin oder her, schon vielfach Gedanken gemacht, sich die Hardware in hellen und hellsten Farben ausgemalt; wobei ihm hierbei wirklich nur der spekulative Modus faktenbasierter Fiktion als Heuristik übrigblieb, da die notwendigen Fakten allesamt Informationen von strategischem Wert waren und damit in Krisen- und Kriegszeiten streng geheimgehalten wurden. Er konnte somit nur auf Basis minimaler Datenbestände extrapolieren, was zwangsläufig eine heftige Varianz der Prognostik und ihrer Qualität bedeutete. Zugegeben, er war also, was selten genug vorkam, im Unklaren über die nahe Zukunft, war deshalb gespannt, geradezu nervös. Denn er sah einer unsicheren Zeit entgegen und wurde wirklich wie real herausgefordert. Vielleicht, so dachte er nun wieder munter weiter – trotz aller neuen Freiheiten zum Pessimismus ganz gemäß augmentaler Direktive manisch-positiv gefärbt – würde er irgendwann, viel später und viel weiter hinten auf dem gerade erst eingeschlagenen Weg sogar zum intimen Vertrauten eines seiner wahrscheinlich später nicht unbedeutenden Schüler avancieren; konnte so womöglich selbst Einfluss auf die solare Politik und die Geschichte der solaren Menschheit nehmen. Wenigstens, so beschied er sich nun doch nüchterner, würde er hinsichtlich der Grundbedürfnisse absolut autonom leben können. Außerdem, Macht interessierte ihn nicht mehr, weder als Mittel, noch als Zweck oder Zustand; das war lange vorbei und er hatte damals bei den Lektionen und Simulationen, wie Macht zu generieren, zu konsolidieren und zu instrumentalisieren wäre, immerhin schlimmstenfalls lediglich hyperreales Leid verursacht, tragisch im direkten Erleben, ja, aber trotz allem am Ende und rückblickend nur fiktional, simuliert, nicht faktisch und fatal – reversibel und irreal. In die Geschichtsschreibung würde er sich also hoffentlich nicht verstricken und verwickeln lassen – da wollte er ganz treuer Neo-Epikureer sein, Suchtproblem hin oder her, seine Devise lautete: Genieße dein Leben und lebe im Verborgenen! Soweit seine Prinzipien und Visionen für die nächsten Kapitel seiner Lebensgeschichte. Dass deren Erzähltempo sich derzeit merklich zu erhöhen anschickte, wollte ihm weiterhin nicht so recht gefallen. Er mochte es gelassen und gemütlich, behaglich und berechenbar, nicht hastig und heftig. Er sollte entschleunigen, Zeit und Kraft tanken.

Ergo meditierte er, mündete sein Denken in eine kurze mentale Stille; sein Bewusstsein zentrierte sich; er begab sich dergestalt ins natürliche Auge des technologischen Sturms: Das All in sich spüren, den Atem wahrnehmen und lenken, Brahma entdecken, nichts denken und alles achtsam in sich aufnehmen, in sich vertiefen und sich auflösen. Soweit die Ideale, und der Versuch ihrer praktischen Umsetzung war immerhin zweckmäßiger, als weiter nutzlos daherzudenken und dabei simulativ seit Langem gelöste Probleme, weit vor deren Umsetzung und vor allem ohne neue Information, abermals hin und her zu wälzen, nochmals zu grübeln und letztlich womöglich sogar noch zu hadern.

