Fiktionale Kleinode

K.-Light trifft Hardcore-S.

Der direkte Verkehr mit den Behörden war ja nicht allzu schwer, denn die Behörden hatten, so gut sie auch organisiert sein mochten, immer nur im Namen entlegener, unsichtbarer Herren entlegene, unsichtbare Dinge zu verteidigen, während K. für etwas lebendiges Nahes kämpfte, für sich selbst; überdies, zumindest in der allerersten Zeit, aus eigenem Willen, denn er war der Angreifer; und nicht nur er kämpfte kämpfte für sich, sondern offenbar noch andere Kräfte, die er nicht kannte, aber an die er nach den Maßnahmen der Behörden glauben konnte.

S. 530f.


 

Daraus war zu schließen, daß es in ihrer Art eine ganz andere Müdigkeit was als jene K.s. Hier war es wohl die Müdigkeit inmitten glücklicher Arbeit; etwas, was nach außen hin wie Müdigkeit aussah und eigentlich unzerstörbare Ruhe, unzerstörbarer Frieden war. Wenn man mittags ein wenig müde ist, so gehört das zum glücklichen natürlichen Verlauf des Tages. Die Herren hier haben immerfort Mittag, sagte sich K.

Und es stimmte sehr damit überein, daß es jetzt um fünf Uhr schon überall zu seiten des Ganges lebendig wurde. Dieses Stimmengewirr in den Zimmern hatte etwas äußerst Fröhliches. Einmal klang es wie der Jubel von Kindern, die sich zu einem Ausflug bereitmachten, ein andermal wie der Aufbruch im Hühnerstall, wie die Freude, in völliger Übereinstimmung mit dem erwachenden Tag zu sein, irgendwo ahmte sogar ein Herr den Ruf eines Hahnes nach.

S. 724f.

 

Franz Kafka (1883 – 1924), Das Schloss (1922/1926)


S. war irritiert, eine Irritation, zu der sich, wie ein entfernter Bekannter einem auf der Straße zu begegnen pfelgt, ein mildes Amüsement gesellte. Seine unklaren Erwartungen waren klar enttäuscht worden, dachte er in einem Augenblick; im nächsten jedoch, war er wieder fasziniert, zerrissen zwischen erfürchtigem Staunen und unbegreifflichem, ihn quälenden Sinnverlust. Sollte es wahr sein und man hört nicht nur bekanntlich, sondern wirklich dann am besten auf – genau dann, einfach so, bloß aus profanen, nur wegen existenziellen Motiven, mehr nicht -, wenn die Spannungsbögen vibrieren, weil sie zuvor so minutiös und feingliedirg gewoben wurden, dass man sie nun kühn immer weiter, bis zur unvermeidlichen Zerreißprobe spannen könnte? Ein literarischer Koitus interuptus lag hinter ihm und er wusste sich nicht zu fangen, konnte nicht reflektieren, was er, S. der umherirrende Geselle ohne Meister, eigentlich von K. erwartet hatte. Er war zuvor unbelastet von dergleichen Erfahrungen und Wünschen gewesen; Klassiker, angebliche Meisterwerke, die gefeierte Weltliteratur, dieser staubige, speckige Tand alt gewordener, greiser Kultur, waren ihm zutiefst zuwider gewesen. Dann kam die Wende, woher, wusste er auch nach Jahren der peinlichen Selbstbeschau nicht bestimmen. Getrieben von einer Lust am Wort und den klugen Spielereien mit Wörtern, diesen bunten Spielzeugen für Erwachsene hatte er angefangen – wie ein Verdurstender in der Wüste, der erst gierig fremdes Wasser hinabstürzt und dann eigenes besitzen will – zu lesen, zu lesen und irgendwann sogar zu schreiben. Nach vielen anderen Begegnungen kreuzte dann K. seinen Weg, erst sehr spät, nach Jahren der Wanderschaft in Freiheit und Unabhängigkeit; nicht mehr so übervoll mit Eigensinn, nach einer sättigenden, fast ermüdenden Gewöhnung an den Geschmack der Worte, derer beinahe bereits überdrüßig, begann er zögerlich damit, den Meistern seines Werks zuzhören, ihnen zuzusehen bei ihren Kunststücken. S. kam sich dabei bisweilen vor wie ein kleiner Junge, auf der letzten Bankreihe sitzend, ganz hinten im stickigen, düsteren Zirkuszelt: Die Raubtiere, auf exotische, errengede Art mochte er sie, aber näher wollte er ihnen nicht kommen, nicht einmal, wenn sie ihrer Bewegelichkeit beraubt und sicher verwahrt, gebändigt von ihrem leibhaftigen Dresseur oder einem leblosen Stahlkäfig; die Artisten, Meister der Technik, Virtuosen ihrer Kunst, flößten ihm echten Respekt ein, dennoch drehte sich ein Leben bei einer solchen Perfektion doch wohl nur um wenig mehr, als die eine zufällige Passion, die sich trotzdem, Beruf und Berufung in einem, als graues Tagwerk für Brot und Haus publikumswirksam veräußern musste; die Clowns sorgten beim Publikum regelrecht für Heiterkeit, wollten echte Narren für moderne Menschen sein, blieben aber so oberflächlich wie ihre Schminke – schon der nächste Regen reichte, einer Träne oder einem echten Lachen hielt sie niemals stand. Wo in dieser Kette an Ereignissen, Bildern und Worten sollte er das Zusammentreffen mit K. einordnen, wie dessen viel zu schroffes Verschwinden begreifen, nach einem an Ermüdung und Ermunterung reichen, von Erkenntins und Ernüchterung geprägten Beisammensein? Der Blick, mit dem S. zu K. hineingeschaut hatte, glich dessen Blick nach draußen und auf die Agenten und Werkzeuge der Herren oben im Schloss: frech und forschend, mal klarer, mal getrübt, immer grob wissend, in welcher Richtung das Erhabene in der Höhe eigentlich zu finden sei, gleichsam unfähig, den Weg dorthin selbstbewusst und geraden Schritts zu gehen, unterworfen den schicksalshaften Launen, die durch die Welt der Worte spuken. Häuser gibt es, Orte der Ruhe und der Wärme, in die S. hoffnungsfroh einkehren möchte, nur um festzustellen, dass Gastfreundschaft ein rares Gut geworden ist, keine Selbstverständlichkeit mehr jedenfalls. Man begegnet ihm mit offenem Misstrauen, statt mit Offenheit und Wärme. Wäre hier draußen die Witterung nicht so rau, der allgegenwärtige, meterhohe Schnee so beherrschend, die Böhen so schneidend, die Kälte so durchdringend und die Tage so kurz, würde er schlicht weiterziehen, so jedoch ist er verfroren, ist er deshalb auf Unterkunft und Labsaal angewiesen. Und wenn er ganz ehrlich zu sich selbst ist, ins Schloss dort oben seinen Fuß zu setzen, einem bedeutenden Herren zu begegnen und Verbindungen dorthin zu knüpfen, all das rechtfertigte sogar weit mehr als eine Nacht hier draußen in der unwirtlichen Fremde. Der anfänglichen Irritation zum Widerspruch war S. sich ganz sicher, er durfte nicht verzagen, vielleicht würde er K. noch ein zweites Mal aufsuchen oder er stellte sein Glück mitsamt seinen Idealen an anderer Stelle auf die Probe. Das Dorf war nicht sehr groß, aber die Welt war es wohl und neben den Nachbarn hier im Ort gab es gewiss Nachbardörfer, auch dort gab es Berge, Sümpfe und Wälder und überall dort konnten Schlösser, Burgen und Festungen im Verborgenen liegen und auf unerschrockene Wanderer warten. S. musste nur bereit sein, hungrig und frierend, zerlumpt und schmutzig, weiterzugehen, immer weiter, ob geradeaus, im Zickzack oder kurvig war gleichgültig, bloß nicht im Kreis, das wäre fatal. Bald musste er auf jemanden stoßen, der ihn aufnahm und versorgte, das geboten die Gesetze der Wahrscheinlichkeit. Bei K. hatte er gehofft, hatte Anfänge von Sympathie entdeckt, zaghaft und sorgsam hinter dem harten Äußeren, den harten Äußerungen verborgen. Dennoch blieb er unsicher, wie hilfreich K. ihm bei seinen Plänen sein konnte, noch gar, ob er ein Freund werden würde. Derzeit war S. noch offenkundig verdrossen, ob des rüden Abgangs von K. und wegen des penetrant schlechten Wetters hier im Dorf. Hoffentlich beruhigte sich das Wetter, morgen oder übermorgen vielleicht, dann klarte es auf und die Sonne würde die Kälte vertreiben. Dann würde S. weitersehen, ein nächstes Gespräch, ein nächstes Reiseziel in der Ferne oder der Nähe, ein weite Welt wartete auf ihn. Alles war offen, aber eines war fest: sein Unwille seßhaft zu werden; selbst in den ersehnten Schlössern wollte er sich nur gründlich umsehen, ein paar Tage deren Luxus genießen, mehr aber nicht, dann zöge es ihn weiter, wieder hinaus. Kein Meister würde ihn binden, kein Ort sollte in fesseln und keine Macht durfte ihn verlocken. Das gelobte S., klopfte sich den zentimeterdicken Schnee von Mantel, Hut und Hose und dreht daraufhin K.s. Haustür den Rücken zu, nicht barsch, ohne Zorn, wieder frei von jedem Groll und das obwohl ihm K. genau diese Tür vor wenigen Minuten vor der halb erfrorenen Nase zugeschlagen hatte, just nachdem die beiden eine Ewigkeit zwischen Tür und Angel geredet hatten und S. schon mit einer Einladung und einem bequemen Nachtlager kalkuliert hatte. Es war spät geworden und die Nacht wurde trotzdem nicht kürzer, der Wind, der Schnee und die Kälte erfrischten ihn, luden ihren intimen Freund S. ein, zu einer weiteren langen Nacht in einem weiteren namenlosen Dorf am Fuße eines beliebigen Berges und im Dunstkreis irgendeines anderen Schlosses, mit anderen Herren, ihren Dienern und den in deren Nähe unvermeidlichen Begleiterscheinungen: Bürokratie und Beamtentum, Bigotterie und Banalität.

