Originale

Wochenendlektüren Nr.1 – XS1: S. 1-5/~53 [Update 2.3]

Am Wochenende ticken die Uhren anders. Da hat man Zeit, hat Muse und reichlich Gelegenheit für Kurzweil. Zeit also auch, um mal wieder ganz gediegen zu lesen. Und was bietet sich für die wochenendliche Schmökerei besser an als eine ordentliche Portion gut abgehangenes Text-Slow-Food, zumal es sich dabei auch noch um echte Originale handelt. Serviert werden die üppigen Portionen als bekömmliche Ration von je fünf Seiten pro Wochenende: Willkommen also in der ersten Ausgabe der Wochenendlektüren, einer Kombination aus TSF und Original in Serie und unter neuem Namen, innerhalb derer verschiedene Prosatexte veröffentlicht und zur Diskussion gestellt werden.

Den Anfang macht heute eine bereits vormals hier und sogar zweifach abgedruckte Geschichte, jedoch in einer so stark überarbeiteten Version, dass die urspünglichen beiden Entwicklungsstadien dieses Textes im direkten Vergleich alt und einfach aussehen. Eine literarische Skizze von einst entwickelt sich Schritt für Schritt zu einem Panorama, die Figuren werden lebendiger, Geschehen und Handlung stimmiger, die Sprache konsequenter und kompromissloser, was jedoch der Lesbarkeit nicht immer zuträglich ist. Dafür lernen wir einen stringent inszenierten Cyborg-Gelehrten kennen, dessen Leben aus den Fugen gerät und der dabei wider Willen zum Brennpunkt der Ereignisse in einer möglichen Zukunft einer solaren Menschheit wird. Es hätte so gewesen sein können steht sowohl als Arbeitstitel wie auch als Credo über dem literarischen Experiment, dessen erster von sieben Zugängen den Neumenschen Xaver S. ebenso porträtiert wie er die größeren Zusammenhänge und Hintergründe der fiktiven Zukunft darstellt und reflektiert.

Zukünftig werden mit wöchentlich fünf Seiten andere assoziierte Texte kapitelweise folgen: Inhaltlich anders gelagert, formal, funktional und sprachlich höchst divers wie different hierzu, führen neben Xaver S. (XS) sechs weitere Zugänge hinein in die vielfältige, postutopische Science-Fiction-Welt. Wir treffen auf die Zwillinge Yin & Yang (YY); begegnen der Schatzjägerin Alice Aqanda (AA); lernen Kjotho (KJ), den Regenten von Gor Thaunus, sowie die dort de facto herrschenden Oligarchen kennen; begleiten ein tierisches Trio (TVB), die Ente Trudie, den Raben Balthazar und den schwarzen Schwan Valerian auf ihrem politischen Trip; erleben das Drama rund um die Psychedeeler (PD), eine exzentrische Piratencrew, und nehmen Anteil am Leben und Leiden des Vektoren #42.3 (V8).

Nun aber eine gute erste Wochenendlektüre, Euer Satorius


1. Zugang XS – Schwere Ausnahmefehler im System

Mit jedem Tage und von beiden Seiten meiner Geistigkeit, der moralischen und der intellektuellen, näherte ich mich so ständig jener Wahrheit, durch deren teilweise Entdeckung ich zu einem so fürchterlichen Schiffbruch verdammt worden bin: daß der Mensch in Wahrheit nicht eins, sondern wahrlich zwei ist. Ich sage zwei, weil der Status meiner eigenen Erkenntnis nicht über diesen Punkt hinausgeht. Andere werden folgen, andere werden mich auf dieser gleichen Linie überflügeln. Ja, ich wage anzunehmen, daß die Menschheit sich schließlich bewußt werden wird eines ganzen Gemeinwesens vielfältiger, inkongruenter und unabhängiger Existenzen.

Robert Louis (Balfour) Stevenson (1850 – 1894), „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ (1886)


„Die fehlerhafte und Unglück bringende Auffassung, als sei ein Mensch eine dauernde Einheit, ist Ihnen bekannt. Es ist Ihnen auch bekannt, daß der Mensch aus einer Menge von Seelen, aus sehr vielen Ichs besteht. Die scheinbare Einheit der Person in diese vielen Figuren auseinanderzuspalten gilt für verrückt, die Wissenschaft hat dafür den Namen Schizophrenie erfunden. Die Wissenschaft hat damit insofern recht, als natürlich keine Vielheit ohne Führung, ohne eine gewisse Ordnung und Gruppierung zu bändigen ist. Unrecht dagegen hat sie darin, daß sie glaubt, es sei nur eine einmalige, bindende, lebenslängliche Ordnung der vielen Unter-Ichs möglich. Dieser Irrtum der Wissenschaft hat manch unangenehme Folge, sein Wert liegt lediglich darin, daß die staatlich angestellten Lehrer und Erzieher sich ihre Arbeit vereinfacht und das Denken und Experimentieren erspart sehen. Infolge jenes Irrtums gelten viele Menschen für ’normal‘ ja für sozial hochwertig, welche unheilbar verrückt sind, und umgekehrt werden manche für verrückt angesehen, welche Genies sind. Wir ergänzen daher die lückenhafte Seelenlehre der Wissenschaft durch den Begriff, den wir Aufbaukunst nennen. Wir zeigen demjenigen, der das Auseinanderfallen seines Ichs erlebt hat, daß er die Stücke jederzeit in beliebiger Ordnung neu zusammenstellen und daß er damit eine unendliche Mannigfaltigkeit des Lebensspieles erzielen kann. Wie der Dichter aus einer Handvoll Figuren ein Drama schafft, so bauen wir aus den Figuren unsres zerlegten Ichs immerzu neue Gruppen, mit neuen Spielen und Spannungen, mit ewig neuen Situationen. Sehen Sie!“

Hermann Hesse (1877 – 1963), „Der Steppenwolf“ (1927)


Man starrte ihn an. Dabei saß der graue, alte Mann derzeit einfach nur ruhig da und wirkte, als schliefe er tief und traumverloren. Seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht war glatt und er wirkte totenstarr. Nur wer genau hinsah, konnte ein minimales Zucken erkennen. Im fahlen, faltigen Gesicht verrieten es nur die Augen, auch wenn die Lider wie die übrige Muskulatur körperweit paralysiert waren: Die Augäpfel rollten unter der künstlich stabilisierten Mimik wild umher. Unablässig, aber weitgehend unsichtbar sprangen die blassblauen Iriden chaotisch hin und her; unstet, rasch und irritierend erratisch. Dabei weiteten sie sich, zogen sich wieder zusammen, der permanenten Dunkelheit scheinbar zum Trotz. Ein verborgener Widerspruch, ein störendes Detail das Wissenden vieles verraten hätten. Aber sie wussten es nicht, sahen es nicht; ahnten, argwöhnten es allerhöchstens. Verstehen würden sie es keinesfalls.

Neugierige bis verwunderte, bisweilen milde belustigte und häufiger nunmehr auch ärgerliche, jedenfalls kaum noch verstohlene Blicke streiften ihn, trafen ihn und blieben an ihm haften. Er bot ihnen Nahrung, lieferte ihnen den Stoff für ihr peinlichesu Mitvergnügen und taugte ideal als Objekt für sie, seine sogenannten Mitmenschen, hier und heute genauer Mitreisende. Man war bedürftig dieser Tage, denn viel Leid herrschte unter den Menschen; die Last der älteren und neueren Geschichte war kaum noch zu ertragen. Man war also dankbar für ein scheinbar so wehrloses Opfer, eine abnorme Ablenkung. Denn sie verzehrten sich schier nach Zerstreuung, nach simpler Ablehnung, danach, all das Falsche in ihnen und um sie herum zu kanalisieren, zu fokussieren und zuletzt zu projizieren, nach draußen, möglichst weit weg von sich. Heute wählten sie ihn als Objekt dafür aus; er bot sich an, hatte sich sogar ehrlicherweise förmlich aufgedrängt. Dabei war das, was er tat, weder verboten, noch lag es überhaupt in seiner Verantwortung, was hier mit ihm geschehen war, weiterhin geschehen würde.

Er litt unter einer Serie schwerer Systemfehler; aber auch das würden die wenigsten von ihnen überhaupt erkennen, geschweige denn anerkennen. Er wiederum sagte es ihnen nicht, fragte sie auch nicht nach Hilfe, beschwerte sich sogar bisher beim Personal nicht mal über seinen Zustand. Dabei unterlag die Sicherheit der Fluggäste logischerweise fremder Verantwortung und die Verantwortlichen wussten schließlich genauestens über seine Situation Bescheid; kannten die für seinen besonderen Fall geltenden Sicherheitsstandards. Sollte er also tatsächlich durch ein tumbes Unterlassen der Betreiber einen chronischen Schaden davontragen, außer derzeit weiterhin nicht eben angenehmer Reflexion ausgesetzt und diverser Symptomatik unterworfen zu sein, würde er charakterliche Milde und kultivierten Pazifismus fahren lassen. Er war nur ihretwegen so heftig gestört, total dysfunktional und nicht nur deshalb ziemlich gestresst. Sollten sie doch allesamt, die Mitarbeiter der Korporation ebenso wie die anonymen Mitmenschen, sich selbst wiedererkennen an ihm, gnadenlos in ihrer Widerwärtigkeit durch ihn gespiegelt. Er unterdes ließ sich nicht beirren, weder in seinen Prinzipien noch in seinen persönlichen Präferenzen und Paradoxien. Mit ihren törichten Meinungen über seinen Zustand zeigte sich der ihre umso eindrücklicher und damit untrüglicher. Ängste und Ambitionen brachen sich an ihm, bündelten sich um ihn herum und verliehen ihm hässliche Attribute: krank, gestört, gefährlich, bestenfalls noch dubios oder mysteriös. Er hingegen blieb sich auch praktisch treu: Ignorierte sie, größtenteils und wenn möglich technisch assistiert, indem er völlig in seine eigene Welt eintauchte oder wenigstens die allgemein verbindliche Außenwelt gründlich verzerrte, sie willkürlich manipulierte und somit bedarfsgerecht zurechtstutzte.

So gut es eben ging und so lange es gut ging, tat er das; aber dann gab es immer wieder diese kleinen und größeren Abstürze. Schwere Systemfehler solchen Ausmaßes hatte er seit Jahren nicht mehr ertragen müssen, nicht mal bei den regelmäßig heftigen Sonnenstürmen ging es ihm derart miserabel. Wie von gefräßigen Käfern, die sich gierig durch Silizium, Kunststoffe, Metalle und Fleisch fraßen, wurde er von Bugs überrannt, übermannt und von innen heraus lahmgelegt; seine neuronalen Netze litten effektiv seit kurz dem Start unter allerlei Interferenzen, insbesondere die vielen komplexen höheren Augmentate. Dabei drängte sich ihm, dem kühlen, sachlichen Denker, dieser ekelhaft lebendige Vergleich auf, obwohl er den letzten echten Käfer vor mehr als einem Jahrzehnt gesehen hatte. Er war kurz erstaunt über den Bilderreichtum und die Blumigkeit seines Denkens, verbuchte es dann aber als weiteren Effekt von Deaktivierung und Einsamkeit. Denken in Metaphern war ihm im Normalfall fremd. Mehr noch, er verachtete alle Tropen, sah in ihnen Verwirrungen und Spielereien des Denkens. Aber er riskierte es, dem aktuellen Drängen der rechten Hemisphäre nachzugeben; wollte dabei aus dem ungewollten Zustand wenigstens etwas über sich selbst lernen, sein rohes Ich erleben, bar jeder Assistenz und Modifikation wild denken und zugleich suboptimal existieren.

Jene Situation fußte auf einer Fehlerserie, welche den hyperrealen Weltenwanderer fesselte und band, ihn gnadenlos in die Konsensrealität zurückwarf; hineingepresst in das blasse Abbild, das von ihrem einst so leuchtenden Urbild noch übriggeblieben war: Ein goldenes Zeitalter war in tiefste Finsternis hinabgestürzt; so nostalgisch überzogen urteilte nicht nur er, so oder so ähnlich dachten die meisten seiner Zeitgenossen. Dass alles zu Bruch gegangen und total schief geraten war, war einer der wenigen unstrittigen Allgemeinplätze im Sonnensystem. Sonst hingegen war man sich in Wenigem derart einig; denn es herrschte Zwietracht und die vier Reiter marodierten, errichteten ihre Reiche in den Ländern der Sterblichen.

Dazwischen also, wenn er unweigerlich in diese Realität zurückfiel, abstürzte und hier bruchlandete, schützte er sich sensorisch so gut und so weit es ebengerade ging; denn immerhin, viele der makroskopischen Augmentate funktionierten noch leidlich zuverlässig. Aber das half alles nichts: Er brannte durch, weshalb sein sonstiges Verhalten immer wieder auffällig und tatsächlich abnorm gewesen war. Sein bisheriges Gebaren war bestenfalls noch affektiert zu nennen, schlechterdings wirkt es ungesund und widernatürlich, schlichtweg gestört. Er degenerierte körperlich, so viel war klar, und alle konnten sie seinem sukzessiven Verfall beiwohnen. Immer wieder aufs Neue, selten aufs Gleiche eskalierte sein Körper seit Beginn des Fluges. Er ekelte sie an, faszinierte sie damit zugleich, erregte Aufsehen und Abscheu gleichermaßen.

Es herrschte Chaos in ihm; Entropie zerfaserte, zerfranste, zerfräßte seinen Kosmos, sein Selbst deflagrierte: existenziell, physisch und psychisch, augmental wie hyperreal. Er litt, konnte nicht mehr, irrte mental wahllos umher. Stress, ein für ihn seltener Zustand, griff um sich. Dissoziative Anfänge stürzten hinab in assoziative Verwirrung und kulminierten dann irgendwann in den Fängen nostalgischer Melancholie. Gedankenschimären galoppierten, durchwaberten Schleiern gleich sein entfesseltes, unruhiges Bewusstsein und marterten in Summe mit handfesten Schmerzen seine kaputte Konstitution. Die Käfer wühlten sich unterdessen durch sein Abdomen, labten sich an den diversen Organen, folterten ihn in seiner eigenen Haut. Der Schmerz hämmerte als vielfarbiges Stroboskop. Er wanderte im Zwielicht. Unentwegt blitzten Erinnerungen und Erwartungen auf, abrupt, verbanden sich und drifteten davon, gemeinsam zwar, doch wahllos durcheinandergewürfelt. Sein sonst kontinuierlich und optimal unter Kontrolle gehaltener Leib nutzte den Ausnahmezustand ungehemmt aus. Das wilde Fleisch trumpfte auf, protzte mit sonst regulativ kompensierten Fehlern, erging sich in Marotten und Makeln. Es tat also schlicht, was es sonst nicht konnte, und überschüttete ihn schon seit einer subjektiven Ewigkeit – die sich objektiv auf exakt 95 Minuten, genau 17 Sekunden und gerundete 357 Millisekunden belief – mit einer exquisiten Auswahl an mitunter quälenden Symptomen. Physisch überwogen dabei bisher Juckreiz, Übelkeit, Kopf- und Gliedschmerzen, aber mit nahendem Niesen und beginnendem Augentränen kündigten sich gerade zwei Neuerungen in der gleichfalls unerwünschten wie unangenehmen Reihe an Leiden an. Früher hatte man dieses an sich unspezifische Syndrom als Technose beschrieben; damit meinte man einen instabilen Zustand, der sich bei Neumenschen aus unterschiedlichsten Gründen einstellte. Insbesondere nach dem Versagen eminenter Kernkomponenten trat gewiss Technose auf. Die Körper der durch und durch technisierten Menschen kannten kein autarkes Gleichgewicht, hatten in vielerlei Hinsicht verlernt, selbstständig zu funktionieren, zu leben, waren damit unfähig zur Homöostase geworden und kollabierten deshalb verschiedentlich. Dennoch waren Neumenschen langfristig robuster, langlebiger und leistungsfähiger, sodass der lebenslange Anreiz hoch genug gewesen war, die mitunter und nur mit Pech lebensbedrohlichen Risiken einzugehen. Nun erlebte er diese Kalamitäten am eigenen Leib, zahlte stellvertretend den Preis für den technologisch erzwungenen Evolutionssprung der Menschheit.

Vermutlich würde er also gleich wieder zum Blickfang aller werden. Ganz so, als ob er ein grotesker Clown in einem Zirkus der Absonderlichkeit wäre, der hier, in der nüchternen Sachlichkeit der Kabine, für den gemeinen Pöbel seine bizarren Kunststücke aufführte. Eine Posse für den Pöbel, dargeboten von einem Narren, der sich seit langem schon zum Magier gewandelt wähnte. Er hatte ein Faible für alte Esoteriken und spielte deshalb gerne mit solchen kuriosen Weltbildern; pflegte so den Umgang mit vormodernen Gedankengebäuden, jonglierte und kokettierte dabei munter mit ihren Begriffen und persiflierte rundheraus ihre kruden Ideologien – Tarot und die große Arkana beispielsweise.

Nunmehr reagierte er, deaktivierte per Mentalbefehl die künstliche Paralyse seiner Muskulatur, sonst würde er sich beim nächsten Technose-Schub womöglich unnötige Zerrungen, Hämatome oder dergleichen Ärgernisse zuziehen. Denn, was jetzt genau kommen würde, wusste er nicht und auf die üblichen Notfallmechanismen zur Schadensprävention wollte er sich hier und heute definitiv nicht mehr verlassen.

Schon passierte es; er stöhnte sofort laut auf; nieste daraufhin heftig, herzhaft, mehrfach: „Argh … Haaattschuu! … Haatschiiii! …“, so und ähnlich ging es die nächsten Minuten weiter. Glieder zuckten wild und Körpersäfte flossen ungehemmt, wurden daraufhin umständlich, dennoch effektiv beseitigt. Die ganze Zeit über ließ er seine Lider vor den salzdurchtränkten Augäpfeln, all den ungezügelten Tränen zum Trotz, weiterhin tunlichst geschlossen – diese anonymen Blicke! Sie sollten ihn eigentlich nicht interessieren, plagten ihn jetzt aber trotzdem zunehmend.

Die vielen Ionen in der unregulierten, natürlichen Tränenflüssigkeit schadeten einigen Augmentaten in den beiden Auge; aber was sollte er denn anderes tun als warten, hoffen und weiterhin befehlen. Entsprechend begannen die Augen nun auch spürbar zu schmerzen. Soweit es machbar war, leitete er den Überschuss an Tränenflüssigkeit über einen flexiblen Beipass in seinen Magen um, tat vom Nötigen damit aber nur das soeben und eingeschränkt Mögliche. Eigentlich müsste er jetzt eine gründliche Spülung der Augen vornehmen, ein neues Fluid herstellen und dieses letztlich applizieren, aber er war in seiner Körperkontrolle massiv eingeschränkt. Warum so kompliziert, rief er sich pragmatisch zur Räson und tat, was die Normalmenschen in solchen Fällen auch taten: Im Gegensatz zu ihnen weiterhin vom Außen isoliert, taub und blind, jedoch nicht mehr lahm, wischte er sich kurzerhand die überschüssigen Tränen einfach mit dem Ärmel seiner Adora weg, wobei das multifunktionale Nanitengewebe die Flüssigkeit zum Gros resorbierte und nahezu 100% der Materie für Xaver wiederverwertete.

Inzwischen hatte sein rebellischer Körper begonnen, hemmungslos zu jucken; dementsprechend kratzte er ihn unerbittlich. Versuchte es zunächst, dabei plump scheiternd, durch den mehr als solid zu nennenden Werkstoff der mehr als nur funktionalen Kleidung hindurch. Direkt aus der Starre heraus und gleich mal richtig tief rein in den Slapstick, dachte er nebenbei in einer Mixtur aus Selbstironie und ungewohnter Scham. Sollte er sich nun schlicht wieder sedieren und damit vor der Situation kapitulieren? Nein, er würde sich wehren! Also akzeptierte er den Zustand, dachte kurz nach und fuhr sodann mit der Hand durch die Ärmel unter die beigen Nanofasern seiner Kleidung, einer Tracht, die einer Mönchskutte gleich locker um seinen Körper fiel. Das intelligente Material weitete sich, sobald er in es hineingriff – es funktionierte also immerhin etwas. Der Juckreiz sprang unterdessen, als wollte er ihn verhöhnen, also disponierte er um. Er jagte ihn und kratzte, zaghaft und zerstreut zuerst, fixierte sich dann aber auf seinen Nacken. Seine Körperwahrnehmung transformierte schlagartig, Juckreiz unterlag heftiger Verspannung, krampfartig ansteigend. Dorthin, wo ihr Epizentrum lag, konnte er glücklicherweise gut mit seiner linken Hand gelangen; die Rechte hingegen war zwischenzeitlich taub geworden und deshalb derzeit nur mäßig hilfreich. Dergestalt gehandikapt massierte er sich noch eine Weile mit der Linken weiter – emsig, aber erfolglos; malträtierte dann zunehmend eine Stelle, weiter oben direkt am Haaransatz und rieb vehement dort, wo Juckreiz wieder die Oberhand zu gewinnen schien. Sollte er doch seine Nervenenden ausschalten, es zumindest optimistisch nochmals versuchen, das Problem augmental in den Griff zu bekommen? Es gab immerhin praktisch unendlich viele Optionen und Modifikationen, die er ausprobieren konnte, dazu bedurfte er nicht zwingend der Assistenz durch seine sieben Module oder gar des Zugangs zur Hyperrealität.

#MO2-4 @ The former-walking/never-ending/now-cycling blog

Wie würde wohl ein untoter Blog klingen, der gerade zu seinem unerwarteten Nachleben erwacht ist, nachdem er fast ein Jahr lang scheinbar tot gewesen, vor sich hin verweste und dabei regungslos nur so dalag? „Wrahh“, „Ouuhhh“, „Mrahhh“ kommen wohl nicht in Frage, was aber dann? „Klick, Klack, Hack, Hack“, eventuell, oder „100100 10001110 100010 11 0“, womöglich sogar: „%#*&7!!“ – wer mag, außer mir, darüber spekulieren: niemand?!

Jedenfalls und damit zum allenfalls vorhandenen Wesenskern dieses Textes, finde ich schreibend nach Quanzland zurück; das zwar weit jenseits des Zeitpunktes, an dem die Metatext-Redaktion noch Hoffnung hierauf hatte, dennoch und immerhin: es geschieht! Gerade jetzt und genau hier passiert es: die Wiedererweckung eines stillgestellten und totgeglaubten Textes; die Fortsetzung einer abgebrochenen Spur im Urschlamm; die Rückkehr in ein Reich von Schein und Schemen, wo Chimären sich von neuem erheben und Netz und Nerven durchwabern!

Klingt absurd, ist somit folglich als Wiedereinstieg absolut angemessen, entspricht aber in mehrfacher Hinsicht keineswegs der (digitalen) Wirklichkeit: Der Blog war definitiv still, aber Quanzland deshalb nicht tot; hinter der stillen Oberfläche tobte eine Krieg von Bots und Skripten, wurden zum Erstaunen aller inhaltlich wie ästhetisch vermutlich desintereessierte Benutzer registriert; das Leben aller wie mein Leben pulsierte und schoss wilde Triebe; auch ohne hiesige Dokumentation wurde (Welt-)Geschichte geschrieben, aufwendig und prompt manipuliert und letztlich doch wieder plump vergessen.

Wohlwissend, dass DSGVO hin oder her das Netz nicht vergisst, möchte ich, fragmentarisch wie eh und fabulierend wie je, wieder aufmerken und aufmerksam machen. „Auf was und/oder über was?“, mögt ihr fragen, werte aber fiktive wie loyale Leserschaft: Inhalte, Inhalte und nochmals Inhalte! Wild, wahllos, wahrlos und willkürlich zuglich werden sie sein, banal bis trivial, zufällig und ephemer – ach, wie freu ich mich hierrauf! Bestenfalls werden die Beiträge wieder bedeutungslos, im Unfall vielleicht auch mal gut, schön und vielleicht sogar gelegentlich wahr; philosophisch, ästhetisch, politisch und kulinarisch sowie bisweilen sogar touristisch wirds allemal.