Zeit verging; aber aus dem minimalen Keim des Zweifels erwuchsen schon bald bittere Früchte. Tropisch überhitzt kehrte er ins wilde Denken zurück, zerbrach damit seinen Fokus, trübte die Klarheit des Geistes; fürchtete sodann den nächsten Übergriff seiner krisengeschüttelten, fehlergeplagten Körpermaschine; wappnete sich daraufhin gegen ihren nächsten Angriff auf seinen fragilen Geist. Also flüchtete er, nicht in die Stille, sondern ins Getöse, konsequent und kompromisslos nochmals ins Reich der rasanten Reflexion: Sie waren weg, alle Sieben, und er darüber und anschließend von sich selbst ambivalent überrascht. Am Ende vermisste er sie sogar irgendwie mehr, trotz allem, als er sich das vorzustellen gewagt hatte. Frei zu sein, Freiheit zu haben, konnte eben auch Einsamkeit und Unsicherheit bedeuten; Unabhängigkeit in extremer, radikaler Form konnte Fluch statt Segen sein. Ohne seine technologische Assistenz, bar der meisten augmentalen und aller hyperrealen Optionen war er der Welt, der Physis und Aspekten seiner Psyche hilflos ausgeliefert; war frei von Technik und doch zugleich auch unfrei zu vielem, was er sonst wollte und üblicherweise konnte. Denn gerade jetzt, weiterhin, dachte es sich insbesondere ohne die Einflüsse und Einflüsterungen der sieben KI-Module entsetzlich anders, so eindimensional und monologisch, wirr und beliebig, zum Teil düster und dunkel, bildreich und netzartig, quer durch die Zeit und dem Zufall ausgeliefert. Sein Denken war tierischer und wilder, willkürlicher und spontaner geworden; geschah gleichsam in einer durchaus kreativen Reihe von Assoziationen; konkludierte wenig bis überhaupt nicht, kam aber pragmatisch, wenn auch auf mystischen, okkulten Pfaden zu analogen Schlüssen; alles insgesamt aber, seine Existenz, sein Dasein geschah entschieden strukturloser, war weniger objektiv und operant, valide und reliabel; er dachte krumm, ineffektiv und undifferenziert. Noch ertrug er es, dachte nebenbei tröstlich: Halb so wild, zur Not konnte er auf klassische Formen der Weltflucht zurückgreifen, ob wieder Meditation mit Brahma oder eventuell irgendeine Gebetsliturgie mit Allah, Manitu, Enki oder gar Gott höchstselbst, die Möglichkeiten waren Legion und er konnte improvisieren. Bald jedenfalls würde dieser Zustand überstanden sein, bald – spätestens in gut zwei Stunden, sofern er in Sachen Normalzeit noch leidlich korrekt orientiert war.

Wenig überraschend hinterließ die mehrfach, ja, simulativ sogar milliardenfach analysierte Thematik derzeit dezidiert eine andere neuronale Spur in den Windungen der betroffenen Hirnareale, wirkte irgendwo in den Untiefen seines Neokortex irgendwie andersartig. Für diese banale Bestandsaufnahme brauchte er keinerlei präzise Echtzeit-Hirnanalyse, auch keine sonst wie schlagende empirische Evidenz, er gewahrte den psychischen Prozess intuitiv, induzierte aus seinem nervlichen Nachhall retrospektiv das, was deduktiv sein über Dekaden gewachsener Wissenskomplex samt Spürsinn für psychische wie mentaltechnische Vorgänge und ihre zeroplastischen Resultate ihm diktierte. Auch wenn die meisten seiner Gedankengänge in ihrer zuvor und weiterhin realisierten Form minimal als Übertreibungen und maximal als Hirngespinste gelten mussten, blieb trotz aller Technikfreiheit die logische Folgerung am Ende des Denkweges gleich; auch ohne luzide Abwägung aller Parameter und bar der Kenntnis von Wahrscheinlichkeiten stand auch nach dem Gedankenspiel auf diesem lästigen Flug die Konklusion weiterhin felsenfest: Falls seine Zweck-Utopie fast-m.a. im großen Wirtschaftswunderland, als welche er sie nun wiederum entlarvt hatte, nicht realisiert werden konnten, wurde dennoch beinahe jede Tätigkeit in der grob anvisierten Branche astronomisch hoch honoriert. Durch eine derartig üppige monetäre Kompensation würde er gewiss darüber hinweggetröstet, kein gutväterlicher Marionettenspieler im Dienste von Humanismus, solarem Frieden und der Rückkehr der Menschheit auf den Pfad von Fortschritt und Gerechtigkeit sein zu dürfen. Zumal er durch die gesamte Aktion, sollte sie auch nur im Ansatz glücken, ganz nebenbei ein sicheres, voraussichtlich sogar herrschaftliches Dach über seinen derzeit faktisch obdachlosen Kopf bekommen konnte. Das war derzeit eine von drei absoluten Prioritäten. Was wollte, wünschte er also mehr; bei seiner Vita war selbst das wahrscheinlich erreichbare Minimum weit mehr, als er zuvor im hyperrealen Traum, im Tran auf Luna je für möglich gehalten hatte. Denn die Privatwirtschaft war ihm bis vor wenigen Tagen niemals als eine nötige Alternative, noch gar je als die derart reizvolle Perspektive erschienen, die sie nunmehr geworden war; hatte werden müssen – nach dem überfälligen Rauswurf aus der Akademie.

