Originale

Teil 1 – Wer es nicht lassen kann, sollte es nicht lassen

Er lässt es nicht, kann es nicht lassen! Wer bin ich, ihn aufzuhalten? Also Glückauf, munter weiter des Weges! Aber wo soll es eigentlich hinführen?

Nach den ersten Gehversuchen auf dem steinigen, langen Pfad zum noch namenlosen, unendlichen Roman bekommen wir heute einen ersten Teil eines neuen Kapitels zu lesen. Wie zuvor bei der ersten Version der Rückkehr des Fast-Magisters werde ich den Gesamttext in mehrere Teile zerhacken und nach und nach, Stück für Stück servieren. So wird der Textbrocken sicher bekömmlicher und vielleicht lässt er sich so besser verdauen.

Wieder gewinnen wir damit einen neuen Zugang. Ein anderer Blick schweift, andere Sinne erschließen sich eine Welt – ihre je eigene Welt. Bisher lernten wir neben der von Xaver Satorius, nur die Perspektiven von Yin und Yang kennen. Wer aber ist diese neue Figur aus der Feder des Dilettanten? Hat er dazugelernt oder nicht? Entsteht nun vielleicht sogar zaghaft so etwas wie eine Rahmenhandlung, oder begibt sich lediglich ein weiterer eigenständiger Handlungsstrang auf seinen ungewissen Weg in eine nebulöse Zukunft? Fragt und urteilt selbst, über Ruhe in Frieden.

Schaurig-schöne Lektüre, Euer Satorius

P.S der Metatext-Redaktion: Die älteren Ergüsse des Schreibgesellen finden sich in den vorhergehenden Beiträgen der neuen Unterkategorie Originale (Direktlink), da sie sonst in den tiefen des Archivs ungesehen verschwinden könnten. Aber Achtung, über 50 Seiten allererste Schreibexperimente lauern dort auf den unvorsichtigen Leser! Die Angaben in Klammern ordnen den Titeln ihre Kapiteldetails im Gesamtkontext des namenlosen Werkes zu.

Ein Neumensch im Ausnahmezustand (XS1)

Ein Sturm zieht auf (YY1 – V. 0.9)

Xaver mal anders (XS2)


Ruhe und Frieden

Erster Teil: Seiten 1 – 4

Die Sonne schickte sich soeben an, blutrot hinter den Ruinen der ehemaligen Wohntürme unterzugehen. Auf den Spitzen der erhalten gebliebenen Arkologien, die früher einmal zigtausenden Menschen eine Heimat geboten hatten, wuchsen nun Bäume und Pflanzen. Zusammen mit den Resten der kolossalen Architektur und den Höhenzügen der hügeligen Landschaft zeichneten sich die Silhouetten dieser jungen Wälder malerisch gegen den Horizont ab. Als Schatten lagen sie dunkel vor einem leuchtenden Himmel, der von Hellblau über Blassgelb bis Karmesinrot alle farblichen Nuancen und Abstufungen eines perfekten Sonnenuntergangs aufbot.

 

Sie genoss dieses Panorama, die besondere Situation. Sie war alleine hier draußen, hier oben, am Abgrund. Sie ließ sich während dieser wertvollsten Minuten des Tages von Frieden, Harmonie und Schönheit erfüllen. In der Umgebung gab es vermutlich nur wenige Menschen, denen es wie ihr vergönnt war, die Kraft dieses Anblicks in sich aufsaugen zu dürfen – zugleich atemberaubend und erholsam. So konnte sie Wärme, Energie und Zuversicht für die kommende Nacht tanken. Das war nötig.

 

Aus Erfahrung wusste sie, wie trügerisch diese idyllische Atmosphäre manchmal trotz des scheinbaren Friedens sein konnte; ein Wissen, ohne das sie sich weit tiefer hätte entspannen können. Vielleicht wäre sie sogar fähig gewesen, den Moment in meditativer Versenkung voll ausschöpfen zu können. Teilweise tat sie das hier und jetzt, aber eben nicht mehr als die zum Überleben nötige Anspannung ihr erlaubte. Da war im heraufdämmernden Zwielicht der nahenden Nacht – Friedenszeit hin oder her – natürlich entschieden weniger, als am lichten Tag.

 

Derzeit befand sie sich auf einer weiteren Beutetour durch eine weitere der vielen zerstörten Kulturlandschaften, die einst Zierde menschlicher Hochzivilisation gewesen waren. Sie wusste kaum noch zu sagen, die wievielte Region in ihrer Laufbahn sie hier gerade durchstreifte, ehrlicherweise eigentlich plünderte. Viel wichtiger war nämlich, dass hier wie anderswo Artefakte, Schätze und allerlei Botschaften aus der Vergangenheit nur darauf warteten, erst entdeckt und sodann geborgen zu werden – oder geplündert, was nur eine Frage des Blickwinkels war. Dinge und Informationen von unschätzbarem Wert lockten: Kleingeräte und Speichermedien, wertvolle Rohstoffe und Ressourcen, Kunstwerke sowie Dokumente und allerlei dekadenter Tand. All dies musste nur in Besitz genommen werden. Die handfesten Werte unter dem Beutegut konnte sie anschließend einträglich und problemlos verkaufen. Das nebenbei unablässig gesammelte Wissen und die gemachten Erfahrungen bereicherten hingegen ihren ganz privaten Schatz; und dieser wuchs weiterhin kräftig an.

 

Sie liebte die Zeit hier draußen, obwohl oder gerade, weil das Leben in der Todeszone so unvorhersehbar und abenteuerlich, so wild und gefährlich war. So ganz und gar verstand sie sich an diesem Punkt auch nicht. Es ging ihr wohl vor allem um drei Dinge: Freiheit, Autonomie und Stärke. Drei Werte, die zurzeit jedoch nur zu einem hohen Preis gelebt werden konnten. Stete Wachsamkeit war nötig, geistige Belastungen und physische Strapazen mussten duldsam getragen werden. Und trotz aller Erfahrung und Voraussicht ließen sich häufig auch Kämpfe nicht vermeiden. Auf diese folgten dann im Regelfall: Leid und Qual. Ein Duo, dem sie meistens sogar offen gegenübertrat – austeilen und einstecken, ehrenvoll und mit Würde. Ebenso hielt sie es mit Angst und Furcht; hier draußen ständige Begleiter, die sie mit einer grimmigen Lust am Nervenkitzel willkommen hieß. Blieben zuletzt Ekel und Abscheu, ein Duett, auf das sie gerne verzichtet hätte. Genau in beim Umgang mit diesen beiden Empfindungen befand sich ihre aktuelle Charakterbaustelle.

 

In der erfolgreichen Bewältigung der vielen widerwärtigen Eindrücke, die sich hier draußen unvermeidlich durch alle Sinne aufdrängten, lag das große Kontra ihres Daseins. Denn hier waren unsägliche Hässlichkeit, Übel und Disharmonie allgegenwärtig und aufdringlich gleichermaßen. Soviel zur Reflexion dachte sie zufrieden – ein bisschen Katharsis schadete ihrer Stimmung nie. Um all das, was hier auf einen einstürmte, gesund und munter zu überstehen, bedurfte es gründlicher Psychohygiene, zudem unerschütterlicher Charakterstärke und fester Gewohnheiten. Ihre Rituale und Regeln unterstützen sie bei dieser Aufgabe. Somit gab es – Manitu sei dank – regelmäßig solche Momente wie diesen: Schönheit, Ruhe und Harmonie beseelten zwei Mal am Tag ein kurzes Zwischenspiel, morgens und abends herrschte fast eine ganze Stunde Frieden in der Todeszone. Dadurch gewann sie Zeit und Raum für reichlich Muße und ein wenig Müßiggang, die während der restlichen Stunden des Tages kaum einen Platz fanden. Die übrigen, nicht mehr ganz 22 Stunden, kämpfte sie um Beute und ihr Überleben, von den sechs Stunden Schlaf mal abgesehen. So war es und das war ihr Alltag, bestätigte sie mental die Gegebenheiten.

 

Bald jedoch musste sie aufstehen und ihren Lieblingsplatz der aktuellen Tour – so hatte sie eben spontan beschlossen – räumen. An diesen Ort und die epische Atmosphäre dieser Situation würde sie sich noch lange erinnern, so hoffte sie inständig: Mit dem Hintern lässig auf dem Kraterrand, die Beine im Abgrund eines Vulkans baumelnd, hatte sie einen grandiosen Sonnenuntergang vor einem widerstreitend-schönen Panorama genießen dürfen, das seines Gleichen suchte. Nein, korrigierte sie sich, sie genoss das alles noch immer, in vollen Zügen; genau jetzt und genau hier.

 

Hierauf musste sie sich eine Zuflucht für die kommende Nacht suchen, für sich und ihren Mjuhlie, der sie auf Beutetour stets begleitete. Jener war derzeit schon fast voll beladen, mit den unzähligen Beutestücken der letzten drei Tage. Leider lockte ihr tumber Transportrobot durch seine Andersartigkeit Fauna wie Flora unvermeidlich an. Mit seiner unnatürlichen Geräuschkulisse, seinen seltsamen Gerüchen, vor allem durch seine aufdringliche Erscheinung fiel der Koloss aus Metall und Kunststoff unweigerlich auf. Deshalb war sie es bereits gewohnt, bei ihrer Rückkehr nach der Pause eine Schar neugieriger Wesen vertreiben zu müssen. Die schlichen dann gewöhnlich argwöhnisch um den Kubus herum, der mit seinen drei mal drei mal drei Metern Volumen kaum zu übersehen war, und mussten dann vertrieben oder beseitigt werden. Ihn würde sie daher zuerst und sehr gründlich verstecken müssen, danach konnte sie in der Nähe ein gemütliches Lager für sich selbst einrichten. Eine verlassene Höhle oder ein freies Gebäude wären ein perfekter Unterschlupf für die Nacht, fantasierte sie entgegen Erfahrung und Erwartung zugleich. Dann endlich konnte sie sich in Ruhe hinlegen, einschlafen und hoffentlich gut und intensiv träumen. Die letzte Nacht war gut gewesen. Ja, Träumen war ein toller Ausgleich zur Realität, wie sie in einer Todeszone herrschte.

 

Klar, sie war freiwillig hier, und ja, sie konnte mit ihren Fähigkeiten und ihrer Ausrüstung problemlos überleben – aber wofür die Nacht im Freien verbringen? Es würde unnötig viel, zumal vermeidbare Kraft und überdies wertvolle Ressourcen kosten. Nachts waren erstens weitaus mehr Jäger unterwegs als im hellen Tageslicht und zweitens wollte sie den erholsamen Schlaf nicht aufschieben. Diesen Verzicht wollte und konnte sie auch nur begrenzt technologisch ausgleichen. Sich mindestens sechs Stunden Schlaf zu verordnen, hatte sich bewährt, also würde sie versuchen, es fortzuführen. Eine der Grundregeln des Kampfes, des Denkens und der Natur gebot ihr, überall dort Energie zu sparen und sich zu regenerieren, wo und wann das möglich war. Sparsamkeit war hier draußen unerlässlich, auch wenn sie mit diesem Prinzip nicht immer so konsequent war. Was waren schon Regeln ohne Ausnahmen – genau, keine Regeln sondern Gesetze und mit diesen wusste sie wenig anzufangen.

 

Sobald die Sonne untergegangen sein würde, musste sie den doppelsinnige Ausblick hinter sich lassen, in dem Verfall und Wachstum kollidierten, Leben und Tod symbolisch miteinander rangen, dabei war gänzlich unklar, welche Seite auf lange Sicht die Oberhand behalten mochte. Derzeit führte die Wildnis offensichtlich und klar mit weitem Vorsprung vor der Zivilisation. Es verdunkelte sich zusehends.

 

Bald würde sie dem schwindenden Licht des vergangenen Tages den Rücken zukehren und in Richtung der kommenden Nacht davoneilen. Bei diesem Gedanken schaute sie instinktiv kurz über ihre linke Schulter und erkannte, dass sich die Nacht hinter ihr in einer Front tiefster Dunkelheit ankündigte, die vom östlichen Horizont bedrohlich und scheinbar rasch heranrollte. Von der mächtigen Orbitalverbindung, die vor dem Horizont liegenden, sonst so aufdringlich war, sah sie wenig mehr, als sporadisch gestreute, bunte Lichter, eingefasst von dunklen Konturen vor einer satten Finsternis. Das Territorium einer der seltsamen europäischen Mächte mit einem Stadtmoloch, dessen Namen sich ebenfalls nicht eingeprägt hatte – irrelevant.

 

Sie wendete den Kopf wieder zurück und blickte versonnen hinab in den klaffenden Abgrund direkt vor ihr und unter ihren Füßen, wie er sich kilometerbreit, kreisrund und hunderte von Meter tief vor ihr aufspannte: ein düsteres Loch voll schroffer Felsen, an den Spitzen erleuchtet von vereinzelten Sonnenstrahlen. Die Luft hier oben war merklich heißer und schmeckte sie nicht sogar ein wenig nach Asche und Schwefel, oder bildete sie sich das bloß ein? Der letzte dokumentierte Ausbruch lag sicher schon eine ganze Weile zurück. Die rund um den Krater üppig wuchernde Vegetation belegte das doch eindrücklich. Auch wenn sie sich den Namen dieses gewaltigen Vulkans gar nicht erst gemerkt oder vielleicht auch nur sofort wieder vergessen hatte, der Ausbruch lag sicher schon länger zurück. An die wirklich wichtigen Fakten erinnerte sie sich immerhin leidlich, wenn auch bisweilen etwas vage. Für eine gute Schätzung hatte es meistens gereicht.

