Fiktionale Kleinode

Trübsinnig-tristes Epochenquartett

125.
Der tolle Mensch. − Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: „ich suche Gott! Ich suche Gott!“ − Da dort gerade Viele von Denen zusammen standen, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein grosses Gelächter. Ist er denn verloren gegangen? sagte der Eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der Andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? − so schrieen und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. „Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, − ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch Nichts von dem Lärm der Todtengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch Nichts von der göttlichen Verwesung? − auch Götter verwesen! Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet, − wer wischt diess Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnfeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Grösse dieser That zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine grössere That, − und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser That willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!“ − Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, dass sie in Stücke sprang und erlosch. „Ich komme zu früh, sagte er dann, ich bin noch nicht an der Zeit. Diess ungeheure Ereigniss ist noch unterwegs und wandert, − es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Thaten brauchen Zeit, auch nachdem sie gethan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese That ist ihnen immer noch ferner, als die fernsten Gestirne, − und doch haben sie dieselbe gethan!“ − Man erzählt noch, dass der tolle Mensch des selbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur diess entgegnet: „Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?“

Friedrich Nietzsche (1844 – 1900), Fröhliche Wissenschaft, S. 86 (la gaya scienza; 1882)


Die Krähen schrei’n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnei’n –
Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat!

Nun stehst du starr,
Schaust rückwärts ach! wie lange schon!
Was bist du, Narr,
Vor Winters in die Welt – entflohn?

Die Welt – ein Tor
Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer Das verlor,
Was du verlorst, macht nirgends Halt.

Nun stehst du bleich,
Zur Winter-Wanderschaft verflucht,
Dem Rauche gleich,
Der stets nach kältern Himmeln sucht.

Flieg‘, Vogel, schnarr‘
Dein Lied im Wüsten-Vogel-Ton! –
Versteck‘ du Narr,
Dein blutend Herz in Eis und Hohn!

Die Krähen schrei’n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnei’n –
Weh dem, der keine Heimat hat!

Friedrich Nietzsche (1844 – 1900), Die Krähen schrei’n – Vereinsamt – Der Freigeist – Abschied – Heimweh – Aus der Wüste, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden – KSA. Band 11: Nachgelassene Fragmente, 1884 – 1885, S. 329 (1884 – 1894)


Auf einem Häuserblocke sitzt er breit.

Die Winde lagern schwarz um seine Stirn.

Er schaut voll Wut, wo fern in Einsamkeit

Die letzten Häuser in das Land verirrn.

Vom Abend glänzt der rote Bauch dem Baal,

Die großen Städte knieen um ihn her.

Der Kirchenglocken ungeheure Zahl

Wogt auf zu ihm aus schwarzer Türme Meer.

Wie Korybanten-Tanz dröhnt die Musik

Der Millionen durch die Straßen laut.

Der Schlote Rauch, die Wolken der Fabrik

Ziehn auf zu ihm, wie Duft von Weihrauch blaut.

Das Wetter schwelt in seinen Augenbrauen.

Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt.

Die Stürme flattern, die wie Geier schauen

Von seinem Haupthaar, das im Zorne sträubt.

Er streckt ins Dunkel seine Fleischerfaust.

Er schüttelt sie. Ein Meer von Feuer jagt

Durch eine Straße. Und der Glutqualm braust

Und frißt sie auf, bis spät der Morgen tagt.

Georg Heym (1887 – 1912), Der Gott der Stadt, in: Der ewige Tag, S. 13 (1911)


Zuerst die wirre Prophetie des nahen Todes, dann die ahnungsvolle Kühle des spürbaren Verfalls, zuletzt das ungestüme Wüten einer neuen götllichen Tyrannis – bis wohin hat sich das Rad der Zeit wohl für uns im 21. Jahrhundert weitergedreht?

Ewige Wiederkehr, dekadente Degenration oder zivilisatorischer Fortschritt sind die abstrakten, allzu reinen Denkmöglichkeiten, die sich einem heutigen Epochenrichter anböten, wollte er ein gutes Jahrhundert nach diesen beiden zugleich sensiblen wie kritischen Geistern neuerlich kulturhistorische Bilanz ziehen. Ich allerdings wage nicht, die Rolle eines solchen Richters zu spielen. Einerseits gebändigt durch intellektuelle Redlichkeit im Angesicht einer komplexen, eben konkreten und nicht abstrakten Wirklickeit, andererseits geblendet und sediert durch all die Waren, Dienstleistungen und Produkte, all die Genüsse, Zerstreuungen und Anhaftungen. Derart werden große (Sinn-)Fragen und die sie tragende grundsätzliche Neugier hart demotiviert, herb deklassiert und heftig desavouiert.

Pah – genug der vorgeschobenen, geradezu beschwörenden Zurückhaltung: Versuch gescheitert! Die Dämme bröckeln und knirschen, brechen sodann; der Gedankenstrom ergießt sich ungebremst und ungeschlacht in die Niederungen, reißt dort angelangt Allerlei mit sich, pflügt Schneisen, schlägt Breschen und erschüttert dabei Stadt wie Land gleichermaßen.

Was also ist geworden, wohin hat es sich entwickelt hier im vermeintlichen Zentrum der Welt, an der Speerspitze der kulturellen Entwicklung und wie sieht es in der Peripherie, im Speckgürtel des globalen Dorfes aus?