Bis hierhin durchgehalten? Meinen Respekt dafür und wärmste Grüße nach da draußen, Euer Satorius

Poesie wider Ernst und Sinn

Dunkel war’s, der Mond schien helle,
Schneebedeckt die grüne Flur,
Als ein Auto blitzesschnelle
Langsam um die Ecke fuhr.

 

Drinnen saßen stehend Leute
Schweigend ins Gespräch vertieft,
Als ein totgeschossner Hase
Auf der Sandbank Schlittschuh lief.

 

Und der Wagen fuhr im Trabe
Rückwärts einen Berg hinauf.
Droben zog ein alter Rabe
Grade eine Turmuhr auf.

 

Ringsumher herrscht tiefes Schweigen
Und mit fürchterlichem Krach
Spielen in des Grases Zweigen
Zwei Kamele lautlos Schach.

 

Und auf einer roten Bank,
Die blau angestrichen war
Saß ein blondgelockter Jüngling
Mit kohlrabenschwarzem Haar.

 

Neben ihm ’ne alte Schachtel,
Zählte kaum erst sechzehn Jahr,
Und sie aß ein Butterbrot,
Das mit Schmalz bestrichen war.

 

Oben auf dem Apfelbaume,
Der sehr süße Birnen trug,
Hing des Frühlings letzte Pflaume
Und an Nüssen noch genug.

 

Von der regennassen Straße
Wirbelte der Staub empor.
Und ein Junge bei der Hitze
Mächtig an den Ohren fror.

 

Beide Hände in den Taschen
Hielt er sich die Augen zu.
Denn er konnte nicht ertragen,
Wie nach Veilchen roch die Kuh.

 

Und zwei Fische liefen munter
Durch das blaue Kornfeld hin.
Endlich ging die Sonne unter
Und der graue Tag erschien.

 

Dies Gedicht schrieb Wolfgang Goethe
Abends in der Morgenröte,
Als er auf dem Nachttopf saß
Und seine Morgenzeitung las.

 

AnonymusDunkel war’s, der Mond schien helle (1898)

Teil 6 – Resümee, Etappenziel und Ende

Ruhe und Frieden

Sechster Teil: Seiten 17 – 21

Was hatte sie bisher zusammengetragen? Selbstsorge und Sparsamkeit fielen ihr rasch ein; dann, nach einigen Sekunden, Stärke – und ja, was noch – bevor sie mental verkrampfte, entspannte sie sich bewusst mit ein paar tiefen, ruhigen und vollen Atemzügen. Genau, das waren sie: Autonomie, Erfahrungswissen und Übersicht. Oder fehlte doch noch etwas? Noch einmal kurz und knapp in schneller Folge: Selbstsorge, Sparsamkeit, Stärke, Autonomie, Erfahrungswissen, Übersicht. Ach, die Pragmatik war ihr entfallen, also das alles und Pragmatik.

 

Gut erinnert, lobte sie sich – aber genug davon, es gab nun wichtigere Aufgaben. Sie musste rasch weiter, sonst würde aus einem zu langen Weg, eine zu kurze Nacht. Sie war entschlossen und lief abermals los. Nicht jedoch ohne die letzten Meter des sicheren Hochplateaus für abschließende Gedanken zu ihrem Ordnungssystem zu nutzen.

 

Die fünfte und letzte Gruppe forderte sie im Kampf wohl am heftigsten heraus, stellte aber für ihre Wahrnehmung, ihr Gefühl und die geistige Gesundheit eine weit geringere Belastung dar. Roboter, Androiden, Drohnen, Verteidigungsanlagen und eigenständige Kampfsysteme gab es überall dort, wo sich fette Beute machen ließ. Da nur gut gesicherte Hochtechnologie die Katastrophe überstanden und die letzten Jahrzehnte überdauert hatte, waren ihr diese Exemplare in Hinblick auf Kampfkraft mindestens ebenbürtig. Als Spitze einer brachial abgebrochenen Technikevolution übrig geblieben, musste sie in den Konflikten mit diesen Maschinen all ihr Können und große Teile ihres Arsenals einsetzen, um am Ende als Siegerin dazustehen.

 

Eine besondere Herausforderung war in solchen Situationen, klug und besonnen zu bleiben, obwohl ein schwer zu besiegender Wächter die berechtigte Erwartung auf entsprechende Reichtümer weckte. Sie neigt wahrlich nicht zu Gier, aber je besser ein Ort geschützt war, desto größer war zumeist die Belohnung. So konnte die Beute, die am Ende eines derart kritischen, nicht selten lebensgefährlichen Einsatzes stand, für sich alleine mehr Geld einbringen, als Tonnen an Standardtechnik; mehr jedenfalls als die typischen Bewohner der Lebenszonen mit einem Jahr harter Arbeit verdienen konnten. Deshalb waren ein hohes Maß an Selbstbeherrschung und ständige Risikoabwägung gefordert. Mit diesen beiden hatte sie die nächsten wichtigen Überlebensprinzipien gestreift und setzte sie ans Ende der spontan nochmals wiederholten Liste.