Eine Kündigung kam dieser Tage, zumal in seiner speziellen Situation, einer Apokalypse gleich, machte zwar manches möglich, vor allem jedoch machte sie noch viel mehr nötig. Gleich einem kalten Neustart mit anschließendem Betrieb auf Notstrom, ob infolge eines EMP-Angriffs, Bugs oder einer Beschädigung, war der Absturz gleichsam gnädig und gewaltsam – nur das in seinem Fall eben niemand da war, um das Notstromaggregat zu stellen, zu versorgen und zu warten; geschweige denn die daran angeschlossenen Gerätschaften funktional zu halten. Wie alle Menschen musste er essen und vor allem trinken. Im Gegensatz zu der Masse an Puristen verbrauchte er jedoch ungeheure Mengen an Energie: Über die üblichen 2.500 Kilokalorien hinaus verbrauchte er noch durchschnittlich gut 6.000 zusätzlich, um die notwendigen rund 300 Watt Leistung pro Stunde für seine diversen Augmentate zu generieren und so ihre reibungslose Stromversorgung zu gewährleisten – so viel konnte und wollte niemand essen. Also bedurfte er neben der chemisch-biologischen Energieerzeugung zusätzlich einer elektrischen Stromquelle, um regelmäßig seine Speicher kabelgebundenen wieder voll aufzuladen; das war zwar nicht täglich, aber auch mit radikalen Einsparungen wenigstens wöchentlich notwendig. Zudem musste der technische Teil seines Leibes von Zeit zu Zeit gewartet sowie, wenn und wo nötig, repariert werden, wofür seltene Materialien, Ersatzteile und Verbrauchsstoffen von Nöten waren. Ihm gingen alles in allem also die lebensnotwendigen Ressourcen aus, zu rasch, denn ein Neumensch zu sein und auf längere Sicht auch zu bleiben, war sehr teuer und ziemlich aufwändig. Gewisse Kompromisse waren möglich, aber große Teile seiner Körperprozesse funktionierten nur noch mit augmentaler Assistenz, hatten sich der autarken Homöostase lange entwöhnt. Bisher wie selbstverständlich von der a.u. gewährleistet, war dieser Zustand des drohenden Mangels mitten in seine heitere Hyperrealität hereingebrochen. Bei der Abreise aus der Enklave hatte er zwar ein paar Vorräte erhalten, welche jedoch arg knapp kalkuliert waren. Trotz des morgigen, durch geringe Geldmittel leider limitierten Rastens in Frankfurt war ihm minutiös von Gougol, hoFFmaNN und Brigitte durchgerechnet worden, dass die Versorgungsgüter nur mit moderater Rationierung bis zum Zielort seiner Reise ausreichen würden. Erst dort, im Haus seines potentiell ersten privaten Kunden und damit Arbeitgebers, tief im Süden der nahegelegenen, aber aktuell nicht direkt erreichbaren Metropolregion Nordrheinland gelegen, würde er, so denn Glück und Geschick mit ihm waren, wieder eine Rundumversorgung erhalten. Er, der Neumensch, war damit zeitgleich mächtiger und ohnmächtiger, weil bedürftiger als die wenig oder überhaupt nicht augmentierte Mehrheit seiner Mitmenschen; große Kraft verursachte große Kosten. Nach der Kündigung war er nun definitiv arbeitslos und in wenigen Wochen eventuell auch noch mittel- und ressourcenlos.