Globalisierung, Pluralismus und Liberalismus, dieser Triade voran sind Wachstum, Bildung, Freiheit und Wohlstand derzeit die wohlklingend Substantive, die uns der Zeitgeist anbietet, um die erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts vergessen zu machen. Das nagende Bedürfnis zu vergessen, so nachvollziehbar, so von echtem Leid getränkt oder von bloßem Weltschmerz betäubt es sein mag, sei zugestanden, dennoch bleibt fraglich, was in dessen historischer Folge noch so über uns kam, uns unterwanderte und überflügelte. Was war gewesen, was ist geworden, nachdem sich die ungeheurlichsten Abgründe der tiefsten Höllen, schlimmer als sie fiktiv bis faktisch von Nietzsche bis Heym vorgestellt, ja vorgezeichnet worden waren, zweifach aufgetan und wieder versiegelt hatten? Welche kuriosen Ismen brachen sich wirklich Bahn, welche Götter machte sich die Menschen, die Völker der Erde Untertan, was beeinflusst, bestimmt, beherrscht das zeitgenössische Denken? Ist es einfach, zweifach oder vielfach? Gründen sich Entwicklung und Dynamik in einem dialektisch-strukturalen Schicksal oder folgen sie einer bewussten, gar kontrollierten Entscheidung? Wenn gelenkt, wie wird die Wahl getroffen, in bürgerlicher Freiheit und getragen von politscher Verantwortung oder regiert der Eigensinn und niedere Zwecke? Wie divers sind die regionalen, nationalen und womöglich globlen Spielarten der neuen Weltordnung(en)?

Fragen über Fragen sprudeln munter hervor aus dem geborstenen, mentalen Mauerwerk und unterspülen fröhlich die Fundamente des Selbstverständlichen, plätschern durch die Straßen der Städte und in dringen in die Keller der Menschen.

Für die angemessene, also sachliche und umfassende, Bentwortung der angedeuteten Fragekomplexe sollte mutmaßlich ein Großteil des Arsenals der Wissenschaften in Stellung gebracht werden, müsste sicherlich eine stattliche Phalanx an diversen Disziplinen mobilisiert werden. Oder aber ich eifere den verehrten lyrisch-literarischen Vorläufern nach, verzichte also auf solcherlei hehren Anspruch, entsage einfach und entledige mich solcherart bequem allen Ballasts von Ordnung und Methode, Wissen und Wahrheit. Dieser Entschluss klingt einladend, ja verlockend, transformiert gleichsam die Kraft der intellektuellen Wissbegierde in ästhetische Gewalt, verdichtet und verschiebt die Energie, entspannt den Geist und befreit das Bewusstsein.

Auf, auf also – mitten hinein in ein kreuz- und querreimendes Quartett, getragen von lyrischem Leichtsinn heran an schweres Material: Die Vermessung von Gestern und Heute.

Mit einer Verbeugung vor den Dichtern aller Zeiten und ihren Musen, Euer Satorius


Mars in globaler Totale, schlachtet der Generationen in irdenem Feld.

Prinzen gemeuchelt, geschleudert der Blitz nach Ost wie nach West,

Erschüttert der Welten Kreis, geopfert – zerrüttet, selbst der größte Held.

Papier und Licht, von weiß bis grell, besiegeln blutig den trostlosen Rest.

Brüder, frei und gleich, mit Rosen herzlich vereint, gebunden montan,

Mitsam einigen Rechten, ebenso frei, neu erzogen in goldenen Jahr’n.

Der kalten Götter zwei, Zwillingszwist, drei oder fünf, stehen zur Wahl,   

Dialektisch verschränkt – Prometheus und Mammon Gaia zur Qual.

Vereint der Welt Völker von der Blumen Reigen und der Bürger Marsch.

Hinaus ins Blau, in die Schwärze hinein, Grau-Weiss statt Grün-Braun,

Trikont übt Terror, Eins/Null besiegt den Dezimal, nieder metallener Zaun.

Auf zur Arbeit, hin zum Projekt, Fülle dank Mangel der Pole unartig harsch.

Terror die Zweite, plural Wissen und Welt, untreu gebrochen die Sprachen,

Derweil politischer Götter Zorn die Herzen der Hetzer von Neuem beseelt.

In zyklischer Krisis deprimiert, wachsen wir stetig, kehrt wieder die alte Angst,

bar jeder Utopie, des Eigentums voll, hektisch gefläzt in Karriere und Couch.


Oder, um es in den ebenso kurzen wie inspirierenden Worten einer geschätzeten Praktikantin aus den Reihen der Metatext-Redaktion auszudrücken:

Pummelige Puppen pupsen punktuell pures Pudding-Pulver.

Bhagavad Gita feat. 2016 – Mit vorsätzlichem Edelmut hinein in unausweichliche Exzesse

2. Gesang – Über die Erkenntnis

[…]

Wer jede sinnliche Begier,

O Sohn der Pritha, von sich weist,

In sich und durch sich selbst beglückt,

Den, Tapferer, nennt man fest im Geist.

Wen nie ein Leid erschüttern kann,

Kein Freudentaumel überwand,

Wer frei von Gier, von Furcht und Zorn

Ein „Schweigender“ wird er genannt.

Wer nicht frohlockt, nicht mürrisch wird,

Ob Glück, ob Unglück ihn befällt.

In allem frei von Leidenschaft,

Der heißt, o Freund, ein Geistesheld.

Die Schildkröte, berührt man sie,

Zieht alle ihre Glieder ein,

So halte von der Sinnenwelt,

Wer standhaft ist, die Sinne rein!

[…]

 

5. Gesang – Über die Entsagung

[…]

Entsagung zwar und Tätigkeit,

Sie führen beide wohl zum Heil.

Doch wird vor dem Entsagenden

Dem Tätigen der Preis zuteil,

Wer nicht begehrt und wer nicht hasst,

Übt wahrhaft die Enthaltsamkeit,

Entrückt jedwedem Gegensatz

Er von der Bindung sich befreit.

„Vernunft“ (Sankhya), und „Andacht“ (Yoga),

sondern sich.

Kein Weiser spricht so, nur ein Kind,

Wenn eins von beidem man erlangt,

Man aller beiden Frucht gewinnt.

Gleich stehen, wer „Andacht“ sich

Und wer sich der „Vernunft“ befleißt,

Wer nur ein Ziel in beiden sieht,

O Freund, der sieht mit hellem Geist.