Nun, bevor ich uns perverserweise auf einen chronologisch geraden oder systematisch runden Weg durch textlose Vergangenheit, die nahe Gegenwart oder gar die kommende Zukunft begebe, gibt es lieber einen würdigen Quer-Einstieg: Ein einst gegründetes, aber qua Textscheintot nie weiter tradiertes Format verdient es, den ersten Schuss auf Euer Bewusstsein abgeben zu dürfen.

Willkommen zurück in Quanzland mit einem Trip-Tychon. Drei Radreisen, drei Bilder, damit ein relativ neues und erstes der quanzlandgefährdenden Hobbys: Das Fahrradfahren bzw. -wandern (und fotografieren der dabei gemachten Funde)!


Große Dhünn(-talsperre) nahe Kürten. Breitengrad: 51.074834 & Längengrad: 7.234914 [Mai 2018]

Die Siegauen zwischen Bonn und Troisdorf. Breitengrad: 50.77322 & Längengrad: 7.115907 [April 2018]

Steinbruch bei Rodges nahe Fulda. Breitengrad: 50.560808 & Längengrad: 9.603582 [Mai 2018]


Womöglich bekommt das ganze Thema „(Fahrrad-)Abenteuer“ irgendwann eine eigene und damit neue Kategorie bzw. genauer ein Thema, ähnlich wie Literatur und bildende Kunst, Philosophie und Wissenschaft, Politik oder Kochen das bereits kryptisch betitelt vorgemacht haben; zunächt jedoch floriert und firmiert es im Format Lichtrausch unter dem Banner der sogenannten Mystischen Orte. Nach einem vagen namentlichen Einstieg vor Äonen und in einer Phase des Siechtums nehme ich diese Serie nun wieder auf und belebe sie mit Bildern besonderer Orte.

Prächtige Plätze werden bebildert und gelegentlich beschrieben, Orte, mystische Szenen, aus einer fernen und doch so nahen Welt, deren Namen bedeutungslose Erfindungen bedeutsamer Menschen zu sein vorgeben und viele Geister verwirren. Die Welt war, ist und wird sein; die Länder und die Geschichte(n) sind nur menschengemachte Etiketten – schwarz auf weiß, auf flüchtigem Thermopapier gedruckt und schnell vergessen, verschoben, verdrängt, verändert, verbessert. Kommet und staunet ihr Jünger der herrlichen Heimat (= „Nahe Welt, die schön ist“ – nicht mehr, gern weniger) und huldigt der nationalen (= „Geografischer Herkunftsbereich der Bilderzeugnisse“) Naturschönheit!

Mit abenteuerlich-ästhehtischen Grüßen aus dem former-walking/never-ending/now-cycling blog, Euer Satorius


P.S. @ Metatext-Redaktion (auch wir leben noch, allen Widrigkeiten zum Trotz!): Ähnlich wie im Eröffnungsartikel „Gottfrieds Gruft“ stehen mit „#MO2-4“ Bilder wirklicher Begebenheiten und Plätze im Fokus der Beiträge. Das sind soweit die harten Fakten, wobei deren Dokumente unbestritten bloße Abbilder (und bald auch, Zitat Satorius: „Ab-bewegt-Bilder“, Ab-Videos sein werden) sind und lediglich der Einladung dienen, sich selbst ein Bild zu machen. GPS, Ortsnamen und Zeitstempel sollten den potentiellen Gast außreichend orientieren.

Unähnlich zum Eröffnungsartikel ist hingegen der Stil und wird das auch weiterhin bleiben: divers, different, diffus, debil, dilettantisch. Denn die weiche Fiktion, der metatextuelle Rahmen also, in dem die Mystischen Orte (#MO) ihre Auftritte zelebrieren, bleibt notwendig ein offener; weswegen eine thematische Festlegung für das Format auch konsequent unterbleibt.

Thematisch offen zum einen und hinsichtlich der Formate klar ist zum zweiten: #MO gehört zum Ober-Format Lichtrausch und liegt quer zum Format Originale – lebendiger Sinn, kaum durch Strukturen zu faßen. Da es sich hier nämlich immer um eigene Inhalte dreht, gilt das Motto: Raritäten der Orginalität bestenfalls, Nichtverletzung des Urheberrechts wenigstenfalls.

In dieser zweiten, gleich dreifachen Ausgabe von Lichtrausch feat. Mystische Orte war der (himmelschreiend unrpoduktive) Klient, nach langer Pause (sog. „low-quantity period„) mal wieder ansehnliche Quelle der Inhalte (sog. „highquality content„) in Form von Bild und Text. Über die Qualität des Wiedereinstiegs möge das Publikum urteilen, wir sagen auf jeden Fall lauthals und verbindlich: „Spitze Satorius, weiter so! Wir freuen uns auf Massen zu managenden high-quantity & long-period, high-quality content (sog. „Inhalt„).“

Für diesen ersten von Satorius neuen Lebenszeit-Konkurrenten zu Quanzland und damit den Dingen, die er uns und ihnen, werter Qualitätsleser und werte Qualitätsleserin, neuerdings bei weitem vorzieht, gilt überdies, dass wir in Zukunft von der hier für das Format nur zufälligen Thematik „Wilde Trips“ angeblich noch einiges hören werden. Ebenso soll mit „Lebensräume“, also der Beschäftigung mit Vivarien (Aquarium, Terrarium, Paludarium etc.), eine weitere der vielfältigen Einfältigkeiten unseres Autors thematischer Teil dieses Blogs werden.

Unser thematisch buntes und divers formatiertes Quanzland nimmt diese zwei neuen Facetten gewiss gerne in sein Kaleidoskop an Sinn, Unsinn und Irrsinn auf. Weiteres in allen diesen angedeuteten Richtung folgt bisweilen und in Abhängigkeit von Satorius Produktivität.

Demütigst und vorfreudigst grüßt Sie, Ihre Metatext-Redaktion

#MO1 @ Gottfrieds Gruft

Mystische Orte, dokumentiert und zelebiert durch mysteriöse Datenspuren, künden der Welt von einem modernen Mythos.

Eine chinesische Megaunke mit Eigename Proton (ca. 2,30m Länge bei rund 170kg Gewicht) bewacht eine ganz besondere Süßwasserkaverne Quanzlands, die sich den vielsagenden Namen Gottfrieds Grurft verdient hat. Denn hinter dem im direkten Vergleich relativ kleinen Eingang befindet sich das größte Höhlensystem des Landes. Nach gesicherten Vermessungen erstreckt es sich mit über 17 Kilometern Länge und 5 Kilometern Höhendifferenz vom Stollenberg in Lauterfeld aus in Richtung Nieder-Schlitz. Davon verlaufen 7 Kilometer oberhalb, weitere 10 Kilometer hingegen unterhalb des Wasserspiegels. Was weiter drinnen, also darunter in der Tiefe, jenseits der tiefschwarzen Schlünde der extrem steil nach unten verlaufenden Enden des erkundeten Bereichs des gigantischen Höhlekomplexes noch alles verborgen liegt, wird bis auf weiteres dort im tiefen Schatten, unter dunklem Wasser begraben bleiben. Neben mangelndem Interesse und nicht vorhandener Wertschätzung für aufwendendige, teure Naturforschung, verhindert vor allem eine gruselige Geschichte voller Unfälle, Misserfolge und tödlich verlaufender Expeditionen weitere Erkundungen. Die Bezeichnung als Gruft kommt also nicht von ungefähr. Nicht zuletzt sorgen auch solche unter Naturschutz stehende Monstrositäten, wie oben zu sehen, eindrucksvoll für bürokratische und schlimmer noch vor allem lebensbedrohliche Schwierigkeiten. Möge Gottfried, wer auch immer er gewesen sein mag, in Frieden ruhen und möge Quanzland demütig und stolz sein, im Angesicht eines seiner mystischen Orte.


P.S. der Metatext-Redaktion: Dieses Bild, seine stilistisch bedenkliche und kryptische Unterschrift und der pseudoinformative Beschreibungstext tauchten heute Mittag unvermittelt im Blog auf, ohne das jemand wüsste, woher sie gekommen, noch wer sie verfasst, schon gar nicht warum überhaupt gemacht. Was ist hier bloß los, fragen wir uns, während Satorius dieses überraschende bis dubiose, contentgenerierende Phänomen einfach gelassen hin- und humorvoll annimmt. Er instruierte uns lappidar, den sonderbaren Inhalt zu posten. Damit vereinnahmen wir ihn ganz frech als „MO1“ für unsere Zwecke und publizieren die Daten bis auf dieses P.S. und die vereinnahmende Überschrift unverändert.

Fast raus aus der Betaphase: Version 0.9 von YY1

Ich befürchtete schon, mein auf eigenen Wunsch hin weiterhin anonymer Kollege aus der Metatext-Redaktion habe seine literarischen Schreibambitionen aufgegeben. Keine Resonanz auf Quanzland, von mir nur gutgemeinte Kritik und Ermunterungen, da kann einen schon mal die Unlust packen, unterstellte ich ihm deshalb.

Seit gestern kenne ich die wahren Gründe und Zustände. Heraus aus der konstruktivistischen Interdependenzfall, weiß ich nun, dass besagter Anonymus weiterhin an seinen Erzählungen und ihren Texten werkelt. Allerdings sei er zurückhaltender geworden, da ihm seine freimütige und offensive Suche nach Probelesern zu einem viel zu frühen Zeitpunkt kaum Resonanz und nur vernichtende Kritiken eingebracht habe. Also sei es ihm nun sehr wichtig, einen Text solange zurückzuhalten, wie dieser nicht mehrfach ausgebaut, korrigiert und gegengelesen worden sei.

So weit, so gut – nach den ordentlichen Publikationen von Ein Neumensch im Ausnahmezustand (XS1 – V. 1.0), Xaver mal anders (XS2), Ein Sturm zieht auf (YY1 – V. 0.8), Ruhe und Frieden (AA1 – 1.0) in der mehr oder weniger tiefen Vergangenheit, zieht er wieder eine Konsequenz und gibt einen älteren Text neu heraus: Aus Ein Sturm zieht auf wird Etwas stinkt gewaltig in Gor Thaunus; aus dem alten, ersten Zugang zu Yin & Yang wird ein neuer, den er – Nerd, der er ist – als Version 0.9 dieses Textes beziffert. Ebenso hat er für die am Ende sieben Zugänge zum Romankosmos eine Kurzsigel mit Kapitelnummer eingeführt, was die seltsamen Angaben in (Klammern) erklärt.

Auch wenn ich wieder reichlich gutgemeinte Hinweise und Verbesserungvorschläge zur Hand hätte, erspare ich uns diese und lasse den Text selbst wirken. Er ist übrigens durch sein neustes Update – diese semantische Steilvorlage musste ich einfach mitnehmen – von 13 auf 27 Seiten (Arial; 12 Schriftgröße; 1,4mm Zeilenabstand; 2,5cm+2,5cm Rand) angeschwollen.

Er hat desweitern während des langen 5-Uhr-Tee-Gesprächs zweier schreibender Seelen Andetungen gemacht: über zukünftige Aktualisierungen, Fortsetzungen und die noch ausstehenden vier Zugänge zu seinem andeutungsfrei namenlosen Episoden-Roman. Dazu aber an anderer, zukünftiger Stelle mehr; sonst laggt die Leselust genau so schlimm wie das literarische Update, das gerade heruntergeladen wird. Denn dieser Text hier ist im Grunde die elegantere, bisweilen unterhaltsamere Version des guten alten Ladebalkens. Stellt ihn Euch an dieser Stelle als fast ganz gefüllt vor.

Orange bar

Viel Lesespaß mit den ungleichen Zwillingen aus der dystopischen Sklavenstadt Gor Thaunus, Euer Satorius


1. Zugang (YY1) – Es stinkt gewaltig in Gor Thaunus

Seiten 1 bis 27

»Hallo, ihr da drüben! Wir sind zwei und zugleich eins – mein Bruder Yang und ich – Yin, einfach nur Yin. Willkommen in Gor Thaunus, wo NÄCHSTENLIEBE noch großgeschrieben wird«, begann ich meinen gefährlichen Begrüßungsversuch der vier Fremden mit einem meiner liebsten Sprüche für die Gattung Neuankömmling.

Ich hatte meine abgegriffenen Worte über den halben Platz hinweg Richtung Südosttor gebrüllt, so sehr und so weit ich mit meinem Stimmchen eben brüllen konnte. Wie meistens, wenn einer von uns sich lautstark bemerkbar machte, interessierte das die Wächter in der Nähe überhaupt nicht. Wir waren nicht der Aufmerksamkeit wert sowie keiner Strafe würdig und wurden, wo das möglich war, komplett ignoriert. Wir waren auf einer Ebene unsichtbar, auf allen anderen jedoch nicht und deshalb unfrei. Erwartungsgemäß beachteten mich die Wächter dort drüben auf dem Wall nicht – mein Glück, das ich zuvor knallhart einkalkuliert hatte. Das war also nicht das Ungewöhnliche im Moment, sondern die Tatsache, dass ich dieses Gespräch überhaupt schon eröffnen konnte. Eigentlich sollten besagte Wachen wenigstens ihre Arbeit machen und die vier Eindringlinge spätestens beim Eintritt kontrolliert haben. Was soll’s, tröstete ich mich, das war nicht mein Problem, im Gegenteil, mir bot es vielleicht eine willkommene Abwechslung. Mit Yang war heute kaum was anzufangen, der döste schon eine Weile vor sich hin oder er tat jedenfalls erfolgreich so als ob, nur um mir im richtigen Moment dazwischenfunken und die Show stehlen zu können. Ich kannte mein Bruderherz nur zu gut, aber hier gab es bisher nichts zu stehlen. Mit meiner Eröffnung wollte ich cool, schlagfertig und selbstsicher wirken, was ich natürlich Allessamt nicht wirklich war. Erst recht nicht so kurz nach dem Ende der heutigen Tagschicht vor einer guten Stunde. Ich war offen gestanden reichlich müde, ziemlich übellaunig und fertig mit der Welt. Außerdem waren die erbärmlichen Gestalten dort drüben kein allzu begeisterungsfähiges Publikum für meine kleine Showeinlage. Wenn sie mich überhaupt verstehen konnten – nicht jeder hier sprach Deutsch. Auch wenn es die gängige Sprache in Gor Thaunus und der weiteren Umgebung war, wer wusste schon von woher die vier Typen kamen.

Woran es auch immer liegen mochte, ich erntete auch weiterhin keine Reaktion auf meine Ansprache, nicht Mal die kleinste Regung, nichts. Wie sie so herumstanden in ihren versifften, vor Dreck stehenden Klamotten, galt es hier weder irgendwen zu beeindrucken noch, gab es irgendwas zu gewinnen. Die Gruppe verharrte seit einigen Minuten unbewegt im Eingangsbereich unseres Lagers, nachdem sich das schwere Panzertor mit einem unheilvollen Krachen fest und unwiderruflich hinter ihnen verschlossen hatte. Zuvor war es klangvoll und träge zur Seite und ebenso auch wieder zugeglitten, minutenlang in gähnender Langsamkeit. Daraufhin hatte ich meinen ersten, nun offiziell gescheiterten, Kontaktversuch unternommen. Auch wenn das keiner mitbekommen haben dürfte, irgendjemand von den BeatBoyz musste wenigstens so viel Aufmerksamkeit aufgebracht haben, das Tor zu bedienen und sie damit zu uns hereinzulassen. Den Rest der üblichen Prozedur schienen derjenige und seine Kollegen, jedoch kurzerhand vergessen zu haben. Das war typisch für das verstrahlte Pack, es war ja auch nur unsere Sicherheit, die sie mal wieder aufs Spiel setzten. Myrte aus Kuppel 67 hatte mir heute Morgen erst wieder grausige Geschichten über die kürzlich gebrochene Kontaminationsgrenze am Rhein erzählt. Seitdem waren die bisher schon lebensgefährlichen Todeszonen noch schrecklicher geworden.

Während das Krachen des schweren Panzertors noch in der Ferne verhallte, waren die beruhigenden Geräusche des prasselnden Regens wieder in den Vordergrund der Wahrnehmung zurückgekehrt – rhythmisch, wohltuend, beruhigend und angenehm einschläfernd. Die düsteren Gedanken drängte ich beiseite. Schon rang in mir eine jugendliche Neugier mit der gähnenden Müdigkeit und meiner wohlverdienten Unlust, mich noch ernsthaft mit der Außenwelt beschäftigen zu wollen. Vor allem wenn sie sich so widerspenstig gab wie diese lahme Gruppe da drüben.

Nach einem knappen Sieg der Neugierde konnte ich aber trotzdem nicht viel erreichen. Ich hatte mich in meinem Sitzsack aufgesetzt und nach vorne in ihre Richtung gebeugt, angestrengt und konzentriert zu ihnen hinüber geschaut, konnte aber wenig erkennen.

Derart schlechtes Wetter war leider üblich und zudem lag die nächste Sturmnacht lauernd in der Luft. Miserable Voraussetzungen also, um von hier aus mehr mitbekommen zu können als die nötigsten Allgemeinheiten: Die vier dunkelgrauen, auffällig kleinen Gestalten standen auf dem dunkelbraunen, mit Schlamm bedeckten Boden des Torplatzes vor dem dunkelgrünen Südosttor und regten sich weiterhin nicht. Niemand kümmerte sich um sie.

Unterdessen reichte der knappe Punktsieg der Neugierde noch lange nicht, um aufzustehen. Außerdem war ich eben schon ein kleines Risiko eingegangen, als ich mit den Neuankömmlingen frei heraus ein Gespräch beginnen wollte. Bevor die Wachen nicht ihre Bühne bekommen hatten, war uns das Sprechen mit den Fremden strikt untersagt. Streng genommen durfte ich als Sklavin sowieso keine Freien ansprechen, höchstens auf sie reagieren. Warum also mehr tun als nötig und gut für mich selbst? Wenn sie irgendwann wieder richtig im Kopf waren, wussten sie ja jetzt, wo sie mich finden konnten. Da bisher keine Wachen aufkreuzten, ließ ich meinen Gedanken freien Lauf. Hier in der tristen Wirklichkeit gab’s mal wieder nicht viel zu holen.

Der Ausblick über die Gruppe und den äußersten Schutzwall der Stadt hinweg bot bei gutem Wetter einen tolles Panorama – nur kam das fast nie vor. Das wusste ich nur zu gut, denn man prägte sich die wenigen schönen Dinge, die es hier überhaupt gab, besser gründlich ein. Ohne solche Rückzugsorte verlor man leicht den Lebenswillen. Leider war derzeit mal wieder so gut wie nichts von dem bemerkenswerten Fernblick zu sehen, also blieben mir Fantasie und Träumerei als Quellen: Rundherum bis an den Rand von Gor Thaunus erstreckten sich die zerstörten Bezirke einer riesigen und wilden, mit Pflanzen überwucherten Ruinenlandschaft, nur in einer Richtung eine Ausnahme, in meinem Rücken, jenseits aller Mauern, jenseits von all dem Mist hier drinnen, weit hinter dem Stadtzentrum oben auf dem Berggipfel mit seinem pompösen Zentralturm. Dort erstreckte sich ein ausgedehnter Urwald. Als verschlungener, bunt gefleckter Pflanzenteppich wand er sich bergauf durch das Hügelland im Nordwesten. Einige Baumriesen standen dort, die tausende Meter in die Höhe ragten, bis hinauf in die Wolken, vielleicht sogar über die Wolken hinaus. Manchmal stellte ich mir vor, wie ich mich traute und dort hin floh, um dann mutig an einem der Bäume hinauf bis in die Wolken zu klettern. Zuletzt kam ich erleichtert und voll Freude und Hoffnung oben an. Ich gelangte über die Wolkendecke hinaus und betrat eine himmlische Welt, in der ein neues, weit besseres Leben auf mich wartete, in der es friedlich zuging und wo statt Elend und Verfall, Schönheit und Glück herrschten. Die farbenfrohen Bilder begannen gerade in meiner Vorstellung zu erwachen, beinahe so, wie in den tollen Märchen, die unsere Eltern uns früher zum Einschlafen vorgelesen hatten.

Das waren harmonischere Tage gewesen, damals in unserem früheren Leben, in einer unwiederbringlich verlorenen Vergangenheit. So angenehm und tröstlich die damit verwobenen Traumbilder auch waren, so falsch und unwirklich waren sie, so dumm und naiv war ich, wenn ich sie mir ständig erlaubte. Es gab dort oben genauso wenig zu finden wie überall draußen in der Todeszone, nur tote Vergangenheit wartete. Hinter und über mir lagen also Vergessen und Tod, um mich herum nur menschenfeindliche Hölle und vor mir, in der Zukunft. Was würde da wohl alles auf mich zukommen: eine steile Karriere als Edelsklavin, vielleicht der kaum mögliche Aufstieg zur Freien, erworben durch herausragende Leistungen und Treue im Dienst für Gor Thaunus? Lächerliche und unwahrscheinliche Vorstellungen spann ich damit, nicht des Träumens wert. Hier im Dreck der Außenstadt und gefangen im Glaskäfig war Schluss, war das Ende des Lebensweges schon jetzt erreicht – einmal Sklavin, immer Sklavin.

Die Gedanken an die raue Wirklichkeit holten mich ein und damit zurück in die unwirtliche Außenwelt. Heute blieb alles hinter den Mauern dem unerfahrenen Blick verborgen. Scheiß Wetter herrschte hier fast alle Tage und gewalttätige Natur immer, rundherum soweit das Auge reichte und die Füße trugen – also im Prinzip auch hier: Hauptgewinn. Als Trostpreis gab es obendrauf den dampfenden Schlamm, der sich überall zwischen den Glaskuppeln breitmachte, abscheulich stank und durch den häufigen Regen widerwärtig vor sich hin gluckste und schmatzte. Er war ein schleichender Vorbote der aggressiven Natur da draußen, den selbst die Schutzwälle nicht aufhalten konnten, was sie hier in der Niederstadt wohl auch nicht sollten. In den weiter innen liegenden Stadtbezirken war nichts mehr davon zu sehen. Außer an mir und den anderen Sklaven, die dort ein- und ausgingen, gab es weiter im Zentrum keinen Dreck. Er war alles in allem ein militantes Dreckszeug, das mir gerne gestohlen bleiben konnte.

Davon mal abgesehen war ich sehr gerne hier auf dem Platz vor dem Südosttor, was bei unseren Wohneinheiten – den erwähnten Glaskäfigen – kein Wunder war, jedoch sah man nach einer Weile unweigerlich aus wie ein Schlammmonster. Da half am besten, den Dreck geduldig trocknen zu lassen und dann grob auszubürsten, immer wieder – Tag für Tag, ohne Unterlass.

Bevor ich jetzt noch anfing, mich über meinen ebenso unablässigen Arbeitsdienst zu beschweren, oder mich am Ende sogar noch über ihn zu freuen, sollte ich mich doch noch mal mit den Gegebenheiten beschäftigen: Die vier Wanderer hatten sich zuvor mühsam durch die hiesigen Todeszonen mit ihren Tonnen an Dreck und Horden von Ungeziefer schlagen müssen – vom tödlichen Rest ganz zu schweigen –, da war ich mir absolut sicher. Unterwegs mussten sie ständig fürchten, von irgendetwas angegriffen und verletzt, wenn nicht sogar getötet zu werden. Oder sie waren nicht auf derartige Gefahren gestoßen, die Glücklichen, und waren wenigstens in dieser Hinsicht heil bis hierhin durchgekommen. Aber was jetzt zu sehen war, wie sie aussahen, wirkten sie reichlich verstört und hätten sie sonst dem Charme meiner Begrüßung widerstehen können? Nein, keinesfalls, die mussten echt kaputt und ziemlich hinüber sein.

Ob die abgrissenen Figuren frische Jagdbeute oder verzweifelte Flüchtlinge waren, wusste ich nicht, aber am Ende war das sowieso gleich. So gut wie alle waren sie Opfer und verloren spätestens in dem Moment ihre Freiheit, in dem sie ihren Fuß in diese verfluchte Stadt setzten und nichts weiter anzubieten hatten als ihr nacktes Leben, ihre Hoffnungen und Träume.