 

Hier draußen war wirklich was los, vermeintlich klare Klassen hin oder her, das Bestiarium war reichhaltig: Zombies, von plump bis agil; ebenso zu Biowaffen mutierte oder als solche konstruierte Tiere und Pflanzen, von verblüffend über unangenehm bis tödlich; die ursprüngliche Flora und Fauna, die auch nicht eben harmlos waren; degenerierte Psychopathen, Gesetzlose und Wilde, die im Vergleich zu Zombies und Tieren auch noch intelligent waren, sich jedoch so weit von Moral und Menschlichkeit entfernt hatten, dass mit ihnen nicht friedlich auszukommen war; zuletzt die Welt der Technik.

 

Innerhalb und zwischen diesen fünf Gruppen, deren Zweige sich ständig erweiterten, verbanden und wieder vereinzelten, hatte sich ein konfuser Wirrwarr entwickelt. Jede Todeszone war anders, jede Todeszone war gleich. Ein Team aus Biologen und Soziologen hätte viel Arbeit darin, das Chaos hier draußen mal zu analysieren und ordentlich zu klassifizieren. Sie jedoch wälzte diese Gedanken hauptsächlich aus praktischem Interesse, die Wissenschaft überließ sie anderen. Kenne deine Feinde, ihre Stärken und Schwächen, war die passende Regel, die ihr hier draußen das Überleben sicherte. Da steckten als Prinzipien doch mehr dahinter als nur Übersicht und Erfahrungswissen, aber was noch?

 

Während sie so überlegte, wurde sie sich erst erstaunt dann frustriert bewusst, dass sie zuvor nur wenige Meter gelaufen, dann langsamer geworden war und seit über einer Minute schon wieder reglos dastand. Die unzähligen Tiere, die sie nun krabbelnd, kriechend und auf sich sitzend entdeckte, waren Beleg dafür genug, aber kein Grund zur Sorge. Sie schüttelte sich ruckartig und streifte danach die übrigen Tiere, die hartnäckig weiter an ihr klebten, sorgsam und respektvoll von Xentar ab.

 

Dass nur noch ein paar Meter Strecke vor ihr lagen, vermutete sie sodann und ging kräftigen Schrittes weiter. Dabei bahnte sie sich mühsam ihren Weg durch Gestrüpp und tief hängendes Astwerk. Ohne Muskelverstärkung stellte sich ein Spaziergang durch die Wildnis als anstrengender heraus, als sie gedacht hätte. Vorhin war ihr das nicht aufgefallen, obwohl die Strecke kaum anders gewesen sein konnte. Nur Schritt für Schritt kam sie voran.
Ihre weitschweifigen Überlegungen waren zuvor an einem toten Punkt angekommen, von diesem aus hatte sie nicht mehr weitergedacht – genug des Nachdenkens, gelobte sie sich abermals. Eben hatte sie sich dem Rand des Plateaus bis auf weniger als einen Meter genähert, ihn noch immer nur erahnend.

 

Ohne den Helmscheinwerfer wäre es gefährlich geworden, denn der dichte Pflanzenteppich verhinderte jeden Überblick, hing sogar lose merklich über den Abgrund hinaus. So aber war sie rechtzeitig stehengeblieben. Nun blickte sie in den metertiefen Abgrund, anstatt ihn nur zu ahnen. Gute vier Meter ging es an dieser Stelle fast senkrecht hinab und jetzt sah auch wieder den Baumriesen, der ihr vorhin als Orientierung gedient hatte.

 

Damit an ihrem ersten Etappenziel auf dem Rückweg angekommen, stemmte sie sich gegen einen jungen aber kräftigen Baum – vielleicht eine Morlaeiche? Sie umschlang ihn und lehnt sich leicht über den Abgrund. Trotz der geschlossenen Rüstung, spürte sie die raue Rinde, roch den süßen Duft der verschlossenen Blüten zu ihren Füßen. Darunter mischte sich der herbe Geruch frischen Harzes. Die zuvor so aufdringlichen Geräusche der Tierwelt wurden nun durch den Wind übertönt, der hier oben insgesamt und besonders hier an dieser Stelle sehr kräftig war. Er pfiff laut durch die kaum drei Meter breite Schneise zwischen den zwei Wäldern, welche durch einen wüsten Streifen und den felsigen Abhang voneinander getrennt wurden.

 

Dahin war ihr kaltes Interesse an einem bloßen Namen für diesen Baum, beendet ihr Sinnieren über Prinzipien und ihr Abdriften in schöne und hässliche Erinnerungen. Sie betrat gleich den steinigen Boden der Realität, die Friedenszeit war beinahe vorüber und vor ihr lag unbestimmt viel Weg. Der Preis für diese selbst verschuldete Verspätung würde ein zweifacher sein: weniger Schlaf und mehr Energieverbrauch.

 

Nun schaltete sie das künstliche Licht wieder aus und zog sich noch weiter hinauf in den überhängenden Baum. Über ein paar dünne Äste gelangte sie rasch in die knapp fünf Meter hohe Krone. Hier oben stand der Baum schon über einen Meter schräg über dem damit noch tieferen Abgrund. Die Aussicht von hier über die Bergflanke hinweg in das nächste Tal und die Ferne war beeindruckend:

 

Der Mond brach mehrfach kurz durch die Wolken, die eilig über den Nachthimmel glitten. Sie konnte den dunkel vor ihr liegenden Wald kilometerweit überblicken; Nebelbänke zogen hier und da träge über ihn hinweg, schlängelten sich zwischen den vereinzelt stehenden Baumgiganten hindurch. Einzelheiten konnte sie dabei keine ausmachen, wie auch. Wo die Schlaglichter des beinahe vollen Mondes hinfielen, entsponnen sich fantastische Bilder, erkennen aber konnte sie nichts.

 

Gebannt von diesem Schauspiel, lies sie in ihrer Vorsicht nach. Zu einem schlechten Tag kamen schlechte Erinnerungen und reichlich Versuchung, sich darin zu verlieren – Kopf hoch, morgen würde wieder ein besserer Tag, sprach sie sich gütig und tröstend zu. Danach genoss den Fernblick über das düstere Wunderland, ließ sich darin einspinnen.
Eine Böe fegte plötzlich hinab, erfasste den Baum voll; ein leises Knacken, ein lautes Krachen und alles begann zu fallen. Sie fiel.

 

In diesem Moment war unvermittelt ein Ast des jungen Baumes gebrochen, der Ast, auf dem sie bis eben gestanden hatte. Auch von den zwei Haltepunkten ihrer Hände war damit einer verloren gegangen, der verbliebene konnte ihr Gewicht kaum halten. Weniger als zwei Sekunden, dann knickte er ab und alles stürzte hinab in die Tiefe.

 

Sie hatte gut neun Meter freien Fall vor sich, bevor sie auf den spitzen Felsen am Fuß des Steilhangs aufkommen und dabei zerschmettert würde. In einem jahrelang trainierten Instinkt wollte sie mit einer simplen Geste technische Unterstützung herbeizaubern, scheiterte aber an dem störenden Astwerk, das sie auf ihrem Fall begleitete. Sie versuchte eifrig sich aus der hölzernen Umklammerung zu lösen und verlor dabei wertvolle Meter an Flughöhe. Nichts zu machen, überall um sie herum war es Grün und Braun. Zusammen mit ihr war wohl mehr als nur ein Ast über die Klippe gestürzt. Was konnte sie jetzt noch tun? Erst hoffen, dann abrollen, dachte sie noch scherzhaft, während sie sich über das Ausbleiben jeglicher Lebensfilme oder bedeutsamer Erinnerungsszenen wunderte. Ihren Tod frei von solchen Klischees zu wissen, war ein widersinniger Trost, aber ein Trost. Denn bald musste es soweit sein. Wie lange sie wohl flog, fragte sie sich besser gar nicht erst. Das war es jetzt also, lahme Fragen, mehr nicht und dann?