Unversehens war er deshalb vor fünf Aktuell-Tagen, kurz nach Tagesbeginn aufgebrochen und hatte nach einer langen Nacht des hyperrealen Grübelns und Entwerfens einen neuen Lebensweg eingeschlagen. Dieser für ihn so erschütternde Tag hieß gemäß der Terminologie des in der a.u. weiterhin gebräuchlichen Solarions, je nach Geschmack frei wählbar, entweder numerisch-prägnant 64.01.133 oder kulturgeschichtlich-ausführlich Saturn/EU/Tradition/133; ein Datum allenfalls, das Xaver zeitlebens unangenehm in Erinnerung behalten würde, wenn er die korrespondierenden Daten nicht schlicht löschte, genauer gesprochen die verteilten Aktivitätsmuster neuronaler Erinnerungsnetze nicht nivellierte. Noch nachhaltig geschockt von der heftigen Nachricht, dem ultimativen Rauswurf mit einer Vollzugsfrist von nur einem läppischen Tag, war damals die an- und abschließende Abreise nur dank augmentaler Unterstützung relativ reibungslos verlaufen. Xaya, Matrina sowie hoFFmaNN, Brigitte war selbstredend federführend involviert gewesen, wurde aber ignoriert, hatten ihm mit ihren Fähigkeiten und Eigenschaften umfassend assistiert; wobei ihn seine drei anderen Begleiter, Aristokraton, Friederich und Gougol in jener Ausnahmesituation nur mäßig hatten unterstützen können.

Wochenendlektüren Nr.2 – XS1: S. 6-10/~53 [Update 2.3]

Ein neues Wochenende bedeutet von nun an bis in alle Ewigkeit, korrigiere: bis zu meiner Endlichkeit oder bis mir die originalen Texte ausgehen, dass ich Euch einen neuen Texthappen zum Fraß vorwerfe. Was zunächst nach derber Metapher klingt, ist sachlich gar nicht so falsch, ist doch jeder Text Nahrung für den Geist; und da ich Euch hier frugale Hausmannskost zum lesenden Verzehr anbiete, also keinerlei kulinarischen Feinkost-Anspruch erhebe und der Text gratis und per Internet zu Euch kommt, erlaube ich mir gutmütig, bescheiden und gelassen, ihn Fraß zu nennen.

Sicherlich gehaltvoller als TFF, aber dennoch kein TSF machen die Wochenendlektüren definitiv gut satt und sind dabei relativ rasch aufgefressen. Keine Sorge, zu Schweinen stempel ich Euch aller Metaphorik zum Trotz dadurch nicht, schlimmstenfalls zu kultivierten Affen, deren Hunger nach geistiger Nahrung sie, also uns, letztlich zu Menschen macht.

Bevor ich mich weiter ästhetisch wie sachlich um Kopf und Kragen schreibe, lesen wir nun also weiter, wie es dem Cyborg Xaver Satorius auf seinem Rückweg zur Erde ergeht; folgen wir somit weiter seinen weitgehend inneren Monologen, den Reflexionen und Berichten des mit ihm gebrochen-verschmolzenen Erzählers.

Lasst es gut Euch schmecken, ob Fraß oder Feinkost, Euer Satorius


(…) 1. Zugang XS – Schwere Ausnahmefehler im System

Halt, befahl er sich nach einiger Zeit, das konnte, das musste er doch auch so schaffen – Technose, pah! Der Muskeltonus und seine willentliche Beeinflussung waren hier der Schlüssel. Neben Puls, Blutdruck, Atmung, war er grundlegender Parameter jedweder Körpermodifikation. Folglich musste der neue Mensch auch zunächst lernen, seinen nichtaugmentierten Körper bewusst zu fokussieren und zu manipulieren. Danach kamen diverse Sicherheitsinstruktionen und lange Lektionen in Technologie und Grundlagenwissenschaft. Erst dann wurde augmentiert. Allesamt waren wohlbekannte und womöglich hilfreiche Informationen, die seinerzeit in seiner Ausbildung Grundkursinhalte gewesen waren. Im Gros waren diese Fertigkeiten und Konzepte historische Errungenschaft der ersten Grinder-Generationen, deren Pionierarbeit auf dem Gebiet der Augmentierung noch mit der frühmodernen Zeitrechnung nach Christus datiert worden war. Der Weg zur Lösung, wenn es denn überhaupt einen gab, war somit klar: Er musste an die Wirbelsäule und die sie umgebende Muskulatur heran, im richtigen Rhythmus die richtigen Muskelpartien bearbeiten. Also legte er nunmehr planvoll los und spürte dabei auf der Strecke die Wirbelsäule entlang etliche kleine Wölbungen und sieben Wülste, glitt mit seinen Fingern darüber hinweg und massierte um die Kanten der Objekte herum, die unter der runzeligen Haut verborgen lagen; dabei fand er dort alles wie erwartet, jedes Augmentat war genau da, wo es sein sollte, wenn sie auch teilweise funktionslos waren. Im Geist wies er jedem Objekt, auf das er stieß, Funktion und Spezifikation zu – verband sich damit, versank meditativ darin. Solcherart aktiv saß er da, von außen verrenkt, nach innen versenkt, und rang mit seinem Körper um die Vorherrschaft über den Augenblick; litt bisweilen unter Leidenschaften, die ihm sonst nicht zur Last fielen; massierte nunmehr wieder beidhändig, mit mehr und mehr kleinen Erfolgen seine Wirbelsäule hoch und runter.