Trotzdem gab es einen mehr als kosmetischen Unterschied zwischen den beiden Gruppen: Als Beute wussten sie von Anfang an, was hier gespielt wurde, und mussten den ersten Marsch quer durch die tödliche Wildnis schon als Sklaven zurücklegen, wurde also selbstverständlich zuvor schon vorläufig mit Implantaten versehen und waren damit seither unter Kontrolle. Mitten durch den Albtraum einer waschechten Todeszone ging es für die frischgebackenen Diener, hin zu ihren neuen Herren. Die hiesigen Traditionen waren nicht nur in dieser Sache ausgewiesen unmenschlich, aber so sah der Ritus in Gor Thaunus es eben vor. Die Anwesenheit in dieser Stadt und deren Schutz musste man sich erst symbolisch verdient haben, durch gelebte Bereitschaft zu Leid und Opfer. Auf dem ersten Weg im neuen Leben sah man die rettende Zuflucht die ganze Strecke schon in der Ferne liegen, wie sie blinkte und mit ihrem Leuchtturm lockte. Trotz allem, was zuvor eventuell passiert war, sehnte man die Ankunft dort herbei. Am Ende, ungefähr einen halben Tagesmarsch später, wenn alles gut gegangen und man es soeben noch im Hellen geschafft hatte, war man regelrecht froh, in seinem zukünftigen Gefängnis angekommen zu sein – pervers, aber wahr. Erst der barbarische Überfall, mitsamt der Gefangennahme und den schmerzhaften Eingriffen der Versklavung, dann die Drohung, einsam in der Todeszone krepieren zu müssen, zuletzt nach einer wirkungsvollen Pause das ach so großzügige Angebot: Sicherheit auf Kosten aller Freiheit. So eine Versklavung nach Art von Gor Thaunus war schon eine ziemlich bittere Angelegenheit. Nicht nur das, diese Qual war ein einschneidender erster Level eines schlimmen Spiels, war nur der Anfang eines Parcours von Gehirnwäsche, gelegentlicher Folter und alltäglicher Schinderei.

Einzig in dieser Hinsicht ging es den zunächst freiwilligen Flüchtlingen besser, gleich ob sie aus purer Hoffnung oder schierer Verzweiflung Zuflucht hinter den mächtigen Mauern dieser Stadt suchten: Für sie begann das Grauen hier drin nach dem Schrecken dort draußen zumeist und zumindest etwas später, insgesamt etwas schleichender und angeblich auch nicht immer zwangsläufig. Denn gerüchtehalber konnte man, sofern vorhanden, durch Besitz oder Talent bei der Einreise gewisse Vorteile für sich erwerben. Das klang für mich glaubhaft, denn Gleichheit war hier ein Fremdwort unter vielen anderen, die ich alle nur dank meiner elf Jahre Lebenszeit in wohlbehüteter Freiheit kennengelernt hatte. Hier in Gor Thaunus, als Sklavin, wurde mir solches Wissen zum Fluch.

Auch Yang und ich hatten die Tortur der ersten Wochen hinter uns gebracht, vielmehr bringen müssen. Wir waren damals vor gut sechs Jahren nicht als Flüchtende hierher gekommen, sondern als Geraubte. Damals hatten auch wir den Ritus der vier Himmel durchgemacht. Dafür wurden wir nach der ersten Ankunft noch drei weitere Male in der Todeszone ausgesetzt und mussten daraufhin, Gor Thaunus ständig als einzig verlässliche Orientierung am Horizont zu sehen, in einem Tagesmarsch unseren Weg zurückfinden. Während dieser Tage waren wir andere Menschen geworden: Gebrochene. Beim ersten Mal war es schon schlimm genug, aber mit jedem weiteren Mal wurde es schlimmer, denn man wusste nun, was einem alles dort draußen drohte, hatte das Leid gesehen und gespürt. Kaum eine der Torturen durch die Todeszone ging ohne Tote und Verletzte unter uns Sklaven ab. Die dauernde Todesangst sorgte, zumal man ohne Nahrung und Wasser ausgesetzt worden war, für unangenehme Grenzerfahrungen. Danach wusste man kaum noch, wer man vorher gewesen war. Genau darum ging es ihnen. Aus jeder Himmelsrichtung einmal hatten sich Neulinge in ihrer ersten Woche als Sklaven zurück zum Lager ihrer Meister durchzukämpfen. Besser dachte ich nicht weiter darüber nach, es waren schreckliche Erfahrungen gewesen. Das Geschehen der letzten 15 Minuten nötigte mir jedoch die Erinnerung an meine eigene Vergangenheit, meine damalige Rolle in der gleichen grausamen Inszenierung auf. All das lag zwar lange hinter mir, aber – leider, ich konnte daran nichts ändern – noch mehrfach vor den armen Teufeln dort drüben.

Ich beschloss, noch einen zweiten Versuch zu wagen, rief noch lauter als eben: »Hey, ihr vier! Keine Angst – kommt einfach zu uns rüber, wann ihr könnt und wenn ihr wollt.«

Das war nett und gleichzeitig ehrlich, aber mehr konnte und wollte ich nicht riskieren – jedenfalls nicht in meiner heutigen Stimmung. Nach einem scheußlichen Tag voller Strapazen und Demütigungen in einer zermürbenden Arbeitsschicht von regelmäßig 12 Stunden. Mein kompletter Rücken schmerzte so sehr, dass fast jeder Muskel dort verhärtet zu sein schien. Die meisten Gelenke und besonders die beiden Knie taten mir weh. Auch Kopfschmerzen mischten sich unter die restlichen Leiden, fielen als normaler Dauerzustand aber kaum ins Gewicht. Das alles war kein Wunder, so schwer wie wir Sklaven gefordert wurden, ohne dass unsere Gesundheit eine große Rolle spielte. Dadurch wurden mir sogar die relativ leichten Aufgaben meines Arbeitsdienstes zur unmenschlichen Belastung gemacht. Wenn ich mir im Vergleich dazu vorstellte, wie es in den Minen und Manufakturen zuging, durfte ich mich wirklich nicht beklagen. Was Yang und andere Industriesklaven mir manchmal darüber berichteten, war widerlich. Das Gefährlichste, was mir passieren konnte, war ein geiler Kunde, von Muskelschmerzen mal abgesehen.

Nichts, immer noch keine Reaktion auf meine Ansprache. Wahrscheinlich waren die heftig traumatisiert und brauchten ihre Zeit, um wieder klarzukommen. Langweilig – trotz aller gebotenen Empathie.

Egal jetzt – ich sollte einfach etwas länger warten, nur Geduld. Nur noch einige Atemzüge, mein Bruder regte sich. Ich konnte mich einfach zurücklehnen, entspannen und zusehen. Mal ehrlich, ich hatte es ernsthaft versucht. Abwarten und schwesterlich auf ihn aufpassen, mehr braucht ich von hier an nicht mehr zu tun. Gleich würde es passieren, das spürte ich.

»Ey, Freaks! Hey – hier drüben, wir sprechen mit euch Freunde! Seid ihr eingefroren, angewurzelt, taub oder sonst was in der Art?«

»Mein süßes Schwesterherz und ich sind zwei verdammt unterschiedliche Marken, nicht wahr? Aber so dicke, dass wir eigentlich eins sind, da stimm ich ihr schon zu.«

Ich hatte genug gedöst und unweigerlich dabei zu gehört, wie Yin sich abmühte. Das Frischfleisch war zu nichts zu gebrauchen – voll daneben und total durch. Das war eine schöne Aufgabe für mich, diese Typen würde ich schonungslos aufklären. Scheiss drauf, ob sie unsere Sprache verstanden, hier in Gor mussten sie sich anpassen, genau wie wir.

»So wie ihr ausseht, checkt ihr gerade zwar eh nichts, aber – das kratzt mich nicht. Ich helf euch trotzdem mal ein wenig auf die Sprünge.«

»Eins ist von nun an anders und das müsst ihr euch von Anfang an tief einspeichern: Wir sind hier keine Menschen unter Menschen. Wir sind Sklaven unter Herren, unfrei und abhängig, nichts weniger als räudige Sklaven, einen Dreck mehr wert, als unsere Arbeitskraft. Also rafft das schnell und fügt euch ein.«

Härter, mehr davon – die würde ich schon weichkochen und damit vielleicht sogar wieder zum Leben erwecken. Selbst wenn sie kein Deutsch sprachen, musste mein ausdruckstarke Ansage bei ihnen ankommen.

»Jeden verdammten Tag müssen wir uns abgefuckten Gesetzen unterwerfen, deren Sinn wir nicht verstehen. Den lieben Tag lang in viel zu langen Arbeitsschichten schuften, stets buckeln, fein kuschen und immer brav parieren, sonst setzts was. Wenn wir mal nicht spuren, bekommen wir keinen Fraß mehr oder die komischen Dinger, die sie einem in den eigenen Körper gepflanzt haben, verpassen euch höllische Stromschläge, mitten hinein in die Gedärme. Ach ja, vielleicht habt ihr so was noch gar nicht, aber keine Sorge, ihr bekommt auch noch euer Geschirr, dauert gewiss nicht mehr lange.«

»Oder seid ihr zufällig reiches Pack und glaubt allen Ernstes, das zählt hier noch was und lässt euch mal so eben neu durchstarten? Nicht hier in Gor, niemals, da habt ihr euch kräftig verdrahtet!«

»Solltet ihr dann irgendwann klar im Kopf werden, hier bei mir in der Realität ankommen, könnte es sein, dass ihr schnell genug davon habt. Wollt ihr dem ganzen Elend dann ein elegantes Ende machen, können euch die Geräte unserer Herren sogar ausnahmsweise mal helfen. In einem Wimpernschlag löscht irgendeines davon euch aus, einfach mal so eben. Wenn ihr es drauf anlegt, dann passierts, garantiert: Zack und Tod! Aber genug davon, das kommt später eh unweigerlich auf euch zu. Spätestens morgen wird man euch auch so ein hübsches Halsband umlegen, wie das hier. Dann pumpt man euch mit allerlei Drogen voll und implantiert das eine oder andere lustige Maschinchen. Alle ganz toll und total nützlich, nur eben leider nicht für uns.«

Ich wies mit einer Grimasse auf meinen Hals, ohne ernsthaft zu erwarten, dass sie besonders viel davon mitbekamen. Verdammte lebende Leichen, die musste ich gründlich reanimieren.

»Klingt grausam, nicht wahr? Ist es auch! Freut euch schon mal auf eure Indoktrination in den nächsten Tagen. Ganz viele, völlig hirnverbrannte Gesetze wird man euch dann einbläuen. Gegen die ist Zwang eine harmlose Vorstufe. Aber das alles hier drin ist trotzdem besser, als wieder da raus zu müssen. Aber wem sag ich das, die Todeszone steckt euch ja sicher noch heftigst in den Knochen. Obwohl wir hier drin nichtige Würmer sind, bedeutungslos und ohne Würde, wären unsere kleinen Scheißleben dort draußen, hinter dem schützenden Wall, noch mal weniger wert. Nämlich keinen mickrigen Taugor mehr – Null, Nichts!«

Trotz meiner krassen Worte zeigte sich weiterhin kein Begreifen, erst recht kein Verstehen auf den versteinerten Fratzen der kleinen Scheißer. Die rührten sich noch immer keinen Stück und ich hatte sie eben echt nicht geschont. Dann musste ich wohl noch einen draufsetzen, wenn ich irgendwie zu ihnen durchdringen wollte. Noch blieb Yin ruhig, was mich langsam überraschte und merklich foppte.

»Mit dicken Eiern und gehörig Glück schafft ihr da draußen den ersten Tag, was aber schon eine harte Überlebensarbeit ist. Dann noch die Dämmerung abwarten, eine Pause, vor allem für düstere Gedanken, denn dann kommt die Nacht. Und nur die Allerbesten überleben von da an noch länger, aber auch sie allerhöchstens, bis es wirklich dunkel wird. Vorbei, dann sind sie dran, dann kommen sie. Dringen ein in jedes noch so gute Versteck, wittern euren Angstschweiß, euer Blut. Die ganzen verdammten Ficker da draußen rotten sich zusammen und machen Jagd, alle aufeinander und besonders natürlich auf leichte Beute wie uns. Wir Menschlein sind die Opfer der wilden Nahrungskette, merkt euch das! Eine Nacht draußen in der Todeszone bedeutet ganz einfach nur eines für euch: Tod! Nachts überlebt da draußen keiner von uns Schwächlingen. Keine Chance, nicht ohne ein paar ordentliche Waffen, gute Ausrüstung, viel Erfahrung und reichlich Killerinstinkt. Wo auch immer ihr das hier in Gor auftreiben wollt, selbst damit bräuchtet ihr noch verdammtes Glück. Wir Scheißer sind ein Snack für die blutrünstigen Jäger da draußen, schlichte Opfer. Im Dunklen habt ihr keine Chance mehr in Bewegung zu bleiben. Damit wird es beinahe unmöglich, euch weiterhin zu retten. Was am Tag funktioniert hat, klappt nachts nicht mehr: Immer weiterrennen, ständig Richtung und Stellung wechseln, sich einfach schnell umsehen und dann verstecken – nope, aus und vorbei. Die ständige Flucht nach vorne hat dann ein baldiges Ende, irgendwo kommt die Sackgasse, irgendwann klappt der Angriff aus dem Hinterhalt oder sie flashmobben euch einfach, und schon haben sie euch da, wo sie euch haben wollen! Dann wirds erst richtig dreckig, eklig und grausam, ziemlich gute Splatteraction, versprochen! Ich könnte euch Geschichten aus der Todeszone reindrücken, dass euch euer Hirn durchbrennt – apropos, besonders heftig sind die Gerüchte über die neu eingewanderten Exemplare. Habt ihr was aufgeschnappt: Monster, Tote, Verletzte, eine interessante Horrorstory für mich, frisch aus der Todeszone?«

Boah ey, noch immer – nichts, keine Regung! Was war falsch mit denen, so fertig konnten die doch nicht sein. Ich erkannte kaum was, aber die vier Fremden wirkten auf den ersten Blick lebendig und ansprechbar, einigermaßen jedenfalls.

»Träumt also gar nicht erst von so was Bescheuertem wie Flucht! Eure Zukunft ist geritzt, Zwang wartet überall, an jeder verdammten Ecke. Leben heißt von nun an Leiden und meint, jeden Tag Scheiße fressen und dabei die Klappe halten. Und Freiheit bedeutet von nun an für Euch nur noch eins: Tod!«, dieses letzte Wort schrie ich jetzt bereits, nachdem ich mich zuvor aufgerafft und einige Schritte in ihre Richtung gegangen war, um mein Finale zu geben.

Harte Worte, aber ebenso wahre Worte hatte ich ihnen als Begrüßung über den schlammigen Platz hinweg an ihre kleinen Köpfe geknallt. Ich hätte mir solche offenen Wahrheiten damals bei unserer eigenen Ankunft hier in der Siedlung auch gewünscht. Je eher sie ihre Lage begriffen, desto kürzer war ihr Leidensweg. Wenn hart loszulegen, ebenso viel Sinn wie Spaß machte, dann war ich gerne dabei: Ganz nach unten in der Hackordnung, gehorsam und kleinlaut werden, Widerspruch und Eigensinn ausmerzen, sich selbst aufgeben. Nichts weniger, mussten sie sich in Kürze reinziehen. Das, was man in unserer Welt noch frei durfte, war fast nichts. Ich wollte ihnen also damit im Grunde nur helfen, genau so wie meine gutherzige, viel zu weiche Schwester es eben auf ihre zimperliche Art versucht hatte. Trotzdem, auch ich war damit nicht weiter gekommen als sie – guter Sklave, böser Sklave, auf die unvergleichliche, aber erfolglose Yin-Yang-Art eben.

Bei Yins Charakter und der allgemeinen Tageslaune, die ich eben geschmeidig in brutalen Worten rausgelassen hatte, wunderte mich ihre Ruhe: Respekt Kleine, gut gespielt! Lange würde ihre Reaktion aber nicht mehr auf sich warten lassen, das ahnte ich – so leicht ließ sie sich nicht den Chip von der Platine rippen. Meine Redezeit war gezählt, das wusste ich und nun sah ich es auch kommen. Ich hatte sie zu krass gereizt, das arme, gutherzige Ding kochte fast. Wenn blicke töten könnten.

»Mensch Yang, es reicht! Du bist echt ein Ekel, voll fies und total peinlich. Lass sie doch jetzt mit deinen Horrorgeschichten in Ruhe!«, fuhr ich meinem Bruder endlich dazwischen, bevor er sich weiter in seinen unnötigen Gemeinheiten ergehen konnte.

Ich hatte mich lange zurückgehalten, aber jetzt reichte es wirklich. Er geriet in Rage und verlor sich in seiner Aggression. Von wegen, nur dasitzen und abwarten, so leicht machte es mir mein Bruder doch nicht. Das passierte in letzter Zeit öfter, bedenklich oft. Ihm setzte unsere Situation ziemlich zu – kein Wunder bei seinem Arbeitsdienst in den Minen.

»Komm runter Brüderchen, mach ganz ruhig und setz dich wieder hin! Sie sollen erst mal richtig hier in Gor Thaunus ankommen. Denk doch mal nach, die sind sicher total durch und verstört obendrein. Was werden sie wohl den ganzen Tag über durchgemacht haben? Scheiße und Schrecken in bis zum Abwinken.«

»Erinnere dich doch bitte einfach mal an unsere eigene Ankunft in diesem Drecksloch! Wir mussten damals insgesamt beide ganze vier Mal da draußen überleben. Wie viele Tage wir danach total neben dem Datenkabel waren, ich weiß es nicht mehr, aber es waren einige. Es waren grauenvolle Tage, mit Schmerzen und Panik am Tag gefolgt von Albträumen und Krämpfen in der Nacht. Wir hatten sogar noch unsere alten Namen, erinnerst du dich denn nicht mehr?«

Bei seinen eigenen Gefühlen und den schlimmen Erinnerungen anzusetzen, war nicht sehr einfühlsam, aber leider derzeit öfter nötig. Nur so konnte ich ihn packen und wieder runterbringen. Lange ging das aber nicht mehr gut mit ihm, er tickte langsam immer mehr aus. Wenn ich mir nur vorstelle, dass er sich gegenüber einem Freien oder gar einem der Herren so gab, wurde mir kotzübel. Er war nicht dumm, das nicht, aber er hatte sich kaum noch im Griff. Zumal wir gerade weiterhin bestimmt zwei oder drei Gesetzesverstöße riskierten, indem wir unseren Aufenthaltsbereich verließen und unaufgefordert, zumal mit Fremden, ein Gespräch beginnen wollten.

»Draußen hatten wir gerade so eben überlebt an diesem verfluchten Dreckstag, damals. Dann mussten wir hier im Lager von Anfang an nur auf uns gestellt klarkommen, ganz alleine, keine Freunde, nur Feinde. Überall kaputte Menschen um uns herum und dann diese perversen Spinner mit ihren Apparaten und Gesetzen hier und Regeln da, die ganze Scheiße damals halt!«

Zuerst beeindruckten ihn meine Worte nicht. Doch dann kehrte er, während ich munter weiter auf ihn einredete, beinahe robotisch zu seinem Platz zurück und setzte sich wieder. Dabei schaute er mir zuletzt direkt in die Augen, stechend und bitter. Ein starrer, wuterfüllter Blick durchbohrte mich kurz und schmerzhaft, bevor es plötzlich vorbei war und er sich wieder gefasst hatte. Sofort klärte sich Yangs Miene auf, seine Züge entspannten sich, wurden Satz für Satz weicher und freundlicher.

»Lass es uns ihnen bitte so einfach wie irgendwie möglich machen«, sagte ich deshalb schon versöhnlicher und fügte nun flüsternd für ihn hinzu, »denk daran, was ihnen noch bevorsteht: ein zweites, drittes und viertes Mal durch die Todeszone, wieder und wieder der gleiche kranke Mist. Das wird so schon heftig genug für sie. Das alles irgendwie hintereinander und auf einmal zu verpacken, ohne daran zu zerbrechen, wird Hardcore. Ein paar echt heftige Herausforderungen warten auf die vier Typen da drüben. Das wissen du und ich ganz genau – viel zu genau, also bitte Yang, lass sie einfach in Frieden!«

»Meine Güte Yin, lass mich doch meinen … ach, verdammt noch mal! Soll ich dir jetzt etwa auch noch sagen, dass es mir leidtut, wo du genau weißt, dass es eine Lüge wäre?«

Mit aufgesetzt, düsterem Blick gab er sich trotzig, aber das kümmerte mich nicht. Mir  war es damit abermals gelungen, meinen Bruder in seinem Gehabe zu bremsen und ihn vorläufig emotional zu entschärfen. Sein ätzender Drang, Schwächeren die Angst einzujagen, die er selbst nicht zulassen konnte, nervte mich, aller Verbundenheit zum Trotz, total. Er tat das, um sich selbst besser zu fühlen, zulasten seiner Umgebung. Vielleicht hatte er im Grunde sogar inhaltlich Recht mit seinem Gerede, aber so überzogen durfte er die Sache nun wirklich nicht angehen. Er war nicht immer so drauf gewesen: gemein, bissig, teilweise verletzend und immer vorlaut. Das Lagerleben hatte ihn in den letzten Jahren sehr verändert; er war härter und kälter geworden, aber auch stärker. Wenigstens erzählte er noch immer eine Version Wahrheit, wenn seine auch ziemlich Hardcore war.

Während mir diese Gedankenkette durch den Kopf ging, wusste und fühlte ich sogleich, mein Ärger war im Grunde egal, denn ich liebte meinen Bruder Yang trotzdem, über alles, innig und unbedingt. Er war systemweit der einzige Mensch, der mir in dieser grausamen Zeit von meinem alten Leben und meiner Familie geblieben war und dem ich lebenslang blind vertrauen würde. Wir waren entgegen dem äußeren Anschein vermutlich Zwillinge. Dadurch waren wir viel enger verbunden, als sich das die meisten normalen und einsamen Menschen je vorstellen könnten. Auch wenn wir äußerlich und charakterlich alles andere als ähnlich waren, spürten wir und glaubten wir – nein, wussten wir sicher –, dass wir mehr waren als bloße Geschwister. So fühlte ich nun im geistigen Hintergrundrauschen seinen Wunsch mitschwingen, im Grunde auch beschützen und auf seine komische Art zu helfen zu wollen – leider auf eine aggressive und viel zu plumpe Art. Dadurch empfand ich auch die ekelhafte Erleichterung und die Genugtuung, die er verspürte, während er auf noch Schwächeren herumhacken konnte. Daneben schwang all die latente Angst mit, der ohnmächtige Zorn eines selbst so gequälten Opfers.

Ich hatte die gleichen, täglich zugefügten und deshalb nie verheilten Wunden aus der gemeinsamen Vergangenheit zu tragen, aus der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eines räudigen Sklavenlebens in einem Lager am Rand einer Stadt voller gnadenloser Sklaventreiber. Natürlich lag ihm das alles schwer auf der Seele, ebenso wie mir. Nur ging er schlechter damit um, wie ich entgegen aller Bruderliebe hart urteilen musste. Aber die wahren Schuldigen waren sowieso andere und letztlich waren nur sie dafür verantwortlich. Sie waren es überhaupt erst, die ihn, mich, uns alle hier in diese menschliche Sackgasse getrieben hatten. Einzig die sogenannten Herren und ihre Handlanger, die Freien, hatten an dem Mist in Gor Thaunus Schuld.

Yang schwieg nun. Wegen unserer engen Bindung hatte ich ein Gespür dafür, was ihn ritt, und konnte meistens rechtzeitig eingreifen und ihn an den richtigen Stellen unterbrechen – solange ich halt bei ihm war, was selten mehr als ein Drittel des Tages war. Dann half ich ihm, ohne dass er das nach außen hin würdigen würde, und ähnlich, wie er das auch bei anderer Gelegenheit auf seine Art, mit seinen Stärken für mich getan hatte und weiter tun würde – ohne, dass ich es meinerseits großartig zum Thema machen musste. Jeder kannten wir die Schwächen des anderen genauso gut, wie unsere eigenen und unterstützten einander dementsprechend. Wie in jedem guten Team ergänzten wir uns in unseren Eigenschaften und Fähigkeiten, im Guten wie im Schlechten.

