Fiktionale Kleinode

Teil 3 – Weiterhin ohne Worte mit noch mehr Worten

Ruhe und Frieden

Dritter Teil: Seiten 7 – 10

Also zuallererst: Wo hatte sie vorhin ihren Mjuhlie überhaupt abgestellt? Keine Ahnung! Oh nein, nicht schon wieder – seufzte sie innerlich und setzte daraufhin milde hinzu, dass sie ja immerhin nichts Lebenswichtiges vergessen hatte. Sie war halt einfach so: vergesslich.
Irgendwo hinter der Klippe und dem Wald auf dem Südosthang des Vulkans, soviel war wenigstens gewiss, würde er schon warten. Sollte sie ihn dort wider Erwarten tatsächlich nicht finden, würde sie einfach die Ortung Xentars zu Hilfe nehmen. Denn ohne ihr mobiles Lager, auch das war gewiss, konnte sie morgen nicht weiterarbeiten. Außerdem stand für den kommenden Abend die nächste Abholung der wertvollen Ladung an. Sie hatte nämlich in den letzten Tagen, mehr noch als auf den zurückliegenden Etappen, einen wirklich guten Schnitt gemacht. Bei der hiesigen Dichte an Lebenszonen verwunderte sie diese Tatsache noch immer, aber sie würde sich wohl kaum darüber beschweren. Ihre aufkeimende Sorge war sicher übertrieben, es ging fast immer gut.

 

Was sie an Kleinigkeiten im Alltag vergaß oder auch durch Pech anzog, machte sie mit Konstitution und Können locker wett. Falls die mal nicht ausreichten, half ihr das pralle Arsenal an hochkarätiger Technologie, das sie sich über die Jahre hinweg angeeignet hatte. Auf sich selbst gestellt überleben zu können, war schon mal gut, aber einen riesigen Fuhrpark und die erlesenste Ausrüstung als Bonus oben drauf, war noch besser. Derart moralisch gestärkt erlaubte sie sich entgegen dem Zeitdruck noch ein paar letzte Gedanken vor dem überfälligen Aufbruch.

 

Ihr Geschäftsmodell war gefährlich, dafür aber höchst einträglich. Mit den seltenen und begehrten Raritäten war sie vor Ort häufig Monopolistin, besonders auf den kleineren Märkten. Eine Situation, die sie genoss, und ein Vorteil, den sie gnadenlos ausnutze, indem sie horrende Preise verlangte. Reiche Schnösel gab es überall, auch wenn anfangs von ihnen nur ein paar wenige zu ihr kamen, reichte das meistens schon aus. Sie blieb einfach mehrere Tage am gleichen Ort und überließ den Rest der Eitelkeit und Geschwätzigkeit ihrer zufriedenen, gut vernetzten Kundschaft. Bald – ungefähr in einer Woche, schätzte sie spontan – sollte sie wieder genug Stücke angesammelt haben, dass sich eine solche Verkaufsaktion lohnte. Alte Standardtechnik und Rohstoffe veräußerte sie lieber an ihre üblichen, altbewährten Abnehmer, aber für Sammlerstücke und Kuriositäten war ihr jede mittlere Siedlung ein idealer Absatzmarkt. Je größer die Märkte und damit Siedlungen wurden, desto mehr Hände griffen in den Handel ein und das bedeutete im Endeffekt für sie nur eines: Gewinnminderung.

 

In die großen Lebenszonen, dorthin, wo man manchmal fast vergessen konnte, wie es um die Welt wirklich stand, ging sie prinzipiell nur noch zum Einkaufen und für wichtige Kundenkontakte. Die Weltflucht, die dort kollektiv zelebriert wurde, war für die meisten Überlebenden die neue Normalität geworden. Diese Verdrängung geschah aus leicht nachvollziehbaren Gründen, wie gerade sie besser wusste, als die Meisten. Sogar weit besser wusste, als ihr das trotz aller Härte manchmal lieb war. Dass es viele triftige Gründe dafür gab, der Welt den Rücken zuzukehren, Augen, Ohren und was sonst noch ging, mit angenehmen Reizen zu überfluten, machte daraus aber bei weitem keine Tugend. Nicht einmal eine zweckmäßige Strategie war es, um die Messlatte nicht direkt ganz hoch zu legen. Eines stand fest, sie mochte diese Orte nicht: Zu viel Schein, zu wenig Sein und keinen Sinn, witzelte sie philosophisch.

 

Man musste ziemlich rustikal und auch etwas morbid sein, wenn man hier draußen lebte, konnte jedoch im Gegenzug dafür so viel freier sein. Die mit dem Verlust an Sicherheit verbundene Bürde an Selbstverantwortung, die zum Überleben befähigte, nahm sie dafür gerne auf sich.

 

Kenne die sozioökonomische Welt, ihre Regeln, ihre Tücken und vor allem ihre Konsequenzen – durfte sie das noch als Überlebensregel gelten lassen? Nein, entschied sie spontan, dieser Bereich war für Menschen wie sie zweitrangig geworden und damit eher eine Empfehlung denn eine notwendige Regel.

 

So, Schluss jetzt – unterbrach sie sich ruppig. Nun war es wirklich so weit, nun musste sie endgültig aufhören, ihre Pause übermäßig auszudehnen.