Aus zwei Dritteln wird Eins

Wie angekündigt und ohne großen Text folgt hier ein großer Text. Ein dritter Zugang, der einer Komplettüberarbeitung von „Die Heimkehr des verspannten Fast-Magisters“ entspringt, führt die Geschichte in ein zweiten Auflage nun lesbarer und pointierter zum identischen Ende. Inhaltlich nahe am Urtext geführt, macht hier aber die Form einen klaren Qualitätsunterschied zur Rohfassung aus.

Genussvolle Lektüre wünscht, Euer Satorius


 

Xaver mal anders

Seiten 1 – 32

Er hatte sich während des Fluges viel Gutes und Wichtiges für die nahe Zukunft vorgenommen; zu viel jedoch, um es alles auf einmal ernst und damit wirklich in Angriff nehmen zu können. Er hatte kurz gezögert – immerhin ein Anfang –, sich dann aber doch für die wohlige Sicherheit der schlechten Gewohnheit entschieden. Fast unmittelbar nach erfolgter Landung hatte er also die Startroutinen seines Gedankenkonzils initiiert. Kurz darauf war die Welt um ihn herum eine andere geworden. Sie hatte sich schlagartig in ein perzeptives Paradies verwandelt. Hinter der grauen Realität lag ein hyperreales Zauberland verborgen. Sein ganz persönliches Utopia, inspiriert durch seine Ästhetik und angepasst an seine Vorlieben. Ein Traumland, in dem er die Regeln bestimmte, beinahe allmächtig über kognitive Funktionen gebot und Chaos nur als Quelle von Kreativität zuließ.  

 

Auch wenn sein Köper noch unter den Folgen des zermürbenden Flugs litt, war ihm das nun gleich, denn er war weit weg, geflüchtet – aber nicht wie immer, er hatte immerhin kurz gezögert.

 

Die Instanzen des Konzils schalteten sich bereits bei der Reizverarbeitung der fünf Sinneskanäle ein und übernahmen viele der folgenden, kognitiven Aufgaben. Rezeption und Perzeption waren dadurch regulierte Prozesse geworden, womit der Freiheit ganz neue Spielräume eröffnet wurden. Ob Gebrauch oder Missbrauch von dieser Freiheit machen, bleib eine Frage des Blickwinkels und der Wahl zugleich: Der lieb gewonnene Reisekokon und die wiedererwachte Gesellschaft lenkten seine Aufmerksamkeit nun beinahe vollständig nach innen. Matrina hatte nach ihrem Wiedererwachen vergeblich dagegen protestiert. Es gab noch unglaublich viel zu Recherchieren und anschließend zu Lernen. Der Schritt in die angewandte Bewusstseinsformung hatte seine Tücken und Tiefen.

 

Auch während des anschließenden Transports über das gigantische Areal der unzähligen Landefelder hinweg, hinein in den Bauch eines kolossalen Tetraeders, der den architektonisch atemberaubenden Zentralkomplex des Raumknotens darstellte, hatte er kaum Sinne für die wirkliche Umgebung und deren atemberaubende Einzigartigkeit. Dabei war die Gelegenheit geradezu ideal, denn er wurde in einem Kraftfeld auf mehreren Metern Höhe durch die Luft befördert. Nicht einmal die singuläre Situation der Heimkehr eines Exilanten, der eine archetypische Kraft innewohnte, vermochte ihm die Augen und Ohren zu öffnen. So drangen weder die fabrizierten Geruchsteppiche noch die exakt kontrollierten Verhältnisse von Temperatur, Schwerkraft und Druck erlebnisfähig zu ihm durch. All die in technischer Perfektion gehaltenen Umweltparameter kümmerten Xaver nicht mehr. Ebenso verzichtete er auf den verstörend-schönen Ausblick, der sich ihm in fast allen Himmelsrichtungen dargeboten hätte: Eine bis zum Horizont reichende Monotonie menschgemachter Stadtlandschaft. Dieser fast planetenumspannende, urbane Moloch verschlang mit seinen dunklen Farbenabstufungen, die den optischen Eigenschaften der handelsüblichen Legierungen und Baustoffe geschuldet waren, das wenige Licht, das die Sonne so früh am Morgen spendete. Da halfen die global eingesetzten Kunstsonnen, die man ohne Übertreibung als technologischen Segen hätte bezeichnen können, kaum. Zumal von ihnen nur noch ein Bruchteil betrieben werden konnte und musste.

 

Über einem pilzartigen Geflecht beinahe nahtlos miteinander verbundener Metropolregionen wölbte sich, einem wahllos geknüpften Spinnennetz gleich, ein Netzwerk an Orbitalstationen. Deren Mehrzahl war durch kilometerbreiter Transportkanäle mit Knotenpunkten auf der planetaren Oberfläche verbunden. Einige waren heutzutage verwaist, blieben aber in ihren Orbits weitgehend stabil. Dass damit riesige Schlagschatten und künstliche geschaffene Schattenzonen entstanden, die zudem auch noch ständig wanderten, war ebenso folgerichtig wie folgenreich. Aber mit dem technischen Licht insgesamt und insbesondre dem natürlichen Licht der Kunstsonnen, kam das Leben in den Schatten zurück. Sogar Nahrung konnte deshalb nunmehr in der Vertikale variabel in subterranen bis orbitalen Lagen erzeugt werden, den vielen Kunstsonnen in den hydroponischen Farmen sei Dank. So auch hier in Frankfurt Rhein/Main einem der größten aktiven Raumknoten in Zentraleuropa, inmitten einer der größeren Lebenszonen, die es derzeit im alten Europa noch oder besser – bereits wieder gab.

 

Der Blick nach Osten wurde vom erdrückenden Anblick der hiesigen Orbitalanbindung unweigerlich unterbrochen. Obwohl diese organisch-stählernen Ungetüme aus der Ferne betrachtet wie elegant geschwungene, lässig aus dem losen Spinnennetz der Orbitalstationen heruntergelassene Leinen wirkten, stellten sie aus der Nähe besehen das Gegenteil von Lässigkeit und Eleganz dar. Mehr als 120° des Panoramas, mehr als eine vollständige Himmelsrichtung war hier verschwunden, verdeckt durch einen Transportkanal mit einem Durchmesser von gut drei Kilometern. Seine düstere Bedrohlichkeit, verstärkt durch die vielen Anbauten, die aussahen wie wuchernde Auswüchse, wurde aus der Nähe betrachtet durch die vielen Lichter, die schimmernden Sphären und den auch hier regen Flugverkehr kaschiert.

 

Diese gigantischen und lebensspendenden Bauwerke beeinflussten sichtlich sogar das lokale Wetter. Im Bereich des künstlichen Massivs bildeten sich konzentrische Kreise von Abregnungszonen, sodass es im Umland häufig und im Zentrum Frankfurts fast permanent regnete. Technisch als zusätzliche Kühlung einkalkuliert, wurde dieses meteorologische Phänomen in diesen entbehrungsreichen Zeiten zu einem noch gewichtigeren Faktor in der Geopolitik als schon zuvor. Wasser konnte zwar natürlich noch immer künstlich erzeugt werden, aber nur zu Energiekosten, die seine Eigenenergie um ein Vielfaches überstiegen – ergo war Energie mehr als Geld und damit derzeit einer der wertvollsten Ressourcen. Für die Bewohner Frankfurts bedeutete dieser Umstand, aller ökonomischen Vorteile zum Trotz, ganz konkret: ziemlich miserables Wetter.

 

Aus der Ferne besehen hatte der Dauerregen einen kitschig-schönen Nebeneffekt. Lokal derart stark begrenzt, konnten sich in den Übergangszonen zum Normalwetter Myriaden komplexer Formationen an Regenbögen herausbilden. Diese veränderten sich ständig, verblassten und tauchten überraschend wieder auf – tanzten beinahe einen spielerischen Reigen. Neben dem Regen waren nämlich eine unruhige Thermik und entsprechende Winde weitere meteorologische Folgen dieses tiefen Eingriffs in das chaotische System des Wetters. Solche oder ähnliche Phänomene boten sich vermutlich weltweit im Anflug auf die Lebenszonen, welche sich oftmals um die intakt gebliebenen Transportkanäle herum etabliert hatten.

 

Das Netz aus Schatten, träge über die Szenerie wandernd, rundete die ebenso spektakuläre Vogelperspektive ab. Der Gesamteindruck war in seiner harschen Unwirklichkeit berauschend. In Gegenrichtung zur aufgehenden Sonne gelegen, wurden die westlich des Transportkanals liegenden Bereiche der Metropolregion in künstliche Dunkelheit getaucht. In Schattenbereichen, wie dem hier im Westen von Frankfurt, funkelte das scharf abgrenzte Lichtermeer zweier Lebenszonen. Umrahmt und dadurch scheinbar zugleich bedroht von ausgedehnter Düsternis. Dort wo früher einfach alles lebendig und fast immer hell gewesen war, alles ständig im Glanz der künstlichen Sonnen vor Leben pulsiert hatte, war es dunkel geworden.

 

Heute lebten die überlebenden Menschen, welche Zivilisation und damit Sicherheit schätzten, in gesicherten Bereichen innerhalb der riesigen Ruine des planetaren Utopias von vormals. Global betrachtet lagen nur wenige so große Schutzzonen im zentralen Schlagschatten eines wandernden Bereichs. So nah am Zentrum einer Macht, wie hier in Frankfurt Rhein/Main, war man aber spendabler mit den raren Ressourcen.

 

Diese Perspektiven nahm Xaver nicht sehenden Auges wahr, sondern höchstens als ein winziges Datum unter vielen in einer Reihe von, stark gefilterten, kategorisierten, insgesamt zugerichteten und verarbeiteten Informationen. Neben der Freude über die Schönheit und Mystik, hätte er sicher einiges an Wissenswertem zur Geschichte dieser Region beigetragen und gewonnen. Aus dem reichen Fundus an historischen Fakten, die er sich in seinen – wie immer ausschweifenden – Vorabrecherche angeeignet hatte, ließen sich zusammen mit den Absichten einige interessante Schlüsse ziehen.

 

Zur düster-urbanen Monotonie der globalen Vogelperspektive und der ambivalent-kitschigen Note des Panoramas hätte sich letztlich unweigerlich doch wieder bittere Depressivität gemischt. Gespeist aus sich unvermeidlich aufdrängender, historischer Einsicht, beim schonungslosen Blick auf den aktuellen Zustand des geschunden und halb tot daliegenden Planeten.

 

Ein Vergleich zum Zustand vor gerade einmal zehn Solar-Jahren ergäbe, dass dieser Planet in großen Teilen buchstäblich ausgestorben und ruiniert war. Vorbei war eine Epoche von 150 Solar-Jahre Entwicklung und Fortschritt, durch die das Antlitz der Erde von einer radikalen Urbanisierung ebenso grundlegend umgestaltet – nein, weitergestaltet worden war. Die Entwicklung von der Klein- zur Großstadt, weiter zur Metropole und schließlich zur Metropolregion ohne klare Grenzen, folgte einer schlichten, räumlichen Logik. Dass natürliche Zwischenräume, einem Reservat nicht unähnlich, hierbei ausgespart wurden, folgte einer ebenso schlichten ökologischen Überlebensstrategie.

 

Die einst als Utopie ersten Ranges gehandelte Vorstellung einer planetaren Homöostase hatte sich tatsächlich herbeiführen und daraufhin sogar über Dekaden stabilisieren lassen. Damit wurde ein Gleichgewichtszustand aller beteiligten Systeme ohne gleichzeitigen Stillstand derselben ermöglicht. Die Balance zwischen Menschheit und Umwelt war Realität geworden. Mental endeten solche Überlegungen notwendig immer wieder an einer Zäsur im nachdrücklichsten Sinn dieses Substantivs – immer wieder beim solaren Kollaps.

 

Unterdessen gelang es auch der spektakulären, bunten Vielfalt und ausnehmenden Hektik der näheren Umgebung mit ihren Holofenstern, öffentlichen Netz-Schnittstellen, Terminals und Gates für Transportröhren und Fähren nicht, Xavers Aufmerksamkeit nach außen zu lenken. Nach den vielen Solar-Jahren des Rückzugs schenkte dieser selbst den Massen an Mitmenschen, die um ihn herum geschäftig vorübereilten, ein erschreckend geringes Maß an kognitiver Zuwendung. Damit schlug er mehrfach die überzeugend und sensibel vorgetragene Ermunterung Matrinas aus, sich auf ein Gespräch oder wenigstens irgendeine Art der Konfrontation mit einem menschlichen Gegenüber einzulassen. Er verneinte diese Anfragen beharrlich und widmete sich lieber zusammen mit Sokrates, Nietzsche und Googol hochkarätigen Erfahrungsnetzen und Wissensangeboten.