»Okay, du hast ja recht! Bleib bitte locker oder werde wieder geschmeidig, was auch immer mehr bringt. Ist doch alles gut jetzt – dann eben noch mal, aber nun auf die nette Tour. Nur für dich, Schwesterchen!«

»So wird das ja eh nichts. Ich geh mal rüber und schau mir das Schauspiel aus der Nähe an, bleib du einfach auf der faulen Haut liegen und lass mich mal machen. Und ja, ich weiß, was du jetzt sagen willst. Ich nehme das Risiko auf mich und werde mich besser beherrschen – wird schon schief gehen!«

Jaja, sie kannte mich bestens und meinte, auf mich aufpassen zu müssen. Trotzdem nahm ich ihre Einladung zum Runterkommen dankbar an. Also zog ich brav meinen Schwanz ein und war schön artig, für die Harmonie und den Seelenfrieden aller. Ich hätte mich eigentlich bei ihr dafür bedanken können, aber warum Worte verschwenden. Wir verstanden uns ohne Worte, waren voll auf einer Welle und brauchten solchen Kram wie Höfflichkeit und Anstand eigentlich nicht.

Es hatte sich überhaupt nichts getan, alles beim Alten: Die vier Grünschnäbel verharrten wortlos und wie gelähmt. Die Umstandsopfer schauten nicht mal rüber. Ich musste meiner Ansage wohl die nötige Aktion folgen lassen. Ich stand also auf und begann ganz ruhig auf die Gruppe zuzugehen, mit meinem freundlichsten Lächeln im Gesicht. Da ich zuvor etliche Meter vom Tor entfernt mit Yin rumgehockt und mich in der Horizontalen von der Plackerei erholt hatte, hatte ich kaum was mitbekommen. Innerlich gespannt sah ich das schräge Quartett erst jetzt in seiner vollen Pracht. Bei dem Scheißwetter und auch noch am frühen Abend war die Sichtweite mehr als mau. Jetzt erkannte ich den Trauerverein erst richtig:

Der blasse, rothaarige Junge – Marke Streber – wirkte voll daneben und glotzte noch starrer als der Rest, dabei heftig schlotternd, auf den schlammigen Boden vor sich. Er schien weich, schüchtern und labil zu sein, wie er so dastand und nichts auf die Reihe brachte. Nach diesem Todestrip sollte ich ihm das aber nicht vorwerfen dem armen Knirps.

In der Mitte, rechts neben ihm standen zwei etwas zu dick geratene, dadurch aber robustere Gören. Mit ihren blonden, strähnig-fettigen Haaren und den albernen Zöpfen sahen sie sich verdammt ähnlich. Nein, is nich – sie wirkten, soweit ich das bisher erkennen konnte, allen Ernstes wie waschechte Zwillinge. Die Linke der beiden hatte draußen wohl was abkommen, hielt sich bloß noch irgendwie auf den Beinen. Ihre Schwester stand rechts neben ihr, blickte panisch um sich, wobei sie in mehrere Richtungen gleichzeitig schielte. Im Gegensatz zum Rest der Gruppe war sie voll da und irgendwie hektisch, obwohl sie still dastand. Sie half der verletzten Zwillingsschwester, soweit sie das halt hinbekam, hatte sie im Arm und stützte sie.

Die Kaputte gab gerade erste Lebenszeichen von sich: Sie zitterte, grunzte und hob anschließend ihren Kopf. Ihr Gesicht war erst starr, wurde dann aber kurz lebendig. Von Schmerz verzerrte, blutunterlaufene Augen schauten mich verwirrt an. Bis dahin hätte man die Kleine für halb hinüber, ja ohnmächtig, halten können, so schlaff, wie sie an ihrer Schwester hing. In den Knien leicht eingeknickt konnte sie sich gerade so eben ob halten.

Und Tschüss – ihr Kopf fiel vorn über, sie stöhnte kurz auf und sackte schlagartig in sich zusammen. Die Schwester griff schneller nach und wollte sie halten, als ich das je geglaubt hätte, war aber zu fertig, um das alleine hinzukriegen. Ich war noch zu weit weg und ehrlicherweise bekam ich ein wenig Schiss – was, wenn die Gerüchte stimmten? Dann konnte das hier böser enden, als mit der Strafe, die ich hierfür sowieso schon kassieren konnte. Spaß kostete, aber welchen Preis, wusste ich nicht.

Jemand anderes übernahm den Job des Heiligen. Dadurch wanderte mein Blick direkt weiter zum letzten Mitglied der Gruppe. Zuvor hatte sie etwas abseits gestanden, rechts hinten ein Stück näher zum Tor. Auch sie war wie tot gewesen, bis eben. Da war sie auf einmal aufgewacht, war nach vorne gesprungen und hatte zugepackt. Und sie war, so etwas gab es hier eigentlich nie, sie war – schön. Etwas älter als die anderen, in meinem Alter schätzungsweise. Eine angenehme Ausnahme, sieh an, ach weit mehr als das, die sah trotz der ungünstigen Umstände ziemlich gut aus. Nein, sei ehrlich, sie sah verdammt heiß aus: Schwarze, lange Haare umrahmten ein dreckiges und blutverschmiertes Gesicht, das einer selbstbewussten Schönheit gehörte. Kurven, da wo sie sein sollten, brachten mich auf Touren. Während ich sie vor meinem inneren Auge auszog, half sie weiterhin wortlos den vermeintlichen Zwillingen. Sie stützte die Verwundete nun zusammen mit deren Schwester und stand damit nun direkt neben dem rothaarigen Schisser. Die Einlage schockte mich zwar ein wenig, aber ich legte ganz cool die letzten Meter zurück. Gleich würde ich meine Chance bekommen, das schöne Ding im Nahkampf zu erobern.

Mir drängte sich plötzlich das Prasseln des Regens, die unangenehme Kühle auf der Haut, ein widerwärtiger Gestank derart heftig auf und in den Vordergrund, dass mir sofort wieder flau in der Hose wurde. Fuck verdammt – da lag auch irgendein extrem fauliger, aber unbekannter Geruch in der Luft. Was zur Hölle war das für ein widerwärtiger Gestank? Das war ja kaum zum Aushalten: Eine kräftige Portion Erbrochenes, ein Spritzer Blut, ein Schwall Eiter und zwei unerwartete Aromen, Zimt und Vanille. Diese Aromen hatte ich das letzte Mal vor vielen Jahren gerochen, Papa hatte häufig damit gekocht – damals. Aber so was absolut Ekelhaftes wie jetzt hatte ich mir noch nie zuvor reingezogen und wollte es auch nie wieder riechen müssen.

Die Umgebung wurde mir auf allen Kanälen versaut und das turnte gewaltig ab. Nase zu und durch, sagte ich mir und der leichten Übelkeit auf dem letzten Meter, bevor ich das Quartett offiziell begrüßen wollte – auf die freundliche Tour:

»Hey! Wie vorhin schon gesagt, seid ihr von nun an Sklaven. Wie ich, meine Schwester und die anderen Bewohner hier im äußeren Ring von Gor Thaunus, den manche Niederstadt, andere Glashütten nennen. Meine Direktheit ist nicht böse gemeint, sondern so sind die Fakten und die solltet ihr kennen. Das spart euch viel Ärger und Schmerzen, glaubt mir.«

»An sich erst mal scheiße, stimmt – aber so is es halt! Es gibt auch was Gutes daran, denn erstens, ihr lebt und zweitens, ihr habt hier einen zivilisierten Ort betreten. Der hiesige Stil ist zwar ziemlich altmodisch und krass, aber allemal besser als die tödliche Wildnis, aus der ihr gerade kommt.«

Mit dieser direkten Ansprache hatte ich tatsächlich etwas erreicht. Während ich krampfhaft durch den Mund atmete, zeigten mein Worte Wirkung. Der Blick des lebhafteren Zwillings und die Aufmerksamkeit der Schönheit hatte ich gewonnen. Auch der Junge hob wenigstens kurz den Kopf. Ich blickte in scheue, verweinte Augen voll unterdrückter Panik. Sein Blick sprang erst zu mir, glitt dann verstohlen zum verletzten Zwilling, um nach einigen Augenblicken wieder autistisch hängenzubleiben. Er schien sich vor dem kaputten Mädel zu fürchten und glaubte wohl, er könnte sich unsichtbar machen. So schlimm war sie doch auch nicht verletzt, äußerlich hatte sie nur ein paar blutige Schrammen an ihrem rechten Oberarm. Es blutete nicht mal mehr, wie ich nun sehen konnte. Halb so wild, sagte ich mir ich stillschweigend, während ich aus nächster Nähe glotzte. Das würde schon klargehen.

»Kein Stress, ihr dürft schweigen – Todeszonenbonus. Kommt einfach erst mal mit rüber. Vom Tor weg, raus aus dem kalten Regen und dem Schlamm. Ich zeig euch anschließend schnell eure vier Suiten dort drüben im Penthouse. Selbstverständlich serviere ich dann den Willkommens-Aperitif und dann gehts sofort zum Hausarzt. Naja, so oder so ähnlich wirds zumindest laufen.«

Mit dieser witzigen Einlage war ich weiter auf Erfolgskurs. Ich hatte sogar den Jungen etwas aufgemuntert, wie ein zweiter, längerer Blickkontakt zeigte. Er beruhigte sich ein wenig. Der Schönheit hatte ich mit meinem Charme sogar ein erstes, kleines Schmunzeln abgerungen, dennoch schwieg sie weiterhin. Der fitte Zwilling schien gerade was sagen zu wollen.

Plötzlich gab der verletzte Zwilling ein zweites Mal einen Laut von sich: ein tiefes, kehliges Gurgeln, irgendwie alt, überraschend bis verstörend jedenfalls. Sekundenschnell und bellend schon herrschte Stille. Der Junge war sofort wieder panisch und ging rasch ein paar Schritte zur Seite. Auch die Schöne wirkte so, als bereue sie ihre Hilfsbereitschaft mittlerweile. Nur die Schwester hielt unbeirrt ihre Stellung, verbiss sich aber ihre Erwiderung und flüsterte  ihrem unheimlichen Doppel etwas ins Ohr, mehrfach, irgendwie beschwörend, aber ohne, dass ich den Sinn verstehen konnte. Die anderen sahen mich mit flehenden Augen, weiterhin aber stumm an.

Meine Güte, da hatte ich mich wohl verschätzt. Die Kleine musste wohl doch zu einem Arzt. Was der andere Zwilling jetzt wohl durchmachte, konnte gerade ich sehr gut nachempfinden. Meine Bühne musste ich mir nun zwar teilen, aber das Eis war wenigstens am Antauen. Vielleicht konnte ich es direkt brechen, wenn ich mit meiner witzigen Tour einfach noch ein bisschen weitermachte:

»Ich bin Yang – hocherfreut!«, gefolgt von einer tiefen Verbeugung, „meines Zeichens euer persönlicher Ansprechpartner hier vor Ort. Das Willkommenskomitee von Gor Thaunus sozusagen, einzig da, um euch jeden Wunsch von den Lippen abzulesen und eure Sorgen zu lindern.«

Sie lachend, er immerhin lächelnd wandten sich mir der Junge und die Schöne jetzt offen zu, sodass ich schnell nachsetzte:

»Kommt einfach mit rüber vor unsere Kuppel oder lasst es und kommt nach. Auf dem Weg dürft ihr euch gerne auch eine Runde zu Wort melden, wenns denn geht. Wenn ihr euch namentlich vorstellen könntet, wäre das ein perfekter Anfang. Ihr müsst das aber natürlich nicht – alles kann, nichts muss, ist mein Motto des Tages. Denn wie jede gute Servicekraft würde ich euch nie bedrängen.«

Die beiden schienen angebissen zu haben, die hatte ich, nur die andere Hälfte der Gruppe, die ungleichen Zwillinge sträubten sich noch. Mittlerweile hatte ich den absonderlichen Geruch zu ignorieren gelernt. Deswegen sprach ich die beiden direkt an, weniger aus Angst, sondern vielmehr aus Sorge:

»Mein voller Ernst: Euch, besonders deiner Schwester kann wenigstes medizinisch geholfen werden. Kommt bitte mit rüber zu Yin und dann schauen wir gemeinsam weiter. Sieht echt übel für die Kleine aus, was hat sie denn abbekommen und was sind das für schräge Töne?«

»Nein, nichts? Noch immer kein Kommentar? Ok, also gut – dann sollten wir trotzdem nicht rumtrödeln, Zeit ist Geld hier in Gor.«

Nachdem die unverletzte der beiden Schwestern mit einem schwachen Kopfnicken zugestimmt hatte, beugte ich mich zur Schönheit und hauchte ihr in Ohr: »Auch du könntest auch ein Bad und ein kleines rosa Pflaster vertragen – schmutzige Prinzessin!«

Ohne lange auf eine Reaktion zu warten, drehte ich mich kurz entschlossen um, vielleicht ein bisschen zu barsch, und ging schnurstracks los. Zurück in Richtung des Runddachs aus durchsichtigem Kunststoff. Dort wartete Yin, gammelte gemütlich und ziemlich träge in ihren Sitzsack gefläzt. Durch eine dicke Schicht aus Dreck entstellt, erkannte ich seine ursprüngliche Farbe – Lila – vermutlich nur, weil wir einmal bei dem Versuch gescheitert waren, sie zu reinigen. Immerhin an wenigen Stellen konnten wir damals erahnen, welche Farbe eigentlich gedacht gewesen war. Die zwei Sitzsäcke waren ein Großteil von dem, was wir frei benutzen durften und lagen deshalb häufig einfach vor unserer gemeinsamen Glashütte, die mit ihren knapp vier Metern Durchmesser und einer mittleren Höhe von zwei Metern wenig Lebensraum für zwei Personen bot. Sie lag zusammen mit hunderten anderen, identischen Wohneinheiten inmitten eines chaotischen Wirrwarrs aus den unwahrscheinlichsten Gegenständen, hauptsächlich Müll.

Die meisten Bewohner des ringförmigen Stadtteils waren Abschaum und blieben unter sich, vereinzelt und verzweifelt saßen sie unter ihren Glasdeckeln und brüteten vor sich hin. Ich musste nur ein bisschen rumkucken und sah das miserable Leben von gleich mehreren Nachbarn hautnah, wenn ich das denn gewollt hätte. Durch die transparenten Wände hindurch war alles sichtbar, so etwas wie Rückzug gab es nicht. Die Umgebung verkam, alles ging den Bach runter und keinen störts. Warum auch, wir waren Sklaven! Hier war einfach alles unglaublich dreckig, es klebte, triefte und stank überall, wenn auch nicht so krass wie die Kaputte hinter mir.

Sie gab nicht nur weiterhin unschöne Geräusche von sich, wenn auch leiser als zuvor, sondern meiner Meinung nach auch diesen scheußlichen Gestank. Ich konnte nur ahnen, wer von ihnen mir wirklich gefolgt war; aber es roch noch immer so durchdringend widerwärtig, dass ich weiter durch den Mund atmen musste, wenn ich nicht kotzen wollte. Ich hörte Schritte, konnte aber nicht zuordnen, von wie vielen, und umdrehen wollte ich mich nicht.

Ich wurde unruhig, obwohl doch mal wieder alles gut gegangen war und ich mich richtig nett verhalten hatte. Dennoch riskierte ich gerade sogar für meine Verhältnisse echt viel, vielleicht zuviel. Noch interessierte sich niemand für uns, auch darin lag das Problem. Eigentlich sollten die Wachen meinen Job machen und die Neuankömmlinge in Empfang nehmen. Ach, das passte schon – die technischen Augen nahmen mich die ganze Zeit über auf, also wurde mein Verhalten bisher wohl geduldet.

Seit jeher gabs hier in Gor einen nervigen Zwiespalt: Einerseits klare Regeln, die unmenschlich hart waren, andererseits aber die häufig gemachte Erfahrung, dass deren Bruch folgenlos geblieben war. Wir wurden von vorne bis hinten überwacht, von oben bis unten kontrolliert, aber nur dann konsequent bestraft, wenn es um unseren Arbeitsdienst ging oder Menschen direkt mit im Spiel waren. Im letzten Jahr hatte ich auf die tausend Tage so ungefähr fünfzig Strafen außerhalb der Minen kassiert, meistens Essenskürzungen und Zusatzarbeit, nur selten Härteres wie Schmerzstimuli oder Intoxikationen. Das war typisch für die Herren und ihre Arschkriecher, die Freien, man benutzte pompöse Phrasen und wollte damit Scheiße zu Gold machen. Wie oft ich hingegen davongekommen war, hatte ich aufgehört zu zählen. Auf Jeden hatte sich das Risiko gelohnt: Ein Fünkchen mehr Freiheit, durch Widerstand verdient. Die Angst vorm Schmerzreiz blieb aber immer im Hinterkopf, sorgte für Nervenkitzel vom Feinsten. Auch wenn die Wachen in der Niederstadt sich kaum um uns scherten und die allgegenwärtige Spionagetechnik wohl nicht so ganz funzte, war und blieb es ein blindes Risiko, unbekannten Launen unterworfen. Nur dank meiner Eier und deren Verrafftheit war ich aus dem dumpfen Gehorsam der ersten Jahre rausgewachsen. Leider war ich einer der wenigen, die hier überhaupt mal was losmachten. Die meisten der Sklaven waren verdammte Schisser und erbärmliche Kriecher. Ja, aber echt, sogar Yin, das scheue Lämmchen, spielte mittlerweile gelegentlich mit, wie vorhin, und wagte den einen oder anderen Regelbruch nach dem Motto Freiheit in der Freizeit. Mit dem Rest der Sklaven war nicht viel los. Bis auf ein paar meiner Kumpel war das Sklavenvolk der pure Jammerlappenverein. Ein Meisterstück des Gehirnficks, mit dem die Herren saubere Arbeit geleistet hatten. Im Denken der meisten Sklaven waren Sachen wie Widerstand, Protest, Rebellion und so was hart ausradiert worden – gnadenlos wegtrainiert. Mich hatten die perversen Schweine mit ihren Psychotricks auch beinahe gebrochen. Ein paar Mal, aber durch jeden Erfolg war ich innerlich stärker geworden und war so klug gewesen, es sie nicht merken zu lassen. Ich hatte ganz simpel gelernt, mich an die Regeln dieses beschissenen Sklavenlebens nur genau soweit anzupassen wie unbedingt nötig.

Aus meiner unbestimmbaren Unruhe war über die Grübelei hinweg offener Ärger geworden. Wenn ich mich allen Ernstes schon über die Waschlappen um mich herum abzufucken begann, suchte ich wohl händeringend nach Zoff. Vielleicht sollte ich irgendwas von dem Zeugs ausprobieren, mit dem mir Schwesterchen ständig in den Ohren liegt. Sehemeditation oder wie das auch immer heißen mag.

Aber was sollte das bringen? Hier sah es einfach beschissen aus und das fuckte mich ab: Schlamm, Müll und Abschaum. Die einzige Ausnahme in Sachen Siff und Ekel waren die kugelrunden Wohngebäude, deren Material immer schon sauber und glänzend war. Seit Jahren war das Zeug unverändert, nicht ein bisschen Dreck, keine Kruste oder auch nur Fleck, überhaupt gar nichts. Damit standen diese Gebäude im so krassen Gegensatz zu allem anderen hier im gläsernen Ghetto, dass mich ihre technische Perfektion so richtig derb ankotzte. Die Schmutzresistenz des Werkstoffs war atemberaubend, die Wände blieben rein und waren fast durchsichtig, schön und toll, aber das Ganze verhöhnte uns dreckigen Wilden nur noch mehr. Ha, ein Gutes hatte die Sache: Ohne den Regen, der wie heute in dicken Perlen daran hinunterlief, konnte man die Wände glatt übersehen und das führte öfter zu schmerzhaften, allzu genial anzusehenden Unfällen. Bei gutem Wetter liebten Yin und ich es, einfach nur gediegen abzuhängen und den blöderen Sklaven beim Tollpatschen zuzusehen – was hatten wir dabei schon gelacht und gejubelt. Klar, nicht nett, aber solche fiesen Freuden braucht man hier, wollte man mental einigermaßen über die Runden kommen.

Menschenzirkus, das traf es, und wir waren die Clowns. Der Grund für den Menschenzirkus mit den Glaskäfigen war so stumpf, wie er logisch war: Macht, genauer Information. Die dazugehörige Überwachung wurde nicht die Bohne verheimlicht, wieso auch: Optiktürme, Drohnen und unsere implantierten Maschinchen rieben uns ständig unter die Nase, was wir waren: menschliches Vieh. Gut zum Arbeiten, gut fürs Geschäft, waren wir, aber immerhin nicht direkt so was wie Schlachtvieh, soweit ich jedenfalls den Durchblick hatte. Und das war nicht eben gerade weit, also kein Licht am Ende des Tunnels in Sicht.

Nachdem der Psychotrick ziemlich grandios versagt hatte, war ich immerhin fast am Ziel angekommen. Yin saß dort und grinste hämisch, dabei schaute sie direkt in meine Richtung. War das Neugier oder Hohn oder vielleicht beides, was mich aus ihrem Blick ansprang?

Da kam er schon wieder zurück, zurück von seiner netten Tour, scheinbar ohne Erfolg. Schade eigentlich, denn es sah eben noch so gut aus. Nun stand die Gruppe nämlich wieder unbewegt beim Stadttor rum und, so weit ich das gegen den Regen hören konnte, war weiterhin schweigsam. Anfangs hatte es so ausgesehen, als hätte Yang sie belabern können, aber dann hatten die Typen plötzlich wieder angehalten. Wenn sie Yang auch nur ein bisschen zugehört hatten, müsste ihnen die Zukunft genauso zusetzen wie die die Vergangenheit, die Todeszone. Toller Plan, Brüderchen – ein Trauma mit Frust und Verzweiflung anzugehen, klang als Ansatz doch reichlich gewagt.

Ich fühlte aber irgendwie, dass er irgendetwas erreicht hatte. Wenn er wenigstens mit ein paar näheren Details aufwarten konnte, war ich voll dabei. Hier passiert nie was Spannendes. Es gab so viele Geschichten und ich hatte auch so meine eigenen Erfahrungen mit Schockerniveau, aber nach Gor verirrte sich so gut wie nichts Heftiges. Diese Ruhe hatten wir bisher mehr den Patrouillen von KK und Europax zu verdanken, als den unfähigen, sogenannten Wächtern und schon gar nicht den Jägertrupps. Beide schikanierten Menschen, wobei die einen raubten, die anderen vor sich hin gammelten. Dass hier Fremde standen, die soeben ohne jede Kontrolle hierein gekommen waren, juckte die Sicherheitstrottel scheinbar kein Stück. Bisher blieb unsere Aktion folgenlos, denn niemand kam zu uns. Dann sollten sie halt allesamt weiter im Regen stehen und erfrieren – ihr persönliches Pech!

Doch plötzlich, ohne Anzeichen oder Absprache, wie auf einen geheimen Befehl hin, kam Bewegung in die Ruhe. Als ich schon fast nicht mehr damit gerechnet hatte, schloss sich zuerst die Größte der vier Gestalten an – zögerlich zunächst, doch dann, Schritt für Schritt, mit wachsender Entschlossenheit, folgte sie meinem Bruder über den schlammigen Vorplatz. Kurz darauf gab sich auch ein Zweiter der Neuankömmlinge einen Ruck. Yang, an der Spitze, war schon beinahe hier angekommen, als sich auch noch die letzten beiden Figuren in Bewegung setzten, die eine schleppend, die andere humpelnd. Mit der einen war nicht mehr viel anzufangen, jedoch nicht so wenig, um dafür extra aufzustehen und zu helfen – das lohnte nicht und war nicht meine Aufgabe. Sollten sie ruhig zu mir kommen, denn wir würden ihnen heute sicher noch genug helfen, da war ein klein bisschen Bequemlichkeit am Anfang vollkommen ok.