 

Die letzten Sonnenstrahlen verkündeten das Ende des Tages und markierten damit den Beginn einer neuen Nacht in der Todeszone. Die Mauer aus Zwielicht, die ihr vorhin in der Ferne aufgefallen war, überrollte sie plötzlich von hinten und verdichtete sich bedrohlich vor ihr. Der Kraterkessel füllte sich mit Schwärze und alles darin versank in Schatten. Wie bei jedem Sonnenuntergang war damit der späteste Zeitpunkt erreicht, an dem sie noch sicher einen Unterschlupf finden konnte. Bei der unklaren Entfernung und dem schwierigen Terrain musste sie jetzt zu einem Gewaltmarsch aufbrechen. Gute 20 Minuten blieben ihr jetzt noch bis zum Ende der relativen Ruhe. Der Frieden würde bröckeln und schließlich brechen, auch und gerade hier, fern der Ruinenfelder in der grünen Wildnis, spätestens bei der Rückkehr zum Mjuhlie.

 

Also erhob sie sich, verließ geschmeidig ihre lässige Sitzposition am Rande des Abgrunds und glitt direkt schwungvoll in die Hocke. Kurz spannte sie sich – eins, zwei, drei Sekunden lang – und schnellte vom Rand weg nach oben. Aber sie sprang nicht bloß auf, kam nicht einfach nur zum Stehen, sondern drehte sich im Flug akrobatisch um ihre eigene Achse und landete sicher auf beiden Füßen in Laufrichtung vom Krater weg. Da sie mit den Beinen in Schrittbreite, komplett angespannt und mit leicht gebeugten Knien aufgekommen war, rannte sie blitzschnell los. Nicht nur das, sie schlug wirre Haken, duckte sich sporadisch und tänzelte, soweit das nebenher ging. Alles wirkte irgendwie chaotisch, scheinbar deplatziert, wie kindliche Übertreibung im wilden Spiel. In Wirklichkeit wärmte sie sich damit auf und spielte dabei ein paar Automatismen durch.

 

Sie brachte sich unterdessen in Stimmung für die nahende Nacht und beschwor ihre taktischen Ideale: Leidenschaft und Stärke, Eleganz und Schnelligkeit, niedriger und schwankender Schwerpunkt, Täuschen und Tarnen, Unvorhersehbarkeit und wenig Angriffsfläche, trotzdem stets zum Angriff bereit und präzise in der Attacke. So rannte sie dahin, auf ihre skurrile, infame Art und entfernte sich Meter für Meter, Kurve um Kurve von ihrem Ruheplatz an der Kante des Vulkankraters.

 

Bei ihrem Abgang vom Kraterrand hatte sie wohl ein wenig Geröll losgetreten. Nun hörte sie gerade noch im Davonrennen, wie die Steine polternd den Abhang hinunterrollten und wie der Lärm ihres Abgangs als dumpfe Schläge in den riesigen Kessel hineinbrandeten. Sie hielt aber nicht inne, lauschte nicht den verhallenden Geräuschen. Ob diese auf der gegenüberliegenden Seite ankommen würden oder nicht, war ihr während ihres Abgangs herzlich egal. Die bewaldeten Wohntürme am gegenüberliegend Nordwestrand des Kraters jedoch hatten sich mit ihrer satten Schwärze im markanten Kontrast zum leuchtend farbenfrohen Hintergrund tief in ihre Erinnerung gebrannt. Entgegen ihrer Hoffnung begannen diese lebendigen Lichtbilder nun langsam und unerbittlich in ihrem Gedächtnis zu verblassen – Schritt für Schritt. Das erbauende Gefühl, einen wertvollen Augenblick erlebt zu haben, blieb ihr jedoch erhalten, ebenso wie die Frische. Zuversicht durchströmten sie, sie füllte sich lebendig. Sie beschleunigte ihr Tempo und näherte sich zielstrebig der äußeren Kante des Kraterplateaus, hinter der einer Klippe lag. Nach dieser folgte ein erst heftiger, dann sanfterer Abstieg, der die Flanke des Vulkans hinunterführte.
Dort irgendwo musste ihr Mjuhlie auf sie warten – hoffentlich, denn ihre Erinnerung war in dieser Richtung weiterhin mehr als vage. Vielleicht sollte sie sich noch mal intensiver zurückerinnern: Derzeit hetzte sie noch durch kniehohe Pflanzen, aber die Dichte würde rapide zunehmen bis zur Klippe. Auf ihrem Weg dorthin würde sie die Ausläufer des ersten, jungen Waldes erreichen. Bis zur Kante und dem Steilhang, danach ging es erst richtig los. Tiefer Wald, mit allem was dazugehörte, erstreckte sich dort. Eine düstere, feuchtwarme Hölle aus Tieren, Pflanzen, Pilzen und Ungeheuern verschlang einen kleinen Menschen, der sich dort hineinwagte. Das Gefälle fiel auf der Ostseite des Berges bei Weitem nicht so heftig aus, wie auf den anderen drei Flanken. Zusammen mit den Spalten, heißen Quellen und Lavadurchbrüchen war die Strecke dennoch keineswegs zu unterschätzen. Es gab im gesamten Wald ausgedehnte Felder Ajaxfarn. Auf dem Hinweg konnte sie deshalb nur auf wenigen schmalen Wegen, wie durch Schneisen zum Gipfel gelangen. Passte man nicht höllisch auf oder war wie sie gepanzert, so waren tiefe Schnittwunden noch der angenehmste Ausgang einer Begegnung mit diesem Gewächs. Vom gleichen Kaliber waren auch die hier in üppigen Kolonien vorkommenden Todraucher. Dabei handelte es sich um einen schwarzen Kappenpilz mit orangefarbenen Lamellen und den markanten, in schrillem Orange leuchtenden Punkten überall auf dem Hut. Dieser auffällige Pilz war imstande, einen tödlichen Sporenregen auszustoßen, der alles im Umkreis von bis zu einem Meter erwischte. Was daraufhin passierte, hatte sie einmal in abgeschwächter Form erlebt und wollte sich besser nicht daran zurückerinnern. Deshalb machte sie seither sicherheitshalber einen besonders großen Bogen um diese Art. Derartig aggressive Gewächse gab es nicht zufällig weltweit. Bevor sie ihre Ziele aus dem Blick verlieren würde, kehrte sie zum Eigentlichen zurück: der Wald, der Weg hindurch und der immer noch unklare Standort ihres Transportraumers am anderen Ende des zurückgelegten Weges.