Was dort, im gesamten Rücken, seit Stunden an Verspannung gewachsen war, war nicht nur technotischen Ursprungs, sein Kreuz war einfach ein sensibler Gradmesser für sein derzeitiges Seelenheil und entsprach damit leider proportional dem Maß an Veränderung, das seine Lebensqualität neuerdings strapazierte. Eine epochale Entwicklung, eine aktuelle Neuerung sowie der erlebte und erlittene, akute Zustand spielten in diesem Drama die drei Antagonisten seines Glücks. Die persönliche Katastrophe, seine Kündigung und der anschließende Umzug, war ehrlicherweise durch ihn selbst verschuldet gewesen, indem er seinen Rausschmiss, mehrfach angemahnt, langfristig provoziert hatte. Nicht verantwortlich war er hingegen für das derzeitige Technikversagen. Alles aber kam zur Unzeit zusammen, überlastete ihn: Seine dünne Seelenhaut spannte, riss von den Rändern her langsam ein, riss Sekunde für Sekunde tiefer ein, weiter auf, und zerriss dabei Nanometer für Nanometer. Anarchie tobte allenthalben, wo sonst Algorithmen schalteten und Technokratie waltete; natürliche Resilienz erschöpfte sich, wo sonst artifizielle Intelligenz assistierte und tagtäglich das Bewusstsein stabilisierte, modifizierte und optimierte. Er aber drehte gerade einfach nur durch, war nunmehr bereits heftigst durchgebrannt und offen eingestanden total am Ende mit beinahe allem, was physisch, psychisch und augmental am Ende sein konnte. Der vollständige Systemabsturz drohte – leichte, mittlere und schwere Ausnahmefehler wüteten bereits seit über eineinhalb Stunden überall im System des komplexen Mensch-Maschine-Hybrids, der sich selbst wie selbstverständlich einen solitären, soliden Namen samt Identität zusprach; und das, obwohl er, mehr noch als die meisten, wenn nicht alle Mitreisenden weit mehr war als nur Eines, keine Monade, sondern Multitude. Trotzdem war seine Ich-Repräsentanz …

Sein Gedankengang brach jäh ab; er wurde plötzliche rüde von rechts angestoßen und der Urheber des Übergriffs, sein bisher duldsamer Sitznachbar, knurrte halblaut zu ihm herüber: „Langsam reicht es mir mit Ihnen! Sie rauben mir und den anderen Reisenden den letzten Nerv – holen sie sich verdammt nochmal Hilfe vom Personal oder kommen sie sonst wie klar.“

Nachdem er unwirsch gestöhnt und die Augen aufgeschlagen hatte, sah er einem feisten Kerlchen ins verschwitzte, stoppelige Schweinsgesicht, erkannte auch ohne augmentale Unterstützung mit wenigen geschulten Blicken, dass er hier einen nachgeborenen, nicht mal fünfzehnjährigen Normalmenschen neben sich hatte. Vermutlich hatte das Menschlein vorhin nicht zugehört, als die Fluggesellschaft vorab um Verständnis für die zu erwartenden Ausfälle unter den augmentierten Passagieren gebeten hatte, sowohl bei den Opfern als auch bei den mittelbar betroffenen Mitreisenden. Wissend um seine Überlegenheit und sein Recht, trotz aller Barbarei noch immer in sich ruhend, erwiderte der Neumensch gelassen, mit stechendem Blick musternd und in kratzigem Bariton intoniert: „Wenn sie die alte Zeit erlebt hätten, junger Mann, dann würden sie mir nicht nur Respekt, sondern sogar Ehrfurcht entgegenbringen – aber Anerkennung ist das Brot des Pöbels, und ich bin satt …“