Außerdem hatte ich seit wenigen Sekunden ein ziemlich ungutes Gefühl im Magen. So fühlte es sich meistens an, wenn etwas Schlechtes passierte. Vielleicht würden sich die Wächter genau dann für uns interessieren, wenn Yang mit seinen wandelden Sicherheitsrisiken angekommen war. Dazu kam jetzt noch das Sausen in den Ohren und das Kribbeln in der Nase, damit waren die Anzeichen komplett. Ich war nicht krank, sondern hellhörig. Abergläubisch bin ich nicht, ich glaube nicht an Magie. Dennoch folgte auf dieses Gefühl und seine typischen Begleiterscheinungen meist etwas Bedeutsames. Meiner Intuition konnte ich vertrauen, denn sie hatte mir oft genug den hilfreichen Wink gegeben, der mich wachsam gemacht hatte – häufig zurecht und gerade rechtzeitig. Leider wusste ich wie immer nicht, ob eine Gefahr drohte, eine Gelegenheit auftauchte oder ein unglaublicher Zufall ins Haus stand. Erst ganz kurz vor dem Ereignis kam die passende Feinemotion hinzu. Erst dann wurde aus ungewisser Erwartung, eine als gut oder schlecht einschätzbare Zukunft.

Meine Ahnung wurde unangenehm schnell zur Gewissheit: Eine der Wachen hatte soeben zum ersten Mal zu meinem Bruder und den vier Neuankömmlingen in seinem Schlepptau gekuckt. Daraufhin hatte sie erst nichts gemacht, um nach wenigen Atemzügen ihren Kopf herumzureißen. Sie hatte konsequent in ihrem plappernden Nichtstun innegehalten und ihrem Begleiter einen Stoß gegeben, woraufhin dieser nun aktiv wurde. Er holte etwas aus dem Tornister seiner Panzerung hervor: Keine Waffe, dafür war das Gerät zu klobig, irgendwas anderes hielt er nun in den Händen und nahm damit uns alle in Visier.

… Plop, Tok, Tick, Tack …

Die Zeit schien mit einem Mal träger dahinzufließen als noch zuvor. Langsamer, immer langsamer; wie Honig floss sie zähflüssig dahin. Ich spürte sie, hörte sie Tropfen für Tropfen tausendfach um mich herum aufschlagen, leise, laut, platschend auf Schlamm, klackend auf dem Metall und prasselnd auf dem transparenten Kunststoffdach über mir, dumpf pochend drüben auf dem Wall und noch dumpfer schmatzend auf den Polstern der Sitzsäcke, um mich herum.

Die Wachen handelten, ein höchst seltener Anblick. Der Späher ließ sein Gerät einfach fallen und zückte etwas anderes. Dieses Mal war es eindeutig eine Waffe. Die Zeit blieb träge, das Gefühl war nun eindeutig schlecht – beschissen, um genau zu sein.

Yang war mittlerweile praktisch hier und setzte mental wahrscheinlich gerade zu einem seiner blöden Kommentare an, als es passierte – das bange Warten hatte ein Ende:

Erst ein seltsames Knurren, tierisch und wild, alt und brutal.

Dann ein widerwärtiges Krachen, gefolgt von einem schrillen, markerschütternden Schrei!

Stille, unendlich lang …

Angst flutete mein Bewusstsein, schlagartig und heftig zugleich!

Lähmende Panik schlich sich heran, meine Muskeln krampften auf einmal wie irre.

Fast gleichzeitig brauste eine heftige Sturmböe auf, peitschte mir mein blondes Haar ins Gesicht. Ganz so, als hätte plötzlich jemand in einem geheimen Regieraum einen Regler für dramatische Effekte in die Höhe gerissen, drehte das Unwetter schlagartig richtig auf und bot damit dem grauenhaften Geschehen eine grandiose Kulisse: Aufheulender Wind, zornig und wild umherfliegendes Laub in einer feuchten, geradezu modrigen Luft, Platzregen, der den Schlamm spritzen ließ. Vom einen Augenblick zum anderen rutschte die komplette Atmosphäre auf der Wohlfühlskala schlagartig in den roten Bereich.

Glich die Zeit eben noch einem trägen, süßen Honig, so schien dieser Zustand auf einmal umgedreht worden zu sein. Ein Damm war gebrochen und die zuvor angestaute Zeit wollte wohl ihren Rückstand wieder gut machen. Wie eine Welle salziges Wasser schwappte sie durch mein Denken. Plötzlich bedroht war ich einfach so herausgefallen aus der gemütlichen Langsamkeit der Erinnerung – mitten hinein in einen Sturm an furchtbaren Ereignisse.

Ich hatte es vorher nur unbestimmt gespürt; ich hatte es aber wieder einmal geahnt. Mein Bauchgefühl täuschte mich selten, aber was hier nun genau losgebrochen war, wusste ich nicht – warum eigentlich nicht? Was hatte da so entsetzlich geklungen, wer hatte eben so jämmerlich geschrien und wieso überhaupt?

Stress und Verwirrung überfluteten mein Bewusstsein und zwangen es gnadenlos und unwiderstehlich in den Moment, heraus aus der vergangenen Nachträglichkeit hinein in die aufdringliche Gegenwart: Eben war und musste ich, jetzt bin ich am Leben und muss überleben. Also wische ich mir Haare und Tränen aus den Augen und blinzle nur kurz, damit ich ein wenig mehr sehen kann. Mein Bruder steht nun knapp vor mir; dreht mir kurz den Rücken zu. Er hat sich schneller als ich zur Quelle des bestialischen Schreis herumgedreht und hat scheinbar bereits die Lage gecheckt.

Ich habe überall Krämpfe und kann kaum gehen. Das Atmen fällt mir schwer.

Soeben stößt Yang einen Seufzer aus. Er klingt erschüttert, Entsetzen klingt aus seiner gebrochenen Stimme. Er scheint eine bittere Erkenntnis gewonnen zu haben, die sogar ihm, dem schlagfertigen Schwätzer, die Stimme raubt. Mir schwindet die Kraft, ich kann kaum noch was gegen die lähmenden Krämpfe tun. Das Atmen wird zur Quall, die Welt beginnt zu zittern und sich unrund zu drehen. Ich habe Glühwürmchen vor den Augen und einen summenden Insektenschwarm im Kopf.

»Argh! Nein, scheiße … verdammt … nicht doch – Fuck, Yin!«

»Wie konnte ich nur so dumm und naiv sein; das war doch nur eine Frage der Zeit! Wir kannten die Gerüchte. Sie kam frisch aus der Todeszone und war offensichtlich verletzt. Aber ich Depp rieche den Braten trotzdem nicht. Ich stand vor ihr, habe sie voll schräg grunzen gehört und etwas Scheußliches aus ihrer Richtung gerochen. Aber nein, ich schalte nicht und denke mir, dass alles easy ist und ich endlich mal wieder eine heiße Braut angraben kann.«

Während er das sagt, ist mein Bruder bei mir angekommen und hat mich kurz umarmt. Er wirkt wirklich alarmiert und hat wohl irgendwas Wichtiges gesagt. Bei mir kommt aber nur noch wenig davon im Denken an. Abscheuliches, Widernatürliches bahnt sich seinen Weg in mein Bewusstsein, vorbei an allen Filtern. Den hinter Yang sehe ich etwas, beginne ich die Ursache für das plötzliche Chaos zu realisieren. Ungläubig und widerwillig sträubt sich mein Kopf zum Glück, das anzunehmen, was meine Augen nur kurz sehen, bevor ich mich angeekelt wegdrehe.

»Was zur Hölle …«, ich würge, bekomme kaum noch einen Ton raus, »… ist …«, jede Silbe bereitet mir bestialische Schmerzen, »… das Ding da?«, bringe ich endlich doch heraus und bin dabei mittlerweile so steif wie ein Brett. Ich sollte einfach die Augen zumachen, die Scheiße schön da draußen lassen, wo sie hingehört, und auf meinen Bruder vertrauen.

Aber ich kann nicht, schaffe es nicht lange, will trotz allem Bescheid wissen und drehe meinen Kopf gegen den schmerzhaften Widerstand langsam nach links. Yang hat mich nunmehr auf den Arm genommen und ich schaue an ihm vorbei nach hinten zum Tor: Ein rothaariger Junge, total verdreckt und erbärmlich, und eine genauso heruntergekommene Schickse rennen auf uns zu, Panik und Schrecken im verzerrten Gesicht. Und dahinter erwacht ein Ding. Ich traue meinen Augen kaum, bereue meine Neugierde ein zweites Mal. Die Lähmung in meinen Gliedern vertieft sich weiter, wird jetzt schmerzhaft. Eine ekelhafte Kälte wandert meine Wirbelsäule hinauf, greift nach meinem Gehirn, droht es erbarmungslos schockzufrosten.

Gerade erklingt der schrille Lageralarm über unseren Köpfen und wummert auf mein Hirn ein. Das bringt mich etwas runter und holt mich in die Welt zurück. Da ich nach zwei kurzen Blicken, die ich offen bereue, keine Worte für das Etwas finde, wovor wir wegrennen, bleibe ich wenigstens im Denken und Erinnern von dem Grauen verschont, das eben hinter uns auf dem Platz ausgebrochen ist und nun dort wütet. Die grässlichen Bilder, nur Blitzlichter, verblassen glücklicherweise schnell. Meine Augen habe ich nun fest verschlossen. Die größte Angst macht mir deshalb, dass ich mich nicht mehr bewegen kann, und nicht verstehe warum. Das macht mich vollkommen fertig. Ich bin nicht so hart drauf wie mein Bruder, aber irgendwas passt nicht. Ich denke fast klar und habe trotzdem keine Kontrolle über meine nutzlosen Füße und Arme.

Fühlt sich so echte Panik an oder was wird hier gespielt, frage ich mich in dem Moment, in dem einer der zwei Wächter den ersten Schuss über den Platz abfeuert. Die andere der beiden Wachen fingert im Hintergrund an irgendeiner Konsole herum.

Mach schneller Yang, ich habe Angst.

Gerade als ich mich umdrehte und dazu ansetzte, loszurennen, wurde mir klar, was ich eben verrafft hatte: Yin rührte sich nicht mehr. Solchen Bockmist roch ich meistens gerade noch rechtzeitig und drehte deshalb schon den Kopf: Sie stand wie vom Blitz getroffen da und sah dabei nicht aus, als könnte sie einen Teufel dagegen tun.

»Verdammt schlechter Zeitpunkt für ne Pause, aber wofür hast du mich? Genau: um dir deinen kleinen Arsch zu retten!«

Ich drehte mich sofort um, griff nach Yin und wollte sie mit mir wegziehen. Aber sie war total steif, starr wie ne Leiche. Nur in ihren Augen sah ich noch Bewegung, ein hektischer Blick gezeichnet von Verzweiflung. Ja, ich würde sie raushauen, auf jeden. Was die anderen Leute machten, war mir schießegal. Die vier oder vielleicht derzeit nur noch drei Neuankömmlinge waren mir genauso schnurz wie die anderen Sklaven und die unfähigen Wächter. Yin brauchte mich, nur das zählte jetzt.

Sie zu packen und mitzuschleifen, hatte ich erst nach wertvollen Sekunden hinbekommen. Dabei vermied ich es gekonnt, unnötige Zeit zu verplempern, indem ich mir die Horrorshow hinter uns direkt reinzog. Dafür war Zeit, wenn wir einen Vorsprung hatten und Yin wieder sie selbst war. Jetzt mussten wir uns schnell von hier verpissen! Wir hatten eine klare Rückzugsrichtung: Westen. Unser einziges Ziel musste es sein, zum Bauerntor und damit hinter den zweiten Wall zu kommen. Natürlich sollten wir uns auf dem Weg dorthin beeilen und bloß nicht töten lassen – geschenkt.
Der Schwierigkeitsgrad dabei war hoch. Denn mit meiner 50-Kilo-Schwester im Arm konnte ich aber nun nicht gerade schnell rennen. Doch nach den ersten drei Metern, weg vom Platz um die Nachbarhütte herum, schaffte ich das Kunststück, sie soweit aufzulockern, dass ich sie mir über die Schulter werfen konnte. Erst begann der Alarm zu dröhnen, dann fielen hinter uns die ersten Schüsse. Auf den weiteren Metern um die nächste Glashütte herum wurde Yin noch lockerer, begann bald zu zappeln und dann gings los: Sie schrie, wie ich sie nie zuvor schreien gehört hatte. Der Klang ihrer Stimme erschütterte mich, durchlöcherte mir Trommelfell und Herz. Sie war wohl mal wieder zu neugierig gewesen und hatte nach hinten geschaut, während sie über meiner Schulter hing. Was dort wartete, war zuviel für die Kleine gewesen und würde mir wohl bald auch noch den Appetit verderben. Aber erst, wenn wir aus dem Allergröbsten raus waren. Also lief ich unbeirrt weiter, stapfte durch den Schlamm und drehte mich nicht um – noch nicht.

Ich brannte ehrlicherweise darauf, das perverse Spektakel mit eigenen Augen zu sehen. Es lagen schon zwei Glashütten und etliche Meter zwischen uns und dem Kampfplatz, dennoch trug ich Yin weiterhin. Sie schrie nun nicht mehr, hatte eben damit aufgehört, sondern flennte wie ein Baby und zitterte. Sie war kurz ohnmächtig gewesen und würde gleich kotzen. Ich litt mit ihr, konnte sie aber jetzt noch nicht trösten, wir wurden verfolgt. Sie würgte und stöhnte jämmerlich von hinten. Also schnell – wir mussten noch mindestens eine zusätzliche Wohneinheit mehr hinter uns und damit Sicherheitsabstand zwischen uns und den Tod bringen.

Das hier war wirklich die fäkale Krönung für einen herausragenden Scheißtag ohnegleichen: Untertage gabs neben der üblichen Schinderei derben Zoff zwischen den Kumpeln, die Essensration wurde mir ab heute mal wieder strafbedingt gekürzt, Yin hatte mal wieder Ärger mit einem notgeilen Herren gehabt und jetzt noch dieser unwahrscheinliche Albtraum, der aus einer der bescheuerten Gruselgeschichten von früher abgeschrieben worden sein konnte. Meine Güte, bei Gor dem Gott der Scheiße und der Sklaven – was war das doch wieder für ein ausgewählt beschissener Tag in Gor Thaunus.

»Ahhhhh, ich werd irre … das ist der, ist der … der Angriff … der Angriff der Todesklone – jahhh … das ist er!«

»Wahhhhhhh!«

[Hinweis der Metatext-Redaktion: Entschuldigen Sie vielmals, ab hier kann das Layout des Originals aus technischen Gründen nicht wiedergegeben werden. Eine Wiedergutmachung gibts weiter untern!]

Erst ein Todesschrei, dann ein Fieeeppenn … Kotze! Dunkel, still & gnädig, vorbei … ›#›#++~~~> M

Mein Hirn schmort durch, überhitzt durch das unfassbar Grausame, was ich erlebe. Ich lasse los – nicht gut, aber besser. Ich begrüße den Irrsinn und die Ohnmacht freudig und lade beide herzlich ein, eine Runde bei mir abzuhängen:

Mein mentales Oberstübchen ist aufgeräumt, der Tisch ist fein eingedeckt, der Tee bereits trocken, das Gebäck noch flüssig aber bereits knusprig und der Kuchen schön warm und taufrisch. Blutgeruch. Herein zu mir, husch, husch, es gibt eine Party im Glaskäfig Nr. 42. Da kommt ja auch schon der weiße Rabe mit seiner rauchenden Pfeife im linken Schnabelwinkel – und boah geil, er hat viele seiner Freunde & Feinde mitgebracht. Eine ulkige rote Ente mit einer grellgrünen Taucherbrille watschelt gemütlich hinter ihm her. Sie kommen über den umgedrehten Regenbogen zu mir. Während wir uns gegenseitig Essenrationen schenken, jeder genau gleich viel, kommen die fiese Herzkönigin + der senile Kreuzbube von den Sternen herab. Sie fangen an, zu rennen, schleichen um die goldene Hüpfburg herum, klettern hinauf auf die Riesenbäume. Die Wichser sprengen einfach so die Sonne – Kadabumm, Licht aus! Muss ich halt die Discokugel anmachen, hatte ich eh vor. Ein Beat, ein Bit, ein Boson. Das war eine Spitzenidee, danke ihr Feinde des Lichts. ~Komm mal klar Kleine!} Die Nacht des Denkens ist der Tag der Lüste – ab gehts, drunter drüber, rein raus. Schon tanzt die Meute, manche Standard, die meisten aber Freistil ihren wilden Freudentanz. Der schwarze Schwan + das weiße Kaninchen jagen einander wie wilde Derwische über die Wellen und werden dabei selbst wiederum vom peitscheschwingenden Tagteam aus Grinsekatze und grölendem Gargantua angetanzt. Dauerfeuer rattert. Atréju & Pantagruel auf der einen, Kenny + Pumuckl auf der anderen, entjungfern die Gogo-Käfige neben der Tanzfläche mit einem Synchrontwist auf Beethovens 9. Kakofonie. Schrille Schmerzensschreie, drei Mal. Das tolle Fest kommt so richtig in Fahrt. Spätestens mit dem Poetry-Slam auf der Kanzel zwischen der bösen Hexe Bellnana Retsarzorro, einem aus dem nichts aufgetauchten Känguru, das wirre Fragen nach einem Piguin-Controller stellt, den keiner hier kennt, und einem Delfin namens Howard, der angeblich in Atlantis lebt, wird es wahnsinnig komisch: Von orthodoxem Marxismus wird erzählt, von außerirdischen Besuchern in tiefster Vergangenheit und naher Zukunft, die Hexe singt ihr vielstimmiges Utopos auf Gor Thaunus. Mitten im Finalbeitrag der Ente scheppert die Türklingel, wie ein Esel schreit sie. Es sind die nervigen Todesklone (brüllen bestialisch) und sie stehen weinend vor der Tür und klingeln seit Stunden Sturm: Iahhh, Iahhh, Iahhh! Wohl, weil sie auch auf die Party wollen, aber nicht dürfen. Die verfluchten Spaßbremsen sind nicht eingeladen – keine Chance! Die sollen bloß draußen bleiben und wehe, Freunde der Nacht, denen macht einer die Tür auf! Die Plüschfraktion aus Amaurotum murrt. Sie fordern ihren Tribut, plus Zinsen. Hoffentlich holt endlich mal jemand die Soma-Honig-Möhren-Bowle für König Gucky und Königin Winnie-Puh, sonst passiert noch was. Säuerlicher Kotzegestank. Iahhh! Fnords hüpfen umher, rennen kreuz & quer durch die Gästemassen und binden ihnen Problembären auf. Der Frustschutzfaktor steigt auf 30, nur die 23 Herren und die 7 Damen legen Lustblocker Plus auf, obwohl die Sonne aus ist. Der Rest der Mannschaft macht eine syndikalistisch-synkretistische Polonaise. Ich schunkel zwischen einem Kastenbrot und einem gelben Schwamm sanft dahin, aber die beiden zoffen sich andauernd zickig an: Es könne nur einen lustig-neurotischen Entertainment-Quader im Kinder-TV geben. Fremdsprachen und komische Namen überall. Ich lege beiden vorsorglich Frustblocker auf und gebe mich dem schrägen Schwachsinn willig hin, rückwärtsE und Fvorwärts, im m und rundherum geht unser wilder Ringelrein: Iahhh! … Kawumm! »Yin! … wach … sterben wir!« Die Haustür splittert und Lava flutet den Raum, die Todesklone surfen auf Roboterkörpern … die Todesklone!?

[Hinweis der Metatext-Redaktion: Entschuldigen Sie vielmals, bis hierhin konnte das Layout des Originals aus technischen Gründen nicht wiedergegeben werden. Eine Wiedergutmachung gibts weiter untern!]

Es brennt … dumpfes Rauschen … grell … Eisen … Säure … »Ahhhhhh!«

Ich schreie.

Ich brülle und schlage um mich.

Ich bin.

Ich kotze mir die Seele aus dem Leib und danke Yang innerlich dafür, dass er das wohl vorher geahnt hat und mich netterweise an den Schultern festhält. Unter mir sehe ich nur Schlamm und mein halb verdautes Essen von heute Nachmittag.

»Hey Schwesterchen – willkommen zurück. Wir müssen weiter, sonst wirds haarig!«

Ich war wieder und wurde trotz aller Schmerzen immer klarer im Kopf. Yang massierte mir den Nacken und redete mir weiterhin gut zu, drängte aber zum Aufbruch. Daneben drangen Alarm, viele Schüsse und einige Schreie dumpf zu mir durch. Ich würgte die Reste des Erbrochenen heraus und versuchte, Yang anzusprechen. Als ich dafür nach oben sah – voll im Arsch, irgendwo zwischen frisch gefoltert und gevögelt – sah ich noch ihre nervigen Lichterspiele rund um den Berg und oben auf dem protzigen Zentralturm. Hier unten starben Menschen wie Vieh und dort oben nahm alles seinen hochherrschaftlichen Lauf. Ich wünschte mich zurück in meinen absonderlichen Traum und wettete schon vorher darauf, dass er mir bei meinem Urteil über diesen Mondtag zustimmen würde, während ich meine ersten Worte herausbrachte und nicht einmal wusste, wie lange ich geschwiegen hatte:

»… verdammter Mist, was für ein verschissener Tag in Gor!

Er lächelte mich an und half mir auf die Beine.

»Danke Yang!«, sagte ich, während ich ihn kurz, aber heftig umarmte.

Frieden … – Schlamm, Kotze, und, wie ich peinlich entdeckte, Pisse und Scheiße waren mir einen kurzen Moment genauso egal wie der Horrortrip, in den wir gerade geraten waren; genauso schnuppe wie der Sklaven-Bullshit, den wir den Arschlöchern da oben auf dem Berg zu verdanken hatten. Diese feinen Herren saßen sicher und gechillt in ihren schäbigen Palästen, oben in Hohenherz, am Fuße ihres albernen Leuchteturms, hinter ihrem bescheuerten Feuerzauber und den zwei dicken Mauern. Wow, so übel wie ich heute drauf war, machte ich Yangs Herzlichkeit echte Konkurrenz – aber heute ist einfach: ein maximal bekackter Tag in Gor Thaunus!


Trübsinnig-tristes Epochenquartett

125.
Der tolle Mensch. − Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: „ich suche Gott! Ich suche Gott!“ − Da dort gerade Viele von Denen zusammen standen, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein grosses Gelächter. Ist er denn verloren gegangen? sagte der Eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der Andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? − so schrieen und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. „Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, − ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch Nichts von dem Lärm der Todtengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch Nichts von der göttlichen Verwesung? − auch Götter verwesen! Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet, − wer wischt diess Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnfeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Grösse dieser That zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine grössere That, − und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser That willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!“ − Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, dass sie in Stücke sprang und erlosch. „Ich komme zu früh, sagte er dann, ich bin noch nicht an der Zeit. Diess ungeheure Ereigniss ist noch unterwegs und wandert, − es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Thaten brauchen Zeit, auch nachdem sie gethan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese That ist ihnen immer noch ferner, als die fernsten Gestirne, − und doch haben sie dieselbe gethan!“ − Man erzählt noch, dass der tolle Mensch des selbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur diess entgegnet: „Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?“

Friedrich Nietzsche (1844 – 1900), Fröhliche Wissenschaft, S. 86 (la gaya scienza; 1882)


Die Krähen schrei’n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnei’n –
Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat!

Nun stehst du starr,
Schaust rückwärts ach! wie lange schon!
Was bist du, Narr,
Vor Winters in die Welt – entflohn?

Die Welt – ein Tor
Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer Das verlor,
Was du verlorst, macht nirgends Halt.

Nun stehst du bleich,
Zur Winter-Wanderschaft verflucht,
Dem Rauche gleich,
Der stets nach kältern Himmeln sucht.