[…]

Dem äußern Sinneseindruck fern,

Mit starrem, unverwandtem Blick,

Den Atem durch der Nase Spalt

Bald vorwärtsstoßend, bald zurück,

Wer Sinne, „Herz“, „Vernunft“ beherrscht,

Von Gier, Furcht, Zorn sich hat befreit

Und einzig die Erlösung sucht,

Der ist erlöst für alle Zeit.

[…]

 

6. Gesang – Über die Meditation

[…]

So sitzt er in Ergebenheit.

Wer so im Geist die Andacht übt

Beherrschten Denkens, frei von Gier,

Der geht zum Frieden, zum Verwehn,

Das wurzelt ganz und gar in mir.

Nicht ist ein Yogi, wer zu viel,

Noch auch wer nichts isst, Ardschuna,

Noch wer zu viel des Schlafes pflegt,

Noch wer stets wacht, o Pandava.

Wer maßvoll speist und sich erholt,

Wer maßvoll handelt jederzeit,

Wer maßvoll schläft und maßvoll wacht,

Bei dem tilgt Yoga jedes Leid.

Wer einen wohlbezähmten Sinn

Im Innern tief befestigt hat,

Von keinerlei Begier befleckt,

Der hat Andacht sich genaht.

„Das Licht am stillen Platz,

Das nicht des Windes Hauch bewegt“,

Ein Gleichnis für den Yogi ist’s,

der steten Sinns der Andacht pflegt.

[…]

 

18. Gesang – Über die Befreiung

[…]

Denn der Verzicht ist dreierlei.

Auf Schenken leiste nicht Verzicht,

Auf Buße noch auf Opferung,

Denn Schenken, Buße und Opfer sind

Der Einsichtsvollen Läuterung.

Doch ohne Hang stets übe sie

Und ohne Rücksicht auf die Furcht,

Das ist der ganz entschied’ne Rat,

O Printhasohn, den du gesucht.

Entsagung vorgeschrieb’nen Werks

In keinem Fall sich gebührt;

Wer aus Verblendung dieses tut,

Der wird durch „Dunkelheit“ verführt.

Wer unbequemes Werk nicht tut,

Weil es dem Leib Beschwerde schafft,

Gewinnt nicht des Verzichtes Frucht,

Denn ihn beherrscht die „Leidenschaft“.

Wer vorgeschrieb’nes Werk vollzieht

Ganz ohne Hang und nur aus Pflicht,

Der übt, weil er nicht Lohn erstrebt,

Den „wesenhaften“ Werk-Verzicht.

Der weise „wesenhafte“ Mensch

Auch unerwünschtes Werk nicht scheut

Und frei von Zweifel, frei von Hang,

Am Angenehmen sich nicht freut.

Kein Sterblicher vermag jemals

Das Handeln aufzugeben ganz,

Doch wer aufgibt den Wunsch nach Lohn,

Der strahlt in des Verzichtes Glanz.

[…]

 

Diverse Brahmanen, Krishna und Co., Robert Boxberger (Übers.) und Helmuth von Glasenapp (Hrsg.) (um das 0, +- 300 Jahre), Bhagavad Gita (Das Lied der Gottheit), in: Mahabharata


Das nenne ich mal große Vorsätze für das neue Jahr, die auf spirituellem Sprachniveau, mit prominetem, historisch tiefem Colorit wunderschön gebunden daherkommen. Vom Ursprung zweier Weltreligionen her rühren die Worte von Krishnas Avatar, der Aruna in höchster Not beisteht und ihn weise bis dogmenbildend belehrt und unterweist.

An dieser Poetik und rhetorischen Gewandheit sollte sich der durschnittliche Bibelautor ein Vorbild nehmen und bei den indischen Urmeistern der Weisheitslehre und Sprachbildung Unterweisung suchen. Ex oriente lux mal wieder und wie immer, aber das ist nur meine bescheiden kommentierende Spöttermeinung: Zurückhaltung und Verzicht, Konzentration und Achtsamkeit, dennoch Fortschritt und Wachstum, diese Formel führt in den westlich-östlichen Divan hinter Postmoderne, Neorealismus und Populismus. Von schamanistischem Ethos in seiner ethnograpischen Breite und historischen Tiefe möchte ich garnicht erst anfangen zu fabulieren.

Was bleibt noch übrig von der technisch-wissenschaftlich-industriellen Modernität westlicher Provenienz nach einer tugendhaften Bereinigung alá Yoga? Wieviel digital naitiv darf der urbane Informationskrieger sein, will er noch yoga genug sein für Krischnas hehre Ideale?

Ein wenig mehr Bewusstsein für Grenzen und Folgen der eigenen Gewohnheiten sind sicher nie schädlich. Wenn dann noch ein Quantum lebenslangen Lernens stattfindet, das nicht einzig durch entfremdete Motive angetrieben wird, begründet sich eine moderne Form von minimalem Moralismus. Er würde sich anschließend an einen Moment der Bekenntnis, motiviert durch die Lust am und auf den nächsten Trippelschritt entlang des acht- oder – zeitgemäß und plural besser formuliert – n-fachen Weges mit diversem Ziel: Selbstvervollkommung, Perfektion, Erwachen, Alchemie des Selbst und dergleichen mehr oder in den nihilistisch anmutenden Worten der Erleuchteten aus dem ferneren Osten im Verwehn, durch Verlöschen – Nirvana lockt.

Bis dahin bleibt noch viel Zeit, für Genüsse, Lüste, Freuden und Begehren, all die schönen, angeblich so leidvollen Anhaftungen und Bindungen des Lebens. Zwischen den besinnlichen Tagen, auf deren Ende wir allesamt nun zusteuern, findet es statt das wirkliche Leben, der Alltag, der sie herausfordert, die ach so schönen und allzu guten Vorsätze, wie groß oder klein, nötig oder nutzlos, ernsthaft oder vorgespielt sie auch sein mögen.