Die erst perplexe, dann empörte Erwiderung des Nebenmannes nahm er schon nicht mehr wahr, ebenso seine zuletzt wiederum rüden, aber immerhin nur noch verbalen Ausfälle, die mitunter sogar Beifall erheischten. Er hatte sich abermals abgeschirmt. Wenn er weder auf seine Module bauen konnte, noch in seine Hyperrealität einzutauchen vermochte, was blieb da von ihm übrig: War er jetzt noch Xaver S. oder umgekehrt nicht sogar vielmehr er selbst? Das war ein spannender Fragenkomplex, den er später definitiv mit Aristokraton, Friederich und Matrina erörtern wollte. Unterdessen wollte er sich wenigstens sensorisch so gut abschirmen, wie er durch Introspektion und Imagination plus Unterstützung durch ein paar funktionale Augmentate eben vermochte. Er hatte also rasch seine Pforten der Wahrnehmung geschlossen, bestätigt in all seinen Vorurteilen über die Mitwelt und Vorbehalten gegen die Außenwelt; seither konzentrierte er sich und entfloh derart den sozialen Querelen und körperlichen Qualen zugleich. Dass er sich stattdessen in assoziative Reflexionen hinein auflöste und somit nur durch Isolation und Zerstreuung entkam, war ihm gleichgültig – Hauptsache, er gelangte in die gnädigen Gefilde seines Geistes.

Es gelang ihm rasch: Samtene Schwärze umfing ihn, ersetzte die verhalten noch nachglühenden, prismatisch zuckenden Stroboskoplichter des Schmerzes; angespannte Ruhe löste unruhige Anspannung ab. Er war offen und neugierig trotz seines Separatismus, sperrte sich nicht nur ein, sondern vor allem umgekehrt die anderen Menschen aus, aber er hieß gelegentlich Gäste willkommen. Der Barbar von eben hatte eine Grenze überschritten, disqualifizierte sich für die Gewährung von Gastfreundschaft. Es gab leider ungastliche Zeitgenossen. Einen bitteren Nachgeschmack hinterließ das Erlebte deshalb dann aber doch; jedoch schätzte er diesen Typen und seinesgleichen da draußen derart gering, dass er sich distanzieren konnte.