 

Die Umgebung beanspruchte zunehmend ihre Aufmerksamkeit. Das Gestrüpp, die Büsche und die nunmehr schon hüfthohen Baumsprösslinge störten mittlerweile ihren Lauf, sodass sie ihr Tempo für das Ausweichen verringern musste. Sie konzentrierte sich nun wieder voll auf die Bewegung, versuchte jeden Schritt, jeden Krafteinsatz, ganz bewusst zu erleben; spürte ihren Atem und ließ ihn trotz der Anstrengung nicht flacher werden, tief in den Bauch, möglichst ruhig und langsam.

Teil 2 – Ohne Worte viele Worte

Ruhe und Frieden

Zweiter Teil: Seiten 4 – 7

Sicherlich, sie konnte einfach ihre Rüstung aktivieren und auf eine Recherche in den Datenbanken ansetzen. Xentar würde das hinkriegen – so hießen sowohl das Model als auch die KI ihrer Technorüstung, denn sie hatte sich nicht die Mühe einer Individualisierung des technischen Bewusstseins gemacht. Sie beließ die vielen oberflächlichen Detaileinstellungen technischer Systeme gewöhnlich in ihrem Werkszustand; das war sicherer, robuster und störungsfreier.

 

Zurück zur Orientierung – der Name irgendeines Vulkans in irgendeiner Gegend war jedenfalls äußerst bedeutungslos für ihre Pläne. Wichtig war hingegen seine Lage, denn hier an dieser doppelten, geo-politischen Grenze hatte sie den nördlichsten Punkt ihrer aktuellen Route erreicht. Von hier aus wollte sie erst ostwärts reisen und dann nach Süden weiterziehen. Sie war gezwungen, die Richtung zwei Mal so drastisch zu ändern, weil sie sonst direkt in die fast immer umkämpften Grenzregionen spazieren würde, vom Vulkan mal abgesehen. Dort trafen Fronten aufeinander, zwischen die sie nie wieder geraten wollte. Im Norden lag eine zweite, für sie auch namenlose, europäische Macht mitsamt einer bevölkerungsstarken Lebenszone, ähnlich ihrem Verbündeten im Osten, der für den Schwenk Richtung Süden sorgte.

 

Vor allem gab es wegen eben dieser Nähe zur menschlichen Zivilisation dort vermutlich sowieso kaum Beute zu machen. Ihr Geschäftsmodell war auf endliche Ressourcen gegründet, die Beute stark begrenzt, deshalb aber sehr begehrt und entsprechend teuer.
So wahllos sinnierend gönnte sie sich noch ein wenig mehr dieser unendlich wertvollen Friedenszeit. Sie kam wieder zu sich, erfrischte ihre Energien, erholte sich mental und lud ganz nebenher zusätzlich noch Xentars Speicher auf. Die waren derzeit beinahe zu 100% aufgeladen, wie ein kurzer Blick auf eine simple Anzeige am linken Handgelenk ergab.
Da sie auf einer Beutetour sowieso nicht anspruchsvoll meditieren konnte, erlaubte sie sich vermehrt geistige Lässigkeiten. Sie ließ sich von ihren Gedanken treiben und triftete zufällig von Einfall zu Einfall. Zu einer Zeit, zu der sie sonst einen Sonnengruß entbot, war sie geistig in alle Winde zerstreut. Sie fokussiert alles Mögliche, nur nicht den Augenblick, schweifte vorsätzlich ab, sprang unmotiviert von Erinnerungen hinüber zu Emotionen, dann kurz weiter zu den Sinnen und wieder zurück.

 

Jetzt dachte sie schon wieder über das Leben in der Todeszone und die dort geltenden Gesetze nach.

 

Es konnte ja nicht schaden, auch in ihrer täglichen Horrorpause mental ein klein wenig zu trainieren. Sie dachte sonst so häufig wie möglich an ihre diversen Grundregeln, denn sie war überzeugt, dass Worte und Gedanken um so mächtiger wurden, je öfter sie gedacht wurden. Wenn diese Regeln ihr Überleben zu sichern halfen, waren sie wenigstens den spielerischen Versuch einer Sammlung und Vereinfachung wert. Es musste doch möglich sein, die unüberschaubare Vielfalt auf wenige Prinzipien zu verdichten, die sie sich anschließend als einzelne Wörter leichter merken konnte.