Welchen Pfad ihr Euch für das kommende Jahr auch immer vorgezeichnet haben mögt, ich wünsche Euch, dass ihr ihn nicht gänzlich aus den Augen verliert, wenn ihr die genauso wünschenwerten, weil existenziell erfrischenden Ausflüge fern des Weges unternehmt.

Möge es edel und exzessiv gleichermaßen werden, auf ein existenziell erquickendes 2016, Euer Satorius

 

Er und sie schon wieder: Hiob und die Religion

Einladung und Warnung zugleich, soll dieses kleine Intro zum Roman Hiob von Joseph Roth (Direktlink) sein. Eine doppelte Warnung möchte ich vorab aussprechen, eine davon durch und eine zweite über den primären Text. Dieser warnt erstens insgesamt hochsensibel und nachfüllbar vor den Tücken einer religiöser Existenz in den Wirren von Krieg, Flucht und Verfall. Zweitens gilt zu bedenken, dass mit jedem der vier Text-Filets die Gefahr steigt, sich den Spannungsbogen der sehr lesenswerten Erzählung gründlich zu verderben. Vom Konsum weiterer Textpassagen nach dem ersten Happen Text-Slow-Food rate ich also all jenen ab, die dazu neigen ganze Bücher vollständig zu lesen; der Rest bekommt den Roman über einen einfachen Mann in vier resümierenden, äußerst dichten Passagen zum Direktverzehr dargeboten.

Tagesaktuelle, vielleicht gar zeitlose Themen umkreist die Familiengeschichte der Singers: Verlust der Heimat als äußere Migration, Verlust von Glauben und Identität als innere Migration, der Zerfall der Familie in einer komplexen Welt und nicht zuletzt eine tiefe Einsicht in die jüdische Lebenswelt durch die Facette des orthodoxen Ostjudentums. Ob Mendel Singer aus Wolhynien oder die Tausenden Hilfesuchenden vor den Toren Europas, wichtig ist das Gegenüber und dessen Gastfreundschaft.

All denen, die wie die Made im Speck sitzen und dabei um ein klein bisschen von ihren Wohlstandsspeck fürchten, während sie andererseits Geld für Diätprodukte, Wellness und sporadische Fitnessstudiobesuch verfeuern, sei klar gesagt: ihr stinkt! Ein jüdischer Existenz-, Familien,- und Migrationsroman empfiehlt sich selbstredend mit den folgenden Zeilen, besonders auch denen, die keinen Blick für gloabale wie historische Relationen ihr eigen nennen – dürfen, können, wollen, brauchen, müssen, mögen.

Schonenden bis schonungslosen Lesegenuss wünscht, Euer Satorius


 

Er glaubte seinen Kindern aufs Wort, daß Amerika das Land Gottes war, New York die Stadt der Wunder und Englisch die schönste Sprache. Die Amerikaner waren gesund, die Amerikanerinnen schön, der Sport wichtig, die Zeit kostbar, die Armut ein Laster, der Reichtum ein Verdienst, die Tugend der halbe Erfolg, der Glaube an sich selbst ein ganzer, der Tanz hygienisch, Rollschuhlaufen eine Pflicht, Wohltätigkeit eine Kapitalanlage, Anarchismus ein Verbrechen, Streikende die Feinde der Menschheit, Aufwiegler Verbündete des Teufels, moderne Maschinen Segen des Himmels, Edison das größte Genie. Bald werden die Menschen fliegen wie Vögel, schwimmen wie Fische, die Zukunft sehn wie Propheten, im ewigen Frieden leben und in vollkommener Eintracht bis zu den Sternen Wolkenkratzer bauen. Die Welt wird sehr schön sein, dachte Mendel, glücklich mein Enkel! Er wird alles erleben! Dennoch mischte sich in seine Bewunderung für die Zukunft ein Heimweh nach Rußland, und es beruhigte ihn, zu wissen, daß er noch vor den Triumphen der Lebendigen ein Toter sein würde. Er wußte nicht, warum. Es beruhigte ihn. Er war bereits zu alt für das Neue und zu schwach für Triumphe. Er hatte nur eine Hoffnung noch: Menuchim zu sehn.

S. 82

 

Sieben runde Tage saß Mendel Singer auf einem Schemel neben dem Kleiderschrank und schaute auf das Fenster, an dessen Scheibe zum Zeichen der Trauer ein weißes Stückchen Leinwand hing und in dem Tag und Nacht eine der beiden blauen Lampen brannte. Sieben runde Tage rollten nacheinander ab, wie große, schwarze, langsame Reifen, ohne Anfang und ohne Ende, rund wie die Trauer. Der Reihe nach kamen die Nachbarn: Menkes, Skowronnek, Rottenberg und Groschel, brachten harte Eier und Eierbeugel für Mendel Singer, runde Speisen, ohne Anfang und ohne Ende, rund wie die sieben Tage der Trauer. Mendel sprach wenig mit seinen Besuchern. Er bemerkte kaum, daß sie kamen und gingen. Tag und Nacht stand seine Tür offen, mit zurückgeschobenem, zwecklosem Riegel. Wer kommen wollte, kam, wer gehen wollte, ging. Der und jener versuchte, ein Gespräch anzufangen. Aber Mendel Singer wich ihm aus. Er sprach, während die andern lebendige Dinge erzählten, mit seiner toten Frau. »Du hast es gut, Deborah!« sagte er zu ihr. »Es ist nur schade, daß du keinen Sohn hinterlassen hast, ich selbst muß das Totengebet sagen, ich werde aber bald sterben, und niemand wird uns beweinen. Wie zwei kleine Stäubchen wurden wir verweht. Wie zwei kleine Fünkchen sind wir erloschen. Ich habe Kinder gezeugt, dein Schoß hat sie geboren, der Tod hat sie genommen. Voller Not und ohne Sinn war dein Leben. In jungen Jahren habe ich dein Fleisch genossen, in spätern Jahren habe ich es verschmäht. Vielleicht war das unsere Sünde. Weil nicht die Wärme der Liebe in uns war, sondern zwischen uns der Frost der Gewohnheit, starb alles rings um uns, verkümmerte alles und wurde verdorben. Du hast es gut, Deborah. Der Herr hat Mitleid mit dir gehabt. Du bist eine Tote und begraben. Mit mir hat Er kein Mitleid. Denn ich bin ein Toter und lebe. Er ist der Herr, Er weiß, was Er tut. Wenn du kannst, bete für mich, daß man mich auslösche aus dem Buch der Lebendigen. Sieh, Deborah, die Nachbarn kommen zu mir, um mich zu trösten. Aber obwohl es viele sind und sie alle ihre Köpfe anstrengen, finden sie doch keinen Trost für meine Lage. Noch schlägt mein Herz, noch schauen meine Augen, noch bewegen sich meine Glieder, noch gehen meine Füße. Ich esse und trinke, bete und atme. Aber mein Blut stockt, meine Hände sind welk, mein Herz ist leer. Ich bin nicht Mendel Singer mehr, ich bin der Rest von Mendel Singer. Amerika hat uns getötet. Amerika ist ein Vaterland, aber ein tödliches Vaterland. Was bei uns Tag war, ist hier Nacht. Was bei uns Leben war, ist hier Tod. Der Sohn, der bei uns Schemarjah hieß, hat hier Sam geheißen.In Amerika bist
du begraben, Deborah, auch mich, Mendel Singer, wird man in Amerika begraben.«