 

So entgingen ihm all die realen Reize eines so zentralen, deshalb attraktiv und bunten Ortes, einfach verschluckt von den Filtern des Reisekokons und chancenlos gegen die hyperrealen Lockungen des Gedankenkonzils. Die Umwelt nahm er nicht in ihrer öffentlich sichtbaren, physischen Gestalt wahr, da er seit der Landung total absorbiert war. Seine Umgebung war bestenfalls Basis für eine sehr enge, persönlich getroffene Auswahl an aufbereiteten Informationen. Blind für die reale Welt, geblendet durch die unermesslichen, hyperrealen Möglichkeiten des Gedankenkonzils, marschierte Xaver zielstrebig durch den Zentralknoten. Er hatte sich mithilfe der Technik die ungewohnte, unangenehme Situation vom Hals gehalten. Diese wurde seinen individuellen Bedürfnissen entsprechend aufbereitet und verschönert, indem nur das für ihn relevante an Daten aus der Umwelt zugemutet und dabei vor allem aus den nun verfügbar gewordenen Netzen geschöpft wurde. Was zum Schluss von der Welt um ihn herum noch übrig blieb, waren autistoide Filetstücke. Diese hatte er sich mit dem Gedankenkonzil geschnitten; dann in seine selbst konfektionierte Welt geholt und sie sich dort schließlich gefügig und damit beherrschbar gemacht. Kaum noch etwas Fremdes war noch an ihnen; alles war wohlig fabriziert.

 

Nach der praktischen Weiterbildung und der Unterhaltungsrunde in den Netzen, stand weitere Datenakquise und die Integration der gewonnen Erkenntnisse in die weitere Reiseplanung sowie eine abschließende Diskussion der Ergebnisse an. Das hierbei große Quanten an Arbeitszeit und kognitivem Potenzial auf verstiegene Fragekomplexe und deren unnötige Vertiefung hin verwendet wurden, fiel bei den vorhandenen Kapazitäten wenig ins Gewicht: Nur knappe 60% seines Bewusstseins waren derzeit mit Denken und Handeln ausgelastet. Denn die sechs Module waren nun allesamt erwacht und das Konzil insgesamt funktionierte somit nun wieder tadellos. Für die übrigen Augmentate galt, nach sorgfältiger Prüfung durch den nicht gerade wortgewandten, wohl deshalb meist sehr schweigsamen Hoffmann volle Funktionsfähigkeit und uneingeschränkte Einsatzbereitschaft:

 

„Läuft! Alles klar SchiffChef, äh, Xaver…“, lautete der semantisch etwas verunglückte Missbrauch einer alten Redewendung durch das Modul.

 

Die anderen Module nahmen wie häufig wenig Rücksicht auf die Befindlichkeit des schüchternen, sozial unsicheren Praktikers, als sie sich ob seiner verbalen Entgleisung je nach Charakter, Temperament und Sympathie mit ihm oder über ihn amüsierten. Am Ende geboten die nüchtern-effiziente Xaya und der genervte Avatar von Xaver dieser heiter-peinlichen Episode gemeinsam Einhalt.

 

Das was man gewöhnlich Ich nannte, wurde innerhalb der hyperrealen Existenz des Gedankenkonzils durch eine frei gestaltbare Selbstrepräsentation – einen inneren Avatar – symbolisiert; ebenso übrigens, wie die semiautonomen Module, die ihr Aussehen innerhalb gewisser, von Xaver definierten Grenzen selbst bestimmten. Was hierbei an skurriler Exzentrik zutage trat, war oftmals unbeschreiblich komisch – wie vermutlich überhaupt das Erleben hyperrealer Daseinsformen teils neuer Gestalten der Sprache zur Beschreibung bedurfte. Da reichte selbst das semantisch hochpotente Neo-Latein nicht annähernd aus.

 

Nach einigen hundert Metern Fußweg war Xaver nun im sensiblen Kontrollbereich für Einreisende angelangt. Die hier fälligen bürokratischen Formalitäten, die im Normalfall höchst nervenaufreibend und in seiner Situation sicher kompliziert gewesen wären, glichen für ihn einer Selbstverständlichkeit. Er konnte sich der mühseligen Pflicht mit nur wenigen vorab kompilierten Datenpaketen und einigen terminierten Datenroutinen, buchstäblich also im Vorübergehen, entledigen. Wobei die enthaltenen Signaturen zweier seiner potenziellen Klienten wohl eine wesentliche Rolle gespielt haben dürften.    

 

„Der praktische Unterschied zwischen technologisch verbesserten Übermenschen wie uns und den zurückgebliebenen reinen Organikern – also den meisten anderen – ist nicht nur im Alltag dermaßen klaffend, dass deren erbärmlich-infantiler Zustand fast als Fanal eines mit aller Überzeugung gelebten Idealismus natürlicher Reinheit durchgehen könnte. Aber das nehme ich ihnen einfach nicht ab, diesen verlausten Primaten“, kommentierte Nietzsche gewohnt bissig und übertrieben geschliffen und langatmig, was ihm direkt die gewöhnliche Rüge von Sokrates einbrachte:

 

„Denk doch erst mal – nur beispielsweise! – über die Frage nach, was mit Xavers Mensch-Sein, beeinflusst durch die Technik, in den letzten Jahrzehnten so alles passiert ist; gerade sogar weiterhin passiert, just während wir mit ihm zusammen denken und vor uns hin existieren. Oder frage dich besser gleich auch noch, ob die meisten anderen überhaupt die Wahl haben, sich technologisch zu verändern oder nicht – und ich sage bewusst verändern und spreche nicht vorschnell von Verbesserung oder unreflektiert gar vom Übermenschen. Und außerdem ist es wohl vor allem die geborgte Macht, die unserem Anliegen so viel Gewicht verleiht, nicht dessen technische Perfektion. Nur ein paar kleine Fragen, lediglich wilde Spekulationen und eine willkürliche Perspektive – schnell aus dem diskursiven Stegreif – und schon wird es eng mein Freund. Bereits mit deren oberflächlicher Auseinandersetzung könnte dein krudes Weltbild gründlich erschüttert werden!“

 

Wie stets mischten sich die anderen Module nicht in die intellektuell anspruchsvollen, aber gleichzeitig ziemlich provokativ geführten Kontroversen der beiden ältesten Mitglieder des Gedankenkonzils ein. Nietzsche beließ es in diesem Fall überraschend kleinlaut bei der anfänglichen Spitze und reagierte nicht auf die starke Eröffnung seines Kontrahenten. Er wusste wohl, wann Schweigen Macht war, nämlich wenn er verdammt schlechte Karten in einem Disput hatte. Hier, mit einer so unbedachten Polemik, die seinem tatsächlichen historischen Vorläufer alle Ehre gemacht hatte, konnte er hier diskursiv nichts gewinnen.

 

Drei von Nietzsches reinen Organikern fielen derzeit unangenehm auf: Die zuvor noch so beschauliche Familie aus der Fähre fiel nun sogar ihm in seiner künstlichen Klause auf und damit den meisten anderen Passanten und Passagieren sicher schon lange zur Last. Den Kontext dieser Geschichte würde er sich mithilfe der Umweltprotokolle schnell rekonstruieren können. Was sich über die Hintergründe noch herausfinden ließ, war dann ein nächster notwendiger Schritt, um zu einem umfassenden Bild der Lage zu kommen.

 

Nach einem Bruchteil eines Augenblicks hatte er mit Rückgriff auf Googol und unter kurzen Kommentaren von Sokrates und Nietzsche den Verlauf der Ereignisse nachvollzogen und steckte nun mitten in den Auswertungen weiterer Datenquellen. Mit einigen wenigen Prozenten seiner kognitiven Kapazität stellte er bereits erste spekulativen Projektionen und Prognosen an. Der während der Passage so verzückte und verzückende Spross der jungen Eltern war seit der unruhigen Landung außer sich. Seine Querelen waren war zunehmend ausgeartet, sodass die sorgenden Eltern sich letztlich nach einem längeren, anfangs verdeckt geführten, zuletzt in aller Öffentlichkeit lautstark beendeten Grundsatzstreit doch dazu durchgerungen hatten, die pharmazeutische Hilfe einer der vielen vollautomatischen Medizinalstationen in Anspruch nehmen zu wollen. Wer genug Zahlungsmittel besaß, fand dort im Handumdrehen Heilung für fast alle Beschwerden. Allerdings hatte an dieser Stelle der Ereigniskette das Unglück begonnen. Vielleicht war mit dem Aufenthalts- oder Sicherheitsstatus der beiden Erwachsenen etwas nicht in Ordnung gewesen oder deren Bonität bereitete unerwartete Schwierigkeiten; eventuell auch nur ein unglücklicher Zufallsvektor. Was ganz genau los war, das war bisher nicht plausibel zu bestimmen gewesen und sprach damit allen Analysen und Beratungen Hohn. Die Faktenlage bis zum Eintreffen der zwei momentanen Gesprächspartner der Eltern war glassklar; ohne Hintergründe über deren persönlichen Status waren all die schönen Prognosen und Szenarien des Gedankenkonzils hochgradig unsicher und damit fast nutzlos.

 

Zwar deutete er die Lage einhellig im Sinne subtil sichtbarer Tendenz hin zu einer möglichen, langsamen Eskalation der Lage, aber das war eine müßige und wenig verblüffende stochastische Spekulation. Er konnte das Risiko einfach nicht abschätzen: Unkalkulierbare Sachverhalte bereiteten ihm mindesten Unbehagen, meistens jedoch Angst. Ein Zustand, den er Dank Hoffmann nie lange zu ertragen hatte, sah man dabei über kürzlich erlebten Ausnahmen großzügig hinweg.

 

Was auch immer wirklich zur aktuellen Lage der Beiden geführt hatte, war also im Grunde völlig unklar; was immer sich ereignen würde, bahnte sich jedoch gerade vor Xavers Sensorium an. Das Vorhaben des Vaters, die Option der ideologisch scheinbar verteufelten Medizinaltechnik zur Beruhigung seines Sohns in Anspruch zu nehmen, war zunächst folgenreich gescheitert. Nach der rückwirkenden Verhaltensanalyse war ein Verhaltensprimat der Eltern auffällig geworden: Möglichst wenig Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und dadurch unbehelligt sowie schnell voranzukommen. Letztlich war dieser Vorsatz nunmehr kolossal gescheitert. Denn die Ereignisse hatten sie nicht nur in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gebracht. Andere Mächte waren erwacht, sodass die Eltern nur restlos ihrer auffälligen Unauffälligkeit beraubt worden waren. Sie waren seit Kurzem in Konfrontation mit den hiesigen Ordnungsmächten und sprachen mit zwei unbehaglich aussehenden Schergen der Macht, vermutlich Mitarbeiter der Karlus-Korporation. Durch die Debatte, dich sich gerade erst zu entwickeln begann, waren die Nöte des kleinen Kindes auf einmal zweitrangig geworden.

 

„Was sollen wir gemacht haben?“

 

„Das ist doch nicht ihr Ernst und wenn doch, dann ein ausgesprochen schlechter Witz!“, schnappte er nur einige beunruhigende Fetzen des Gesprächs auf, da er sich schon anderweitig orientierte.    

 

Der liebenswerte Junge war nun also allein und dabei ebenso unzufrieden mit seinem Zustand, wie er dies seine Umwelt lautstark hören und zur Belustigung der wenigen, verstohlen schauenden Schaulustigen auch spüren ließ. Er tobte und trat wild um sich. Für die vielleicht ernsten Gründe seiner Eltern hatte das verstörte Kind in seiner definitiv ernsten Hilflosigkeit kaum etwas übrig. Außerdem schien derzeit Niemand couragiert genug, um ihm irgendwie zu helfen – kein Wunder in der systemweit herrschenden politischen Neuorientierungsphase. Zivilcourage hatte es ohne eine breite Zivilgesellschaft, zumal im Angesicht von Krieg und Zerstörung besonders schwer. Nicht nur hier vor Ort in Zentraleuropa war die politische Atmosphäre frostiger geworden.

 

„Es ist ja unbestritten, dass brutale Zeiten brutale Zustände auf den Plan rufen, weswegen man nur unter großer Vorsicht eingreifen sollte. Aber einzig und allein gute Taten können daran etwas ändern, eventuell mit Glück und Geduld sogar nachhaltig etwas in der Welt verbessern. Also tue schnell was, sonst geschieht sicher bald ein Unglück“, ermunterte ihn ein gemeinsamer Ratschlag von Xaya und Matrina.

 

Diese beiden Module waren sogar zusammen nicht einmal annähernd so lange bei, mit oder in Xaver wie Sokrates oder Nietzsche jeweils für sich alleine es gewesen waren, genossen aber hier und jetzt aufgrund ihrer Kompetenz und in ihrem Zuständigkeitsbereich eine höhere Priorität in den Beratungen des Konzils. Zumal sie für die Zukunft von so entscheidender Bedeutung waren, dass ihnen effizientere Arten der Einflussnahme möglich waren – ein Privileg, das Xaver ohne Weiteres annullieren konnte, was er aber aus guten, weil gesundheitlichen wie beruflichen Gründen nicht für ratsam hielt.    

 

Den Verlauf der Ereignisse bis hier hin hatte er sich also aus den Protokolldaten seines Umweltsensoriums, einmal auf alles aufmerksam geworden, präzise rekonstruieren können und nun waren Entscheidungen zu fällen. Von der Brisanz der Situation ergriffen und angetrieben von den Impulsen der einzigen beiden weiblichen Modulen, war er aus der Lähmung durch den hyperrealen Äther erwacht. Nun wurde er sich der unerwarteten Wendung, dem drohenden Finale der anfangs noch so tröstlichen Familiengeschichte vollends gewahr – förmlich von der Komödie zur Tragödie – und konnte nicht mehr anders. Entgegen seiner kompletten Gewohnheit und gegen jede Erwartung begann er, sich ernsthaft für das Leid anderer zu interessieren, und beschritt den Übergang von der Ethik zur Moral, sprang aus der praktischen Theorie in die praktische Praxis – nur mental, dabei zaghaft und probehalber zunächst.    