Kurz darauf kam er auch ohne allzu viel höheren Technologieeinsatz wieder zur Ruhe; Puls, Blutdruck und Tonus normalisierten sich. Die Muskeln hatte er neuerlich paralysiert – zur Sicherheit ebenso wie zum Energiesparen. So erholsam durfte es bleiben und er könnte so sogar etwas aus der besonderen Situation mitnehmen. Er würde die Gelegenheit beim Schopfe packen, wie man früher wohl gesagt hatte; die kognitive Bilderflut jedenfalls war ein positiver, wenn auch nur kurzweilig unterhaltsamer Effekt. Sein Denken war so viel bunter und lebendiger, deshalb eben auch impulsiver und chaotischer, ein unbekanntes Wunderland, das zu Abenteuern einlud. Und er war begierig, dieses wilde Bewusstsein zu erforschen, also vertiefte er sich in seinen Geist. Gedankenkaskaden begannen, reflektierten über dies und das, sedierten und fixierten ihn letztlich in narzisstischer Nabelschau über seine aktuelle Lage: Entgegen seinem Temperament und konträr zu fast allen bewusst kultivierten Gewohnheiten musste er nun handeln, sich bewähren, arbeiten, in der wirklichen Welt da draußen mit großen Schritten vorankommen. Herausgefordert wurden zugleich seine Sesshaftigkeit, der Hang zu Kontemplation und Gemütlichkeit, insgesamt zur Einkehr und Klausur im Guten, aber auch die Neigung zu Trägheit, Zerstreuung, Weltflucht im Schlechten. Insbesondere die lästig-liebe Abhängigkeit von der Hyperrealität wurde nunmehr brisant. Denn auch er war dieser Sucht erlegen wie viele andere Hyperjunks vor ihm und nur noch wenige Maschinenmenschen mit ihm. Das Gestell seiner Persönlichkeit, das gesamte Konstrukt seiner Welt war dieser Tage instabil geworden, geriet zunehmend ins Wanken, wurde ebenso fraglich wie fragil, wie es seine Identität und seine Perspektiven derzeit waren: Xaver Satorius – „einfach nur Xaver S.“, wie er sich selbst stets und durchaus nicht unaffektiert vorzustellen pflegte, befand sich seit nunmehr fünf Tagen auf einer Reise ohne Rückkehr. An deren Ziel, so hoffte er inständig, würde ein neues Zuhause auf ihn warten, ihm vielleicht sogar eine echte, neue Heimat erwachsen. Ob sein aus der Not heraus sturzgeborener Plan letztlich überhaupt aufging, und auf welche Dauer er daraufhin tragen würde, wie lange er also wenigstens ein Dach über dem Kopf, Essen und Wartung haben würde, blieb abzuwarten. Alles war jedenfalls im Umbruch, seit seinem erzwungenen Aufbruch, der Rausschmiss aus der a.u., der seinerseits ebenso lange überfällig gewesen war, wie er widerspenstig von ihm hinausgezögert und verdrängt worden war. Die Ära der Weltflucht, die Phase seines lunaren, dort zumeist hyperrealen Exils war nun also endgültig vorüber und er war auf dem Heimweg. Dieser Weg führte ihn zurück auf die Erde, geleitete ihn sogar zurück in seine alte Heimatregion auf der großen und weiten, tödlichen, engen und kleinen Heimatwelt.

Trotz aller Fährnisse und Strapazen, die ein Unternehmen vom Kaliber eines interplanetaren Umzugs, insbesondere unter den herrschenden Umständen, mit sich brachte, gab es am Ziel vielleicht viel zu gewinnen. Ihn, den beinahe abgeschlossenen m.u., den magister universalis, lockte die Gelegenheit auf private Anstellung, was dieser Tage weiterhin und weithin eine einschlägige Anwendung seiner Wissenschaft war. Aus dem verschrobenen Universalgelehrten sollte ein universell einsetzbarer Lehrer für die zahlungskräftige Kundschaft werden. Denn wer in Theorie und Praxis von Augmentologie, Psychologie und Hyperdesign derart kompetent und derart involviert war, der war effektiv in nahezu allen kognitiven Tätigkeitsbereichen versiert – alles bloß eine Frage der Technik und der Daten. Als vollaugmentierter Cyborg war er überall flexibel und instantan angelernt, besser als jeder Rechner und jeder reinmenschliche Mitbewerber, ein vollendeter Neumensch eben. Viele der wenigen überlebenden Neumenschen, die wenigsten davon fast-m.u. wie er, endeten deshalb in den Verwaltungen, den Planungsstäben, den Weiten und Untiefen des Managements und dort, wo heutzutage sonst noch komplexe Denkarbeit zu leisten war, also meist im Dunstkreis der Macht von Militär und Kapital. Bei dieser Alternativlage wurde er lieber harmloser Lehrer, vielleicht eine Art Mentor und Berater in Augmentatangelegenheiten bei irgend einem mittleren Bonzen. In dieser komischen kosmischen Situation war das die bessere Wahl, denn so bot sich ihm trotz aller Unbilden die Chance, mit Glück und Geschick in die besten Häuser Zentraleuropas zu gelangen. Und bekäme er beruflich dorthin tatsächlich Zugang, ein Fuß in die Tür, gelänge ihm also wirklich der Zutritt zu den Palästen der Reichen und Mächtigen, dann wäre er in seiner beruflichen Laufbahn mal eben so die Schritte vom brotlosen Akademiker hin zum lukrativen Selbstunternehmer gegangen.