S. 91f.

 

Er saß in einem breiten, ledernen Lehnstuhl, die Mütze aus schwarzem Seidenrips hatte er über die Knie gestülpt, sein Regenschirm lehnte, ein treuer Gefährte, neben dem Sessel. Mendel blickte abwechselnd auf die Menschen, die gläserne Tür, die Zeitschriften, die Verrückten, die draußen immer noch vorbeizogen – man führte sie zum Bad –, und auf die goldenen Blumen in den Vasen. Es waren gelbe Schlüsselblumen, Mendel erinnerte sich, daß er sie daheim auf den grünen Wiesen oft gesehen hatte. Die Blumen kamen aus der Heimat. Er gedachte ihrer gern. Diese Wiesen hatte es dort gegeben und diese Blumen! Der Friede war dort heimisch gewesen, die Jugend war dort heimisch gewesen und die vertraute Armut. Im Sommer war der Himmel ganz blau gewesen, die Sonne ganz heiß, das Getreide ganz gelb, die Fliegen hatten grün geschillert und warme Liedchen gesummt, und hoch unter den blauen Himmeln hatten die Lerchen getrillert, ohne Aufhören. Mendel Singer vergaß, während er die Schlüsselblumen ansah, daß Deborah gestorben, Sam gefallen, Mirjam verrückt und Jonas verschollen war. Es war, als hätte er soeben erst die Heimat verloren und in ihr Menuchim, den treuesten aller Toten, den weitesten aller Toten, den nächsten aller Toten. Wären wir dort geblieben, dachte Mendel, gar nichts wäre geschehen! Jonas hat recht gehabt, Jonas, das dümmste meiner Kinder! Die Pferde hat er geliebt, den Schnaps hat er geliebt, die Mädchen hat er geliebt, jetzt ist er verschollen! Jonas, ich werde dich nie mehr wiedersehen, ich werde dir nicht sagen können, daß du recht hattest, ein Kosak zu werden. »Was geht ihr nur immer in der Welt herum ?« hatte Sameschkin gesagt. »Der Teufel schickt euch!« Er war ein Bauer, Sameschkin, ein kluger Bauer. Mendel hatte nicht fahren wollen. Deborah, Mirjam, Schemarjah – sie hatten fahren wollen, in der Welt herumfahren. Man hätte bleiben sollen, die Pferde lieben, Schnaps trinken, in den Wiesen schlafen, Mirjam mit Kosaken gehn lassen und Menuchim lieben.

S. 93f.

 

»Ich will mehr verbrennen als nur ein Haus und mehr als einen Menschen. Ihr werdet staunen, wenn ich euch sage, was ich wirklich zu verbrennen im Sinn hatte. Ihr werdet staunen und sagen: Auch Mendel ist verrückt, wie seine Tochter. Aber ich versichere euch: Ich bin nicht verrückt. Ich war verrückt. Mehr als sechzig Jahre war ich verrückt, heute bin ich es nicht.«
»Also sag uns, was du verbrennen willst!«
»Gott will ich verbrennen.«
Allen vier Zuhörern entrang sich gleichzeitig ein Schrei. Sie waren nicht alle fromm und gottesfürchtig, wie Mendel immer gewesen war. Alle vier lebten schon lange genug in Amerika, sie arbeiteten am Sabbat, ihr Sinn stand nach Geld, und der Staub der Welt lag schon dicht, hoch und grau auf ihrem alten Glauben. Viele Bräuche hatten sie vergessen, gegen manche Gesetze hatten sie verstoßen, mit ihren Köpfen und Gliedern hatten sie gesündigt. Aber Gott wohnte noch in ihren Herzen. Und als Mendel Gott lästerte, war es ihnen, als hätte er mit scharfen Fingern an ihre nackten Herzen gegriffen.

S. 97f.

Joseph Roth (1894 – 1939), Hiob. Roman eines einfachen Mannes (1930)

1 Text, 3 Bilder, 18. Jahrhunderte

Warum ich als Agnostiker wohl so häufig dann doch auf und an biblischen Motiven sowie Texten hängenbleibe? Manchmal glaube ich fast, von diesen verfolgt zu werden, frei nach dem Grundsatz: Wenn du nicht glaubst, dann überfallen wir dich so lange, bis du in deiner Skepsis ermüdest und uns endlich metaphysisch anerkennst.