 

Sollte er sich nun wirklich einmischen, vielleicht wenigstens dem Kind zur Hilfe kommen, wenn schon nicht den Eltern heldenhaft zur Seite zu stehen? Wenn er aktiv leben wollte, musste zu handeln beginnen und wann sollte er damit beginnen, wenn nicht hier und jetzt? Nun hatte er eine perfekte Gelegenheit einen weiteren, mutigen Schritt in Richtung dieses aktiven Lebens zu gehen. Nur wie – und ob wirklich in letzter Konsequenz –, das musste nun zunächst entschieden und dann noch theoretisch weitergedacht werden, um überhaupt je praktisch bewerkstelligt werden zu können.

 

Es galt zunächst, viele Faktoren aus verschiedenen Bereichen gegeneinander abzuwägen. Die beiden stämmigen Kerle zu allererst: Die sahen reichlich ungemütlich aus, in ihren robusten, in mattem Blauschwarz schimmernden Körperpanzern, mit all den Indizien latenter Aggression und steter Gewaltbereitschaft. Problematisch war hierbei vor allem die professionelle Befugnis, die geläufige Tendenz Beidem nach eigenem Ermessen Ausdruck zu verleihen. Besorgnis erregten insbesondere die ersten zögerlichen Anzeichen kaum gebändigter Impulsivität, die bei dem kleineren der beiden Ordnungshüter zu registrieren waren; auch wenn sein größerer Kumpane so wirkte, als brächte er das nötige Übermaß an Ruhe und Besonnenheit mit, um mit seiner Präsenz einen Ausgleich schaffen zu können.

Aus historischer Erfahrung wusste Xaver, dass das Verhalten von Menschen, die am unteren, ausführenden Ende ungerechter und ungerechtfertigter Hierarchien ihren Platz gefunden hatten, unberechenbar sein konnte und in ihrer Psyche einer fatalen, enthemmenden Dynamik ausgesetzt waren. Das unwürdige Nebeneinander von demütig-feigem Desinteresse einerseits und gehorsamer bis geheuchelter Empörung andererseits, das eine kurze Sondierung der sozialen Umwelt ergab, rief in ihm Erinnerungen an frühere Ausflüge in Erfahrungs- und Wissensnetze wach. Leider waren es Anklänge an Inhalte aus den dunkelsten Kapiteln menschlicher Kulturgeschichte. Sah er dabei gutmütig von der oberflächlichen Fortschrittlichkeit ab, hatte er hier das stereotype Szenenbild einer im Kern faschistoiden, inhumanen Zwangsgesellschaft mit üblicher Besetzung vor sich. Menschen übernahmen dabei nach Zahl und Temperament die ihnen gemäße Rolle: Opfer, Täter, Mitläufer, IgnorantRebell, Held, Märtyrer.

 

Die fundamentale Entscheidung war nicht bloß eine Frage der Konformität, sondern die eherner Prinzipien höchsten Rangs – eine Frage von ethischen Werten, eine Frage moralischer Verantwortlichkeit. Theoretisch brauchte Xaver hier keine Beratung; von Niemandem. Matrina hatte ihn trotzdem voll unterstützt, Nietzsche natürlich nicht und bevor dieser irgendwie loslegen konnte, hatte Xaver die Sitzung beendet. Die rational wohl fundierten Überzeugungen jedoch zum unbedingten Gesetz des Willens zu machen: Gegen die Angst, den Egoismus und die Gewohnheit zugleich anzugehen, hätte zu viel des Guten für den Anfang bedeutet. Für die moralische Praxis brauchte er die Beratung und Unterstützung von Xaya, Matrina und wie fast immer im Hintergrund, die neurochemischen Fähigkeiten von Hoffmann.

 

„Glücklicherweise muss jede Moral gewordene ethische Überzeugung, ein ihr entsprechendes Können vorfinden, um zur moralischen Pflicht zu werden. Klassisch gesprochen: Sollen impliziert Können“, gab Matrina die Eröffnung.

 

„Die Kerle können und dürfen weit mehr als wir, also leg dich bloß nicht dummdreist direkt mit den Platzhirschen an – wärm dich erst mal auf, alter Mann!“, führte Xaya den Gedanken wie zufällig und auf ihre typische Art zu Ende, gleichzeitig schnoddrig und schlau.                

 

Wenn er in wenigen Neu-Wochen tatsächlich bereits mit der Instruktion und Formung von jungem Bewusstsein sein Auskommen verdienen wollte, dann sollte ihn diese Situation keinesfalls überfordern. War dem Kind erst einmal geholfen, konnte er womöglich im Anschluss sogar wirklich noch den Eltern beistehen, je nachdem, wie ernst deren Lage dann sein würde.

 

Der Test seiner Überzeugungen kam oder kam eben nicht; unweigerlich und notwendig. Nach seinem Wissensstand ging die örtliche Exekutive schon nicht gerade unter den Prinzipien der Humanität mit ihren widerspenstigen Bürgern um; da wollte er sich gar nicht erst ausmalen, was Fremden drohte. Hoffentlich waren die Gründe für die Verwicklung trivialer Natur und die polizeiliche Willkür würde schlimmstenfalls milde entwürdigend ausfallen. Unterstützung hierbei konnte aber nötigenfalls Fernziel sein, Nahziel musste und sollte ein anderes sein: Die Entscheidung war nun endgültig gefallen, nun musste sie in die Praxis umgesetzt werden.

 

Hier auf dem Planeten seiner Geburt, am zweiten Etappenziel seiner noch gut zwei Neu-Wochen dauernden Reise in seine nahende, berufliche wie private Zukunft, wagte er den Sprung. Unter strenger Begleitung durch Matrina und Xaya versuchte er sich zu Erheiterung des Kleinen an etwas radikal Neuem – kompromisslos und ohne Scham. Mit 35% seines Bewusstseins hatte Xaver die ersten Instruktionen der Choreografie hinter sich und mit der Effektplanung für die Sinnesshow begonnen.

 

Die namenlosen Eltern führten ihr investigatives Gespräch nun noch einige Meter weiter entfernt als zuvor. Sie waren in einem akustisch total und leicht optisch abgeschirmten Sitzbereich verschwunden. Dadurch waren sie fast gänzlich von ihrem Sohn abgeschnitten worden. Wohl eine perfide bis schikanöse Demonstration von Macht, wo doch offensichtlich war, dass dem Kind Zuwendung, Trost und vielleicht sogar Medizin fehlten. Alles das zu geben, war Privileg und zugleich erstes Bedürfnis sorgender Eltern, wurde diesen hier aber verwehrt. Das noch immer schreiende Kind war damit wohl höchstens – wenn überhaupt – Auslöser denn Gegenstand des Verhörs gewesen.

 

Während der 14 Sekunden Wegstrecke zum Standort des Jungen ging Xaver entschiedenen Schrittes und beendete seine Vorbereitungen bereits nach der Hälfte der Zeit. Den Rest nutze er für eine Prognose möglicher Reaktionen und fand an deren Ende beruhigende Werte vor: 90% Erfolgswahrscheinlichkeit. Gestärkt durch dieses Wissen, die pharmakologische Expertise und systematisches Training erreichte er sein Ziel. Es begann, nun hatte er die Interventionstaktik in die Tat umzusetzen: erst Erstaunen und Verblüffen – dann Verwöhnen und Unterhalten!

 

Eindrucksvoll war der Anblick des absurden Kontrasts von zunächst biederem Magister in puristischer Ordenstracht, der sich abrupt und in rasendem Übergang in einen clownesken Paradiesvogel verwandelte. Farblich gingen nüchternes Grauweiß und tristes Alltagsgrau über in die schrillsten nur vorstellbaren Tönungen und Kombinationen aller Regenbogenfarben. Farbensprühend und begleitet von surrealen Projektionen baute er sich vor dem überraschten Opfer auf.

 

Klanglich wurde dieser Überfall von einer nur eng gebündelten, nur in Richtung des Kindes wahrnehmbaren, akustischen Bühne untermalt: Auf eine quäkenden Sirene folgte ein Tusch und daraufhin amüsante Zirkus-Musik, die einem, ohne dass man sie eigentlich so recht mochte, unweigerlich ein Lächeln aufs Gesicht zauberte.

 

Olfaktorisch und haptisch wurde eine konfuse Abfolge von angenehmen Gerüchen und wohligen Gefühlen verabreicht, soweit das telemanipulativ eben möglich war. Leider konnte er den Geschmackssinn nicht ansprechen – noch nicht, es dauerte noch sechs weitere Sekunden bis Abstand und Replikatoren soweit waren, wenn das dann überhaupt noch nötig sein sollte.

 

Er hatte einen kurzen Sketch mit Elementen aus Pantomime und Slapstick in den Netzen gefunden und für sich adaptiert. Dank Xayas Kompetenz in den Bereichen Schauspiel, Akrobatik und Tanz beherrschte er den Ablauf mittlerweile perfekt.

 

Nun begann sie, seine Uraufführung von Xaver mal anders, wie ein Votum des Konzils als Namen gewählt hatte: Die erste Bewegung erfolgte und sofort wurde noch die zweite Stufe der Sinnesshow gestartet. Diese war auf die Auswertungen der Reaktionen der Zielperson hin entwickelt und abgestimmt worden. Der Junge mochte fast alles, außer die Musik. Also ließ er diese langsam leiser werden, was dem Gesamteindruck wenig schadete.

 

Als Lohn für diesen fantasievollen Einsatz erntete er auch prompt einige erfolglos verkniffene Lacher von vorbeieilenden Passanten, die kurz innegehalten hatten; zu verweilen oder gar zu klatschen traute sich aber Keiner und glücklicherweise nahm Niemand Anstoß an der ungewöhnlichen Aktion. Ansonsten sorgte der Einsatz, der fabelhaften Technologie sei Dank, für erstaunlich wenig Aufsehen und vor allem für den gewollten Effekt bei dem eben noch todtraurigen Jungen.

 

Dieser hielt sofort erschrocken inne und schaute erst einmal nur verdutzt drein. Seine Aufmerksamkeit war nun absolut bei Xaver, vergessen aller Verdruss von zuvor; absorbiert von der Magie des Augenblicks, stand er einfach nur ungerührt da. Während er der Darbietung mit fast allen Sinnen folgen konnte, hob sich seine Stimmung sichtlich. Nun hörte ihm zuliebe sogar wie von Zauberhand die gruslige Musik langsam auf. Alles bezauberte ihn, verzauberte sein kindliches Gemüt. Gegen Ende der kleinen Show lachte er sogar herzlich und strahlte fast wieder so, wie noch vor der Landung in seinem Spiel und bei seinen Eltern, an die er nun nicht mehr dachte.

 

„Es freut mich, dass meine kleine Einlage dich erheitern konnte“, wandte sich Xaver, nach seiner letzten Drehung noch außer Atem und leicht schnaubend, an sein Publikum – den nun wieder fröhlichen und neugierig zu ihm aufschauenden Jungen.

 

„Das war einfach spitze! Wie hast du das gemacht – bist du ein Zauberer?“, war die Antwort mit der kindlich unweigerlichen, direkten Anschlussfrage.

 

„Danke und sehr gerne geschehen. Mein Name ist Xaver Satorius und nein – ich bin kein Zauberer, aber so etwas Ähnliches bin ich vielleicht schon“, stellte er sich kurz vor und erklärte dann: „Das eben waren bloß ein paar teure, technische Spielereien. Ein Wunder, dass die noch nicht eingerostet waren. Ich mache so was hier eher selten, musst du wissen.“ Ohne eine dieser Spielereien hätte er nicht einmal mit dem Kleinen reden können. Denn dieser sprach sicherlich kein Neo-Latein, was aber auch nicht nötig war. Er besaß mit Googol nämlich einen sehr potenten Simultanübersetzer und seit der Auswertung der sensorischen Protokolle wusste er mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass die Familie sich in Deutsch unterhalten hatte.

 

„Hallo. Ich bin der Mauritius van Beeger und eigentlich darf ich gar nicht mit dir sprechen. Soll nämlich nicht mit Unbekannten sprechen. Du warst aber so lustig und lieb, da mache ich eine klitzekleine Ausnahme. Aber bloß nichts der Mama sagen – pssst!“

 

„Wir sind doch schon zusammen in der Fähre gewesen. Also sind wir sogar nicht einmal wirklich Unbekannte. Ich saß nur ein paar Reihen hinter euch, aber in meiner Ordensrobe bin ich weit weniger auffällig, als jetzt gerade.“ Daran erinnert, wie exzentrisch bunt er noch immer dastand, deaktivierte er die Effekte. Sofort erlangte er seine alte Erscheinung zurück – mal abgesehen von den psychedelischen Verzerrungen, die den Übergang notwendig begleiteten.

 

Nun unterhielt sich ein unscheinbarer, erst auf den zweiten, genauen Blick hin eindrucksvoller Mann mit schwarzen, schulterlang und glatt herunterhängenden Haaren, deren Grauanteile unverkennbar waren, mit einem Halbwüchsigen, der blass und pausbäckig dastand, mit seinem roten Lockenkopf. In Zahlen standen dort ein 1,90m Riese und ein 1,20m Zwerg beisammen und sprachen trotzdem auf Augenhöhe, weil der erste sich hingekniet hatte. Im Märchen endend wurde der Riese innerlich von seinen Elfen Xaya und Matrina und den Kobolden Sokrates und Hoffmann mehr oder weniger frenetisch bejubelt und zur erfolgreichen Rettung des Kindes beglückwünscht.