 

Nun kamen sie doch, die Nahtoderfahrung: Sie sah sich, von außen, gestochen scharf; kurz sogar ihren zukünftigen Aufprall auf einem steinigen Boden, der tatsächlich aber unausweichlich weiter auf sie zuraste. Sie fürchtete die brachialen Schmerzen, die sie vor der rettenden Ohnmacht noch heimsuchen, noch quälen würden. Der Schub an Erinnerungen blieb wirklich aus, stattdessen erlebte sie jedoch die langsamsten und intensivsten Sekunden und Meter ihres Lebens:

 

Jedes Atom um sie herum gewann unendliche Bedeutung. Sie wuchs, wandelte sich, wurde eine andere, sie hatte genug Aufmerksamkeit für alles: den grauen Stein, durchzogen von weißen Schlieren; die Mückenschwärme, gierig auf ihre fette Beute; den im Mondlicht purpurn schimmernden Ajaxfarn, dort unten am nahen Waldrand; auch die wenigen Todraucher, mit ihren kecken Hütten, den orangefarbenen Punkten; die Unmengen namenloser Tiere und Pflanzen um sie herum, das alles sah sie absolut klar und scharf trotz der herrschenden Dunkelheit. Sie schaute vermeintlich in das Wesen der Dinge. Nach einer Unzeit weise geworden, erblickte sie überall die Schleier der Existenz, wie sie wild flatterten und für sie durscheinend geworden waren, als sich plötzlich wieder alles änderte: Zeit und Raum forderten ihr Recht ein.

 

Aus ultimativer Achtsamkeit gerissen, glitt sie zurück, hinein in den dunklen Abgrund ihres inneren Selbst, zurück ins Gefängnis ihres fallenden Körpers. Dort wurde sie wohlig und warm empfangen, ihr Leib pulsierte schier vor Wonne, ein einziger Rausch durchströmte sie. Nicht lange war ihr vergönnt, darin zu baden, schon ebbte die Lust ab. Die Dunkelheit wurde intensiver, wurde tiefer, dichter, absorbierte sie.

 

Schon war die Stille vollkommener, als sie das jemals in einer Meditation erlebt hatte. Immer dunkler, immer glatter, immer leiser, immer steriler, immer leerer, immer weniger – schlussendlich pures Nichts.

Teil 5 – Düstere Gedanken im tiefdunklen Wald

Ruhe und Frieden

Fünfter Teil: Seiten 14 – 17

Aus den Gedanken kehrt sie in die Wirklichkeit zurück. Ihre Sicht reichte nicht mehr weiter als einige Meter, aber das war etwas. Was war denn das dort vorne, ein paar Meter voraus? Ach, eine sportliche Herausforderung tat sich ihr auf, diesen fast meterhohen Stein dort musste sie einfach überspringen: Konzentration – und Sprung! Ha, wenn das nicht sogar etwas zu leicht gewesen war, dachte sie nach der eleganten Landung. Sie lief mittlerweile nur noch im Trab und hatte deshalb einen kurzen Sprint eingelegt. Nun musste sie bereits kopfhohes Gestrüpp durchkämen und sich stellenweise durch engstehende, halbhohe Bäume zwängen. Dabei wich sie immer mehr Exemplaren aus, die sie überragten, und war jetzt nur noch geschätzte 50 Meter vom Ende des Hochplateaus entfernt. Ohne Vermessung und dafür nötigen Technikeinsatz konnte sie hierbei nur Erfahrung und Wahrnehmung intuitiv kombinieren und musste vertrauensvoll raten; aber das tat sie mit Genuss.

 

Also, wobei war sie eben von der spontanen Lust auf den Sprung über den Stein unterbrochen worden? Ach ja, sie hatte über die Gegner nachgedacht, denen gegenüber sie kein nachsichtiges Verhalten an den Tag legen wollte, Instinkt und Reflex hin oder her. Eigentlich waren ihre mentalen Vorsätze vorhin andere gewesen, aber solange sie vorsichtig war, konnte sie sich noch ein wenig mit  Nachdenken ablenken. Da das mit dem Kampfbewusstsein sowieso nicht klappen wollte, warum sich weiter abmühen und frustrieren. Zusätzlich zu ihrem Vorsatz, ihre verwirrend vielen Überlebensregeln zu leicht merkbaren Wörtern zu bündeln, konnte es nicht schaden, auch ihre Erfahrungswerte im Umgang mit ihren Kontrahenten zu überdenken. Das war zu nett gedacht, viel zu nett – fuhr sie sich impulsiv und fahrig zugleich in ihre Gedankenkette: Sie hatte es nicht mit Kontrahenten zu tun, sondern mit Monstern, Bestien, mit abscheulichen Ungeheuern.
Es gab kaum richtige Kämpfe zwischen den verschiedenen Arten, nur das übliche Fressen und Gefressen-Werden, wobei die ursprüngliche Natur sich, soweit sie das mitbekommen hatte, angepasste und damit den neuen Gattungen untergeordnete. Erst durch Menschen wie sie, die Widerstand leisteten und sich nicht einfach fügten, entstanden wirkliche Kampfplätze und ernsthafte Schlachtfelder. In solchen Situationen fürchtete sie sich nur noch mäßig, auch wenn das eine hart erkämpfte Abstumpfung war; hin und wieder sogar derart wenig, dass sie im Gegenteil mit den tumben Viechern spielte und sie dazu allererst provozierte. Einzelne Schlurfer oder kleine Gruppen hielt sie besonders gerne zum Narren. Größere Ansammlungen hingegen oder die stärkeren Exemplare wie Schleicher und Schlächter umging sie klugerweise weiträumig. Dass Schlurfer und auch Schreier immer häufiger in Rudeln und sogar Horden auftraten, war nicht immer so gewesen und musste von ihr hingenommen werden, es würde sich so schnell wohl auch nicht mehr ändern. Es war eine ebenso verderbliche Entwicklung, wie sie gewöhnlich geworden und damit kalkulierbar war. Hier, tief in den Wäldern trieben sich allerdings nur wenige Gegner dieser ersten Klasse herum, der Klasse in ihrem losen System, für deren Mitglieder sie wenig Rücksicht kannte. Sie hielt sich derzeit zum Glück im Reich von einigermaßen unverdorbener Fauna und Flora auf; die zweite und dritte Klasse herrschte hier im Herz der Wildnis. Das brachte jedoch den entscheidenden Nachtteil mit sich, das hier auch wenig Wertvolles zu erbeuten war. Deshalb diente dieser Abschnitt ihrer Route als Abkürzung und zugleich als eine Art Ausgleich zu der Tristesse der üblichen Ruinenlandschaft, in der die eigentlichen Schätze auf sie warteten.

 

Konnte sie den gewiss sinnvollen, das Überleben sichernden Überlegungen irgendein Prinzip entlocken und in ein vielleicht zwei knappe Worte verpacken? Vielleicht Erfahrung, Übersicht oder gar Wissenschaft dachte sie rasch und war beinahe schon zufrieden. Jedenfalls war es sehr wichtig, die Vielfalt an Gegnern, deren Eigenschaften und die mit ihnen gemachten Erfahrungen zu sammeln und gründlich zu ordnen, um daraus praktische Schlüsse für zukünftige Kämpfe ziehen zu können. Es galt, durch Nachdenken die Übersicht zu wahren. Außerdem, die Schrecken zu benennen und sie in eine einfache Ordnung zu pressen, nahm den furchtbaren Erlebnissen einiges an Druck, half ihr, sich von ihnen zu distanzieren. Erfahrungswissen und Übersicht erschienen ihr als gute Kandidaten für ihre Sammlung, waren zugleich so betrachtet gleichzeitig Anlass und Ergebnis.
Weisheit und Zweifel geboten ihr allerdings, das Leben und besonders das sinnverwirrende Unleben nicht übertrieben zu vereinfachen, es also mit der Verallgemeinerung nicht zu übertreiben. So wurde sie trotz aller Ähnlichkeiten immer wieder jäh überrascht, mit jedem Tag ein wenig und in jeder Region allemal. Das galt insbesondere für die Wesen, die sie Schlächtern getauft hatte. Die obszöne Königsklasse der menschgemachten Monstrositäten überbot alles, was sie bisher auf ihren ausgedehnten Touren hatte erdulden müssen. Die Begegnungen mit ihnen waren selten, aber von so unbeschreiblichem Grauen, dass sie mitunter das Traumatischste waren, was sie auf ihren Beutezügen erlebt und danach zu verarbeiten hatte. Bevor sie bei ihrer momentan ziemlich angeknacksten Verfassung einen weiteren Zusammenbruch riskierte, schob sie einen mentalen Riegel vor dieses Thema und beließ es bei dem bloßen Namen.