Dann aber, nach kurzem Innehalten und sanfter Selbstkritik, komme ich zu dem einfachen Schluss, dass es wohl vor allem meine Affinität zu Kultur und Literatur ist, die mich immer wieder auf die mächtigsten Inspirationsquellen Europas zurückverweist. In leicht variierten Sentenzen ausgedrückt:  keine Progression ohne Tradition, keine Zukunft ohne Vergangenheit, keine Erwartung ohne Erinnerung. Außerdem artikulieren sich in mythischen und mystischen Texten immer auch Antworten auf grundlegende Fragen, und was, wenn nicht eine Faszination für die großen und kleinen Fragen der Existenz, ist denn eine zeitlos-allgemeine Qualität von Philosophie?

Nicht zufällig entwickelten sich zwei epochal prägende Stile des (europäischen) Philosophierens in kritischer Auseinandersetzung mit eben solchen, Text gewordenen, religiösen Ideenwelten. Zuerst emanzipierte sich die griechische Philosophie von ihrem epischen Doppel Illias/Odyssee und dem darin konservierten polytheistischen Paradigma und ebnete damit der ersten Blüte der Wissenschaften den Boden; daraufhin – so ein kleines Adverb verpackt hier mal eben fast 2000 Jahre Geschichte – stimulierte die scholastische Theologie des Hochmittelalters eine Loslösung des rationalistischen Denkens von unserer vermeintlich monotheistischen Bibel und verhalf dadurch den Wissenschaften in der Renaissance zur Wiedergeburt und ihrem zweiten, seither ungebrochenen Höhenflug. Wenn ich hierbei die spannende Dialektik innerhalb des zweifachen Weges vom Glauben zur Vernunft unterschlage, so möge man mir das nachsehen. Wollte ich die mannigfachen Oppositionen und Synthesen respektieren, wie sie sich in Denkergegensätzen von Heraklit/Parmenides über Aristoteles/Platon bis später Thomas v. A./Bonaventura zeigten, würde dieser Text hier am Ende kein spielerischer Kommentar, sondern ein ernsthaft ermüdender Traktat, wenn nicht mehr als das.

So grobschlächtig (ver-)kläre ich mir also meine anfängliche Irritation und kann nun wieder beruhigt in religiösen Texten schwelgen, zumal ich mir hier mit einer Passage der Offenbarung des Johannes einen literarisch sehr reizvollen, kryptisch-prophetischen und derzeit voll im Trend liegenden Text vorgenommen habe. Eine dekadente Lust am Weltuntergang zu unterstellen, ist vielleicht zu gewagt, aber eine zeitgenössische Tendenz zu Dystopie und Apokalypse ist spätestens seit dem Jahr 2000 nicht mehr zu leugnen. Ich verzichte hier bewusst auf einen objektiven Blickversuch hinsichtlich der tatsächlichen historischen, ökologischen und politischen Dimension des Untergangspathos und beschränke mich bewusst auf die subjektiv-ästhetische Seite dieses Phänomens. Womöglich unterliegen (nicht nur) solche Vorstellungen einer Art ideengeschichtlicher Konjunktur, womit Derpession und Boom in diesem Kontext einen wortwitzigen Doppelsinn bekommen.

Tröstlich bei all dem biblischen Katastrophismus, der bisher nur angedeutet wurde und gleich Schlag auf Schlag folgen wird, bleibt die exegetische Tatsache, dass die läppischen vier Reiterlein als bloßer Auftakt für spätere, wirklich erschütternde Stufen des Weltuntergangs dienen. Also immer die Ruhe bewahren, wenn Krieg, Hunger, Seuch und Tod umgehen, es könnte weit schlimmer werden. Bevor aber dieser mäßig gebändigte und kaum noch zu strukturierende Gedankensturm restlos chaotisch wird, empfehle ich mich und zugleich einen Blick auf einen Text und drei Bilder, die zusammen schlappe 18. Jahrhunderte überbrücken.

Mit adventlich-apokalyptischen Grüße, Euer Satorius

P.S.: Die Metatext-Redaktion wird im Laufe der nächsten Wochen hoffentlich ihren Dienst wieder aufnehmen, nachdem sich die reaktionellen Mitglieder von ihrer katastrophalen Reise erholt haben werden. Ihre physische und psychische Gesundheit ist derzeit schon nahezu wiederhergestellt und wird sich dann im saftig verspäteten Beitrag zum ersten Jahresjubiläum von Quanzland (15.10.2015) zu bewähren haben.


 

Und ich sah, daß das Lamm der Siegel eines auftat; und hörte der vier Tiere eines sagen wie mit einer Donnerstimme: Komm! Und ich sah, und siehe, ein weißes Pferd. Und der daraufsaß, hatte einen Bogen; und ihm ward gegeben eine Krone, und er zog aus sieghaft, und daß er siegte.
Und da es das andere Siegel auftat, hörte ich das andere Tier sagen: Komm! Und es ging heraus ein anderes Pferd, das war rot. Und dem, der daraufsaß, ward gegeben, den Frieden zu nehmen von der Erde und daß sie sich untereinander erwürgten; und ward ihm ein großes Schwert gegeben.
Und da es das dritte Siegel auftat, hörte ich das dritte Tier sagen: Komm! Und ich sah, und siehe, ein schwarzes Pferd. Und der daraufsaß, hatte eine Waage in seiner Hand. Und ich hörte eine Stimme unter den vier Tieren sagen: Ein Maß Weizen um einen Groschen und drei Maß Gerste um einen Groschen; und dem Öl und Wein tu kein Leid!
Und da es das vierte Siegel auftat, hörte ich die Stimme des vierten Tiers sagen: Komm! Und ich sah, und siehe, ein fahles Pferd. Und der daraufsaß, des Name hieß Tod, und die Hölle folgte ihm nach. Und ihnen ward Macht gegeben, zu töten das vierte Teil auf der Erde mit dem Schwert und Hunger und mit dem Tod und durch die Tiere auf Erden.