 

Der Junge überlegte erst angestrengt, kam aber dann aber doch rasch zu einem Ergebnis: „Ich kann mich wirklich nicht an dich erinnern Herr Satorius. Aber ist ja nicht schlimm – die Ausnahme!“ Er zwinkerte Xaver kess zu und begann sich fragend umzusehen.

 

„Du fragst dich sicher, wo deine Eltern sind, oder?“, nahm Xaver erstaunlich feinfühlig den situativen Faden auf.

 

„Oh ja, da kamen vorhin so zwei dumme Kerle und haben sich aufgespielt. Dann haben sie Mama und Papa einfach mitgenommen und zu mir gesagt, ich soll hier warten und ruhig sein. Doof waren die, besonders der Kleine war richtig fies!“, schloss er und schnitt eine unflätige Grimasse.

 

„Geht es dir denn gesundheitlich soweit wieder gut genug, um deine Eltern besuchen gehen zu können, oder soll ich dir erst etwas Medizin machen – ihr wolltet doch gerade Medizin holen als ihr vorhin unterbrochen wurdet?“, erkundigte er sich daraufhin neugierig und mit sorgenvoller Miene bei Mauritius. Er hatte den Jungen auf Anhieb gemocht und war bis hierhin selbst von seiner Extraversion und dem ziemlich erfolgreichen Einstand im Sozialen überrascht – technische Unterstützung hin oder her, er war gut.

 

„Jetzt, wo ich mich wieder beruhigt habe – mir ist schon noch ein bisschen komisch im Bauch und Kopf-Aua hab ich auch noch ganzschön dolle. Aber gar nicht so schlimm, wie ich vorhin noch gedacht habe. Blöde Fähre, blöde Landung!“

 

„Warte kurz und vertraue mir. Ich habe immer eine Art Medizinschrank – oder besser noch eine Art Apotheker bei mir und von dem hol ich dir jetzt schnell deine Medizin“, bot Xaver freimütig an und erteilte zeitgleich Hoffmann den Auftrag, ein nebenwirkungsfreies Universalpräparat gegen leichte Übelkeit und Kopfschmerzen mit saurem Zitrone-Ingwer-Aroma herzustellen.

 

„Das wäre toll. So was kannst du auch noch? Sei ehrlich – du bist doch ein Magier oder sogar eine Art Superheld“, erstaunte sich der Junge als Xaver unter seinem Gewandt ein daumengroßes, intensiv gelbes Bonbon hervorholte und ihm auffordernd hinhielt. „Her damit – mhh“, schmatzte der Kleine munter vor sich hin und genoss seine Medizin sichtlich. „Lecker!“, wertete er ganz kurz, um schnell wieder weiterlutschen zu können.

 

Dass diese Medizin ein hochwirksames Erzeugnis erlesenster Hochtechnologie war, zeigte sich bereits wenig Momente später. Zu Mauritius wiedergewonnener Heiterkeit gesellte sich nun eine körperliche Spontangenesung, was bei Kindern seines Alters und vergleichbaren Temperaments leicht zu Überschwang frühen konnte und zu Xavers Leidwesen in den folgenden zehn Minuten auch führte. Anfangs wurde er nur etwas lauter und in seinen Fragen wortreicher, dann zunehmend unruhig und schließlich ausnehmend hibbelig, frech und richtig vorlaut.

 

Mit der vorgeschobenen Begründung, eine zweite Medizin wäre trotz allem doch noch nötig, sollte dieser unschöne Verlauf nun jedoch subtil gedämpft werden. Er tat zwar insgesamt Gutes, aber diese Zwangsmaßnahme gegenüber dem Bewusstsein des Jungen hielten einer ethischen Prüfung kaum stand; selbst konsequent folgeethisch bewertet, war sein Verhalten gegenüber Mauritius bestenfalls eine Gratwanderung. Er zögerte den anstehenden Gang zu den Eltern nicht nur deshalb heraus, weil er sich vor ihm und seinen Gefahren scheute, sondern weil der Junge vor seinen Augen zu einem eklatanten Sicherheitsrisiko mutiert war. Hätte er den kleinen Raufbold nicht in Zaum gehalten, so wäre der wohl schnurstracks zu den beiden Ordnungshütern gegangen; dort hätte er sich dann vermutlich theatralisch aufgebaut und seinem Unmut schonungslos Luft gemacht. Mit seinem quäkenden Stimmchen und in Worte, die seinem Alter alle Ehre gemacht hätten, wäre er für das Recht auf Eltern ungleich mutiger gewesen, als es Xaver sich gerade selbst zutraute. Wahrheit und Direktheit standen derzeit jedoch nicht überall hoch im Kurs. Ein, wie er nunmehr wusste, Fünfjähriger konnte den Ernst der Lage gründlich missverstehen. Besonders dann, wenn es ihm zu gut ging und er weiterhin derart sehnlich seine Eltern vermisste. So galt es abzuwägen, zwischen der Freiheit des Kindes und der Sicherheit aller Beteiligten inklusive eines leidenden Kindes.

 

Die Meinungslage im Gedankenkonzil im Vorfeld dieser Entscheidung war uneins gewesen, deshalb war dementsprechend hochkontrovers diskutiert worden. Letztlich hatte sich natürlich klar die Position von Xaver durchgesetzt und offen gestanden hatte er das komplexe Streitgespräch zwischen Xaya, Matrina, Nietzsche und Sokrates manchmal nicht so recht verstanden. Er zweifelte wenig an seiner pragmatischen Haltung und war anfänglich nur neugierig auf den Disput gewesen. Im wirklichen Leben hätte er wohl zusammen mit Googol und Hoffmann unbeteiligt dabeigestanden und hätte sich durch seine eigene Initiative selbst zum schweigenden Zuhörer degradiert; ab und zu wohlwollend genickt, dabei interessiert und wissend dreinschauend. Hier aber war er Gott; er klinkte sich also einfach aus und begann seinen pragmatischen Plan in die Tat umzusetzen. Diesem zufolge war der Junge nun abermals mit einer Medizin zu versorgen und sollte durch diese, ohne sein Wissen selbstverständlich, erst ruhiger, dann friedlich und schließlich richtiggehend lammfromm werden.

 

An diesem Punkt angelangt, konnte er über den nächsten Schritt nachdenken. Sofern die Dauer eines Verhörs in einem Verhältnis mit der Schwere des Verdachts oder gar Delikts stand, sah es langsam schlecht für Familie van Beeger aus. Denn mittlerweile waren Herr und Frau van Beeger, nach deren Vornamen hatte Xaver bisher zu fragen versäumt, volle 30 Minuten in ihr unfreiwilliges Gespräch verwickelt. Er hoffte, dass sie das noch waren, wusste es aber derzeit nicht gewiss.

 

„Sie halten das Alles also noch immer für ein riesiges Missverständnis; dann haben sie doch sicher keine Einwände dagegen, noch kurz mit auf die Wache zu kommen, um die Vorwürfe restlos zu zerstreuen?“, drohte der besonnene der beiden Wächter eine nächste Konsequenz an, da er wohl mit dem Verlauf des Gesprächs bis zu diesem Punkt nicht ganz zufrieden gewesen war.

 

„Dreckige Revoluzerbande, ihr gehört sicher zu Demos! Tut nicht so neunmalklug, ihr sitzt nämlich zu Recht derb in der Scheiße. Ihr beiden meint wohl, nur weil ihr ein bisschen gebildeter seid als die meisten und euch geschwollen ausdrücken könnt, wärt ihr was Besseres als Unsereins. Dabei sind nicht wir es, die dem Allgemeinwohl schaden; wir bewahren es sogar – stellt euch das mal vor! Und den ganzen Scheiß hier, nur für so ein paar bescheuerte, total verstiegene Ideale von Vorgestern?“, polterte der kleiner geratene, entschieden weniger besonnene Wächter unwirsch auf die Beiden los – wohl nicht zum ersten Mal. So wie er die Rolle des bösen Wächters ausfüllte, war der Genuss echt, den ihm das Schikanieren der beiden jungen Erwachsenen sichtlich bereitete.

 

Seine Opfer waren athletisch gebaut, wirkten jung und gesund. Sie waren in ihrem exzentrischen Auftreten durchaus attraktiv. Die Beiden waren Xaver bereits in der planetaren Fähre aufgefallen und dabei gleich sympathisch gewesen. Bis auf wenige, routinierte Gesten und Phrasen während Ein- und Ausstieg, waren sie einander nicht wirklich begegnet; dennoch waren das Paar zusammen mit ihrem quirligen Spross die einzigen Menschen an Bord der Fähre gewesen, denen Xaver mehr als nur gutmütige Ignoranz entgegengebracht hatte. Frau van Beeger war mittelgroß und in einen olivenfarbenen, militärisch wirkenden Parker gekleidet, unter dem recht provokant ein pinke Skintex-Strumpfhose ihren Ausgang über die reizvollen Beine nahm, bis sie in neontürkiese Highheels mündete; das seidenglatte, wasserstoffhelle Haar mit den aufgetupften Farbakzenten in Pink, Türkis und Olive trug sie zu drei losen Zöpfen gebunden, dabei halb unter einer ziemlich gewagten, türkisen Fellmütze verborgen. Sie wirkte im Angesicht der spürbaren Brisanz ihrer aktuellen Lage dennoch enorm selbstsicher und noch immer recht gefasst. Ihr fein geschnittenes Gesicht mit den hohen Wangenknochen, der kleinen spitzen Nase und den großen, grünen Mandelaugen eingebettet in ein Antlitz hellen, fast blassen Teints hatte etwas Bezauberndes an sich. Ihr Gesicht wurde scheinbar von innen beleuchtet und kaum durch düstere Emotionen getrübt.

 

Ihr mindestens einen Kopf größerer Partner war eintöniger, aber eben nicht weniger eigenwillig gekleidet; wie er, fast Schutz suchend, halb schräg hinter ihr stand, in seinen kniehohen schwarzen Militärstiefeln; der derben, weißen Jeans, gefolgt von einem pechschwarzen Kapuzenpulli, auf dem ein weißes, seltsam stilisiertes „A“ prangte. Über seinen unauffällig frisierten, schwarzen Haaren trug er einen umso auffälligeren Zylinder, in klassischem Schwarz gehalten mit dem passenden weißen Band. Arglistige Beobachter, die über einen Verdacht und die technischen Mittel zu dessen Erhärtung verfügt hätten, konnten darauf etwas lesen: Autonomie, Solidarität und Humanität – Demos. Abgerundet wurde seine Erscheinung dem Farbthema konsequent folgend von weißen Handschuhen und einer in Weiß verspiegelten Sonnenbrille. Er war keineswegs von Angst gezeichnet, wirkte im Gegensatz zu seiner Gefährtin aber weit weniger zufrieden mit Stand und Lage der Dinge. Intuitiv betrachtet zeigte er damit sogar die plausiblere Reaktion auf die ungewöhnliche Situation. Der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation bezichtigt zu werden, war nicht eben eine Bagatelle; und es dabei wirklich zu sein noch weniger. Ein Fakt, den die Polizisten noch nicht bewiesen hatten und der Xaver notwendig noch im Verborgenen lag.

 

Die zwei ungleich großen, beide jedoch auf ihre Art bulligen Wächter hatten Mauritius Eltern im Verhör ziemlich hart bearbeitet. So ertrugen sie wohl schon eine ganze Weile ein wechselnd kühles bis impulsives Kreuzverhör, während sich das Gespräch nun einem entscheidenden Wendepunkt zu nähern schien.

 

Xaver zögerte, trotz aller Unterstützung, die ihm zu Teil wurde. Er stand am Eingang des Sitzbereiches, hörte nichts und sah mittlerweile auch nichts mehr. Die optische Abschirmung des Sitzbereichs, in dem sich die vier Personen befinden mussten, war frei regelbar. In der Zwischenzeit war sie auf Volle Diskretion eingestellt worden und war damit undurchsichtig geworden, was Xaver aber, abgelenkt durch Mauritius, nicht mitbekommen hatte. Keine Wahrnehmung war mehr möglich, alles war nun denkbar, nichts sinnvoll prognostizierbar.

 

Ein unkalkulierbares Risiko wartete hinter dem Terminal, mit dem man Einlass erbitten konnte, wenn man das wollte. Sollte er nun direkt, buchstäblich noch planlos und damit ungewohnt spontan, in etwas Unbekanntes eingreifen? Nein – er musste in aller Schnelle eine Krisensitzung des Konzils einberufen, um ein erfolgversprechendes Szenario auf Basis der bekannten Informationen auszuarbeiten. Aber brachte das unter den gegeben Voraussetzungen überhaupt etwas. Stochastik war mächtig, aber auf Transparenz angewiesen. Und er sah hört und wusste eklatant wenig über die Sachlage. Aber ohne Risiko konnte er scheinbar auch keine neuen Informationen gewinnen.

 

Den Jungen hatte er zur allseitigen Sicherheit lieber doch nicht mitgenommen. Er war nun besänftigt genug, um guten Gewissens wieder alleine gelassen werden zu können; jedoch sicherlich nicht friedfertig genug um den Peinigern seiner geliebten Eltern ruhig und zurückhaltend gegenüberzutreten.