 

Dann gab es noch die vierte Gruppe, ungefährlich und hochgefährlich: Menschen mit verdrehten Ansichten und bizarren Lebensweisen. Gewöhnlich waren sie wenigstens oberflächlich nicht so heftig entartet, zudem waren sie ihr technisch häufig derart unterlegen, dass sie keine physische Gefahr bedeuteten. Da sie aber im Unterschied zu den ersten drei Klassen in ihrem Tun eine echte Wahl hatten, sich auch hier draußen in den Todeszonen noch immer bewusst selbst bestimmen konnten, war ihr Verhalten schwer verständlich, nicht nachzuvollziehen und dadurch eine kaum erträgliche psychische Belastung. Die Bestien der ersten Klasse flößten ihr Abscheu und Ekel, nicht selten auch mal echte Furcht ein, das war nicht zu leugnen; auch sie ihren wollten ihren Tod, aber die humanoiden Bestien taten trotzdem weit mehr, sie zertrümmerten ihren Glauben an das Gute im Menschen, erzeugten nicht nur tiefe Empörung, sondern Zorn und Hass. Diese gefühlsmäßigen Zustände zu ertragen, war viel schlimmer und ließ sie manchmal an ihrer Entscheidung zweifeln, dem, was an Zivilisation noch übrig war, den Rücken zuzukehren und auf sich selbst gestellt in Freiheit zu leben. Ihr Lebensstil, ihre Umgangsformen hatten sich auch verändert, seit sie die meiste Zeit alleine durch die Todeszonen streifte – natürlich. So verwerflich und krank jedoch, wie diese Psychopathen lebten, würde sie aber trotz der Schroffheit und Verschrobenheit, die sich bei ihr durch die unablässige Einsamkeit unvermeidlich eingeschlichen hatten, nie werden. Das ließ sie keinesfalls geschehen, niemals. Von zehn Menschen, die sie hier draußen im Durchschnitt in einem Monat traf, würde sie sieben, also mehr als die zwei Drittel, dieser Gruppe zuordnen, schätze sie aufgrund jahrelanger, ernüchternder Erfahrung.

 

Der vorhin nach dem Käferangriff gefasste Vorsatz, ihren Helm bald aufzusetzen, blieb wirkungslos. Dabei befeuerte sie ihre Sturheit, verwirrte sie die lästige Zerstreutheit, die sie heute ungewöhnlich hart heimsuchte. Von Schmerz genötigt und von Einsicht geleitet, wollte sie das nun also nachholen.

 

Nachdem sie angehalten und daraufhin die Insekten wild mit den Armen um sich schlagend vertrieben hatte, war es so weit: vorbei der echte, intime Kontakt zur Umwelt. Technische Sicherheit war ihr Lohn für den Verzicht.

 

Sie nahm den Helm vom Gürtel, der sie wie der Rest der Rüstung auch deaktiviert in mattem Dunkelgrün tarnte, und setze ihn routiniert auf. Ein vernehmliches Klicken erklang, gefolgt von einem kurzen Zischen. Hinter dem halbrunden Oval des Frontschirms, der ihr in seiner makellosen Transparenz ein uneingeschränktes Sichtfeld bot, war sie nun vor schädlichen Einflüssen von außerhalb geschützt. Auch ihre Atemluft wurde von nun an gefiltert, bevor sie in ihre Lungen strömen durfte. Alles jedoch weiterhin ohne den Einsatz höherer, aktiver Techniksysteme – also blieben ihr weiterhin ein paar wenige Korridore in die Wirklichkeit um sie herum, die Natur, den Wald.

 

Umwege durch die tiefe Wildnis genoss sie sehr; immer wenn sich ihr die Gelegenheit dazu bot, machte sie Ausflüge auf diese Inseln. In einem weltumspannenden Ozean an Stadtruine war sie eben manchmal reif für einen Ausflug auf die Insel. Die Naturlungen waren solche Orte der Erholung und das Beste, es gab sie weltweit, sogar recht gleichmäßig über den Planeten verteilt. Bei der Planung ihrer Touren baute sie gewohnheitsmäßig mehrere Aufenthalte dort ein, genehmigte sich unterwegs zudem noch spontane Ausreißer dorthin; sodass am Ende bisweilen ihr lockeres Zeitmanagement zu einer größeren Herausforderung wurde als die Bewältigung augenscheinlicher Gefahrenquellen.

 

Weiter also – beschloss sie konsequent und fuhr fort. Für den Helmscheinwerfer, den sie zuletzt noch hinzuschaltete, konnte sie ebenfalls auf Xentars Dienste verzichten. Durch zwei Lichtkegel erhellt, sah sie ihre Umgebung jetzt deutlich. Um sie herum und besonders in Blickrichtung vor ihr raschelte, zischte und klapperte es tausendfach. Überall wuchsen Pflanzen und wuselten Tiere. Diese strengten sich mächtig an, wohin sie mit ihren Kopfbewegungen das Licht auch lenkte, zu den dunklen Rändern der kreisrunden Zonen hin zu flüchten. Auch erkannte sie und wurde sich jetzt im heftigen Kontrast zu vorher bewusst, wie farbenfroh es hier doch eigentlich war. Töne von Grün und Braun überwogen zwar, aber beim genauen Hinsehen entdeckte sie fast alle Farbtöne irgendwo: besonders auf Blüten und Fruchtkörpern, aber auch Blättern, in Panzern und Flügeln, Fellen und Federn, in Augen, die schillernd aufblitzten.

 

Obwohl dieser Anblick sie regelrecht verzauberte, sie die Natur im Grunde innig und aufrichtig liebte, erleichterte sie eine Gewissheit dennoch: Deren diverse Vertreter waren ab jetzt dort draußen und sie war alleine hier drinnen – in der relativen, technischen Sicherheit ihres ganz eignen Panzers.

 

Bei aller Faszination ermahnte sie sich nachträglich: Die kleinen Insekten hatten es in sich, sie konnten eine tödliche Gefahr bedeuten, vor allem wenn man sich arglos von ihnen stechen ließ. Dafür brauchte man gar nicht mal so viel Pech. Sobald sie ihre Rüstung aktivieren würde, musste sie den Einstich und ihr Blut auf mögliche Gifte und Erreger untersuchen lassen. Dann wurde sowieso vieles anders. So würde auch der erhellende Scheinwerfer bereits wieder ausgedieht haben, denn sie sollte wohl kaum als strahlend helles Ziel einladend durch die Todeszone spazieren. Offenes Licht kam in der Nacht einer Leuchtreklame mit der Aufschrift gleich: „Ihre nächste Beute befindet sich genau hier – guten Appetit“. Nur die kleinen Tiere, die ganz unten in den Nahrungsketten standen, scheuten das Licht und flohen. Ganz so, wie sie das im Moment weiterhin eindrucksvoll direkt vor sich erlebte.