 

Johannes von Patmos, Martin Luther (Hrsg.) et al. (Nicht zuverlässig datierbar), Die Offenbarung des Johannes. In: Die Bibel – Das Neue Testament, 6,1 – 6,8 (68 – 96 n. Chr.).


Peter von Cornelius (1783 - 1876), Die Apokalyptischen Reiter (1841 - 1867)Peter von Cornelius (1783 – 1876), Die Apokalyptischen Reiter (1841 – 1867)


Viktor Michajlovič Vasnecov (1848 - 1926), Die apokalyptischen Reiter (1887)Viktor Michajlovič Vasnecov (1848 – 1926), Die apokalyptischen Reiter (1887)


Albrecht Dürer (1471 - 1528), Die vier apokalyptischen Reiter (1498; Holzschnitt)

Albrecht Dürer (1471 – 1528), Die vier apokalyptischen Reiter (1498; Holzschnitt)

Milde Blasphemie von, mit und über Hiob

Dass Lesen keine nüchterne, einseitige Aufnahme von Informationen vom konkreten Medium ins aktuelle Bewusstsein ist, wirkte so abstrakt wie es trivial ist. Als Zugang zu diesem Phänomen braucht es keine Literaturtheorie, keine Sprachphilosophie oder sonst einen (inter-)diziplinären Zugang aus den Gefilden der Wissenschaft. Es ist viel einschlägiger und anschaulicher ein und dasselbe Buch – ja, materielles, physisch hartes Buch; ich vermeide hier säuberlich eine Konotation von Text und selbst – in verschiedenen Lebensphasen neu zu lesen. Das Feld zwischen Text und Leser wird ein gänzlich verschiedenes sein, das Leseerlebnis dementsprechend ein neues trotz gleichem Satz auf gleicher Seite in gleicher Zeile.

Wenn dieses Buch (oder E-Book, aber dieses gedankliche Faß öffne ich jetzt nicht auch noch), wie in meinem heutigen Fall, sogar noch die Anthologie der Anthologien ist, und dessen kursorische Lektüre in nahezu jeder Alterstufe mit gleichzeiitg größtmöglichen Lücken stattgefunden hat, dann wird die Interaktivität von Text und Bewusstsein augenfällig, buchstäblich spürbar. Meine Bibelgeschichte ist schnell abgerissen: Zuerst erfahren als Kind in Gestalt meiner Oma im Alltag und besonders bei allabendlicher (Gute-)Nacht-Bibel-Lektüre, gestütz durch wöchentliche Besuche von Kindergottestdienst und Festtagpredigten, dann nörgelnd erduldet als halbstraker, geldgeiler Konfirmand, wiederentdeckt als angehender Philosoph und neugieriger Sucher sowie zuletzt gelesen als Adept in und Liebhaber von literarischer Finesse.

Ein Filetstück der fantastischen Sprachmagie aus dem Hause des Herrn und dem Griffel eines seiner diversen Herausgeber – Martin „The Thesenklopper“ Luther – sprang mir bei meiner Relektüre von Hiob ins Bewusstsein und gereicht nur deshalb nun Euch als Text-Fast-Food bald hoffentlich zur geistigen Freude. Während das Buch Hiob insgesamt existenziell gewichtige Themen auf eine facettenreiche und komplexe Art hin- und herwälzt, und nicht zuletzt deshalb seit Generationen eine unerschöpflliche Inspirationsquelle bildet, gelingt es der zitierten Stelle im besonderen, ein detailreiches, starkes Bild von etwas zu entwerfen. Man könnte es beinahe als Gebrauchsanweisung für bildende Kunst lesen und sogleich gestaltend die Umsetzung des beschriebenen Etwas im Medium der Wahl wagen. Am Ende käme dannach wohl vor allem eines zu Tage, dämonische Bruchstücke aus dem individuellen Unterbewussten des Künstlers aka Lesers alias des Menschen für sich.

Wie meine kindlindlichen Bibelbilder sich anfühlten, vermag ich im Detail zwar nicht mehr zu sagen, aber sie waren ganz sicher anders – ehrfurchtgebietender, glaubhafter, kraftvoller; öder, uncooler und fader; faszinierder, wahrheitsfähig, und begehrlicher -, aber ein hatten sie gemeinsam, sie lasen in einer anderen Zeit, einer anderen Welt mit einem anderen Bewusstsein den gleichen Text.

Nunmehr ist wieder alles anders, frage ich mich wieder andere Fragen: Was lauert im Abgrund zwischen den Zeilen, im Schweigen zwischen den Worten, ihren Silben, im Weiß zwischen den Buchstaben, zuletzt in all dem Nichts um das Etwas herum? Pragmatischer und wieder positiv gewendet, was also kommt zur Darstellung, besser zum Ausdruck?

Hier schließt sich der Kreis des Textes, denn nicht alleine der Text, sein Inhalt, seine sog. Inten(s/t)ion bestimmen des Ereignis unseres Lesens; auch nicht alleine die Person des Lesers, seine Erfahrungen, Gewohnheiten, Prägungen. Analytisch schlicht erschaffen beide Quellen von Bedeutung diese zusammen, im Wechselspiel mit ungleichen sich verschiebenden Anteilen und Aspekten; oder mit ein Prise Poesie, Subjekt und Objekt schwingen miteinander, musizieren im Duett, durchsetzt von Zufällen und durchwaltet von Willen. Was am Ende hinten rauskommt, bleibt offen, ist notwendig singulär, wie sovieles Entscheidendes im Leben. Gerechterweise erlebt also jeder Leser, geschieht in jeder Situation für sich, je nach Alterstufe, Vorliebe, Geschichte und vor allem nach kognitiv-mentaler, metaphysischer Tagesform, was beim Lesen seines Textes, wie beispielsweise eine Bibelstelle, eben so alles Wunderliches geschieht.