 

Er musst noch immer etwas riskieren, aber der entscheidende Hinweis kam wie so häufig vom streitlustigen, aber sehr produktiven Gespann SokratesNietzsche und basierte auf der Annahme, dass die Persönlichkeiten der beiden Wächter leicht beeindruckt werden konnten. Der entscheidende Trumpf in diesem Plan waren zwei zukünftige Gelegenheiten, derentwegen Xaver die notwendig gewordene Umsiedlung mit dem Ziel Zentraleuropa unternahm. Das musste als Rückhalt ausreichen, alles andere konnte er sowieso nur hinnehmen und musste es in jedem Fall möglichst schnell unterbinden. Eine Hypothese von Googol, auf Basis einer statistischen Auswertung breit angelegter Netzrecherchen zu Sittlichkeit und Humanität in den Sicherheitsapparaten in Frankfurt Rhein/Main, deren weitere Details teilweise sehr unappetitlich gewesen waren, kaum zu dem ernüchternden Ergebnis: „Die teilprivatisierten Polizeidienste und teilweise autonomen Milizverbände, durch welche die öffentliche Ordnung hier und im Einflussbereich der großen Sieben so gut es geht aufrecht erhalten wird, sind im Grunde noch illegitimer und korrupter als es ihre Auftraggeber schon sind. Humanitäre Normen und moralische Redlichkeit sind zu finden, ist reine Glückssache, aber durchschnittlich sehr unwahrscheinlich.“

 

Keine gute Prognose also leider für die Eltern des jungen Mauritius; deswegen wurde der sofortige Beistand nun tatsächlich zur moralischen Pflicht. Da durfte der ethische Rigorist Xaver Satorius nicht mit sich reden lassen, sonst wäre als das Gerede über Ethik nur bequeme Heuchelei und das neuere Bekenntnis zur Humanität eine hohle Phrase. Jedoch bedurfte es zur Umsetzung dieser klaren Position der Hilfe und Unterstützung einiger Module.

 

Die Tür zum Sitzbereich ging ohne Probleme auf, direkt und damit überraschend für beide Seiten. Xaver aber reagierte augmentatschnell:

 

„Moment mal bitte! Darf ich mich kurz einmischen? Vielleicht kann ich einige Unklarheiten beseitigen“, griff er gerade noch rechtzeitig verbal in die Situation ein, bevor der aktuelle Aggressionsausbruch des impulsiven Schlägertypen sich vielleicht hätte weiterentwickeln können.

 

Im Verlauf seiner vorhin für Xaver ungehört begonnenen Hasstriade hatte der Wächter sich mittlerweile nämlich derart in Rage geredet, dass er jederzeit die Kontrolle über sich restlos zu verlieren drohte. Sein Kollege wirkte trotz aller ihm eigenen Sachlichkeit und entgegen der Dominanz, die ihm sein höherer Rang einräumte, überfordert mit der rohen Emotion seines Partners. Er hätte wohl irgendwann bequem weggeschaut und so den Konflikt gelöst, vielleicht gerade eben. So sah man ihm die Erleichterung an, als er die angebotene Einmischung dankend zum Anlass nahm.

 

Von neuem Mut beseelt und klug vorausschauend, stand er dem Neuankömmling unverhofft und blitzschnell zur Seite: „Halt Kirchner! Lass die Kleinen bitte noch eine Weile in Ruhe – vor allem nicht hier. Mann, reis dich zusammen!“ Nach diesem gebellten Befehl fragte er an Xaver gewandt, ruhiger, aber keineswegs freundlich: „Wer sind sie denn, bitteschön? Sie haben hoffentlich Hilfreiches zum Sachverhalt beizutragen und stören unser Verhör nicht grundlos?“

 

„Macht doch alle mal halblang – boah, was’n Dreck! Diese Gören haben sich ihre Tracht Prügel redlich verdient. Die ganze verdammte Menschheit ist am Abkratzen und die haben nichts Besseres zu tun, als in ihrer vielen Freizeit Rebellen zu spielen. Seid froh, dass ihr hier so viele Schutzengel habt und wir nicht alleine unter sechs Augen sind. Wer kommt denn da zur Hilfe: Magister, Mönch oder Möchtegerndiplomat? Was willst du dich denn hier einmischen Alter, jeden Aktuell-Tag eine gute Tat, oder was?“, wurde nun auch Xaver standesgemäß begrüßt. Wer lässt sich schon freudigen Gemüts die Befriedigung archaischer Triebregungen versagen? Sicher kein Barbar mit Dienstbefugnissen; mögen diese auch noch so gering ausfallen. Aber Xaver ließ sich nicht beunruhigen. Dafür war technologische Kontrolle und Manipulation von Körper und Bewusstsein gut, in extremen Situationen ebenso wie im Alltag. Keineswegs absolut, aber in seiner Relativität gut genug blieb die Beherrschung der neuartigen Herausforderung durch das Konzil. Die Tür hatte sich geöffnet, die Schleier waren gelüftet, die Informationen waren verarbeitet – nun also.      

 

„Guten Aktuell-Tag zusammen – angenehm, die Bekanntschaft von zwei so eifrigen Wächtern zu machen. Ich bin Xaver Satorius. Tatsächlich Magister und nicht Mönch, noch gar Möchtegern, um das gleich zu Beginn aufzuklären. Danke für ihre Aufmerksamkeit und die Gelegenheit, mich in die Diskussion einzubringen. Ich wüsste zunächst gerne, was meinen geschätzten Reisegefährten zur Last gelegt wird. Über eine Verwicklung dieser beiden Personen in verbrecherische Aktivitäten wäre ich wirklich überrascht, entsetzt geradezu“, antwortete er erst einmal mit einer Gegenfrage, wandte sich an seine gänzlich uneingeweihten Schützlinge. Die standen in dem kleinen Raum links an der Wand, soweit weg von ihren rechter Hand stehenden Häschern wie nur möglich. Nachdem Xaver in den Raum getreten war, hatte er sich damit in die Mitte der beiden Gruppen gestellt. So konnte er den Wächtern kurz den Rücken zudrehen und den van-Beegers verschwörerisch zuzwinkern, bevor er auch sie begrüßte: „Hallo ihr beiden. Eurem Sohn geht es wieder gut. Macht euch wirklich keine Sorgen mehr, ich habe mich gewissenvoll um ihn gekümmert. Er wartet drüben wohlbehalten auf unsere Rückkehr.“ Ob diese schwache Finte funktionieren würde, war zu bezweifeln, aber ihren rhetorisch fast gefahrlosen Versuch war sie auf jeden Fall wert.

 

„Hi Xaver! Es ist sehr liebenswert von dir, so gewissenhaft nach unserem Jungen zu schauen. Wir …“, setzte die junge Mutter, blitzschnell in ihrer Rolle aufgegangen, freudestrahlend zu einer Reaktion auf Xavers Eröffnung an, wurde aber sogleich harsch vom aufbrausenden Kirchner angefahren und damit im Ansatz unterbrochen.

 

„Schnauze, Pack! Ihr hattet eure Gelegenheit und sie Magister, kommen sie zum Punkt – kein Geschwafel: Was wissen sie, was wir nicht wissen, aber ihrer Meinung nach wissen sollten?“, übernahm leider der unangenehmere Part in seiner rüden Manier die Gesprächsführung, bezeichnender Weise, ohne seinerseits eine Art der Vorstellung unternommen zu haben. Kirchner hatte ihn sein Vorgesetzter vorhin genannt, der sich nun zu seinem Einstieg ins Gespräch bequemte.

 

„Dem was Wachsoldat Kirchner gerade so unvergleichlich zum Ausdruck gebracht hat, stimme ich im Kern sogar zu. Ich bin übrigens Wachführer Hofmeister – auch angenehm. Aber wir werden zu laufenden Fällen kaum Jedermann Auskunft erteilen; also verdienen sie sich unser Vertrauen durch eine plausible Erklärung ihrer Anwesenheit und ein paar erhellende Hintergründe.“ Nachdem er damit zu Xavers Freude die Führung des Gesprächs wieder übernommen hatte, warf der Vorgesetzte seinem Untergebenen nun im Wechsel mahnende und seltsam flehende Blicke zu. Die weitere Eskalation war damit zunächst verhindert worden, aber nun galt es, rhetorisch vorsichtig und strategisch klug voranzugehen. Fast alle Module des Konzils waren hochaktiv, um Xaver bestmöglich zu unterstützen: augmental und physiologisch, kognitiv und kreativ gleichermaßen.

 

„Nun, wie gesagt, von Verwicklungen der Beiden in illegale Aktivitäten oder was auch immer hier so lange besprochen wurde, weiß ich rein Garnichts. Wir haben uns während unseres gemeinsamen Transitaufenthalts in Eluna zufällig kennengelernt und sind schnell ins Gespräch gekommen. In den nächsten Stunden haben wir uns angeregt unterhalten; was wir auch während des Fluges fortführen konnten. Ein erfreulicher Zufall, wie wir in der Unterhaltung schnell festgestellt hatten. Eigentlich bin ich kein besonders offener und gesprächiger Typ, aber die Wellenlänge stimmte bei uns wohl einfach von Anfang an. Jedenfalls habe ich dabei eine rechtschaffene und lautere, wenn auch nach außen hin unangepasste, junge Familie kennengelernt. An ihrer moralischen Integrität habe ich trotz der zugegeben kurzen Dauer unserer Bekanntschaft keinerlei Zweifel – mehr. Denn als Magister Universalis sind Menschen und deren rasche Erfassung meine professionelle Domäne. Wer ein Bewusstsein optimieren will, ist zu Beginn auf eine akribische Beschreibung und optimale Beurteilung des Trägers angewiesen, müssen sie wissen. Mit dieser noch immer großen und mächtigen Institution sind sie ja sicher grundsätzlich vertraut?“, begann der Fast-Magister mit gewagt dosierten Übertreibungen und gutmütigen Auslassungen. Er glaubte, damit einen guten Mittelweg zwischen nutzlosen Fakten und sophistischer Fiktion zu gehen, der sich zur Eröffnung seiner Verteidigung anbot. Dieser argumentativ vage und schwache Auftakt seiner Apologie würde zusammen mit der snobistischen Prahlerei das anschließende Kernstück der Rede ungleich stärker wirken lassen.

 

„Das ich nicht laut losschreie! Pah, Magister …“, setzte Kirchner zu einer scharfen Antwort auf die bloß rhetorisch gemeinte Frage von Xaver an, wurde jedoch herrisch von seinem direkten Vorgesetzten unterbrochen und gestenreich zur Ruhe gewiesen.

 

Dieser ging seinerseits erwartungsgemäß galant über die letzte Spitze von Xaver hinweg und ließ sich inhaltlich auf dessen Eröffnung ein: „Wir sollen also in einer Ermittlung, welche die innere Sicherheit tangiert, auf die unbestrittenen Kompetenzen eines Magister Universalis vertrauen – einfach mal so? Nach unserem bescheidenen Kenntnisstand haben wir hier wahrscheinlich zwei Mitglieder von Demos gestellt. Sicher sind sie mit dieser rapide wachsenden und als illegal und terroristisch geächteten Organisation grundsätzlich vertraut?“ Damit spielte er seinerseits den Ball im Spiel der anregenden Konversation mit einem Mindestmaß an neuer Information zurück, ohne die unter diesen Umständen kein konstruktives Gespräch möglich gewesen wäre. Immerhin wurde Xaver bisher als ebenbürtiger Gesprächspartner – von relevanter, weil vorgesetzter Seite jedenfalls – akzeptiert und respektiert. Die Schwere der eröffneten Hintergründe, mit denen die Festsetzung und das Verhör des Ehepaars van Beeger begründet worden waren, komplizierte die Lage jedoch unglücklich. Glücklicherweise waren Rechtsstaatlichkeit und Dienstbeflissenheit vor Ort keine besonders gefestigten Werte, deswegen entschloss sich Xaver unverzüglich zum Konter und kam damit schneller als anfangs geplant zum Kernstück seiner kommunikativen Strategie – so viel zum gemachten Vorsatz, rhetorisch sorgsam vorzugehen. Dennoch stimmte er Sokrates und Xayas psycho-rhetorischer Spontanberatung zu, Kirchner musste sowieso überrumpelt werden und Hofmeister durfte sich gar nicht erst in der Rolle des korrekten Wächters einnisten. Sonst wäre das entscheidende Finale von Xavers Argumentation in seiner Wirkung reduziert. Überdies konnten psychologische Komplikationen aufseiten Hofmeisters nicht ausgeschlossen werden, wenn es so weiter ging. Er war zu geschliffen, um ein sicher lesbarer Akteur und damit gewisser Faktor in der Kalkulation zu sein, wenn er sich einmal aus seiner bequemen Lethargie herauslaviert hatte.    

 

Während des Gesprächs wurden selbstverständlich permanent unzählige Daten über dessen Verlauf und das Verhalten aller Beteiligten erhoben und ausgewertet, um darauf aufbauend mögliche Szenarien für die Zukunft, diesbezügliche Optionen und Entscheidungspfade zu generieren. Das Gedankenkonzil war schon eine enorm wertvolle Unterstützung, wie es in Echtzeit die sich flüchtig entziehende Dynamik des Geschehens mit seinen magischen Algorithmen zu bannen vermochte; um diese sodann in nüchterne Statistiken gegossen, als schlichte Prozentwerte oder als Baumdiagrammen ausgedrückt, anzubieten. Je nach Präferenz als Visualisierung im optischen Bereich oder als spontane Bewusstseinsinformation, also auf mental niedrigschwelligem Weg, zugänglich. Was sehr abstrakt klingt, bedeutete ein bisschen konkreter, dass halbtransparente, im Vergleich zur vollen Aktivität minder farbenfroh kolorierte, Darstellungen und Informationen direkt in Xavers Bewusstseinskanälen verankert wurden. So konnte er in seinem Gesichtsfeld wahrnehmen, was er brauchte oder wusste es einfach. Die vielfältigen anderen Aspekte der Situation konnte er wahlweise in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit einer jeweils angepassten Anwahl an beteiligten Sinnen, also auf authentischere, vollere Weise erleben; und schließlich konnten die unerlässlichen Szenario-Übungen in Erfahrungsräumen synchron mit allen anderen Abläufen absolviert werden – zeitlich parallel und damit neben und während der eigentlichen Gesprächsführung ohne ernstlichen Aufmerksamkeitsverlust, der irgendwie auffällig oder gar einschränkend gewesen wäre. Alles geschah auf einmal, mit optimaler Verteilung der kognitiven Ressourcen.