 

Sie fasste einen Vorsatz: Zukünftig würde sie weiter abschweifen, wollte aber von nun an auf nützliche Art nach und nach das wiedererinnern, was sie die Jahre über an Erfahrungsschätzen angesammelt hatte. Sie wälzte es ja sowieso immer mal wieder in Gedanken, also war es nur eine Frage der Zeit, bis sie alle Ideen beisammenhatte und das mit den einfach zu merkenden Prinzipien würde sie auch irgendwie hinbekommen, fügte sie sich ermunternd hinzu.

 

Ein bisschen Orientierung konnte auch nicht schaden, dachte sie sprunghaft und erinnerte sich mühselig an die entscheidenden Fakten: Dieser Landstrich war vormals als Eifel bekannt gewesen. Hier hatte es Jahrhunderte lang einen ausgedehnten Naturpark gegeben. Im Zuge der globalen Urbanisierung war die Kernregion zur Atmungszone erklärt und entsprechend kultiviert worden. Das Umland war, wie aller Grund und Boden außerhalb der globalen Naturlungen, immer stärker erschlossen worden, nur um dann schlussendlich so zu enden, wie es nunmehr fast überall aussah. Aktuell war der Großraum nämlich restlos entvölkert, wieder ganz und gar verwildert, eine waschechte Wildnis mitten in der Todeszone eben. Nach dem großen Knall hatten besonders der wiedererwachte Vulkanismus und schließlich die globalen Schrecken des unmöglichen Krieges der Region endgültig ihren Todesstoß versetzt.

 

Es war die Hobbyforscherin in ihr, die sich vor den Beutetouren solche praktisch meist zweitrangigen Hintergründe über die Orte aneignete, die sie später auf den einzelnen Etappen ihrer Route besuchen wollte. Da sie sehr vergesslich war, prägte sie sich die wenigen, wirklich wichtigen Tatsachen meist mehrfach ein. Deswegen war sie jetzt sogar ein klein wenig stolz auf ihre Erinnerungsleistung. Ihr Gedächtnis machte ihr häufig zu schaffen und war damit eine zweite Baustelle in ihrem Leben.

 

Gerade deshalb, so tröstete sie sich pragmatisch, tat sie alles, um ihr Bewusstsein zu schulen und ihren unruhigen Körper zu beruhigen – außer im Moment, gestand sie sich ein und geleitete ihr Denken weiter, in andere, neue Bahnen: Sie war in vielerlei Hinsicht Autodidaktin, an Leidenschaft und Akribie mangelte es ihr deshalb aber keineswegs. Zuallererst empfand sie sich jedoch als Kämpferin und Abenteurerin, als eine Frau der Tat, der Aktion und des Kampfes. Denken und Vernunft waren nur Mittel zum praktischen Zweck, nicht mehr aber auch nicht weniger.

 

Solche Momente der Selbstvergewisserung waren im Laufe der wochenlangen Streifzüge durch die Wildnis eine unerlässliche Form der Psychohygiene. Ohne ein soziales Gegenüber, lauerte hier draußen ständig die Gefahr, sich selbst im überwiegenden Alleinsein zu verlieren, schlimmstenfalls verrückt, wahnsinnig zu werden: Wisse wer du bist, was du willst und wie du handelst. Charakterfestigung und Selbstbestätigung zu betreiben, war hierfür ein sehr wichtiges Denkritual, Identitätsarbeit oder besser Selbstsorge das dazu passende Prinzip.

 

Nummer eins, der Anfang war gemacht, lobte sie sich verhalten. Sie verweilte noch ein paar weitere Minuten in ihrer zerstreuten und zugleich sammelnden Versunkenheit. Dabei versuchte sie sich vorsatztreu in der stummen Erinnerung der vielen Überlebensregeln und Grundsätze, die sie über die Jahre hinweg so ersonnen hatte. Sie fielen ihr spontan und auf Abruf nur spärlich ein, also musste sie geduldig mit sich sein. Zudem hatte sie so ihre Probleme damit, die paar gefundenen Erfahrungsschätze in Prinzipien umzudenken. Verallgemeinerung lag ihr nicht, nicht dass sie intellektuell überfordert gewesen wäre, aber sie mochte es überhaupt nicht, dem Besonderen ein Allgemeines vorzuziehen. Es war ihr an sich zuwider, dennoch erkannt sie für sich die Vorteile an und gelobt innerlich Besserung.

 

Sie ermahnte sich, ermunterte sich wieder zu Milde und Gelassenheit. Rasch entspannte sie sich und meditierte im Freistil, paradox und unkonventionell ging das vor sich: Erfüllt und verschont von weiteren Kaskaden wahlloser Eindrücken und kreisender Gedanken, die sich in einer endlosen Kette aneinanderreihten. Keines der Glieder vermochte besonders lange präsent zu bleiben, kaum der springenden Aufmerksamkeit wert. Sie war gleichzeitig gebunden und frei.