Flieg‘, Vogel, schnarr‘
Dein Lied im Wüsten-Vogel-Ton! –
Versteck‘ du Narr,
Dein blutend Herz in Eis und Hohn!

Die Krähen schrei’n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnei’n –
Weh dem, der keine Heimat hat!

Friedrich Nietzsche (1844 – 1900), Die Krähen schrei’n – Vereinsamt – Der Freigeist – Abschied – Heimweh – Aus der Wüste, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden – KSA. Band 11: Nachgelassene Fragmente, 1884 – 1885, S. 329 (1884 – 1894)


Auf einem Häuserblocke sitzt er breit.

Die Winde lagern schwarz um seine Stirn.

Er schaut voll Wut, wo fern in Einsamkeit

Die letzten Häuser in das Land verirrn.

Vom Abend glänzt der rote Bauch dem Baal,

Die großen Städte knieen um ihn her.

Der Kirchenglocken ungeheure Zahl

Wogt auf zu ihm aus schwarzer Türme Meer.

Wie Korybanten-Tanz dröhnt die Musik

Der Millionen durch die Straßen laut.

Der Schlote Rauch, die Wolken der Fabrik

Ziehn auf zu ihm, wie Duft von Weihrauch blaut.

Das Wetter schwelt in seinen Augenbrauen.

Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt.

Die Stürme flattern, die wie Geier schauen

Von seinem Haupthaar, das im Zorne sträubt.

Er streckt ins Dunkel seine Fleischerfaust.

Er schüttelt sie. Ein Meer von Feuer jagt

Durch eine Straße. Und der Glutqualm braust

Und frißt sie auf, bis spät der Morgen tagt.

Georg Heym (1887 – 1912), Der Gott der Stadt, in: Der ewige Tag, S. 13 (1911)


Zuerst die wirre Prophetie des nahen Todes, dann die ahnungsvolle Kühle des spürbaren Verfalls, zuletzt das ungestüme Wüten einer neuen götllichen Tyrannis – bis wohin hat sich das Rad der Zeit wohl für uns im 21. Jahrhundert weitergedreht?

Ewige Wiederkehr, dekadente Degenration oder zivilisatorischer Fortschritt sind die abstrakten, allzu reinen Denkmöglichkeiten, die sich einem heutigen Epochenrichter anböten, wollte er ein gutes Jahrhundert nach diesen beiden zugleich sensiblen wie kritischen Geistern neuerlich kulturhistorische Bilanz ziehen. Ich allerdings wage nicht, die Rolle eines solchen Richters zu spielen. Einerseits gebändigt durch intellektuelle Redlichkeit im Angesicht einer komplexen, eben konkreten und nicht abstrakten Wirklickeit, andererseits geblendet und sediert durch all die Waren, Dienstleistungen und Produkte, all die Genüsse, Zerstreuungen und Anhaftungen. Derart werden große (Sinn-)Fragen und die sie tragende grundsätzliche Neugier hart demotiviert, herb deklassiert und heftig desavouiert.

Pah – genug der vorgeschobenen, geradezu beschwörenden Zurückhaltung: Versuch gescheitert! Die Dämme bröckeln und knirschen, brechen sodann; der Gedankenstrom ergießt sich ungebremst und ungeschlacht in die Niederungen, reißt dort angelangt Allerlei mit sich, pflügt Schneisen, schlägt Breschen und erschüttert dabei Stadt wie Land gleichermaßen.

Was also ist geworden, wohin hat es sich entwickelt hier im vermeintlichen Zentrum der Welt, an der Speerspitze der kulturellen Entwicklung und wie sieht es in der Peripherie, im Speckgürtel des globalen Dorfes aus?

Globalisierung, Pluralismus und Liberalismus, dieser Triade voran sind Wachstum, Bildung, Freiheit und Wohlstand derzeit die wohlklingend Substantive, die uns der Zeitgeist anbietet, um die erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts vergessen zu machen. Das nagende Bedürfnis zu vergessen, so nachvollziehbar, so von echtem Leid getränkt oder von bloßem Weltschmerz betäubt es sein mag, sei zugestanden, dennoch bleibt fraglich, was in dessen historischer Folge noch so über uns kam, uns unterwanderte und überflügelte. Was war gewesen, was ist geworden, nachdem sich die ungeheurlichsten Abgründe der tiefsten Höllen, schlimmer als sie fiktiv bis faktisch von Nietzsche bis Heym vorgestellt, ja vorgezeichnet worden waren, zweifach aufgetan und wieder versiegelt hatten? Welche kuriosen Ismen brachen sich wirklich Bahn, welche Götter machte sich die Menschen, die Völker der Erde Untertan, was beeinflusst, bestimmt, beherrscht das zeitgenössische Denken? Ist es einfach, zweifach oder vielfach? Gründen sich Entwicklung und Dynamik in einem dialektisch-strukturalen Schicksal oder folgen sie einer bewussten, gar kontrollierten Entscheidung? Wenn gelenkt, wie wird die Wahl getroffen, in bürgerlicher Freiheit und getragen von politscher Verantwortung oder regiert der Eigensinn und niedere Zwecke? Wie divers sind die regionalen, nationalen und womöglich globlen Spielarten der neuen Weltordnung(en)?

Fragen über Fragen sprudeln munter hervor aus dem geborstenen, mentalen Mauerwerk und unterspülen fröhlich die Fundamente des Selbstverständlichen, plätschern durch die Straßen der Städte und in dringen in die Keller der Menschen.

Für die angemessene, also sachliche und umfassende, Bentwortung der angedeuteten Fragekomplexe sollte mutmaßlich ein Großteil des Arsenals der Wissenschaften in Stellung gebracht werden, müsste sicherlich eine stattliche Phalanx an diversen Disziplinen mobilisiert werden. Oder aber ich eifere den verehrten lyrisch-literarischen Vorläufern nach, verzichte also auf solcherlei hehren Anspruch, entsage einfach und entledige mich solcherart bequem allen Ballasts von Ordnung und Methode, Wissen und Wahrheit. Dieser Entschluss klingt einladend, ja verlockend, transformiert gleichsam die Kraft der intellektuellen Wissbegierde in ästhetische Gewalt, verdichtet und verschiebt die Energie, entspannt den Geist und befreit das Bewusstsein.

Auf, auf also – mitten hinein in ein kreuz- und querreimendes Quartett, getragen von lyrischem Leichtsinn heran an schweres Material: Die Vermessung von Gestern und Heute.

Mit einer Verbeugung vor den Dichtern aller Zeiten und ihren Musen, Euer Satorius


Mars in globaler Totale, schlachtet der Generationen in irdenem Feld.

Prinzen gemeuchelt, geschleudert der Blitz nach Ost wie nach West,

Erschüttert der Welten Kreis, geopfert – zerrüttet, selbst der größte Held.

Papier und Licht, von weiß bis grell, besiegeln blutig den trostlosen Rest.

Brüder, frei und gleich, mit Rosen herzlich vereint, gebunden montan,

Mitsam einigen Rechten, ebenso frei, neu erzogen in goldenen Jahr’n.

Der kalten Götter zwei, Zwillingszwist, drei oder fünf, stehen zur Wahl,   

Dialektisch verschränkt – Prometheus und Mammon Gaia zur Qual.

Vereint der Welt Völker von der Blumen Reigen und der Bürger Marsch.

Hinaus ins Blau, in die Schwärze hinein, Grau-Weiss statt Grün-Braun,

Trikont übt Terror, Eins/Null besiegt den Dezimal, nieder metallener Zaun.

Auf zur Arbeit, hin zum Projekt, Fülle dank Mangel der Pole unartig harsch.

Terror die Zweite, plural Wissen und Welt, untreu gebrochen die Sprachen,

Derweil politischer Götter Zorn die Herzen der Hetzer von Neuem beseelt.

In zyklischer Krisis deprimiert, wachsen wir stetig, kehrt wieder die alte Angst,

bar jeder Utopie, des Eigentums voll, hektisch gefläzt in Karriere und Couch.


Oder, um es in den ebenso kurzen wie inspirierenden Worten einer geschätzeten Praktikantin aus den Reihen der Metatext-Redaktion auszudrücken:

Pummelige Puppen pupsen punktuell pures Pudding-Pulver.

Teil 6 – Resümee, Etappenziel und Ende

Ruhe und Frieden

Sechster Teil: Seiten 17 – 21

Was hatte sie bisher zusammengetragen? Selbstsorge und Sparsamkeit fielen ihr rasch ein; dann, nach einigen Sekunden, Stärke – und ja, was noch – bevor sie mental verkrampfte, entspannte sie sich bewusst mit ein paar tiefen, ruhigen und vollen Atemzügen. Genau, das waren sie: Autonomie, Erfahrungswissen und Übersicht. Oder fehlte doch noch etwas? Noch einmal kurz und knapp in schneller Folge: Selbstsorge, Sparsamkeit, Stärke, Autonomie, Erfahrungswissen, Übersicht. Ach, die Pragmatik war ihr entfallen, also das alles und Pragmatik.

 

Gut erinnert, lobte sie sich – aber genug davon, es gab nun wichtigere Aufgaben. Sie musste rasch weiter, sonst würde aus einem zu langen Weg, eine zu kurze Nacht. Sie war entschlossen und lief abermals los. Nicht jedoch ohne die letzten Meter des sicheren Hochplateaus für abschließende Gedanken zu ihrem Ordnungssystem zu nutzen.

 

Die fünfte und letzte Gruppe forderte sie im Kampf wohl am heftigsten heraus, stellte aber für ihre Wahrnehmung, ihr Gefühl und die geistige Gesundheit eine weit geringere Belastung dar. Roboter, Androiden, Drohnen, Verteidigungsanlagen und eigenständige Kampfsysteme gab es überall dort, wo sich fette Beute machen ließ. Da nur gut gesicherte Hochtechnologie die Katastrophe überstanden und die letzten Jahrzehnte überdauert hatte, waren ihr diese Exemplare in Hinblick auf Kampfkraft mindestens ebenbürtig. Als Spitze einer brachial abgebrochenen Technikevolution übrig geblieben, musste sie in den Konflikten mit diesen Maschinen all ihr Können und große Teile ihres Arsenals einsetzen, um am Ende als Siegerin dazustehen.

 

Eine besondere Herausforderung war in solchen Situationen, klug und besonnen zu bleiben, obwohl ein schwer zu besiegender Wächter die berechtigte Erwartung auf entsprechende Reichtümer weckte. Sie neigt wahrlich nicht zu Gier, aber je besser ein Ort geschützt war, desto größer war zumeist die Belohnung. So konnte die Beute, die am Ende eines derart kritischen, nicht selten lebensgefährlichen Einsatzes stand, für sich alleine mehr Geld einbringen, als Tonnen an Standardtechnik; mehr jedenfalls als die typischen Bewohner der Lebenszonen mit einem Jahr harter Arbeit verdienen konnten. Deshalb waren ein hohes Maß an Selbstbeherrschung und ständige Risikoabwägung gefordert. Mit diesen beiden hatte sie die nächsten wichtigen Überlebensprinzipien gestreift und setzte sie ans Ende der spontan nochmals wiederholten Liste.

 

Hier draußen war wirklich was los, vermeintlich klare Klassen hin oder her, das Bestiarium war reichhaltig: Zombies, von plump bis agil; ebenso zu Biowaffen mutierte oder als solche konstruierte Tiere und Pflanzen, von verblüffend über unangenehm bis tödlich; die ursprüngliche Flora und Fauna, die auch nicht eben harmlos waren; degenerierte Psychopathen, Gesetzlose und Wilde, die im Vergleich zu Zombies und Tieren auch noch intelligent waren, sich jedoch so weit von Moral und Menschlichkeit entfernt hatten, dass mit ihnen nicht friedlich auszukommen war; zuletzt die Welt der Technik.

 

Innerhalb und zwischen diesen fünf Gruppen, deren Zweige sich ständig erweiterten, verbanden und wieder vereinzelten, hatte sich ein konfuser Wirrwarr entwickelt. Jede Todeszone war anders, jede Todeszone war gleich. Ein Team aus Biologen und Soziologen hätte viel Arbeit darin, das Chaos hier draußen mal zu analysieren und ordentlich zu klassifizieren. Sie jedoch wälzte diese Gedanken hauptsächlich aus praktischem Interesse, die Wissenschaft überließ sie anderen. Kenne deine Feinde, ihre Stärken und Schwächen, war die passende Regel, die ihr hier draußen das Überleben sicherte. Da steckten als Prinzipien doch mehr dahinter als nur Übersicht und Erfahrungswissen, aber was noch?

 

Während sie so überlegte, wurde sie sich erst erstaunt dann frustriert bewusst, dass sie zuvor nur wenige Meter gelaufen, dann langsamer geworden war und seit über einer Minute schon wieder reglos dastand. Die unzähligen Tiere, die sie nun krabbelnd, kriechend und auf sich sitzend entdeckte, waren Beleg dafür genug, aber kein Grund zur Sorge. Sie schüttelte sich ruckartig und streifte danach die übrigen Tiere, die hartnäckig weiter an ihr klebten, sorgsam und respektvoll von Xentar ab.

 

Dass nur noch ein paar Meter Strecke vor ihr lagen, vermutete sie sodann und ging kräftigen Schrittes weiter. Dabei bahnte sie sich mühsam ihren Weg durch Gestrüpp und tief hängendes Astwerk. Ohne Muskelverstärkung stellte sich ein Spaziergang durch die Wildnis als anstrengender heraus, als sie gedacht hätte. Vorhin war ihr das nicht aufgefallen, obwohl die Strecke kaum anders gewesen sein konnte. Nur Schritt für Schritt kam sie voran.
Ihre weitschweifigen Überlegungen waren zuvor an einem toten Punkt angekommen, von diesem aus hatte sie nicht mehr weitergedacht – genug des Nachdenkens, gelobte sie sich abermals. Eben hatte sie sich dem Rand des Plateaus bis auf weniger als einen Meter genähert, ihn noch immer nur erahnend.

 

Ohne den Helmscheinwerfer wäre es gefährlich geworden, denn der dichte Pflanzenteppich verhinderte jeden Überblick, hing sogar lose merklich über den Abgrund hinaus. So aber war sie rechtzeitig stehengeblieben. Nun blickte sie in den metertiefen Abgrund, anstatt ihn nur zu ahnen. Gute vier Meter ging es an dieser Stelle fast senkrecht hinab und jetzt sah auch wieder den Baumriesen, der ihr vorhin als Orientierung gedient hatte.

 

Damit an ihrem ersten Etappenziel auf dem Rückweg angekommen, stemmte sie sich gegen einen jungen aber kräftigen Baum – vielleicht eine Morlaeiche? Sie umschlang ihn und lehnt sich leicht über den Abgrund. Trotz der geschlossenen Rüstung, spürte sie die raue Rinde, roch den süßen Duft der verschlossenen Blüten zu ihren Füßen. Darunter mischte sich der herbe Geruch frischen Harzes. Die zuvor so aufdringlichen Geräusche der Tierwelt wurden nun durch den Wind übertönt, der hier oben insgesamt und besonders hier an dieser Stelle sehr kräftig war. Er pfiff laut durch die kaum drei Meter breite Schneise zwischen den zwei Wäldern, welche durch einen wüsten Streifen und den felsigen Abhang voneinander getrennt wurden.

 

Dahin war ihr kaltes Interesse an einem bloßen Namen für diesen Baum, beendet ihr Sinnieren über Prinzipien und ihr Abdriften in schöne und hässliche Erinnerungen. Sie betrat gleich den steinigen Boden der Realität, die Friedenszeit war beinahe vorüber und vor ihr lag unbestimmt viel Weg. Der Preis für diese selbst verschuldete Verspätung würde ein zweifacher sein: weniger Schlaf und mehr Energieverbrauch.

 

Nun schaltete sie das künstliche Licht wieder aus und zog sich noch weiter hinauf in den überhängenden Baum. Über ein paar dünne Äste gelangte sie rasch in die knapp fünf Meter hohe Krone. Hier oben stand der Baum schon über einen Meter schräg über dem damit noch tieferen Abgrund. Die Aussicht von hier über die Bergflanke hinweg in das nächste Tal und die Ferne war beeindruckend:

 

Der Mond brach mehrfach kurz durch die Wolken, die eilig über den Nachthimmel glitten. Sie konnte den dunkel vor ihr liegenden Wald kilometerweit überblicken; Nebelbänke zogen hier und da träge über ihn hinweg, schlängelten sich zwischen den vereinzelt stehenden Baumgiganten hindurch. Einzelheiten konnte sie dabei keine ausmachen, wie auch. Wo die Schlaglichter des beinahe vollen Mondes hinfielen, entsponnen sich fantastische Bilder, erkennen aber konnte sie nichts.

 

Gebannt von diesem Schauspiel, lies sie in ihrer Vorsicht nach. Zu einem schlechten Tag kamen schlechte Erinnerungen und reichlich Versuchung, sich darin zu verlieren – Kopf hoch, morgen würde wieder ein besserer Tag, sprach sie sich gütig und tröstend zu. Danach genoss den Fernblick über das düstere Wunderland, ließ sich darin einspinnen.
Eine Böe fegte plötzlich hinab, erfasste den Baum voll; ein leises Knacken, ein lautes Krachen und alles begann zu fallen. Sie fiel.

 

In diesem Moment war unvermittelt ein Ast des jungen Baumes gebrochen, der Ast, auf dem sie bis eben gestanden hatte. Auch von den zwei Haltepunkten ihrer Hände war damit einer verloren gegangen, der verbliebene konnte ihr Gewicht kaum halten. Weniger als zwei Sekunden, dann knickte er ab und alles stürzte hinab in die Tiefe.

 

Sie hatte gut neun Meter freien Fall vor sich, bevor sie auf den spitzen Felsen am Fuß des Steilhangs aufkommen und dabei zerschmettert würde. In einem jahrelang trainierten Instinkt wollte sie mit einer simplen Geste technische Unterstützung herbeizaubern, scheiterte aber an dem störenden Astwerk, das sie auf ihrem Fall begleitete. Sie versuchte eifrig sich aus der hölzernen Umklammerung zu lösen und verlor dabei wertvolle Meter an Flughöhe. Nichts zu machen, überall um sie herum war es Grün und Braun. Zusammen mit ihr war wohl mehr als nur ein Ast über die Klippe gestürzt. Was konnte sie jetzt noch tun? Erst hoffen, dann abrollen, dachte sie noch scherzhaft, während sie sich über das Ausbleiben jeglicher Lebensfilme oder bedeutsamer Erinnerungsszenen wunderte. Ihren Tod frei von solchen Klischees zu wissen, war ein widersinniger Trost, aber ein Trost. Denn bald musste es soweit sein. Wie lange sie wohl flog, fragte sie sich besser gar nicht erst. Das war es jetzt also, lahme Fragen, mehr nicht und dann?

 

Nun kamen sie doch, die Nahtoderfahrung: Sie sah sich, von außen, gestochen scharf; kurz sogar ihren zukünftigen Aufprall auf einem steinigen Boden, der tatsächlich aber unausweichlich weiter auf sie zuraste. Sie fürchtete die brachialen Schmerzen, die sie vor der rettenden Ohnmacht noch heimsuchen, noch quälen würden. Der Schub an Erinnerungen blieb wirklich aus, stattdessen erlebte sie jedoch die langsamsten und intensivsten Sekunden und Meter ihres Lebens:

 

Jedes Atom um sie herum gewann unendliche Bedeutung. Sie wuchs, wandelte sich, wurde eine andere, sie hatte genug Aufmerksamkeit für alles: den grauen Stein, durchzogen von weißen Schlieren; die Mückenschwärme, gierig auf ihre fette Beute; den im Mondlicht purpurn schimmernden Ajaxfarn, dort unten am nahen Waldrand; auch die wenigen Todraucher, mit ihren kecken Hütten, den orangefarbenen Punkten; die Unmengen namenloser Tiere und Pflanzen um sie herum, das alles sah sie absolut klar und scharf trotz der herrschenden Dunkelheit. Sie schaute vermeintlich in das Wesen der Dinge. Nach einer Unzeit weise geworden, erblickte sie überall die Schleier der Existenz, wie sie wild flatterten und für sie durscheinend geworden waren, als sich plötzlich wieder alles änderte: Zeit und Raum forderten ihr Recht ein.

 

Aus ultimativer Achtsamkeit gerissen, glitt sie zurück, hinein in den dunklen Abgrund ihres inneren Selbst, zurück ins Gefängnis ihres fallenden Körpers. Dort wurde sie wohlig und warm empfangen, ihr Leib pulsierte schier vor Wonne, ein einziger Rausch durchströmte sie. Nicht lange war ihr vergönnt, darin zu baden, schon ebbte die Lust ab. Die Dunkelheit wurde intensiver, wurde tiefer, dichter, absorbierte sie.

 

Schon war die Stille vollkommener, als sie das jemals in einer Meditation erlebt hatte. Immer dunkler, immer glatter, immer leiser, immer steriler, immer leerer, immer weniger – schlussendlich pures Nichts.

Teil 5 – Düstere Gedanken im tiefdunklen Wald

Ruhe und Frieden

Fünfter Teil: Seiten 14 – 17

Aus den Gedanken kehrt sie in die Wirklichkeit zurück. Ihre Sicht reichte nicht mehr weiter als einige Meter, aber das war etwas. Was war denn das dort vorne, ein paar Meter voraus? Ach, eine sportliche Herausforderung tat sich ihr auf, diesen fast meterhohen Stein dort musste sie einfach überspringen: Konzentration – und Sprung! Ha, wenn das nicht sogar etwas zu leicht gewesen war, dachte sie nach der eleganten Landung. Sie lief mittlerweile nur noch im Trab und hatte deshalb einen kurzen Sprint eingelegt. Nun musste sie bereits kopfhohes Gestrüpp durchkämen und sich stellenweise durch engstehende, halbhohe Bäume zwängen. Dabei wich sie immer mehr Exemplaren aus, die sie überragten, und war jetzt nur noch geschätzte 50 Meter vom Ende des Hochplateaus entfernt. Ohne Vermessung und dafür nötigen Technikeinsatz konnte sie hierbei nur Erfahrung und Wahrnehmung intuitiv kombinieren und musste vertrauensvoll raten; aber das tat sie mit Genuss.

 

Also, wobei war sie eben von der spontanen Lust auf den Sprung über den Stein unterbrochen worden? Ach ja, sie hatte über die Gegner nachgedacht, denen gegenüber sie kein nachsichtiges Verhalten an den Tag legen wollte, Instinkt und Reflex hin oder her. Eigentlich waren ihre mentalen Vorsätze vorhin andere gewesen, aber solange sie vorsichtig war, konnte sie sich noch ein wenig mit  Nachdenken ablenken. Da das mit dem Kampfbewusstsein sowieso nicht klappen wollte, warum sich weiter abmühen und frustrieren. Zusätzlich zu ihrem Vorsatz, ihre verwirrend vielen Überlebensregeln zu leicht merkbaren Wörtern zu bündeln, konnte es nicht schaden, auch ihre Erfahrungswerte im Umgang mit ihren Kontrahenten zu überdenken. Das war zu nett gedacht, viel zu nett – fuhr sie sich impulsiv und fahrig zugleich in ihre Gedankenkette: Sie hatte es nicht mit Kontrahenten zu tun, sondern mit Monstern, Bestien, mit abscheulichen Ungeheuern.
Es gab kaum richtige Kämpfe zwischen den verschiedenen Arten, nur das übliche Fressen und Gefressen-Werden, wobei die ursprüngliche Natur sich, soweit sie das mitbekommen hatte, angepasste und damit den neuen Gattungen untergeordnete. Erst durch Menschen wie sie, die Widerstand leisteten und sich nicht einfach fügten, entstanden wirkliche Kampfplätze und ernsthafte Schlachtfelder. In solchen Situationen fürchtete sie sich nur noch mäßig, auch wenn das eine hart erkämpfte Abstumpfung war; hin und wieder sogar derart wenig, dass sie im Gegenteil mit den tumben Viechern spielte und sie dazu allererst provozierte. Einzelne Schlurfer oder kleine Gruppen hielt sie besonders gerne zum Narren. Größere Ansammlungen hingegen oder die stärkeren Exemplare wie Schleicher und Schlächter umging sie klugerweise weiträumig. Dass Schlurfer und auch Schreier immer häufiger in Rudeln und sogar Horden auftraten, war nicht immer so gewesen und musste von ihr hingenommen werden, es würde sich so schnell wohl auch nicht mehr ändern. Es war eine ebenso verderbliche Entwicklung, wie sie gewöhnlich geworden und damit kalkulierbar war. Hier, tief in den Wäldern trieben sich allerdings nur wenige Gegner dieser ersten Klasse herum, der Klasse in ihrem losen System, für deren Mitglieder sie wenig Rücksicht kannte. Sie hielt sich derzeit zum Glück im Reich von einigermaßen unverdorbener Fauna und Flora auf; die zweite und dritte Klasse herrschte hier im Herz der Wildnis. Das brachte jedoch den entscheidenden Nachtteil mit sich, das hier auch wenig Wertvolles zu erbeuten war. Deshalb diente dieser Abschnitt ihrer Route als Abkürzung und zugleich als eine Art Ausgleich zu der Tristesse der üblichen Ruinenlandschaft, in der die eigentlichen Schätze auf sie warteten.