 

Modellierte und simulierte Kognition, Emotion und Aktion waren Grundfunktionen des Gedankenkonzils und wurden sogar noch von den diversen Modulen integriert und erweitert, damit funktional ungeahnt potenziert. Da mit diesen Technologien Handlung und Denken weitgehend administrierbare Parameter geworden waren, hatte sich alltägliches Dasein für Menschen wie Xaver radikal verändert. Das zufällige Chaos, die spontane Freiheit und das unvermeidliche Allzumenschliche, welche ohne Augmentate, normal und natürlicherweise also, die Existenz zu weiten Teilen bestimmten, wurden so zu rationierten, notwendigen Gütern. Ohne sie war wenig Kreativität zu haben und vor allem die Menschlichkeit fundamental gefährdet; mit einem nicht optimal regulierten Überschuss hingegen waren Effizienz und Harmonie des Systems bedroht. Ganz so einfach ließ sich die Existenz des Menschen dann aber doch nicht erklären und anschließend fugenlos technisch beherrschen, wie unter anderen Exempeln auch Xavers Techno-Biografie eindrücklich belegte. Bevor jedoch die historische Situation als existenzielle Belastung hinzugekommen war, waren die damals vorhandenen Augmentate fast problemlos angenommen worden und hatten ohne Reibung tadellos in den Alltag eingefügt werden können. Die pathologischen Fehlentwicklungen, die sich später, vor allem in seinem letzten Lebensabschnitt eingestellt und immer mehr verschärft hatten, waren vielleicht eine Reaktion auf individuelle Faktoren. Oder waren sie auf das singuläre, zivilisatorische Trauma zurückzuführen; hingen wenigstens irgendwie mit diesem zusammen?

 

Aller technischen Kontrolle und Präzision zum Trotz, blieb also ein kleiner und entscheidender Rest Kontingenz in den Gleichungen erhalten, der aus den Tiefen der Person und von den Rändern deren Lebenswelt her die Existenz bereicherte und damit für Überraschungen aller Art gut blieb. Der metaphysische Albtraum, den frühere Generationen von Denkern poetisch als Laplaceschen Dämon umschrieben oder später nüchterner als Determinismus rationalisiert hatten, war für kleine und mittlere Systeme durchaus zu einer technischen realen, also physischen Möglichkeit geworden. Der Preis für diesen Grad maximaler technologischer Beherrschung des Bewusstseins fiel zum Glück jedoch derart hoch aus, dass nur Wenige in zu zahlen bereit waren und es für den Rest noch immer genügend rationale wie ideale Gründe gab, ihn nicht zu zahlen, um damit sich selbst und ihrer menschlichen Natur treu zu bleiben.

 

Ein Wimpernschlag später setzte Xaver – ein prächtiges Exempel des technisch optimierten Neumenschen – dazu an, auf das Drängen der beiden Sicherheitskräfte zu reagieren und würde dies mit nunmehr stochastisch kalkulierten 66,6023 Prozent Erfolgswahrscheinlichkeit dafür tun, dass sein Vorstoß letztlich erfolgreich sein würde. Als mäßig hoher Wert nicht unbedingt sicher, war die notwendige Intervention und anvisierte Bereinigung der Lage damit vielleicht ganz elegant auf einem diplomatischen Weg machbar; andere Weg blieben dem Fast-Magister auch nicht – wollte er sich nicht selbst ernsthaft in Gefahr bringen. Dies zu vermieden war als eine der prinzipiellen Direktiven der gesamten Arbeit des Konzils weiterhin vorrangig, stand somit fast außer Frage. Das letzte Wort hatte trotzdem immer noch das klassische Ich und Xaver glaubte fest an dessen Existenz. Dessen Ränder mögen durch die Technik porös geworden sein, aber es musste einen stabilen Kern geben; eine in sich veränderliche aber autonome Domäne seines ureigenen Willens. Weit mehr als ein eindimensionales Ich, war Bewusstsein synergetisch aus mindestens neun weiteren Aspekten zusammengesetzt – selbstverständlich, das wusste er seit seinem lange zurückliegenden Grundstudium. Je nach favorisierter Theorie des Bewusstseins, die derzeit in Mode war, gab es diesen stabilen Minimalkompromiss: die Bewusstseins-Dekade.

 

Die Passivität, welche die beiden anderen Figuren im Zuge dieser Eröffnung bis hierhin gezeigt hatten, zeugte entweder von Klugheit oder Unentschlossenheit. Wahrscheinlich war es Klugheit, sonst hätte Frau van Beeger eben nicht so geistesschnell auf sein Erscheinen reagiert. Sie und ihr Partner standen seither gespannt und neugierig auf ihrer Seite des Raumes, von wo aus sie schweigsam dem kommunikativen Schlagabtausch folgten. Bis auf die unwirsch abgewürgte Begrüßung und eine subtile Geste des Dankes hatten sie sich bisher zurückgehalten. Für den weiteren Verlauf stand damit jedenfalls eine gewisse Stabilität zu erwarten; sollten sie also gerne weiter die Ruhe bewahren, das reduzierte die Planungsvarianz.

 

„Oh – Demos! Das ist wirklich keine unerhebliche Kleinigkeit mehr, da stimmte ich ihnen natürlich sofort zu“, nahm er der Neuigkeit kompromissbereit und verständnisvoll ihre Schärfe. Innerlich aber war er wachsamer geworden. Wenn an dieser Verdächtigung etwas dran war, hatte er sich durch seine Hilfe mehr exponiert, als ihm recht war. Soweit es die Simultanübersetzung des laufenden Gesprächs zuließ, kümmerten sich Sokrates und Googol um eine genauere Analyse seiner vermeintlich unschuldigen Schützlinge. In ihrem Erscheinungsbild fanden die Suchroutinen der beiden Module bisher nichts Auffälliges; bei ihm jedoch waren sowohl ein großes „A“ auf seinem Oberteil Grund für weitere Recherchen und vor allem alarmierte ihn eine aus seltsam codierten, optisch zunächst unsichtbaren Zeichen bestehende Signatur auf dem weißen Band, das er um seinen Zylinder trug. Zwar war der Inhalt der Botschaft noch nicht entschlüsselt worden, aber ohne die modulierbare Wellenlänge seiner augmentierten Augen und die Sorgfalt seiner beiden Detektive, wäre er bereits an der ersten Hürde gescheitert. Der Rest war eine Frage der nächsten Minuten. Während ein Teil seines Geistes Zweifel wälzte, schritt ein anderer gerade zu seinem Meisterargument fort:

 

„Das wäre für mich sehr traurig und unerwartet zu hören. Als ich während unserer gemeinsamen Reise mit den beiden Verdächtigen des Längeren angeregt über meine berufliche Zukunft gesprochen habe, äußerten sie sich glaubhaft und vor allem wohlwollend über die damit unweigerlich verbundenen politischen Aspekte. Sie müssen wissen“, er machte eine bedeutungsvolle Pause, bevor er die rhetorische Rakete zündete, „zwei meiner zukünftigen Auftraggeber begleiten nämlich nicht unbedeutende Positionen innerhalb der kontinentalen Politik. Ich bin derzeit auf dem Weg, um Anstellungen sowohl bei General Tadeusz von Quarz als auch bei Direktorin Eleonora Räther anzutreten.“ Noch eine längere Pause folgte, um die Namen länger in der Luft schwingen und wirken zu lassen.

 

„Mehr darf ich allerdings, wie sie sicher leicht nachvollziehen können, aus Gründen der Diskretion und Geheimniswahrung nicht sagen. Diese beiden Namen sollten ihnen aus den höchsten Führungskreisen der großen Sieben bekannt sein. Wenn sie, wie ich unschwer zu erkennen meine, Mitarbeiter der Karlus-Korporation sind, sei es direkt oder indirekt, so können sie sich wohl besser als die meisten vorstellen, dass man über diese beiden prominenten Persönlichkeiten schnell ins Gespräch über die große Politik gerät. Stehen unsere Arbeitgeber nicht sogar in ausgewiesen gutem Verhältnis zueinander?“

 

Erste Reaktionen auf Xavers Aussage begannen sich bei allen Beteiligten abzuzeichnen. Dieser war einfach nur froh darüber, durch die Finte mit dem Datenschutz, um hinderliche Details herumgekommen zu sein. Hoffentlich würden demütige Verblüffung und vorauseilender Gehorsam weitere Nachfragen verhindern. Solche könnten womöglich die Lücken seine Aussagen sichtbar machen und ihn letztlich sogar in große Schwierigkeiten bringen. Bisher hatte er leichter Dings verschweigen können, dass er erst noch eine letzte, persönliche Runde im Auswahlverfahren um die erwähnte Anstellung zu bestehen hatte und dass er eigentlich letztlich lediglich die Kinder der Mächtigen schulen und optimieren würde. Aber das waren alles andere als offensichtliche Schwächen, denn die Academia unterhielt bekanntlich Verbindungen zu fast allen Spielern im großen, solaren Spiel und offerierte diesen ihre diverse Dienstleistungen. Xavers beinahe harmlose Nutzung des durchaus gefährlichen Wissens, das seine Organisation den Mächtigen nicht nur dieser Welt anbot, war in diesem Zusammenhang eher eine Ausnahme. Ein hinderliches Detail blieb dieser Fakt trotzdem.

 

Er blickte aufmerksam und neugierig, aber zugleich ruhig und unaufgeregt in die Runde und registrierte dabei zufrieden die Wirkung, die seine Eröffnung bewirkte. Er konnte seine aufkeimende Freude an diesem Spielzug genießen und wunderte sich während all dessen weiterhin über sich selbst: Früher hätte er nie so selbstbewusst und ausnehmend raffiniert eine derart brenzlige Situation meistern können, geschweige denn hätte er diese Hölle der Emotionen souverän beherrschen und sogar genießen können.    

 

Den Eltern von Mauritius sah man bereits verhaltene Erleichterung an. Die beiden Wachen verloren hingegen spürbar an Autorität, im Angesicht solch mächtiger Namen, mit denen Xaver sich zu schmücken vermochte. Was, wenn sich herausstellte, dass zwei mehr oder weniger einfache Wachen Freunden oder auch nur Bekannten einer Person, die im Dienst dieser erlesenen Kreise stand oder stehen würde, Unannehmlichkeiten bereitet hatten; sie am Ende sogar zu Unrecht der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung bezichtigt hatten. Dann riskierten diese einfachen Wachen schlicht Kopf und Kragen auf einmal. In despotischen Zeiten, in den steile Hierarchien klarer und unversöhnlicher hervortraten als sonst, war man gut beraten, diese zu kennen und sofern möglich für seine Ziele zu nutzen. Nicht immer waren Klugheit und Wissen um Historie oder besser ein Wissen um zeitgenössische Solarpolitik und die dazugehörigen sozialen Zustände so unmittelbar nutzbringend wie in dieser Situation. Xaver jedenfalls war einstweilen sehr zufrieden mit der Entwicklung, ohne dass dafür bestätigende Worte hätten gewechselt werden müssen. Sogar als Wachführer Hofmeister scheinbar entrüstet zu einer Erwiderung ansetzte, blieb sich Xaver seiner machtvollen Verhandlungsposition bewusst und las aus der Haltung und dem Gestus – ja, aus der ganzen Erscheinung des Wachführers –, dass er die Partie so gut wie gewonnen hatte, wenn er seine Karten mitsamt der schlagenden Trümpfe von Quarz und Räther sicher zu Ende spielen würde. Natürlich war diese Gewissheit kein Ergebnis harter Arbeit oder ausgeprägten Talents, sondern wurde abermals von Berechnungen und entsprechenden Folgerungen technischen Ursprungs gestützt. Die aktuelle Prognose der Erfolgswahrscheinlichkeit hatte sich zwischenzeitlich auf stattliche 86,4231 Prozent erhöht – gut so, die Wächter schienen von dem Glanz der puren Macht nachhaltig beeindruckt worden zu sein.