 

Zwischendurch kehrte sie immer wieder zurück in die wirkliche Welt, erfreute sich der phänomenalen Schönheit der Situation, in der sie sich gerade befand, genoss sie mit allen Sinnen. Sie konnte über den Krater hinweg bis weit in die Ruinenwüsten des Rheinlands schauen. Verschwommen erkannte sie im Norden noch den weiteren Orbitalkanal, um den herum das Herz der dortigen Lebenszone pochte. Der fast perfekte Sonnenuntergang, seine sanfte Wärme auf der Haut, die dynamische Mischung aus Natur und Kultur und ihre emotionale Reaktion darauf, die rauchige Luft und der säuselnde Wind, von dem die würzigen Gerüche des nahen Waldes herangetragen wurden, vermischt mit Noten von Verbranntem und Schwefel – ja, ganz sicher –, die Steine und die Kiesel, der Sand unter ihrem Hintern und der fast verschwundene Geschmack der Waldbeeren, die sie auf dem Hinweg gegessen hatte, all diese Empfindungen nahm sie dankbar und begierig auf.
Schlussendlich war sie befriedigt, war bereit für die beginnende Nacht. Sie fieberte vor allem bereits dem nächsten Tag entgegen, war auf seine Herausforderungen und Gelegenheiten gespannt, war schon voll Vorfreude. Hoffentlich ging die Nacht schnell vorüber, begleitet von angenehmen Träumen und ohne lästige Störungen, formulierte sie ein paar fromme Wünsche.

 

Ach, das geht schon, gab sie undiszipliniert nach – noch ein paar wenige Minuten durfte sie sich gönnen, sie würde auf dem Rückweg einfach ein bisschen schneller laufen.
Plötzlich donnerte ein urtümlicher Schrei aus weiter Ferne heran. Laut und knarzig dröhnte er trotz der sicherlich großen Distanz, die er zurückgelegt haben musste.
Ihre Gedanken brachen abrupt ab, so als wollte die Welt ihr kundtun, was sie von der eben gefällten Entscheidung hielt: wenig bis gar nichts. Sofort wurden Instinkte geweckt, augenblicklich und unweigerlich. Sie erwachten abrupt und regten sich mehr als nur zaghaft. Der Schrei erinnerten sie daran, ermahnten sie ja förmlich, sich nun endlich loszureißen, um einen sicheren Unterschlupf zu finden. Je länger sie damit wartete, desto schneller musste sie später sein, motivierte sie sich, ihre Laune zu überdenken. Und desto mehr Monster vertreiben, fügte sie zähneknirschend hinzu.

Achtung: Lyrik-Alarm!

Lyrik-Alarm!

Er schrillt unglaublich laut, durch die Gänge der Redaktionsräume von Quanzland. Die Mitglieder der Metatext-Redaktion verkriechen sich in ihren Büroboxen ganz tief unter ihrem Schreibtisch, die Hände fest auf die Ohren gepresst. Wie eine Schulglocke, wie eine Totenglocke, bedrohlich und lächerlich gleichermaßen.

Bisher war der Alarm eher selten erklungen, nun aber wird das öfter vorkommen – dafür sorge ich höchstselbst und mit diabolischem Genuss. Heute erst war ich für einen doppelten Alarm von beträchtlicher Länge verantwortlich. Die Töne hallen mir noch in den Ohren, aber das war es wirklich wert. Von der Banause zum Banausen-Sadist, ist mein derzeitige Leitmotiv im Umgang mit den Redakteuren.

Das schlichte Gedicht, damit eine der kräftigsten und ältesten Quellen dessen, was wir mindestens Literatur, manch einer überzogen gar Kultur nennt: Die gut alte Lyrik. Wer hat sie in der Schule nicht hassen gelernt? Eine Frage deren Umfrage mich wahrlich reizen würde. Ich jedenfalls bin seit Langem wortaffin, musste mich aber noch länge und zwar gründlich von der Lyrikunlust erholen, die mir die Schule, der Deutschunterricht in seiner Brillanz verpasst hatte.

Nun erwacht sie wieder, zaghaft aber stetig. Wo waren und sind Worte freier und fließender: im Roman, dem Internetvideo, dem Hörspiel oder dem Gedicht? In Allem potentiell und in der Gewichtung wohl immer individuell. Meine Gewichtung jedenfalls verschiebt sich ständig.

Diese Dynamik ist hart erarbeitet und erscheint aus anderem Blickwinkle womöglich als Rastlosigkeit, Sprunghaftigkeit oder sogar als Oberflächlichkeit. Vielleicht ist beides wahr, unwahrscheinlich nur eines von beiden oder vermutlich keines. Allerdings gibt es so viel zu entdecken, warum also: rasten, stillstehen oder versinken?

Die doppelte Dosis Dichtung,

derentwegen die demütigen Diener daniederknien,

darf durch die Düsternis der dunklen Dame dein Denken dekontaminieren.

Ein Lyrikalarm setzt an, droht aufzubranden, bricht aber sofort wieder ab: Fehlalarm – Puh, Glück gehabt!

Nun aber endlich zu den zwei Anlässen des nächtlichen Textes, den Dichtern Heine und Hoffmann von Hoffmannswaldau. Beiden gingen wohl offenen Ohres und Herzens durch ihre Welt. Deren Tendenzen in ihrer Vergangenheit und Zukunft aufzuspüren, den Zeitgeist einzufangen und allesamt sorgsam zu verdichten, gelang ihnen meisterlich: „Eins Plus“ – Aufgabe voll erfüllt und mit herausragendem Talent aufgefallen.

Die beiden dazugehörigen Alarme liegen bereits hinter den armen Teufeln, die unter mir und meinen Allüren leiden müssen, seit ich hier und jetzt tippe. Während meine Meta-Texter deshalb nunmehr zögerlich und verschüchtert, manche sogar sichtlich verstört, unter ihren Tischen hervorkriechen, schreite ich stumm tippend zur Text-Tat. Zwei erlesen Exempel deutscher Literatur, Text-Fast-Food möchte ich fast sagen, wären sie nicht so unglaublich nahrhaft und sättigend, wird pünktlich zum Frühaufsteher-Frühstück serviert.