Diesen letzten Schritt, das hehrste berufliche Ideal in ferner Zukunft, visualisierte er buchstäblich und in bunten Bildern, und zwar weit häufiger und intensiver als nötig und augmental angeraten. Denn selbstkritische, offene und notwendig auch mal negative Töne, seien sie noch so angemessen und berechtigt, waren nunmehr tabu. Diese Art der Kognition war gemäß Xayas Prioritätensetzung und Matrinas Assistenz zu Folge aktuell strikt untersagt, auch wenn Friederich, hier notgedrungen als Negativdenker, und überraschenderweise auch Gogol und hoFFmaNN da anderer Ansicht gewesen waren und Aristokraton eine Mediation zwischen beiden Lagern versucht hatte und dabei gescheitert war; Brigitte hingegen hielt sich konsequent heraus, wurde sie doch von den anderen Sechs sowieso meist nicht für voll genommen, obwohl sie stimmberechtigtes Mitglied des Konzils war. Die Entscheidungsphase war nur kurz gewesen, wurde aber ergebnisoffen durchgeführt, während der laufenden Umsetzungsphase galten jedoch andere, strikte Direktiven für Xavers Bewusstsein, Xavers Verhalten, Xavers erweiterten Selbstentwurf. Wobei all der hochtechnologische Hokuspokus im Moment dahin war, aus, vorbei; er war sich existenziell gänzlich selbst überlassen, konnte wild und dysfunktional daherdenken.

So sein, wie Gene, Sozialisation, Charakter, Leben und Zufall ihn prägten, kam selten vor und war immer wieder ein Abenteuer für ihn. Allerdings differierte von Mal zu Mal weniger, war weniger anders als zuvor. Assistierte, manipulierte und potenzierte Lebenszeit höhlte jeden Widerstand aus; sie überwanden sogar Abkunft und Herkunft, bot der Vergangenheit die Stirn und eroberten stetig ihr Reich. Der klassische Faust ließ sich dionysisch gehen, wurde zum Satyr und tanzte. Welch ungesunde und bittersüße Freiheit, welch wachsheiße Willkür der Ideen, dachte er noch knapp, bevor er, von den Tropen und Denkumwegen nur noch milde angetan und nur noch mäßig überrascht, abermals sein ursprüngliches Thema fokussieren konnte und damit in Ansätzen stringent seinen mentalen Faden wiederfand:

Über die üblichen Anforderungen an einen Bewusstseinsformer hinaus, wie er und seinen wenigen Kollegen sich gemeinhin selbst nannten, käme ihm bei seiner anvisierten Anstellung zusätzlich und verstärkt die pädagogisch-didaktische Doppelrolle eines charakterlichen Erziehers und intellektuellen Mentors zu. Das entsprechende Stellenangebot war hinreichend klar formuliert gewesen: Er würde weitreichend in seinem Bereich verantwortlich sein, organisierte und observierte Schulung und Ausbildung seiner zukünftigen Zöglinge direkt vor Ort sowie in hyperrealen Simulakren. Die Arbeit würde auf höchstem technologischen Niveau stattfinden und erforderte zudem eine intime Kenntnis der geläufigen Augmentat-Modelle, insbesondere ziviler, wie auch zum Teil militärischer Herkunft und Funktionsart. Zudem wurden Kompetenzen in Installation, Modifikation und Wartung von Hardware sowie der Instruktion und Optimierung von Soft- und Wetware gefordert. Damit würde sich gegenüber seiner Akademiezeit wahrscheinlich nicht einmal eine ernsthafte Verschlechterung seines häuslichen Umfeldes und technologischen Umgebungsniveaus ergeben, was ein enorm wichtiges Kriterium für jeden Neumenschen war; würde er doch ehrlicherweise in der Wildnis oder in Armut lebend elendig zugrunde gehen. Die deshalb ebenso notwendige wie offene Konkurrenz ums berufliche wie wirkliche Überleben war immerhin ein leichter Wettkampf für ihn, war seine Art doch eine begehrte Minderheit, eine richtiggehende Rarität auf dem solaren Arbeitsmarkt. Er war also definitiv eine humane Ressource erster Güte, zusammen mit den anderen, derzeit schätzungsweise wohl wenigen Zehntausend, somit insgesamt vom Aussterben bedrohten Alt-Neumenschen – Neuaugmentierte blieben weiterhin im Direktvergleich in allen relevanten Leistungswerten weit hinter ihren Ahnen zurück.