 

Konnte sie den gewiss sinnvollen, das Überleben sichernden Überlegungen irgendein Prinzip entlocken und in ein vielleicht zwei knappe Worte verpacken? Vielleicht Erfahrung, Übersicht oder gar Wissenschaft dachte sie rasch und war beinahe schon zufrieden. Jedenfalls war es sehr wichtig, die Vielfalt an Gegnern, deren Eigenschaften und die mit ihnen gemachten Erfahrungen zu sammeln und gründlich zu ordnen, um daraus praktische Schlüsse für zukünftige Kämpfe ziehen zu können. Es galt, durch Nachdenken die Übersicht zu wahren. Außerdem, die Schrecken zu benennen und sie in eine einfache Ordnung zu pressen, nahm den furchtbaren Erlebnissen einiges an Druck, half ihr, sich von ihnen zu distanzieren. Erfahrungswissen und Übersicht erschienen ihr als gute Kandidaten für ihre Sammlung, waren zugleich so betrachtet gleichzeitig Anlass und Ergebnis.
Weisheit und Zweifel geboten ihr allerdings, das Leben und besonders das sinnverwirrende Unleben nicht übertrieben zu vereinfachen, es also mit der Verallgemeinerung nicht zu übertreiben. So wurde sie trotz aller Ähnlichkeiten immer wieder jäh überrascht, mit jedem Tag ein wenig und in jeder Region allemal. Das galt insbesondere für die Wesen, die sie Schlächtern getauft hatte. Die obszöne Königsklasse der menschgemachten Monstrositäten überbot alles, was sie bisher auf ihren ausgedehnten Touren hatte erdulden müssen. Die Begegnungen mit ihnen waren selten, aber von so unbeschreiblichem Grauen, dass sie mitunter das Traumatischste waren, was sie auf ihren Beutezügen erlebt und danach zu verarbeiten hatte. Bevor sie bei ihrer momentan ziemlich angeknacksten Verfassung einen weiteren Zusammenbruch riskierte, schob sie einen mentalen Riegel vor dieses Thema und beließ es bei dem bloßen Namen.

 

Dann gab es noch die vierte Gruppe, ungefährlich und hochgefährlich: Menschen mit verdrehten Ansichten und bizarren Lebensweisen. Gewöhnlich waren sie wenigstens oberflächlich nicht so heftig entartet, zudem waren sie ihr technisch häufig derart unterlegen, dass sie keine physische Gefahr bedeuteten. Da sie aber im Unterschied zu den ersten drei Klassen in ihrem Tun eine echte Wahl hatten, sich auch hier draußen in den Todeszonen noch immer bewusst selbst bestimmen konnten, war ihr Verhalten schwer verständlich, nicht nachzuvollziehen und dadurch eine kaum erträgliche psychische Belastung. Die Bestien der ersten Klasse flößten ihr Abscheu und Ekel, nicht selten auch mal echte Furcht ein, das war nicht zu leugnen; auch sie ihren wollten ihren Tod, aber die humanoiden Bestien taten trotzdem weit mehr, sie zertrümmerten ihren Glauben an das Gute im Menschen, erzeugten nicht nur tiefe Empörung, sondern Zorn und Hass. Diese gefühlsmäßigen Zustände zu ertragen, war viel schlimmer und ließ sie manchmal an ihrer Entscheidung zweifeln, dem, was an Zivilisation noch übrig war, den Rücken zuzukehren und auf sich selbst gestellt in Freiheit zu leben. Ihr Lebensstil, ihre Umgangsformen hatten sich auch verändert, seit sie die meiste Zeit alleine durch die Todeszonen streifte – natürlich. So verwerflich und krank jedoch, wie diese Psychopathen lebten, würde sie aber trotz der Schroffheit und Verschrobenheit, die sich bei ihr durch die unablässige Einsamkeit unvermeidlich eingeschlichen hatten, nie werden. Das ließ sie keinesfalls geschehen, niemals. Von zehn Menschen, die sie hier draußen im Durchschnitt in einem Monat traf, würde sie sieben, also mehr als die zwei Drittel, dieser Gruppe zuordnen, schätze sie aufgrund jahrelanger, ernüchternder Erfahrung.

 

Der vorhin nach dem Käferangriff gefasste Vorsatz, ihren Helm bald aufzusetzen, blieb wirkungslos. Dabei befeuerte sie ihre Sturheit, verwirrte sie die lästige Zerstreutheit, die sie heute ungewöhnlich hart heimsuchte. Von Schmerz genötigt und von Einsicht geleitet, wollte sie das nun also nachholen.

 

Nachdem sie angehalten und daraufhin die Insekten wild mit den Armen um sich schlagend vertrieben hatte, war es so weit: vorbei der echte, intime Kontakt zur Umwelt. Technische Sicherheit war ihr Lohn für den Verzicht.

 

Sie nahm den Helm vom Gürtel, der sie wie der Rest der Rüstung auch deaktiviert in mattem Dunkelgrün tarnte, und setze ihn routiniert auf. Ein vernehmliches Klicken erklang, gefolgt von einem kurzen Zischen. Hinter dem halbrunden Oval des Frontschirms, der ihr in seiner makellosen Transparenz ein uneingeschränktes Sichtfeld bot, war sie nun vor schädlichen Einflüssen von außerhalb geschützt. Auch ihre Atemluft wurde von nun an gefiltert, bevor sie in ihre Lungen strömen durfte. Alles jedoch weiterhin ohne den Einsatz höherer, aktiver Techniksysteme – also blieben ihr weiterhin ein paar wenige Korridore in die Wirklichkeit um sie herum, die Natur, den Wald.

 

Umwege durch die tiefe Wildnis genoss sie sehr; immer wenn sich ihr die Gelegenheit dazu bot, machte sie Ausflüge auf diese Inseln. In einem weltumspannenden Ozean an Stadtruine war sie eben manchmal reif für einen Ausflug auf die Insel. Die Naturlungen waren solche Orte der Erholung und das Beste, es gab sie weltweit, sogar recht gleichmäßig über den Planeten verteilt. Bei der Planung ihrer Touren baute sie gewohnheitsmäßig mehrere Aufenthalte dort ein, genehmigte sich unterwegs zudem noch spontane Ausreißer dorthin; sodass am Ende bisweilen ihr lockeres Zeitmanagement zu einer größeren Herausforderung wurde als die Bewältigung augenscheinlicher Gefahrenquellen.

 

Weiter also – beschloss sie konsequent und fuhr fort. Für den Helmscheinwerfer, den sie zuletzt noch hinzuschaltete, konnte sie ebenfalls auf Xentars Dienste verzichten. Durch zwei Lichtkegel erhellt, sah sie ihre Umgebung jetzt deutlich. Um sie herum und besonders in Blickrichtung vor ihr raschelte, zischte und klapperte es tausendfach. Überall wuchsen Pflanzen und wuselten Tiere. Diese strengten sich mächtig an, wohin sie mit ihren Kopfbewegungen das Licht auch lenkte, zu den dunklen Rändern der kreisrunden Zonen hin zu flüchten. Auch erkannte sie und wurde sich jetzt im heftigen Kontrast zu vorher bewusst, wie farbenfroh es hier doch eigentlich war. Töne von Grün und Braun überwogen zwar, aber beim genauen Hinsehen entdeckte sie fast alle Farbtöne irgendwo: besonders auf Blüten und Fruchtkörpern, aber auch Blättern, in Panzern und Flügeln, Fellen und Federn, in Augen, die schillernd aufblitzten.

 

Obwohl dieser Anblick sie regelrecht verzauberte, sie die Natur im Grunde innig und aufrichtig liebte, erleichterte sie eine Gewissheit dennoch: Deren diverse Vertreter waren ab jetzt dort draußen und sie war alleine hier drinnen – in der relativen, technischen Sicherheit ihres ganz eignen Panzers.

 

Bei aller Faszination ermahnte sie sich nachträglich: Die kleinen Insekten hatten es in sich, sie konnten eine tödliche Gefahr bedeuten, vor allem wenn man sich arglos von ihnen stechen ließ. Dafür brauchte man gar nicht mal so viel Pech. Sobald sie ihre Rüstung aktivieren würde, musste sie den Einstich und ihr Blut auf mögliche Gifte und Erreger untersuchen lassen. Dann wurde sowieso vieles anders. So würde auch der erhellende Scheinwerfer bereits wieder ausgedieht haben, denn sie sollte wohl kaum als strahlend helles Ziel einladend durch die Todeszone spazieren. Offenes Licht kam in der Nacht einer Leuchtreklame mit der Aufschrift gleich: „Ihre nächste Beute befindet sich genau hier – guten Appetit“. Nur die kleinen Tiere, die ganz unten in den Nahrungsketten standen, scheuten das Licht und flohen. Ganz so, wie sie das im Moment weiterhin eindrucksvoll direkt vor sich erlebte.

 

Es konnte von hier aus nicht mehr weit sein bis zur Kante des Kraterplateaus – höchstens noch ein Dutzend Meter. Sie war damit dem ersten Etappenziel auf ihrem Rückweg mittlerweile ganz nahegekommen. Aber viel zu spät, da sie viel, viel zu viel, nachgedacht hatte, wie sie sich ehrlich, ohne Schonung eingestand. Ab dort vorne musste sie sich zusammenreisen und auf das Wesentliche fokussieren: Überleben.
Ihr Mangel an geistiger Disziplin war heute ungewöhnlich ausgeprägt, zudem außergewöhnlich anstrengend. Auch wenn die Friedenszeit noch nicht ganz erschöpft war und sie hier oben keine ernsthaften Gegner erwartete, so fahrlässig wie bisher durfte sie nicht weitermachen.

 

Wenigstens hatte sie dabei auch etwas Sinnvolles getan und war häufig zu ihrem Vorsatz zurückgekehrt. Was hatte sie denn bisher gesammelt? Es war wohl höchste Zeit für eine erste Erinnerung, eine erste Wiederholung sonst konnte sie später von vorne beginnen. Die Muße dafür musste sie nun erst erzwingen; auf eine oder zwei Minuten kam es jetzt auch nicht mehr an. Zu spät für eine reibungslose Rückkehr war sie jetzt sowieso, also lieber noch hier oben kurz innehalten, als dort unten hinter der Kante.

Teil 4 – Hinein in die Wildnis, zurück in die Vergangenheit

Ruhe und Frieden

Vierter Teil: Seiten 10 – 14

Plötzlich schrillte ein zweiter Schrei über sie hinweg, hoch und dissonant, böse.

 

Ihr mentaler Fokus riss abrupt völlig ab. Sie fiel hin, rollte sich trotzdem noch irgendwie instinktiv ab und blieb reglos auf dem Boden zwischen den Pflanzen liegen.

 

Alte Erinnerungen wurden wach, übernahmen die Kontrolle über ihren Geist: Dunkle Schwärme, Geflatter und Gekreische, Schmerzen, unendliches Leiden. Waren es Vögel, Fledermäuse oder Insekten? Kot und Blut, noch mehr Schmerzen, milde Ohnmacht und irre Albträume. Dann ein Licht am Ende der Düsternis. Knappe Rettung und der Schwur, gründlich zu vergessen. In den Schatten ihres Bewusstseins hatte sich tief Vergrabenes, im Dunklen Verborgenes zu regen begonnen.

 

Traumatische Bilder aus ferner Vergangenheit suchten sie unnachgiebig weiter heim. Nun nach unendlich unbestimmter Zwischenzeit flauten sie ab, waren weniger stark als noch zuvor, wallten aber weiterhin und wiederkehrend auf, jedoch nur noch kurz. Sie verharrte schwer atmend und zusammengekauert auf dem sandigen Boden, versuchte sich wieder zu sammeln. Nachdem sie sich aufgesetzt hatte, begann sie routiniert nach verstörend langen Sekunden mit einer Atemübung. Als das alleine nicht half, nahm sie noch ein starkes Mantra hinzu: Ich bin hier, ich bin jetzt, ich bin mächtig, ich bin stark. Ich beuge mich nur dem Kosmos und dem Leben in ihm. Damit hatte sie nach weiteren gut 20 Sekunden der disziplinierten, mehrfachen Rezitationen Erfolg. Die mentalen Wogen glätteten sich, jedoch nur langsam, so als wäre zuvor ein riesiger Felsbrocken in den bodenlosen Ozean ihres Geistes gestürzt.

 

Sie fasste sich, bändigte zunächst die Gefühle und Erinnerungen, dachte dann rationaler und zielgerichteter und letztlich erneut weniger – nun war sie wieder leidlich fokussiert. Da ihr bei dem Sturz körperlich nichts passiert war, rappelte sie sich ächzend auf und beschloss, schnell weiterzulaufen. Die Zeit drängte, denn sie hatte fast fünf Minuten durch den Vorfall verloren, wie sie nun mit einem Blick auf ihr Handgelenk entsetzt feststellen musste.

 

So etwas war ihr zuvor bereits einige Male passiert, nicht jedoch in dieser Heftigkeit. Vielleicht sollte sie nach dieser Tour eine längere Erholungsphase einlegen und gewisse Dinge aufarbeiten, dachte sie noch. Als sie daraufhin ihren Lauf beschleunigte, wurde sie wieder eins mit dem Weg, spürte ihre Kraft und gab sich der Bewegung völlig hin. Ganz so leicht konnte sie die Episode und die durch sie ausgelöste Unruhe, die ja sehr berechtigt war, nicht ablegen.

 

Dieser zweite Warnruf war nun schon in mittelbarer Nähe erklungen, aus den Wipfeln der Bäume hinter dem Abhang, auf den sie derzeit zulief. Einen halben Kilometer voraus ragten die Kronen der Bäume weit über den Rand des Plateaus empor. Damit überragten sie die wenigen größeren Bäume hier oben um einige Längen. Derart schnell konnten herkömmliche Bäume nicht in Höhe schießen. Dort stand vermutlich eine Gruppe genetisch modifizierter Riesenbäume, vermutete sie nun wieder gedankenschnell. Bei einem so erstaunlichen Wachstum mussten das die legendären Neo-Sequoias sein, die das Bild vieler ehemaliger Naturlungen mit ihrer schieren Größe bestimmten. Nach einem letzten Ausbruch des Vulkans vor nur sechs Solarjahren, war für gewöhnliche Bäume nicht genug Zeit vergangen, um eine so erstaunliche Wuchshöhe zu erreichen. Warum war ihr das vorhin bloß nicht aufgefallen, wo war sie mit ihren Gedanken nur gewesen?

 

Indes stolperte sie fast abermals. Sie wollte sich durch weitschweifige Gedanken von ihrer Trübsal ablenken lassen und geriet dabei ins Schlingern.

 

Gut erinnert – lobte sie sich trotzdem gönnerhaft, nachdem sie sich gefangen hatte und wieder beschleunigen konnte: Neo-Sequoias jetzt, zuvor Todraucher und Ajaxfarn. Der Name des Vulkans fiel ihr allerdings noch immer nicht ein. Ihr verquerer Stolz hinderte sie jedoch wie meist daran, unmittelbar die höheren Funktionen ihrer Technorüstung zu konsultieren oder diese überhaupt nur zu aktivieren. Noch konnte sie auf aktive technische Unterstützung verzichten, die würde noch früh genug notwendig werden.
Sie schätzte ihre technischen Hilfsmittel durchaus hoch, brauchte aber das Gefühl von Widerstand und bisweilen das von echter Konsequenz. Ohne die Erfahrung solcher Grenzen, menschlicher Mängel und Minderwertigkeiten konnte aus einer Schwäche nie echte Stärke neu erwachsen. Sie selbst musste ein Problem lösen, um daraus lernen zu können und wollte sich nicht abhängiger von der Technik machen als nötig, nur weil gerade noch genug Energie im Speicher war. Alle Arten von Bequemlichkeit und Verschwendung verloren in der Wildnis ihre Berechtigung, formulierte sie einen weiteren Grundsatz. Gut, dass er ihr eingefallen war, denn er war einer der Wichtigsten. Sparsamkeit und – ja, und was – welches andere Prinzip steckte noch hinter dieser Idee: Stolz, Stärke, Trotz, Authentizität, Sturheit, Autonomie?

 

Ja, das waren sie: Autonomie, Stärke und Sparsamkeit, die Drei gefielen ihr. Bloß nicht zu selbstkritisch werden, dachte sie, wobei sie kurz lächelte. Während sie schon wieder viel zu nachdenklich geworden durch das grüne Dickicht hetzte, hatte sie den spontanen Verdacht, mindestens einen der Begriffe kürzlich erst bedacht zu haben, kümmerte sich aber kaum weiter darum – um so besser, dann war er wohl wichtig, schloss und vertröstete sie den Impuls.

 

Dämmrige Dunkelheit hinter sich zu wissen, tiefe Düsternis voraus zu sehen und zwei ungeheuerliche Schreie – der eine fern, der andere intim – machte auch ihr normalerweise entspanntes Maß unterdessen restlos voll. Wollte sie klarkommen, gab es nur eine probate Option: Sie musste aufmerksamer und wacher werden, noch agiler und wendiger, sich langsam aber stetig in ihr Kampfbewusstsein versenken. Bis zum Ende der Hochebene, die um den Kraterrand herum verlief, waren noch einige hundert Meter zurückzulegen und sie rannte so gut und schnell es die mit jedem Schritt dichter werdende Vegetation eben noch zuließ. Ohne größtenteils in Xentar gehüllt zu sein, hätte sie sich wohl kaum so rücksichtslos durch diesen Pflanzenteppich bewegen können, geschweige denn wäre ihr Sturz vorhin so glimpflich ausgegangen, stellte sie dankbar fest.

 

Noch immer drohte ihr keine akute, keine greifbare Gefahr von außen, aber ein arglos wirkendes Opfer zog leicht Jäger an. Diese konnten natürlich ihrerseits nicht ahnen, dass ihr vermeintliches Opfer weit mehr war als das. Was sie sahen, verleitete die Mehrzahl ihrer Feinde zu einem fatalen Fehlschluss. Aber sollte sie ihnen wirklich vorhalten, nicht zwischen Sein und Schein unterscheiden zu können – wohl kaum, denn die meisten waren blutrünstige Bestien. Mit ihr hatten sie sich nämlich keineswegs eine wehrlose Beute ausgesucht, sondern das genaue Gegenteil davon: eine ihnen in vielen Belangen überlegene Kriegerin.

 

Auch wenn sie solche Gedanken – Kampf, Überlegenheit und Triumph – sehr reizten, sie sollte unnötige Feindkontakte vermeiden. Außerdem würde die Situation bei der Rückkehr zum Mjuhlie wahrscheinlich genug Gelegenheit zum Kämpfen bieten. Wenn ausnahmsweise nicht, so konnte sie vielleicht später vor dem Schlafen noch eine kleine Runde spielen, aber erst nachdem sie ihr Lager gefunden und eingerichtet haben würde. Besser vermied sie es ganz, sie waren doch irgendwie alle Lebewesen. Manitu durchströmt alle lebendigen Geschöpfe, ermahnte sie sich rasch und gelobte, das Leben als solches zu ehren und zu bewahren. Nein – es gab da einen entscheidenden Unterschied, schränkte sie den Gedanken schnell wieder ein. Mal abwarten und sehen, wie später ihre Laue sein würde, vertröstete sie sich letztlich doch versöhnlich und schlug in diesem Moment einen Schwung blassgrünen Blattwerks zur Seite. Weit konnte es nicht mehr sein, so dicht, wie die Pflanzen an dieser Stelle nunmehr wuchsen. Höchstens noch gute 100 Meter bis zur Kante schätzte sie sogleich, auch ohne dass sie die Riesenbäume noch gesehen hätte.

 

Von nun an war mehr Vorsicht gefordert. Sie musste früh und schnell die richtigen Entscheidungen treffen. Vor allem aber durfte sie sich nicht überschätzen und ihre Gegner unterschätzen. Sie hatte in der Vergangenheit genug Situationen erlebt, in denen eine Flucht die leichtere, die bessere oder manchmal sogar die einzige Wahl gewesen war. In solchen Notfällen verließ sie sich dann vollkommen auf ihre Technik, entweder durch einen Abgang in vollem Tarnmodus oder mit einer spektakulären Flucht per Jetpack hoch hinauf in luftige Höhen. Das geschah eher selten, war mehr die Ausnahme denn die Regel.

 

Hatte sie sich nicht eben gerade noch vorgenommen, sich in den hochkonzentrierten Kampfmodus zu versetzen? Sie ließ sich heute wirklich allzu leicht ablenken. Das war sicher eine Nachwirkung des vorhin erlebten Schocks oder brachte sie die erschütternde Begegnung des gestrigen Tages noch immer aus der Fassung? Dieser Greis mit seiner widerwärtigen Sippe und die widernatürlichen  Rituale, deren Zeugin sie unfreiwillig geworden war, wollten ihr nicht aus dem Kopf gehen. Bevor die damit verbundenen Eindrücke als Erinnerungen voll wiederkehren konnten, begab sie sich mental wieder auf den Pfad der Kriegerin: Manitu ist groß, der Kampf und das Leben sind gleichsam heilig, begann sie von Neuem mit dem einleitenden Mantra eines Rituals, das sie in ihr Kampfbewusstsein versetzen sollte.

 

Das wollte ihr aber derzeit nicht so recht und so leicht gelingen wie üblich, so verwirrt und irritiert war sie noch immer von den Erlebnissen der nahen Vergangenheit. Und ohne diesen fokussierten Geisteszustand war ihre Kampfkraft erheblich vermindert.

 

Obwohl ihre Einsatzbereitschaft derzeit eingeschränkt war, zögerte sie die ausstehende Aktivierung ihrer Rüstung weiterhin hinaus. Den Helm wenigstens musst sie nun bald aufsetzen, da ihr die Pflanzen zunehmend über den Kopf wuchsen und damit ständig ins Gesicht zu schlagen drohten. Vor allem wurden die Insekten im nunmehr üppigen Pflanzengewirr mit jedem Meter größer, gefährlicher und vielzähliger. Es grenzte bereits jetzt an eine Mutprobe, mit dem nicht aufgesetzten Helm auf den rundum schützenden Verschluss der Technorüstung zu verzichten. Nur noch ein klein wenig länger durchhalten, ein paar weitere Meter – ermutigte sie sich und schlug unterdessen einen handtellergroßen Käfer kraftvoll zur Seite, der direkt auf ihr Gesicht zugeflogen kam. Mit seinem leuchtend roten Panzer, dem tiefen Summen seiner Flügelschläge und besonders den mächtigen Mandibeln wirkte er derart angriffslustig, dass sie in einem unkontrollierten Reflex kräftig zuschlug. Das Insekt krachte daraufhin geräuschvoll an einen nahen Baum, dort knackte es widerwärtig, gab schließlich ein letztes erbarmungswürdiges Quietschen von sich und sank in einem Schwall seines eigenen Bluts an der Rinde hinunter in sein steiniges Grab.