In freudig-fieser Erwartung kommender Lyrik-Alarme, Euer Satorius

P.S. der geschundenen Metatext-Redaktion: Von nun an ist es gegen unsere ausdrückliche Bitte und zu unserem Leidwesen möglich, die lyrischen Exempel an Text-Fast-Food in der Unterkategorie Lyrik-Alarm (Direktlink) zu finden.


Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,

Ich kenn auch die Herren Verfasser;

Ich weiß, sie tranken heimlich Wein

Und predigten öffentlich Wasser.

Ein neues Lied, ein besseres Lied,

O Freunde, will ich euch dichten!

Wir wollen hier auf Erden schon

Das Himmelreich errichten.

Wir wollen auf Erden glücklich sein,

Und wollen nicht mehr darben;

Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,

Was fleißige Hände erwarben.

Es wächst hienieden Brot genug

Für alle Menschenkinder,

Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,

Und Zuckererbsen nicht minder.

Ja, Zuckererbsen für jedermann,

Sobald die Schoten platzen!

Den Himmel überlassen wir

Den Engeln und den Spatzen.

Und wachsen uns Flügel nach dem Tod,

So wollen wir euch besuchen

Dort oben, und wir, wir essen mit euch

Die seligsten Torten und Kuchen.

Heinrich Heine (1797 – 1856), Deutschland. Ein Wintermärchen: S. 6f (Caput 1; 1844)


Was ist die Welt und ihr berühmtes Glänzen?
Was ist die Welt und ihre ganze Pracht?
Ein schnöder Schein in kurzgefaßten Grenzen,
Ein schneller Blitz bei schwarzgewölkter Nacht,
Ein buntes Feld, da Kummerdisteln grünen,
Ein schön Spital, so voller Krankheit steckt,
Ein Sklavenhaus, da alle Menschen dienen,
Ein faules Grab, so Alabaster deckt.
Das ist der Grund, darauf wir Menschen bauen
Und was das Fleisch für einen Abgott hält.
Komm, Seele, komm und lerne weiter schauen,
Als sich erstreckt der Zirkel dieser Welt!
Streich ab von dir derselben kurzes Prangen,
Halt ihre Lust für eine schwere Last:
So wirst du leicht in diesen Port gelangen,
Da Ewigkeit und Schönheit sich umfaßt.

Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616 – 1679), Die Welt (1647 – 1648)

Teil 1 – Wer es nicht lassen kann, sollte es nicht lassen

Er lässt es nicht, kann es nicht lassen! Wer bin ich, ihn aufzuhalten? Also Glückauf, munter weiter des Weges! Aber wo soll es eigentlich hinführen?

Nach den ersten Gehversuchen auf dem steinigen, langen Pfad zum noch namenlosen, unendlichen Roman bekommen wir heute einen ersten Teil eines neuen Kapitels zu lesen. Wie zuvor bei der ersten Version der Rückkehr des Fast-Magisters werde ich den Gesamttext in mehrere Teile zerhacken und nach und nach, Stück für Stück servieren. So wird der Textbrocken sicher bekömmlicher und vielleicht lässt er sich so besser verdauen.

Wieder gewinnen wir damit einen neuen Zugang. Ein anderer Blick schweift, andere Sinne erschließen sich eine Welt – ihre je eigene Welt. Bisher lernten wir neben der von Xaver Satorius, nur die Perspektiven von Yin und Yang kennen. Wer aber ist diese neue Figur aus der Feder des Dilettanten? Hat er dazugelernt oder nicht? Entsteht nun vielleicht sogar zaghaft so etwas wie eine Rahmenhandlung, oder begibt sich lediglich ein weiterer eigenständiger Handlungsstrang auf seinen ungewissen Weg in eine nebulöse Zukunft? Fragt und urteilt selbst, über Ruhe in Frieden.

Schaurig-schöne Lektüre, Euer Satorius

P.S der Metatext-Redaktion: Die älteren Ergüsse des Schreibgesellen finden sich in den vorhergehenden Beiträgen der neuen Unterkategorie Originale (Direktlink), da sie sonst in den tiefen des Archivs ungesehen verschwinden könnten. Aber Achtung, über 50 Seiten allererste Schreibexperimente lauern dort auf den unvorsichtigen Leser! Die Angaben in Klammern ordnen den Titeln ihre Kapiteldetails im Gesamtkontext des namenlosen Werkes zu.

Ein Neumensch im Ausnahmezustand (XS1)

Ein Sturm zieht auf (YY1 – V. 0.9)

Xaver mal anders (XS2)


Ruhe und Frieden

Erster Teil: Seiten 1 – 4

Die Sonne schickte sich soeben an, blutrot hinter den Ruinen der ehemaligen Wohntürme unterzugehen. Auf den Spitzen der erhalten gebliebenen Arkologien, die früher einmal zigtausenden Menschen eine Heimat geboten hatten, wuchsen nun Bäume und Pflanzen. Zusammen mit den Resten der kolossalen Architektur und den Höhenzügen der hügeligen Landschaft zeichneten sich die Silhouetten dieser jungen Wälder malerisch gegen den Horizont ab. Als Schatten lagen sie dunkel vor einem leuchtenden Himmel, der von Hellblau über Blassgelb bis Karmesinrot alle farblichen Nuancen und Abstufungen eines perfekten Sonnenuntergangs aufbot.