 

Es konnte von hier aus nicht mehr weit sein bis zur Kante des Kraterplateaus – höchstens noch ein Dutzend Meter. Sie war damit dem ersten Etappenziel auf ihrem Rückweg mittlerweile ganz nahegekommen. Aber viel zu spät, da sie viel, viel zu viel, nachgedacht hatte, wie sie sich ehrlich, ohne Schonung eingestand. Ab dort vorne musste sie sich zusammenreisen und auf das Wesentliche fokussieren: Überleben.
Ihr Mangel an geistiger Disziplin war heute ungewöhnlich ausgeprägt, zudem außergewöhnlich anstrengend. Auch wenn die Friedenszeit noch nicht ganz erschöpft war und sie hier oben keine ernsthaften Gegner erwartete, so fahrlässig wie bisher durfte sie nicht weitermachen.

 

Wenigstens hatte sie dabei auch etwas Sinnvolles getan und war häufig zu ihrem Vorsatz zurückgekehrt. Was hatte sie denn bisher gesammelt? Es war wohl höchste Zeit für eine erste Erinnerung, eine erste Wiederholung sonst konnte sie später von vorne beginnen. Die Muße dafür musste sie nun erst erzwingen; auf eine oder zwei Minuten kam es jetzt auch nicht mehr an. Zu spät für eine reibungslose Rückkehr war sie jetzt sowieso, also lieber noch hier oben kurz innehalten, als dort unten hinter der Kante.

Chaos, Ordnung oder keines von beidem

The laws of God, the laws of man,
He may keep that will and can;
Not I: let God and man decree
Laws for themselves and not for me;
And if my ways are not as theirs
Let them mind their own affairs.
Their deeds I judge and much condemn,
Yet when did I make laws for them?
Please yourselves, say I, and they
Need only look the other way.
But no, they will not; they must still
Wrest their neighbor to their will,
And make me dance as they desire
With jail and gallows and hell-fire.
And how am I to face the odds
Of man’s bedevilment and God’s?
I, a stranger and afraid
In a world I never made.
They will be master, right or wrong;
Though both are foolish, both are strong.
And since, my soul, we cannot fly
To Saturn nor to Mercury,
Keep we must, if keep we can,
These foreign laws of God and man.

 

Alfred Edward Housman (1859 – 1936), The Laws of God, The Laws of Man (1922)

Die unheimliche Dritte im Bunde: Die Sprachphilosophie

Spätestens seit Hegels „Phänomenologie des Geistes“ ist klar, dass das Problem des Geistes ein Problem der Sprache ist. Folgerichtig entwickelte sich die Kritik der Hegelschen Philosophie etwa bei Schopenhauer und Nietzsche auch als Sprachphilosophie. Spätestens seit Nietzsche wird Metaphysik als in die Sprache eingeschrieben gedacht. Und das bedeutet die Erkenntnis, dass die Sprache selbst das Hindernis für die sprachliche Überwindung der Metaphysik ist. Nietzsche sowie die metaphysikkritischen Philosophen nach ihm versuchen deshalb, mit unterschiedlichen Strategien, dem Zirkel der Metaphysikkritik zu entkommen. Die Hinwendung zu poetischer Diskursivität findet hier ihre rationale Erklärung. Sie ist nicht nur poetischen Neigungen zu verdanken, sondern ist eine philosophisch motivierte Strategie, den Zirkel der Metaphysikkritik zu durchbrechen.

 

Peter Engelmann (1947 – ), Jacques Derrida. Die différance: S. 23f. (Einleitung – Semiotik und Metaphysikkritik; 2004)


Kürzlich (Direktlink) sprach ich von Seinslehre (Ontologie) und Erkenntnistheorie (Epistemologie), wies ihnen eine herausragende Stellung im Korpus der philosophischen Disziplinen zu und nun das: Metaphysik und Sprachphilosophie seien die neuralgischen Punkte des verehrten Fachs?

Ja und Nein, äh Jain – möchte ich fast sagen, denn zwischen Metaphysik und Ontologie gibt es keine strikte, und wenn überhaupt dann eine fließende Grenze. Was allerdings die Sprachphilosophie betrifft, da lenke ich gerne reumütig ein und gestehe zu: Sie ist allerdings zentral und hochrelevant, mehr noch, ohne sie ist keine zeitgenössische Philosophie denkbar und damit verständlich. 

Neben den erwähnten zweieindrittel Begriffen – Ontologie/Metaphysik und Epistemologie – darf sie im historischen Inventar der modernen philosophischen Trickkiste keinesfalls unterschlagen werden. Ohne einen Sprung auf die Metaebene der Sprache, sei sie Medium oder gar umfassende Grenze von Denken und damit Philosophieren, bliebe ein allzu großer blinder Fleck in der Reflexionslandschaft bestehen. 

Dabei sind es typischerweise auch die im vorausgehenden Artikel bedachten (neo-)transzendentalen Ansätze, die seit Kant so ihre liebe Last mit der Sprachlichkeit des Denkens haben. Während die diversen Neukantianer in der Folge des Königsberger Klopses für eine Vermittlung von Geist und Materie eintraten, blieben bei ihnen eben die sprachlichen Strukturen bisweilen noch unterbelichtet. Damit standen sie zwar weiterhin und immerhin zwischen den Fronten eines den Geist überbelichtenden Idealismus und eines diesen sträflich verdunkelnden Materialismus, dennoch war noch ein Stück Denkweg zu gehen bis zum sog. lingustic turn zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Erwähnens- und anerkennenswerte Trittsteine auf diesem ideengeschichtlichen Weg waren für die philosophische Seite des Diskurses vor allem Ernst Cassirers Philosophie der Symbolischen Formen und Wittgensteins Philosophische Untersuchungen. Dessen vielbeachtetem Frühwerk Tractatus logico-philosophicus verweigere ich hier mal bewusst die Ehrerbietung, auch wenn es sich dem Problem der Sprache für das Denken explizit annimmt – zu explizit und logisch, um noch einer lebendigen Welt angemessen zu sein. Erst recht war noch ein weite Reise zu machen, bis man bei der analytischen Philosophie auf Basis des Pragmatismus und den vielen, mir hochsympathischen Formen von Differenzphilosophie und kritischer Theorie landen würde. Insbesondere Jacques Derridas Dekonstruktion möchte ich hier andeutungsweise hinsichtlich des Text-Fast-Foods erwähnen. Das 21. Jahrhundert also, war noch fern und einige ausgewiesen hässliche Perioden der Menschheitsgeschichte mussten erst noch durchschritten werden, aus denen dann auch die (Sprach-)Philosophie ihre bitteren Lehren zu ziehen hatte. 

Hier kommen wir nach dem womöglich etwas ermüdenden, philosophiegeschichtlichen Umweg von einer Ergänzungen zum letzten Denkwelt-Artikel endlich zum eigentlichen Anlass dieses Textes. Bevor hier jedoch der falsche Eindruck von Wissenschaftlichkeit aufkommt, bei all den Anflügen von Struktur, Argument und Chronologie, lasse ich nun Poesie über Sprache sprechen. Damit gewähre ich dem Nachdenken über Sprache seinen ihm gebührenden Platz neben den bereits besagten zwei Teildisziplinen der nicht nur akademischen Philosophie. Dass ich sie zunächst vergessen habe, mag mit der Unheimlichkeit zusammenhängen, die sie und den Sprung auf die Metaebene begleiten, oder einfach mit der Kürze von Zugang und Anspruch. Das zuvor besagte sprachlose X dankt mir die Wiedergutmachen sicherlich ebenso, wie mein schließlich damit wieder zu beschwörender Agnostizismus.

Aus dem Landschaftspark zwischen Philosophie, Poesie und Linguistik grüßt zweifelnd, Euer Satorius


Für Nelly Sachs, die Freundin, die Dichterin, in Verehrung

 

Ihr Worte, auf, mir nach!,
und sind wir auch schon weiter,
zu weit gegangen, geht’s noch einmal
weiter, zu keinem Ende geht’s.

 

Es hellt nicht auf.