Zur Auswahl für die Grob-Interpretation des folgenden Exempels an Textsingularität stehen die unterschiedlichste Intentionen und Motive – mein finaler Gedankensturm brandet unwiderstehlich auf, abstrahiert zunehmend:

ein psychedelisch-fürchterlicher Löwenhybrid, Behemoth oder Leviathan, die Wildheit und das Ungezähmte, böse Natur, Offenbarung, Gottes allmächtiges Wesen, geheimes Wissen der Menschheit, der Alten, ewige Wahrheit, Kreativität und Rhetorik von Gläubigen und Heuchlern, Stille-Post-Effekt über die Grenzen von Jahrtausenden, Sprachen und Kulturkreisen, oder die heilige Lust des Menschen, sich narzissitisch an seiner eigenen Fantasie zu berauschen – und so weiter und sofort bis ans Ende allen Bewusstseins, aller Raumzeit, allen Textes…

In biblischer Umnachtung und übersatt an altbackenem Text, Euer Satorius


 

Ich will nicht schweigen von seinen Gliedern, wie groß, wie mächtig und wohlgeschaffen er ist. Wer kann ihm den Panzer ausziehen, und wer darf es wagen, ihm zwischen die Zähne zu greifen? Wer kann die Tore seines Rachens auftun? Um seine Zähne herum herrscht Schrecken. Stolz stehen sie wie Reihen von Schilden, geschlossen und eng aneinandergefügt. Einer reiht sich an den andern, daß nicht ein Lufthauch hindurchgeht. Es haftet einer am andern, sie schließen sich zusammen und lassen sich nicht trennen. Sein Niesen läßt Licht aufleuchten; seine Augen sind wie die Wimpern der Morgenröte. Aus seinem Rachen fahren Fackeln, und feurige Funken schießen heraus. Aus seinen Nüstern fährt Rauch wie von einem siedenden Kessel und Binsenfeuer. Sein Odem ist wie lichte Lohe, und aus seinem Rachen schlagen Flammen. Auf seinem Nacken wohnt die Stärke, und vor ihm her tanzt die Angst. Die Wampen seines Fleisches haften an ihm, fest angegossen, ohne sich zu bewegen. Sein Herz ist so hart wie ein Stein und so fest wie der untere Mühlstein. Wenn er sich erhebt, so entsetzen sich die Starken, und vor Schrecken wissen sie nicht aus noch ein. Trifft man ihn mit dem Schwert, so richtet es nichts aus, auch nicht Spieß, Geschoß und Speer. Er achtet Eisen wie Stroh und Erz wie faules Holz. Kein Pfeil wird ihn verjagen; die Schleudersteine sind ihm wie Spreu. Die Keule achtet er wie einen Strohhalm; er spottet der sausenden Lanze. Unter seinem Bauch sind scharfe Spitzen; er fährt wie ein Dreschschlitten über den Schlamm. Er macht, daß die Tiefe brodelt wie ein Topf, und rührt das Meer um, wie man Salbe mischt. Er läßt hinter sich eine leuchtende Bahn; man denkt, die Flut sei Silberhaar. Auf Erden ist nicht seinesgleichen; er ist ein Geschöpf ohne Furcht. Er sieht allem ins Auge, was hoch ist; er ist König über alle stolzen Tiere.

 

Moses/Salomo, Martin Luther (Hrsg.) et al. (Autorenschaft kontrovers), Das Buch Hiob. In: Die Bibel – Das Alte Testament, 41,4 – 41,26 (5. – 3. Jahrhundert v. Chr.)

Tribut und Hommage: „Akte X – die unheimlichen Fälle des FBI“!

Der Lauf der Zeit hält uns in einer Zelle gefangen, die nicht aus Ziegelstein und Mörtel gebaut ist, sondern aus zerstörten Hoffnungen und nicht abgewendeten Tragödien. Wie kostbar ist dann die Chance zurückzugehen, auch wenn man feststellt, dass man sich nicht nur mit der Vergangenheit, sondern auch mit sich selbst auseinandersetzen muss. Auch ohne die Zwänge der Zeit ist man nicht aus dem Gefängnis seines eigenen Wesens befreit, einem Gefängnis aus dem es kein Entkommen gibt.

Martin Wells (Joe Morton), in: Rückwärts – Akte X (Staffel 8, Episode 6, 41:36 – 42:00)


Kineastische Poesie in einer Science-fiction-Mysterythriller-Krimi-Serie, wer hättet das für möglich gehalten. Nun, Akte X überrascht selbst hargesottene Fans wie mich in der 8 Staffel – so sehr, dass ich keine Mühe gescheut habe, 24 Sekunden Monolog, genauer noch Epilog für Euch zu transkribieren. Könnte ich und wollte ich wirklich, gäbe es noch massenhaft geniale Dialoge, die hier ein angemessenes Refugium hätten.

Beim zweiten Schauen der neun Staffeln starken Serie im Erwachsenenalter – also jetzt, oder eher: seit einigen Jahren, denn 202 Folgen á 40-Minuten+ ziehen sich gewaltig – realisiere ich erst in tiefer Demut und Ehrfurcht, wie klug, gelehrt, witzig, tiefsinning, vielseitig, kritisch und zum Teil sogar philosophisch amerikanische Fersehunterhaltung sein kann. Deshalb von mir ein digital-leises, wahrscheinlich ungehörtes, aber nichtdestotrotz dickes Dankschön für dieses Meisterwerk der Filmkunst an David Duchovny, Gillian Anderson, Chris Carter, uvm.,usw., etc.!

Da bald, nach über 10 Jahren offiziellem Ende, eine Neuauflage als Miniserie mit alter Besetzung geplant ist, bin ich hin- und hergerissen, ambivalent durch und durch: Was wird es werden, peinlicher Veriss oder würdige Fortsetzung?

Ein vorfreudiger Ambivalenz, Euer Satorius