 

Sie genoss dieses Panorama, die besondere Situation. Sie war alleine hier draußen, hier oben, am Abgrund. Sie ließ sich während dieser wertvollsten Minuten des Tages von Frieden, Harmonie und Schönheit erfüllen. In der Umgebung gab es vermutlich nur wenige Menschen, denen es wie ihr vergönnt war, die Kraft dieses Anblicks in sich aufsaugen zu dürfen – zugleich atemberaubend und erholsam. So konnte sie Wärme, Energie und Zuversicht für die kommende Nacht tanken. Das war nötig.

 

Aus Erfahrung wusste sie, wie trügerisch diese idyllische Atmosphäre manchmal trotz des scheinbaren Friedens sein konnte; ein Wissen, ohne das sie sich weit tiefer hätte entspannen können. Vielleicht wäre sie sogar fähig gewesen, den Moment in meditativer Versenkung voll ausschöpfen zu können. Teilweise tat sie das hier und jetzt, aber eben nicht mehr als die zum Überleben nötige Anspannung ihr erlaubte. Da war im heraufdämmernden Zwielicht der nahenden Nacht – Friedenszeit hin oder her – natürlich entschieden weniger, als am lichten Tag.

 

Derzeit befand sie sich auf einer weiteren Beutetour durch eine weitere der vielen zerstörten Kulturlandschaften, die einst Zierde menschlicher Hochzivilisation gewesen waren. Sie wusste kaum noch zu sagen, die wievielte Region in ihrer Laufbahn sie hier gerade durchstreifte, ehrlicherweise eigentlich plünderte. Viel wichtiger war nämlich, dass hier wie anderswo Artefakte, Schätze und allerlei Botschaften aus der Vergangenheit nur darauf warteten, erst entdeckt und sodann geborgen zu werden – oder geplündert, was nur eine Frage des Blickwinkels war. Dinge und Informationen von unschätzbarem Wert lockten: Kleingeräte und Speichermedien, wertvolle Rohstoffe und Ressourcen, Kunstwerke sowie Dokumente und allerlei dekadenter Tand. All dies musste nur in Besitz genommen werden. Die handfesten Werte unter dem Beutegut konnte sie anschließend einträglich und problemlos verkaufen. Das nebenbei unablässig gesammelte Wissen und die gemachten Erfahrungen bereicherten hingegen ihren ganz privaten Schatz; und dieser wuchs weiterhin kräftig an.

 

Sie liebte die Zeit hier draußen, obwohl oder gerade, weil das Leben in der Todeszone so unvorhersehbar und abenteuerlich, so wild und gefährlich war. So ganz und gar verstand sie sich an diesem Punkt auch nicht. Es ging ihr wohl vor allem um drei Dinge: Freiheit, Autonomie und Stärke. Drei Werte, die zurzeit jedoch nur zu einem hohen Preis gelebt werden konnten. Stete Wachsamkeit war nötig, geistige Belastungen und physische Strapazen mussten duldsam getragen werden. Und trotz aller Erfahrung und Voraussicht ließen sich häufig auch Kämpfe nicht vermeiden. Auf diese folgten dann im Regelfall: Leid und Qual. Ein Duo, dem sie meistens sogar offen gegenübertrat – austeilen und einstecken, ehrenvoll und mit Würde. Ebenso hielt sie es mit Angst und Furcht; hier draußen ständige Begleiter, die sie mit einer grimmigen Lust am Nervenkitzel willkommen hieß. Blieben zuletzt Ekel und Abscheu, ein Duett, auf das sie gerne verzichtet hätte. Genau in beim Umgang mit diesen beiden Empfindungen befand sich ihre aktuelle Charakterbaustelle.

 

In der erfolgreichen Bewältigung der vielen widerwärtigen Eindrücke, die sich hier draußen unvermeidlich durch alle Sinne aufdrängten, lag das große Kontra ihres Daseins. Denn hier waren unsägliche Hässlichkeit, Übel und Disharmonie allgegenwärtig und aufdringlich gleichermaßen. Soviel zur Reflexion dachte sie zufrieden – ein bisschen Katharsis schadete ihrer Stimmung nie. Um all das, was hier auf einen einstürmte, gesund und munter zu überstehen, bedurfte es gründlicher Psychohygiene, zudem unerschütterlicher Charakterstärke und fester Gewohnheiten. Ihre Rituale und Regeln unterstützen sie bei dieser Aufgabe. Somit gab es – Manitu sei dank – regelmäßig solche Momente wie diesen: Schönheit, Ruhe und Harmonie beseelten zwei Mal am Tag ein kurzes Zwischenspiel, morgens und abends herrschte fast eine ganze Stunde Frieden in der Todeszone. Dadurch gewann sie Zeit und Raum für reichlich Muße und ein wenig Müßiggang, die während der restlichen Stunden des Tages kaum einen Platz fanden. Die übrigen, nicht mehr ganz 22 Stunden, kämpfte sie um Beute und ihr Überleben, von den sechs Stunden Schlaf mal abgesehen. So war es und das war ihr Alltag, bestätigte sie mental die Gegebenheiten.

 

Bald jedoch musste sie aufstehen und ihren Lieblingsplatz der aktuellen Tour – so hatte sie eben spontan beschlossen – räumen. An diesen Ort und die epische Atmosphäre dieser Situation würde sie sich noch lange erinnern, so hoffte sie inständig: Mit dem Hintern lässig auf dem Kraterrand, die Beine im Abgrund eines Vulkans baumelnd, hatte sie einen grandiosen Sonnenuntergang vor einem widerstreitend-schönen Panorama genießen dürfen, das seines Gleichen suchte. Nein, korrigierte sie sich, sie genoss das alles noch immer, in vollen Zügen; genau jetzt und genau hier.