 

Das Wort
wird doch nur
andre Worte nach sich ziehn,
Satz den Satz.
So möchte Welt,
endgültig,
sich aufdrängen,
schon gesagt sein.
Sagt sie nicht.

 

Worte, mir nach,
dass nicht endgültig wird
– nicht diese Wortbegier
und Spruch auf Widerspruch!

 

Lasst eine Weile jetzt
keins der Gefühle sprechen,
den Muskel Herz sich anders üben.

 

Lasst, sag ich, lasst.

 

Ins höchste Ohr nicht,
nichts, sag ich, geflüstert,
zum Tod fall Dir nichts ein,
lass, und mir nach, nicht mild
noch bitterlich,
nicht trostreich,
ohne Trost,
bezeichnend nicht,
so auch nicht zeichenlos –

 

Und nur nicht dies: das Bild
im Staubgespinst, leeres Geroll
von Silben, Sterbenswörter.

 

Kein Sterbenswort,
Ihr Worte!

 

Ingeborg Bachmann (1926 – 1973), Ihr Worte (1961)


Halte mich in deinem Dienst
lebenslang
in dir will ich atmen

 

Ich dürste nach dir
trinke dich Wort für Wort
mein Quell

 

Dein zorniges Funkeln
Winterwort

 

Fliederfein
blühst du in mir
Frühlingswort

 

Ich folge dir
bis in den Schlaf
buchstabiere deine Träume

 

Wir verstehen uns aufs Wort
Wir lieben einander

 

Rose Ausländer (1901 – 1988), Sprache (1976)

Teil 4 – Hinein in die Wildnis, zurück in die Vergangenheit

Ruhe und Frieden

Vierter Teil: Seiten 10 – 14

Plötzlich schrillte ein zweiter Schrei über sie hinweg, hoch und dissonant, böse.

 

Ihr mentaler Fokus riss abrupt völlig ab. Sie fiel hin, rollte sich trotzdem noch irgendwie instinktiv ab und blieb reglos auf dem Boden zwischen den Pflanzen liegen.

 

Alte Erinnerungen wurden wach, übernahmen die Kontrolle über ihren Geist: Dunkle Schwärme, Geflatter und Gekreische, Schmerzen, unendliches Leiden. Waren es Vögel, Fledermäuse oder Insekten? Kot und Blut, noch mehr Schmerzen, milde Ohnmacht und irre Albträume. Dann ein Licht am Ende der Düsternis. Knappe Rettung und der Schwur, gründlich zu vergessen. In den Schatten ihres Bewusstseins hatte sich tief Vergrabenes, im Dunklen Verborgenes zu regen begonnen.

 

Traumatische Bilder aus ferner Vergangenheit suchten sie unnachgiebig weiter heim. Nun nach unendlich unbestimmter Zwischenzeit flauten sie ab, waren weniger stark als noch zuvor, wallten aber weiterhin und wiederkehrend auf, jedoch nur noch kurz. Sie verharrte schwer atmend und zusammengekauert auf dem sandigen Boden, versuchte sich wieder zu sammeln. Nachdem sie sich aufgesetzt hatte, begann sie routiniert nach verstörend langen Sekunden mit einer Atemübung. Als das alleine nicht half, nahm sie noch ein starkes Mantra hinzu: Ich bin hier, ich bin jetzt, ich bin mächtig, ich bin stark. Ich beuge mich nur dem Kosmos und dem Leben in ihm. Damit hatte sie nach weiteren gut 20 Sekunden der disziplinierten, mehrfachen Rezitationen Erfolg. Die mentalen Wogen glätteten sich, jedoch nur langsam, so als wäre zuvor ein riesiger Felsbrocken in den bodenlosen Ozean ihres Geistes gestürzt.

 

Sie fasste sich, bändigte zunächst die Gefühle und Erinnerungen, dachte dann rationaler und zielgerichteter und letztlich erneut weniger – nun war sie wieder leidlich fokussiert. Da ihr bei dem Sturz körperlich nichts passiert war, rappelte sie sich ächzend auf und beschloss, schnell weiterzulaufen. Die Zeit drängte, denn sie hatte fast fünf Minuten durch den Vorfall verloren, wie sie nun mit einem Blick auf ihr Handgelenk entsetzt feststellen musste.

 

So etwas war ihr zuvor bereits einige Male passiert, nicht jedoch in dieser Heftigkeit. Vielleicht sollte sie nach dieser Tour eine längere Erholungsphase einlegen und gewisse Dinge aufarbeiten, dachte sie noch. Als sie daraufhin ihren Lauf beschleunigte, wurde sie wieder eins mit dem Weg, spürte ihre Kraft und gab sich der Bewegung völlig hin. Ganz so leicht konnte sie die Episode und die durch sie ausgelöste Unruhe, die ja sehr berechtigt war, nicht ablegen.

 

Dieser zweite Warnruf war nun schon in mittelbarer Nähe erklungen, aus den Wipfeln der Bäume hinter dem Abhang, auf den sie derzeit zulief. Einen halben Kilometer voraus ragten die Kronen der Bäume weit über den Rand des Plateaus empor. Damit überragten sie die wenigen größeren Bäume hier oben um einige Längen. Derart schnell konnten herkömmliche Bäume nicht in Höhe schießen. Dort stand vermutlich eine Gruppe genetisch modifizierter Riesenbäume, vermutete sie nun wieder gedankenschnell. Bei einem so erstaunlichen Wachstum mussten das die legendären Neo-Sequoias sein, die das Bild vieler ehemaliger Naturlungen mit ihrer schieren Größe bestimmten. Nach einem letzten Ausbruch des Vulkans vor nur sechs Solarjahren, war für gewöhnliche Bäume nicht genug Zeit vergangen, um eine so erstaunliche Wuchshöhe zu erreichen. Warum war ihr das vorhin bloß nicht aufgefallen, wo war sie mit ihren Gedanken nur gewesen?

 

Indes stolperte sie fast abermals. Sie wollte sich durch weitschweifige Gedanken von ihrer Trübsal ablenken lassen und geriet dabei ins Schlingern.

 

Gut erinnert – lobte sie sich trotzdem gönnerhaft, nachdem sie sich gefangen hatte und wieder beschleunigen konnte: Neo-Sequoias jetzt, zuvor Todraucher und Ajaxfarn. Der Name des Vulkans fiel ihr allerdings noch immer nicht ein. Ihr verquerer Stolz hinderte sie jedoch wie meist daran, unmittelbar die höheren Funktionen ihrer Technorüstung zu konsultieren oder diese überhaupt nur zu aktivieren. Noch konnte sie auf aktive technische Unterstützung verzichten, die würde noch früh genug notwendig werden.
Sie schätzte ihre technischen Hilfsmittel durchaus hoch, brauchte aber das Gefühl von Widerstand und bisweilen das von echter Konsequenz. Ohne die Erfahrung solcher Grenzen, menschlicher Mängel und Minderwertigkeiten konnte aus einer Schwäche nie echte Stärke neu erwachsen. Sie selbst musste ein Problem lösen, um daraus lernen zu können und wollte sich nicht abhängiger von der Technik machen als nötig, nur weil gerade noch genug Energie im Speicher war. Alle Arten von Bequemlichkeit und Verschwendung verloren in der Wildnis ihre Berechtigung, formulierte sie einen weiteren Grundsatz. Gut, dass er ihr eingefallen war, denn er war einer der Wichtigsten. Sparsamkeit und – ja, und was – welches andere Prinzip steckte noch hinter dieser Idee: Stolz, Stärke, Trotz, Authentizität, Sturheit, Autonomie?