 

Sie hatte impulsiv ihrem Instinkt nachgegeben, obwohl sie ihrem Opfer auch ausweichen oder wenigstens sein Leben hätte schonen können. Sei es drum, so etwas passiert eben in der Wildnis, beschwichtigte sie ihre aufkeimenden Gewissensbisse. Wer oder was sie potenziell bedrohte oder gar wirklich angriff, verspielte dadurch den prinzipiellen Schutz, den sie versuchte jedem Lebewesen zu gewähren. Hierbei waren die biotechnologischen Abscheulichkeiten jenseits der unsicheren Grenzen zwischen Leben und Tod, Natur und Technik klar ausgenommen. Auch wenn sie nicht zweifelsfrei unterscheiden konnte, hatte sie über die vielen Jahre hinweg eine Trennlinie gezogen, die Feind und Freund unterschied. Überleben war hier draußen wichtiger, als jedes noch so überzeugende Bekenntnis. Ihre persönlichen Ideale waren im Existenzkampf bestenfalls Leitlinien. Pragmatik geht vor Romantik, bedachte sie eine weitere Überlebensregel und hatte damit direkt das Prinzip parat.

Teil 3 – Weiterhin ohne Worte mit noch mehr Worten

Ruhe und Frieden

Dritter Teil: Seiten 7 – 10

Also zuallererst: Wo hatte sie vorhin ihren Mjuhlie überhaupt abgestellt? Keine Ahnung! Oh nein, nicht schon wieder – seufzte sie innerlich und setzte daraufhin milde hinzu, dass sie ja immerhin nichts Lebenswichtiges vergessen hatte. Sie war halt einfach so: vergesslich.
Irgendwo hinter der Klippe und dem Wald auf dem Südosthang des Vulkans, soviel war wenigstens gewiss, würde er schon warten. Sollte sie ihn dort wider Erwarten tatsächlich nicht finden, würde sie einfach die Ortung Xentars zu Hilfe nehmen. Denn ohne ihr mobiles Lager, auch das war gewiss, konnte sie morgen nicht weiterarbeiten. Außerdem stand für den kommenden Abend die nächste Abholung der wertvollen Ladung an. Sie hatte nämlich in den letzten Tagen, mehr noch als auf den zurückliegenden Etappen, einen wirklich guten Schnitt gemacht. Bei der hiesigen Dichte an Lebenszonen verwunderte sie diese Tatsache noch immer, aber sie würde sich wohl kaum darüber beschweren. Ihre aufkeimende Sorge war sicher übertrieben, es ging fast immer gut.

 

Was sie an Kleinigkeiten im Alltag vergaß oder auch durch Pech anzog, machte sie mit Konstitution und Können locker wett. Falls die mal nicht ausreichten, half ihr das pralle Arsenal an hochkarätiger Technologie, das sie sich über die Jahre hinweg angeeignet hatte. Auf sich selbst gestellt überleben zu können, war schon mal gut, aber einen riesigen Fuhrpark und die erlesenste Ausrüstung als Bonus oben drauf, war noch besser. Derart moralisch gestärkt erlaubte sie sich entgegen dem Zeitdruck noch ein paar letzte Gedanken vor dem überfälligen Aufbruch.

 

Ihr Geschäftsmodell war gefährlich, dafür aber höchst einträglich. Mit den seltenen und begehrten Raritäten war sie vor Ort häufig Monopolistin, besonders auf den kleineren Märkten. Eine Situation, die sie genoss, und ein Vorteil, den sie gnadenlos ausnutze, indem sie horrende Preise verlangte. Reiche Schnösel gab es überall, auch wenn anfangs von ihnen nur ein paar wenige zu ihr kamen, reichte das meistens schon aus. Sie blieb einfach mehrere Tage am gleichen Ort und überließ den Rest der Eitelkeit und Geschwätzigkeit ihrer zufriedenen, gut vernetzten Kundschaft. Bald – ungefähr in einer Woche, schätzte sie spontan – sollte sie wieder genug Stücke angesammelt haben, dass sich eine solche Verkaufsaktion lohnte. Alte Standardtechnik und Rohstoffe veräußerte sie lieber an ihre üblichen, altbewährten Abnehmer, aber für Sammlerstücke und Kuriositäten war ihr jede mittlere Siedlung ein idealer Absatzmarkt. Je größer die Märkte und damit Siedlungen wurden, desto mehr Hände griffen in den Handel ein und das bedeutete im Endeffekt für sie nur eines: Gewinnminderung.

 

In die großen Lebenszonen, dorthin, wo man manchmal fast vergessen konnte, wie es um die Welt wirklich stand, ging sie prinzipiell nur noch zum Einkaufen und für wichtige Kundenkontakte. Die Weltflucht, die dort kollektiv zelebriert wurde, war für die meisten Überlebenden die neue Normalität geworden. Diese Verdrängung geschah aus leicht nachvollziehbaren Gründen, wie gerade sie besser wusste, als die Meisten. Sogar weit besser wusste, als ihr das trotz aller Härte manchmal lieb war. Dass es viele triftige Gründe dafür gab, der Welt den Rücken zuzukehren, Augen, Ohren und was sonst noch ging, mit angenehmen Reizen zu überfluten, machte daraus aber bei weitem keine Tugend. Nicht einmal eine zweckmäßige Strategie war es, um die Messlatte nicht direkt ganz hoch zu legen. Eines stand fest, sie mochte diese Orte nicht: Zu viel Schein, zu wenig Sein und keinen Sinn, witzelte sie philosophisch.

 

Man musste ziemlich rustikal und auch etwas morbid sein, wenn man hier draußen lebte, konnte jedoch im Gegenzug dafür so viel freier sein. Die mit dem Verlust an Sicherheit verbundene Bürde an Selbstverantwortung, die zum Überleben befähigte, nahm sie dafür gerne auf sich.

 

Kenne die sozioökonomische Welt, ihre Regeln, ihre Tücken und vor allem ihre Konsequenzen – durfte sie das noch als Überlebensregel gelten lassen? Nein, entschied sie spontan, dieser Bereich war für Menschen wie sie zweitrangig geworden und damit eher eine Empfehlung denn eine notwendige Regel.

 

So, Schluss jetzt – unterbrach sie sich ruppig. Nun war es wirklich so weit, nun musste sie endgültig aufhören, ihre Pause übermäßig auszudehnen.

 

Die letzten Sonnenstrahlen verkündeten das Ende des Tages und markierten damit den Beginn einer neuen Nacht in der Todeszone. Die Mauer aus Zwielicht, die ihr vorhin in der Ferne aufgefallen war, überrollte sie plötzlich von hinten und verdichtete sich bedrohlich vor ihr. Der Kraterkessel füllte sich mit Schwärze und alles darin versank in Schatten. Wie bei jedem Sonnenuntergang war damit der späteste Zeitpunkt erreicht, an dem sie noch sicher einen Unterschlupf finden konnte. Bei der unklaren Entfernung und dem schwierigen Terrain musste sie jetzt zu einem Gewaltmarsch aufbrechen. Gute 20 Minuten blieben ihr jetzt noch bis zum Ende der relativen Ruhe. Der Frieden würde bröckeln und schließlich brechen, auch und gerade hier, fern der Ruinenfelder in der grünen Wildnis, spätestens bei der Rückkehr zum Mjuhlie.

 

Also erhob sie sich, verließ geschmeidig ihre lässige Sitzposition am Rande des Abgrunds und glitt direkt schwungvoll in die Hocke. Kurz spannte sie sich – eins, zwei, drei Sekunden lang – und schnellte vom Rand weg nach oben. Aber sie sprang nicht bloß auf, kam nicht einfach nur zum Stehen, sondern drehte sich im Flug akrobatisch um ihre eigene Achse und landete sicher auf beiden Füßen in Laufrichtung vom Krater weg. Da sie mit den Beinen in Schrittbreite, komplett angespannt und mit leicht gebeugten Knien aufgekommen war, rannte sie blitzschnell los. Nicht nur das, sie schlug wirre Haken, duckte sich sporadisch und tänzelte, soweit das nebenher ging. Alles wirkte irgendwie chaotisch, scheinbar deplatziert, wie kindliche Übertreibung im wilden Spiel. In Wirklichkeit wärmte sie sich damit auf und spielte dabei ein paar Automatismen durch.

 

Sie brachte sich unterdessen in Stimmung für die nahende Nacht und beschwor ihre taktischen Ideale: Leidenschaft und Stärke, Eleganz und Schnelligkeit, niedriger und schwankender Schwerpunkt, Täuschen und Tarnen, Unvorhersehbarkeit und wenig Angriffsfläche, trotzdem stets zum Angriff bereit und präzise in der Attacke. So rannte sie dahin, auf ihre skurrile, infame Art und entfernte sich Meter für Meter, Kurve um Kurve von ihrem Ruheplatz an der Kante des Vulkankraters.

 

Bei ihrem Abgang vom Kraterrand hatte sie wohl ein wenig Geröll losgetreten. Nun hörte sie gerade noch im Davonrennen, wie die Steine polternd den Abhang hinunterrollten und wie der Lärm ihres Abgangs als dumpfe Schläge in den riesigen Kessel hineinbrandeten. Sie hielt aber nicht inne, lauschte nicht den verhallenden Geräuschen. Ob diese auf der gegenüberliegenden Seite ankommen würden oder nicht, war ihr während ihres Abgangs herzlich egal. Die bewaldeten Wohntürme am gegenüberliegend Nordwestrand des Kraters jedoch hatten sich mit ihrer satten Schwärze im markanten Kontrast zum leuchtend farbenfrohen Hintergrund tief in ihre Erinnerung gebrannt. Entgegen ihrer Hoffnung begannen diese lebendigen Lichtbilder nun langsam und unerbittlich in ihrem Gedächtnis zu verblassen – Schritt für Schritt. Das erbauende Gefühl, einen wertvollen Augenblick erlebt zu haben, blieb ihr jedoch erhalten, ebenso wie die Frische. Zuversicht durchströmten sie, sie füllte sich lebendig. Sie beschleunigte ihr Tempo und näherte sich zielstrebig der äußeren Kante des Kraterplateaus, hinter der einer Klippe lag. Nach dieser folgte ein erst heftiger, dann sanfterer Abstieg, der die Flanke des Vulkans hinunterführte.
Dort irgendwo musste ihr Mjuhlie auf sie warten – hoffentlich, denn ihre Erinnerung war in dieser Richtung weiterhin mehr als vage. Vielleicht sollte sie sich noch mal intensiver zurückerinnern: Derzeit hetzte sie noch durch kniehohe Pflanzen, aber die Dichte würde rapide zunehmen bis zur Klippe. Auf ihrem Weg dorthin würde sie die Ausläufer des ersten, jungen Waldes erreichen. Bis zur Kante und dem Steilhang, danach ging es erst richtig los. Tiefer Wald, mit allem was dazugehörte, erstreckte sich dort. Eine düstere, feuchtwarme Hölle aus Tieren, Pflanzen, Pilzen und Ungeheuern verschlang einen kleinen Menschen, der sich dort hineinwagte. Das Gefälle fiel auf der Ostseite des Berges bei Weitem nicht so heftig aus, wie auf den anderen drei Flanken. Zusammen mit den Spalten, heißen Quellen und Lavadurchbrüchen war die Strecke dennoch keineswegs zu unterschätzen. Es gab im gesamten Wald ausgedehnte Felder Ajaxfarn. Auf dem Hinweg konnte sie deshalb nur auf wenigen schmalen Wegen, wie durch Schneisen zum Gipfel gelangen. Passte man nicht höllisch auf oder war wie sie gepanzert, so waren tiefe Schnittwunden noch der angenehmste Ausgang einer Begegnung mit diesem Gewächs. Vom gleichen Kaliber waren auch die hier in üppigen Kolonien vorkommenden Todraucher. Dabei handelte es sich um einen schwarzen Kappenpilz mit orangefarbenen Lamellen und den markanten, in schrillem Orange leuchtenden Punkten überall auf dem Hut. Dieser auffällige Pilz war imstande, einen tödlichen Sporenregen auszustoßen, der alles im Umkreis von bis zu einem Meter erwischte. Was daraufhin passierte, hatte sie einmal in abgeschwächter Form erlebt und wollte sich besser nicht daran zurückerinnern. Deshalb machte sie seither sicherheitshalber einen besonders großen Bogen um diese Art. Derartig aggressive Gewächse gab es nicht zufällig weltweit. Bevor sie ihre Ziele aus dem Blick verlieren würde, kehrte sie zum Eigentlichen zurück: der Wald, der Weg hindurch und der immer noch unklare Standort ihres Transportraumers am anderen Ende des zurückgelegten Weges.

 

Die Umgebung beanspruchte zunehmend ihre Aufmerksamkeit. Das Gestrüpp, die Büsche und die nunmehr schon hüfthohen Baumsprösslinge störten mittlerweile ihren Lauf, sodass sie ihr Tempo für das Ausweichen verringern musste. Sie konzentrierte sich nun wieder voll auf die Bewegung, versuchte jeden Schritt, jeden Krafteinsatz, ganz bewusst zu erleben; spürte ihren Atem und ließ ihn trotz der Anstrengung nicht flacher werden, tief in den Bauch, möglichst ruhig und langsam.

Teil 2 – Ohne Worte viele Worte

Ruhe und Frieden

Zweiter Teil: Seiten 4 – 7

Sicherlich, sie konnte einfach ihre Rüstung aktivieren und auf eine Recherche in den Datenbanken ansetzen. Xentar würde das hinkriegen – so hießen sowohl das Model als auch die KI ihrer Technorüstung, denn sie hatte sich nicht die Mühe einer Individualisierung des technischen Bewusstseins gemacht. Sie beließ die vielen oberflächlichen Detaileinstellungen technischer Systeme gewöhnlich in ihrem Werkszustand; das war sicherer, robuster und störungsfreier.

 

Zurück zur Orientierung – der Name irgendeines Vulkans in irgendeiner Gegend war jedenfalls äußerst bedeutungslos für ihre Pläne. Wichtig war hingegen seine Lage, denn hier an dieser doppelten, geo-politischen Grenze hatte sie den nördlichsten Punkt ihrer aktuellen Route erreicht. Von hier aus wollte sie erst ostwärts reisen und dann nach Süden weiterziehen. Sie war gezwungen, die Richtung zwei Mal so drastisch zu ändern, weil sie sonst direkt in die fast immer umkämpften Grenzregionen spazieren würde, vom Vulkan mal abgesehen. Dort trafen Fronten aufeinander, zwischen die sie nie wieder geraten wollte. Im Norden lag eine zweite, für sie auch namenlose, europäische Macht mitsamt einer bevölkerungsstarken Lebenszone, ähnlich ihrem Verbündeten im Osten, der für den Schwenk Richtung Süden sorgte.

 

Vor allem gab es wegen eben dieser Nähe zur menschlichen Zivilisation dort vermutlich sowieso kaum Beute zu machen. Ihr Geschäftsmodell war auf endliche Ressourcen gegründet, die Beute stark begrenzt, deshalb aber sehr begehrt und entsprechend teuer.
So wahllos sinnierend gönnte sie sich noch ein wenig mehr dieser unendlich wertvollen Friedenszeit. Sie kam wieder zu sich, erfrischte ihre Energien, erholte sich mental und lud ganz nebenher zusätzlich noch Xentars Speicher auf. Die waren derzeit beinahe zu 100% aufgeladen, wie ein kurzer Blick auf eine simple Anzeige am linken Handgelenk ergab.
Da sie auf einer Beutetour sowieso nicht anspruchsvoll meditieren konnte, erlaubte sie sich vermehrt geistige Lässigkeiten. Sie ließ sich von ihren Gedanken treiben und triftete zufällig von Einfall zu Einfall. Zu einer Zeit, zu der sie sonst einen Sonnengruß entbot, war sie geistig in alle Winde zerstreut. Sie fokussiert alles Mögliche, nur nicht den Augenblick, schweifte vorsätzlich ab, sprang unmotiviert von Erinnerungen hinüber zu Emotionen, dann kurz weiter zu den Sinnen und wieder zurück.

 

Jetzt dachte sie schon wieder über das Leben in der Todeszone und die dort geltenden Gesetze nach.

 

Es konnte ja nicht schaden, auch in ihrer täglichen Horrorpause mental ein klein wenig zu trainieren. Sie dachte sonst so häufig wie möglich an ihre diversen Grundregeln, denn sie war überzeugt, dass Worte und Gedanken um so mächtiger wurden, je öfter sie gedacht wurden. Wenn diese Regeln ihr Überleben zu sichern halfen, waren sie wenigstens den spielerischen Versuch einer Sammlung und Vereinfachung wert. Es musste doch möglich sein, die unüberschaubare Vielfalt auf wenige Prinzipien zu verdichten, die sie sich anschließend als einzelne Wörter leichter merken konnte.

 

Sie fasste einen Vorsatz: Zukünftig würde sie weiter abschweifen, wollte aber von nun an auf nützliche Art nach und nach das wiedererinnern, was sie die Jahre über an Erfahrungsschätzen angesammelt hatte. Sie wälzte es ja sowieso immer mal wieder in Gedanken, also war es nur eine Frage der Zeit, bis sie alle Ideen beisammenhatte und das mit den einfach zu merkenden Prinzipien würde sie auch irgendwie hinbekommen, fügte sie sich ermunternd hinzu.

 

Ein bisschen Orientierung konnte auch nicht schaden, dachte sie sprunghaft und erinnerte sich mühselig an die entscheidenden Fakten: Dieser Landstrich war vormals als Eifel bekannt gewesen. Hier hatte es Jahrhunderte lang einen ausgedehnten Naturpark gegeben. Im Zuge der globalen Urbanisierung war die Kernregion zur Atmungszone erklärt und entsprechend kultiviert worden. Das Umland war, wie aller Grund und Boden außerhalb der globalen Naturlungen, immer stärker erschlossen worden, nur um dann schlussendlich so zu enden, wie es nunmehr fast überall aussah. Aktuell war der Großraum nämlich restlos entvölkert, wieder ganz und gar verwildert, eine waschechte Wildnis mitten in der Todeszone eben. Nach dem großen Knall hatten besonders der wiedererwachte Vulkanismus und schließlich die globalen Schrecken des unmöglichen Krieges der Region endgültig ihren Todesstoß versetzt.

 

Es war die Hobbyforscherin in ihr, die sich vor den Beutetouren solche praktisch meist zweitrangigen Hintergründe über die Orte aneignete, die sie später auf den einzelnen Etappen ihrer Route besuchen wollte. Da sie sehr vergesslich war, prägte sie sich die wenigen, wirklich wichtigen Tatsachen meist mehrfach ein. Deswegen war sie jetzt sogar ein klein wenig stolz auf ihre Erinnerungsleistung. Ihr Gedächtnis machte ihr häufig zu schaffen und war damit eine zweite Baustelle in ihrem Leben.

 

Gerade deshalb, so tröstete sie sich pragmatisch, tat sie alles, um ihr Bewusstsein zu schulen und ihren unruhigen Körper zu beruhigen – außer im Moment, gestand sie sich ein und geleitete ihr Denken weiter, in andere, neue Bahnen: Sie war in vielerlei Hinsicht Autodidaktin, an Leidenschaft und Akribie mangelte es ihr deshalb aber keineswegs. Zuallererst empfand sie sich jedoch als Kämpferin und Abenteurerin, als eine Frau der Tat, der Aktion und des Kampfes. Denken und Vernunft waren nur Mittel zum praktischen Zweck, nicht mehr aber auch nicht weniger.

 

Solche Momente der Selbstvergewisserung waren im Laufe der wochenlangen Streifzüge durch die Wildnis eine unerlässliche Form der Psychohygiene. Ohne ein soziales Gegenüber, lauerte hier draußen ständig die Gefahr, sich selbst im überwiegenden Alleinsein zu verlieren, schlimmstenfalls verrückt, wahnsinnig zu werden: Wisse wer du bist, was du willst und wie du handelst. Charakterfestigung und Selbstbestätigung zu betreiben, war hierfür ein sehr wichtiges Denkritual, Identitätsarbeit oder besser Selbstsorge das dazu passende Prinzip.

 

Nummer eins, der Anfang war gemacht, lobte sie sich verhalten. Sie verweilte noch ein paar weitere Minuten in ihrer zerstreuten und zugleich sammelnden Versunkenheit. Dabei versuchte sie sich vorsatztreu in der stummen Erinnerung der vielen Überlebensregeln und Grundsätze, die sie über die Jahre hinweg so ersonnen hatte. Sie fielen ihr spontan und auf Abruf nur spärlich ein, also musste sie geduldig mit sich sein. Zudem hatte sie so ihre Probleme damit, die paar gefundenen Erfahrungsschätze in Prinzipien umzudenken. Verallgemeinerung lag ihr nicht, nicht dass sie intellektuell überfordert gewesen wäre, aber sie mochte es überhaupt nicht, dem Besonderen ein Allgemeines vorzuziehen. Es war ihr an sich zuwider, dennoch erkannt sie für sich die Vorteile an und gelobt innerlich Besserung.

 

Sie ermahnte sich, ermunterte sich wieder zu Milde und Gelassenheit. Rasch entspannte sie sich und meditierte im Freistil, paradox und unkonventionell ging das vor sich: Erfüllt und verschont von weiteren Kaskaden wahlloser Eindrücken und kreisender Gedanken, die sich in einer endlosen Kette aneinanderreihten. Keines der Glieder vermochte besonders lange präsent zu bleiben, kaum der springenden Aufmerksamkeit wert. Sie war gleichzeitig gebunden und frei.

 

Zwischendurch kehrte sie immer wieder zurück in die wirkliche Welt, erfreute sich der phänomenalen Schönheit der Situation, in der sie sich gerade befand, genoss sie mit allen Sinnen. Sie konnte über den Krater hinweg bis weit in die Ruinenwüsten des Rheinlands schauen. Verschwommen erkannte sie im Norden noch den weiteren Orbitalkanal, um den herum das Herz der dortigen Lebenszone pochte. Der fast perfekte Sonnenuntergang, seine sanfte Wärme auf der Haut, die dynamische Mischung aus Natur und Kultur und ihre emotionale Reaktion darauf, die rauchige Luft und der säuselnde Wind, von dem die würzigen Gerüche des nahen Waldes herangetragen wurden, vermischt mit Noten von Verbranntem und Schwefel – ja, ganz sicher –, die Steine und die Kiesel, der Sand unter ihrem Hintern und der fast verschwundene Geschmack der Waldbeeren, die sie auf dem Hinweg gegessen hatte, all diese Empfindungen nahm sie dankbar und begierig auf.
Schlussendlich war sie befriedigt, war bereit für die beginnende Nacht. Sie fieberte vor allem bereits dem nächsten Tag entgegen, war auf seine Herausforderungen und Gelegenheiten gespannt, war schon voll Vorfreude. Hoffentlich ging die Nacht schnell vorüber, begleitet von angenehmen Träumen und ohne lästige Störungen, formulierte sie ein paar fromme Wünsche.

 

Ach, das geht schon, gab sie undiszipliniert nach – noch ein paar wenige Minuten durfte sie sich gönnen, sie würde auf dem Rückweg einfach ein bisschen schneller laufen.
Plötzlich donnerte ein urtümlicher Schrei aus weiter Ferne heran. Laut und knarzig dröhnte er trotz der sicherlich großen Distanz, die er zurückgelegt haben musste.
Ihre Gedanken brachen abrupt ab, so als wollte die Welt ihr kundtun, was sie von der eben gefällten Entscheidung hielt: wenig bis gar nichts. Sofort wurden Instinkte geweckt, augenblicklich und unweigerlich. Sie erwachten abrupt und regten sich mehr als nur zaghaft. Der Schrei erinnerten sie daran, ermahnten sie ja förmlich, sich nun endlich loszureißen, um einen sicheren Unterschlupf zu finden. Je länger sie damit wartete, desto schneller musste sie später sein, motivierte sie sich, ihre Laune zu überdenken. Und desto mehr Monster vertreiben, fügte sie zähneknirschend hinzu.