 

Hierauf musste sie sich eine Zuflucht für die kommende Nacht suchen, für sich und ihren Mjuhlie, der sie auf Beutetour stets begleitete. Jener war derzeit schon fast voll beladen, mit den unzähligen Beutestücken der letzten drei Tage. Leider lockte ihr tumber Transportrobot durch seine Andersartigkeit Fauna wie Flora unvermeidlich an. Mit seiner unnatürlichen Geräuschkulisse, seinen seltsamen Gerüchen, vor allem durch seine aufdringliche Erscheinung fiel der Koloss aus Metall und Kunststoff unweigerlich auf. Deshalb war sie es bereits gewohnt, bei ihrer Rückkehr nach der Pause eine Schar neugieriger Wesen vertreiben zu müssen. Die schlichen dann gewöhnlich argwöhnisch um den Kubus herum, der mit seinen drei mal drei mal drei Metern Volumen kaum zu übersehen war, und mussten dann vertrieben oder beseitigt werden. Ihn würde sie daher zuerst und sehr gründlich verstecken müssen, danach konnte sie in der Nähe ein gemütliches Lager für sich selbst einrichten. Eine verlassene Höhle oder ein freies Gebäude wären ein perfekter Unterschlupf für die Nacht, fantasierte sie entgegen Erfahrung und Erwartung zugleich. Dann endlich konnte sie sich in Ruhe hinlegen, einschlafen und hoffentlich gut und intensiv träumen. Die letzte Nacht war gut gewesen. Ja, Träumen war ein toller Ausgleich zur Realität, wie sie in einer Todeszone herrschte.

 

Klar, sie war freiwillig hier, und ja, sie konnte mit ihren Fähigkeiten und ihrer Ausrüstung problemlos überleben – aber wofür die Nacht im Freien verbringen? Es würde unnötig viel, zumal vermeidbare Kraft und überdies wertvolle Ressourcen kosten. Nachts waren erstens weitaus mehr Jäger unterwegs als im hellen Tageslicht und zweitens wollte sie den erholsamen Schlaf nicht aufschieben. Diesen Verzicht wollte und konnte sie auch nur begrenzt technologisch ausgleichen. Sich mindestens sechs Stunden Schlaf zu verordnen, hatte sich bewährt, also würde sie versuchen, es fortzuführen. Eine der Grundregeln des Kampfes, des Denkens und der Natur gebot ihr, überall dort Energie zu sparen und sich zu regenerieren, wo und wann das möglich war. Sparsamkeit war hier draußen unerlässlich, auch wenn sie mit diesem Prinzip nicht immer so konsequent war. Was waren schon Regeln ohne Ausnahmen – genau, keine Regeln sondern Gesetze und mit diesen wusste sie wenig anzufangen.

 

Sobald die Sonne untergegangen sein würde, musste sie den doppelsinnige Ausblick hinter sich lassen, in dem Verfall und Wachstum kollidierten, Leben und Tod symbolisch miteinander rangen, dabei war gänzlich unklar, welche Seite auf lange Sicht die Oberhand behalten mochte. Derzeit führte die Wildnis offensichtlich und klar mit weitem Vorsprung vor der Zivilisation. Es verdunkelte sich zusehends.

 

Bald würde sie dem schwindenden Licht des vergangenen Tages den Rücken zukehren und in Richtung der kommenden Nacht davoneilen. Bei diesem Gedanken schaute sie instinktiv kurz über ihre linke Schulter und erkannte, dass sich die Nacht hinter ihr in einer Front tiefster Dunkelheit ankündigte, die vom östlichen Horizont bedrohlich und scheinbar rasch heranrollte. Von der mächtigen Orbitalverbindung, die vor dem Horizont liegenden, sonst so aufdringlich war, sah sie wenig mehr, als sporadisch gestreute, bunte Lichter, eingefasst von dunklen Konturen vor einer satten Finsternis. Das Territorium einer der seltsamen europäischen Mächte mit einem Stadtmoloch, dessen Namen sich ebenfalls nicht eingeprägt hatte – irrelevant.

 

Sie wendete den Kopf wieder zurück und blickte versonnen hinab in den klaffenden Abgrund direkt vor ihr und unter ihren Füßen, wie er sich kilometerbreit, kreisrund und hunderte von Meter tief vor ihr aufspannte: ein düsteres Loch voll schroffer Felsen, an den Spitzen erleuchtet von vereinzelten Sonnenstrahlen. Die Luft hier oben war merklich heißer und schmeckte sie nicht sogar ein wenig nach Asche und Schwefel, oder bildete sie sich das bloß ein? Der letzte dokumentierte Ausbruch lag sicher schon eine ganze Weile zurück. Die rund um den Krater üppig wuchernde Vegetation belegte das doch eindrücklich. Auch wenn sie sich den Namen dieses gewaltigen Vulkans gar nicht erst gemerkt oder vielleicht auch nur sofort wieder vergessen hatte, der Ausbruch lag sicher schon länger zurück. An die wirklich wichtigen Fakten erinnerte sie sich immerhin leidlich, wenn auch bisweilen etwas vage. Für eine gute Schätzung hatte es meistens gereicht.