 

Ja, das waren sie: Autonomie, Stärke und Sparsamkeit, die Drei gefielen ihr. Bloß nicht zu selbstkritisch werden, dachte sie, wobei sie kurz lächelte. Während sie schon wieder viel zu nachdenklich geworden durch das grüne Dickicht hetzte, hatte sie den spontanen Verdacht, mindestens einen der Begriffe kürzlich erst bedacht zu haben, kümmerte sich aber kaum weiter darum – um so besser, dann war er wohl wichtig, schloss und vertröstete sie den Impuls.

 

Dämmrige Dunkelheit hinter sich zu wissen, tiefe Düsternis voraus zu sehen und zwei ungeheuerliche Schreie – der eine fern, der andere intim – machte auch ihr normalerweise entspanntes Maß unterdessen restlos voll. Wollte sie klarkommen, gab es nur eine probate Option: Sie musste aufmerksamer und wacher werden, noch agiler und wendiger, sich langsam aber stetig in ihr Kampfbewusstsein versenken. Bis zum Ende der Hochebene, die um den Kraterrand herum verlief, waren noch einige hundert Meter zurückzulegen und sie rannte so gut und schnell es die mit jedem Schritt dichter werdende Vegetation eben noch zuließ. Ohne größtenteils in Xentar gehüllt zu sein, hätte sie sich wohl kaum so rücksichtslos durch diesen Pflanzenteppich bewegen können, geschweige denn wäre ihr Sturz vorhin so glimpflich ausgegangen, stellte sie dankbar fest.

 

Noch immer drohte ihr keine akute, keine greifbare Gefahr von außen, aber ein arglos wirkendes Opfer zog leicht Jäger an. Diese konnten natürlich ihrerseits nicht ahnen, dass ihr vermeintliches Opfer weit mehr war als das. Was sie sahen, verleitete die Mehrzahl ihrer Feinde zu einem fatalen Fehlschluss. Aber sollte sie ihnen wirklich vorhalten, nicht zwischen Sein und Schein unterscheiden zu können – wohl kaum, denn die meisten waren blutrünstige Bestien. Mit ihr hatten sie sich nämlich keineswegs eine wehrlose Beute ausgesucht, sondern das genaue Gegenteil davon: eine ihnen in vielen Belangen überlegene Kriegerin.

 

Auch wenn sie solche Gedanken – Kampf, Überlegenheit und Triumph – sehr reizten, sie sollte unnötige Feindkontakte vermeiden. Außerdem würde die Situation bei der Rückkehr zum Mjuhlie wahrscheinlich genug Gelegenheit zum Kämpfen bieten. Wenn ausnahmsweise nicht, so konnte sie vielleicht später vor dem Schlafen noch eine kleine Runde spielen, aber erst nachdem sie ihr Lager gefunden und eingerichtet haben würde. Besser vermied sie es ganz, sie waren doch irgendwie alle Lebewesen. Manitu durchströmt alle lebendigen Geschöpfe, ermahnte sie sich rasch und gelobte, das Leben als solches zu ehren und zu bewahren. Nein – es gab da einen entscheidenden Unterschied, schränkte sie den Gedanken schnell wieder ein. Mal abwarten und sehen, wie später ihre Laue sein würde, vertröstete sie sich letztlich doch versöhnlich und schlug in diesem Moment einen Schwung blassgrünen Blattwerks zur Seite. Weit konnte es nicht mehr sein, so dicht, wie die Pflanzen an dieser Stelle nunmehr wuchsen. Höchstens noch gute 100 Meter bis zur Kante schätzte sie sogleich, auch ohne dass sie die Riesenbäume noch gesehen hätte.

 

Von nun an war mehr Vorsicht gefordert. Sie musste früh und schnell die richtigen Entscheidungen treffen. Vor allem aber durfte sie sich nicht überschätzen und ihre Gegner unterschätzen. Sie hatte in der Vergangenheit genug Situationen erlebt, in denen eine Flucht die leichtere, die bessere oder manchmal sogar die einzige Wahl gewesen war. In solchen Notfällen verließ sie sich dann vollkommen auf ihre Technik, entweder durch einen Abgang in vollem Tarnmodus oder mit einer spektakulären Flucht per Jetpack hoch hinauf in luftige Höhen. Das geschah eher selten, war mehr die Ausnahme denn die Regel.

 

Hatte sie sich nicht eben gerade noch vorgenommen, sich in den hochkonzentrierten Kampfmodus zu versetzen? Sie ließ sich heute wirklich allzu leicht ablenken. Das war sicher eine Nachwirkung des vorhin erlebten Schocks oder brachte sie die erschütternde Begegnung des gestrigen Tages noch immer aus der Fassung? Dieser Greis mit seiner widerwärtigen Sippe und die widernatürlichen  Rituale, deren Zeugin sie unfreiwillig geworden war, wollten ihr nicht aus dem Kopf gehen. Bevor die damit verbundenen Eindrücke als Erinnerungen voll wiederkehren konnten, begab sie sich mental wieder auf den Pfad der Kriegerin: Manitu ist groß, der Kampf und das Leben sind gleichsam heilig, begann sie von Neuem mit dem einleitenden Mantra eines Rituals, das sie in ihr Kampfbewusstsein versetzen sollte.

 

Das wollte ihr aber derzeit nicht so recht und so leicht gelingen wie üblich, so verwirrt und irritiert war sie noch immer von den Erlebnissen der nahen Vergangenheit. Und ohne diesen fokussierten Geisteszustand war ihre Kampfkraft erheblich vermindert.

 

Obwohl ihre Einsatzbereitschaft derzeit eingeschränkt war, zögerte sie die ausstehende Aktivierung ihrer Rüstung weiterhin hinaus. Den Helm wenigstens musst sie nun bald aufsetzen, da ihr die Pflanzen zunehmend über den Kopf wuchsen und damit ständig ins Gesicht zu schlagen drohten. Vor allem wurden die Insekten im nunmehr üppigen Pflanzengewirr mit jedem Meter größer, gefährlicher und vielzähliger. Es grenzte bereits jetzt an eine Mutprobe, mit dem nicht aufgesetzten Helm auf den rundum schützenden Verschluss der Technorüstung zu verzichten. Nur noch ein klein wenig länger durchhalten, ein paar weitere Meter – ermutigte sie sich und schlug unterdessen einen handtellergroßen Käfer kraftvoll zur Seite, der direkt auf ihr Gesicht zugeflogen kam. Mit seinem leuchtend roten Panzer, dem tiefen Summen seiner Flügelschläge und besonders den mächtigen Mandibeln wirkte er derart angriffslustig, dass sie in einem unkontrollierten Reflex kräftig zuschlug. Das Insekt krachte daraufhin geräuschvoll an einen nahen Baum, dort knackte es widerwärtig, gab schließlich ein letztes erbarmungswürdiges Quietschen von sich und sank in einem Schwall seines eigenen Bluts an der Rinde hinunter in sein steiniges Grab.

 

Sie hatte impulsiv ihrem Instinkt nachgegeben, obwohl sie ihrem Opfer auch ausweichen oder wenigstens sein Leben hätte schonen können. Sei es drum, so etwas passiert eben in der Wildnis, beschwichtigte sie ihre aufkeimenden Gewissensbisse. Wer oder was sie potenziell bedrohte oder gar wirklich angriff, verspielte dadurch den prinzipiellen Schutz, den sie versuchte jedem Lebewesen zu gewähren. Hierbei waren die biotechnologischen Abscheulichkeiten jenseits der unsicheren Grenzen zwischen Leben und Tod, Natur und Technik klar ausgenommen. Auch wenn sie nicht zweifelsfrei unterscheiden konnte, hatte sie über die vielen Jahre hinweg eine Trennlinie gezogen, die Feind und Freund unterschied. Überleben war hier draußen wichtiger, als jedes noch so überzeugende Bekenntnis. Ihre persönlichen Ideale waren im Existenzkampf bestenfalls Leitlinien. Pragmatik geht vor Romantik, bedachte sie eine weitere Überlebensregel und hatte damit direkt das Prinzip parat.