 

„Sie meinen also ihre flüchtige Bekanntschaft mit diesen beiden Subjekten und ihre angebliche Anstellung in höchsten Kreisen, sei Anlass genug, unseren Indizien zu misstrauen? Ziemlich gewagter Einsatz, wenn sie mich fragen,“ hob er an, nur um daraufhin näher zu kommen und leiser fortzufahren: „Wenn sich ihre Angaben aber tatsächlich als richtig erweisen würden, wären unsere Ambitionen in diesem Fall gewiss flexibel. Sie wissen ja sicher, dass eine Hand die andere wäscht; wenn sie also wirklich für General von Quarz arbeiten sollten, dann wären sie qua ratifiziertem Vertragswerk mein Verbündeter und als solcher ein durchaus annehmbarer Bürge für die zwei Beschuldigten.“ Dabei zeigte er auf das schrille Pärchen. Er stand nun direkt neben Xaver und fügte im Flüsterton nahe an seinem Ohr hinzu: „Unter uns gesagt, die Indizien sind sowieso nicht allzu stark. Das Ganze lag auch mehr im Ermessen Kirchners und wurde von mir nur geduldet, damit dieser beschäftigt ist. Wie gut der Versuch geklappt hat, haben sie ja hautnah miterlebt und gekonnt entschärft – Danke dafür! Der Typ ist kaum zu zähmen. Eine der vielen Bestien, die derzeit die Welten unsicher machen. In seiner Uniform ist er ein Wolf im Schafspelz, wie man früher wohl gesagt hätte. Aber auf die Wache müssen sie uns begleiten, auch wenn ich sie und vielleicht sogar ihre Freunde von dort im günstigen Fall gerne an einem Ziel ihrer Wahl absetze.“

 

Wieder lauter und zu allen Anwesenden gewandt, setzte er an, seine Entscheidung zu verkünden. Doch er kam ins Stocken, noch bevor er richtig Luft geholt hatte. Xaya schlug Alarm und die Ereignisse überstürzten sich plötzlich: 13,5769 Prozent wurden Wirklichkeit.

 

Kirchner stürmte los, verschaffte sich den Vorteil des Überraschungseffekts. Er hatte wohl irgendwie mitgehört und befürchtete wohl, um den krönenden Abschluss seiner Schikane betrogen zu werden. Die Geschwindigkeit, die er auf den vier Metern Strecke entwickelte, war unglaublich. Er war sicher augmentiert und die Panzerung tat ein Übriges, so gut konnte niemand trainiert sein. Bevor Hofmeister oder Xaver eingreifen konnten, hatte Kirchner sein Opfer schon beinahe erreicht:

 

„Scheiß Terroristenschwein, friss das hier!“, gefolgt von einem ziemlich derben Schlag mitten ins Gesicht, geführt mit aller augmentalen Kraft und der Wucht seiner hohen Geschwindigkeit. Der arme Kerl flog schneller in Richtung Wand als der Schwall Blut, den er in den wenigen Augenblicken bereits verloren hatte, zu Boden fallen konnte. Dort nach zwei Metern Flug angekommen, krachte er lautlos gegen die verdunkelte Abschirmung. Er rutschte hier, gebremst von Blut und Schlimmerem, unendlich langsam dem Boden zu. Doch Kirchner war schon wieder bei ihm und trat mit einem mächtigen Tritt von der Seite durch die Rippen in den Brustkorb. Zuerst ein vernehmliches Krachen und dann ein widerwärtiges Gurgeln bezeugten die katastrophalen Folgen. Der Angriff würde sicher tödlich enden, wenn nicht rasch jemand handelte.

 

Xaver konnte, durfte nichts tun, das verbot ihm der Kodex – lebenslang.

 

Durch den Ungehorsam und seine Grausamkeit entsetzt und deshalb überfordert, war auch Hofmeister wie erstarrt. Der Berserker hielt wie vom Blitz getroffen in seinem Wüten inne. Er hatte gerade seinen blutbeschmierten Stiefel aus der Flanke seines Opfers gezogen und wollte erneut zu einem Tritt ansetzten. Seine Visage war nun sogar noch hässlicher geworden, verzerrt von Zorn, Wut und purem Gewaltrausch. Hofmeister hatte diesen Exzess soeben beendet, indem er den Schinder einfach kurzerhand paralysiert hatte. Er hatte gerade noch rechtzeitig von den Privilegien seines höheren Rangs Gebrauch gemacht. Sonst hätte man vermutlich nach der nächsten in Richtung der Kopfregion angesetzten Attacke eine Witwe zu betrauern. Frau van Beeger war kreidebleich geworden und glich in ihrer ganzen Erscheinung einem Gespenst. Sie war zu keiner Regung fähig, hatte gerade den exzessiven Gewalttod ihres Mannes miterlebt und würde wohl für immer traumatisiert aus dieser Situation hervorgehen.

 

Die Intervention in aller letzter Sekunde war ganz ohne den Einsatz der Waffe gelungen, die in Hofmeisters Gürtelhalfter ruhte und durchaus auch dazu im Stande gewesen wäre. Er als Wachführer und Unteroffizier hatte gegenüber Untergebenen gewisse disziplinarischen Möglichkeiten. Um einen total ausgerasteten, augmental aufgerüsteten Wächtersoldaten technisch in seine Schranken zu weisen gab es die augmentale Zwangsorder. Dadurch konnte er in Notfällen mit Überrang-Zugriff auf Kirchners Cerebralschnittstelle Befehle direkt selbst ausführen lassen.

 

Nachdem der Aggressor buchstäblich außer Gefecht gesetzt worden war, technischer Zwang menschliche Aggression gebändigt hatte, kehrte schlagartig Stille ein – perfekt abgeschirmte, diskrete Stille. Nur das jämmerliche Röcheln und Glucksen des Schwerstverletzten war noch zu hören.

 

Jene Geräusche des Grauen schienen wieder zu seiner Frau durchzudringen, sodass sie zu neuem Leben erwachte. Schon stürmte sie die wenigen Meter zu ihrem Mann. Sie sank neben ihm zu Boden, umarmte seinen Oberkörper und zog ihn halb auf sich, um ihn dann ganz fest zu umschlingen. Dass sie sich dabei mit Blut, Hautfetzen und rohem Fleisch besudelte, schien sie genau so wenig zu kümmern, wie die Prinzipien der Ersten Hilfe und die Schmerzen, die sie zusätzlich verursachte.

 

Der aggressive Gewaltausbruch des gefechtsaugmentierten Wächters hatte ernstliche innere Verletzungen zur Folge gehabt, was angesichts von unfairen Vorteilen wie Muskelverstärkung, Panzerung und Nahkampferfahrung kaum überraschte. Für sie musste die Lage hoffnungslos und der Verlust endgültig erschienen sein.

 

Hoffmeister war aber nicht so untätig gewesen, wie Xaver, der nur dastand und innerlich mit sich rang. Er hatte die logischen Schlüsse gezogen. Der Raum verschwand auf einmal. Erst erloschen die dunklen Abschirmfelder, dann verschwand die Tür im Boden. Die Sitzecke war wieder öffentlich geworden. Viel entscheidender als diese Überraschung, war deren Grund: die herannahende mobile Medizinalstation. Dank enormer Fortschritte in Medizin, Robotik und Informatik würde die Behandlung der schwersten Verletzungen, die eine zertrümmerte Flanke und ein ebensolches Gesicht bedeuteten, nur eine Frage von gut 15 Minuten Notfalloperation direkt vor Ort sein. Danach würde der Patient geheilt sein und lediglich noch einige Aktuell-Tage Schonung bei normaler Alltagsbelastung hinter sich zu bringen haben. Selbst die ästhetischen Entstellungen konnten kosmetisch gut kaschiert werden, bis sie endgültig abgeheilt sein würden. Ob die Möglichkeit dieses glimpflichen Ausgangs Kirchner bewusst gewesen war, als dieser losgestürmt war und wie ein Wilder angegriffen hatte, mag angezweifelt werden. Frau van Beeger jedenfalls hatte mit dem Leben ihres Mannes abgeschlossen. So erlebte sie nach der Hölle nun den Himmel, als sie zaghaft realisierte, dass ihr Mann nicht tot war, sondern im Inneren dieses kubischen, mattweisen Apparates dort drüben zurück ins Leben gebracht wurde.

 

Als er die Versorgung des schwerstverletzten Opfers koordiniert hatte, wies Hofmeister den weiterhin mit Lähmungen gestraften Kollegen förmlich zurecht und beließ es aus Disziplinargründen bei der Paralyse der oberen Gliedmaßen, mitsamt der Sprachmuskulatur. Damit gleichsam Richter und Henker, tat er sich selbst und allen anderen einen großen Gefallen. Xaver ging, während er die Situation bei Hofmeister in guten Händen wähnte, den kurzen Weg zurück und holte, sehr zu dessen offenkundiger Freude, den kleinen Mauritius ab. Hofmeister hatte zuvor auf seine Bitte hin, gehen zu dürfen, nur stumm und wohlwollend genickt.

 

„Hallo, da bist du ja wieder – endlich! Gehen wir jetzt zusammen zu Mama und Papa, Zauberer Xaver Satorius?“ fragte das Energiebündel sofort frei heraus als Begrüßung; dabei war Xaver wahrlich nicht sehr lange weg gewesen. Es sprach aber überhaupt nichts dagegen, der kindlichen Ungeduld nachzugeben.

 

Mauritus Mutter – Eris, wie er von dem roten Lockenkopf gerade auf dem kurzen Rückweg erfahren hatte – hatte in ihrem Schock und der neuerwachten, akuten Sorge um den lebensgefährlich verletzten Partner noch keine Zeit gehabt, nach ihrem Sohn zu sehen. Nun freute sie sich deshalb um so mehr, als dieser in Xavers Begleitung unerwartet die Szene betrat. Die Freude der Ehefrau über die unerwartete Rettung ihres Mannes wurde nun noch durch die Erleichterung der besorgten Mutter gesteigert. Beide rannten sie dem anderen entgegen.

 

Ihr wunderschönes, elfenhaftes Gesicht, verziert durch ein glockenhell klingendes, einfach bezauberndes Lachen, zog Xaver in seinen Bann. So ließ er sich einen unendlichen Augenblick des Glücks und der Liebe lang in das Antlitz von Eris van Beeger versinken. Es war geborgtes, fremdes Glück, die Liebe galt nicht ihm, trotzdem, er hatte sie in dieser Form überhaupt erst mit ermöglicht. Anteilnahme dieser Sorte war eine seltene Erfahrung für den emotionalen Einzelgänger, aber sie fühlte sich gar nicht so übel an; ein Ereignis das Matrina mehrfach hervorhob und dessen Bedeutsamkeit sie wortreich und schmeichlerisch betonte. Es fühlte sich wirklich echter und besser an als jede Hyperrealität, so perfekt sie auch sein mochte.

 

Nachdem die pure Freude sich in einer endlosen Folge zeitloser Augenblicke erschöpft hatte, kehrte die sogenannte Normalität zurück und damit griffen alle wieder zu ihren Masken: Er selbst, der augmentat-starrende Gelehrte, zufällig und unverhofft zum Retter avanciert; sie, die schrille und womöglich rebellische, atemberaubend schöne, junge Mutter; er, der ungeduldige und unstete, aber insgesamt integere und verträgliche Wächter; es, das überglückliche, emotional verzogene, dennoch im Grunde sympathische Kind – es trägt übrigens, wie nicht anders zu erwarten, die kleinste Maske – und schließlich noch die beiden Archetypen: Das geschundene Opfer, das gerade von seiner Familie sehnlich erwartet, in einer mobilen Operationseinheit unter Temporalnarkose stand und in wundersamer Eile geheilt wurde, und letztlich noch der sadistische Peiniger, der einer Groteske gleich, stumm und sichtlich gematert am Rand der Szenerie stand, nicht konnte, was er wollte und zudem einer ernsten Strafe entgegensah – so standen sie da und wurden von nur wenigen verstohlenen Blicken gestreift. Die Passanten taten alles, um nicht aufzufallen, sei es im Guten wie im Schlechten. Man scheute sich davor, auch nur in den Blick der Mächtigen zu geraten, zu dieser Zeit in dieser Gegend des Sonnensystems.

 

„Was ich vorhin sagen wollte, bevor Kirchner ausgetickt ist und mit seinem Übergriff den kleinen Rest an Glaubwürdigkeit verspielt hat, den ich ihm noch zugebilligt hatte, spielt nun keine Rolle mehr. Ich muss mich im Name der Karlus-Korporation vielfach bei ihnen und vor allem ihrem Gatten entschuldigen. Mein Kollege wird in jedem Fall disziplinarische Maßnahmen zu tragen haben. Es mögen düstere Zeiten sein, aber zumindest grundsätzliche Grenzen von Sittlichkeit und Anstand kennen wir noch, hier im alten Deutschland. Ich werde mich persönlich für eine Ausschüttung von Schmerzensgeld einsetzen, kann aber in dieser Hinsicht nichts versprechen. Was die Behandlung und die Folgekosten der Verletzung angeht, garantiere ich ihnen weiterhin Kostenfreiheit in allen unseren Einrichtungen – und glauben sie mir, das sind fast alle guten Klinken hier vor Ort.“ Eine glaubhafte Entschuldigung, mit der sich Hofmeister, etwas zu durchdacht, um noch gut platziert und einfühlsam zu sein, an die Versammelten wandt; dem Ton nach untertänig und sich der Offensichtlichkeit der groben polizeilichen Verfehlung bewusst. Er würde nach den jüngsten Vorfällen selbstverständlich auf weitere Ermittlungen in diesem Fall verzichten. Überdies erbot er sich nun uneingeschränkt als Fahrer für die überraschend zusammengewürfelten Weggefährten.

 

Wer hätte anfangs gewagt, diesen Verlauf der Ereignisse zu erzählen: 66,6023 Prozent Erfolgswahrscheinlichkeit hatten sich unschöner und schöner, schlecht und besser realisiert, als sie zunächst in ihrer Nüchternheit hatten erwarten lassen. Rückblickend war wahrscheinlich einzig der Ausraster des ungehobelten Barbaren der Faktor gewesen, zum Leidwesen von Edgar van Beeger, durch dessen Ausbleiben Xavers Blatt, seiner Trümpfe zum Trotz, wie ein Kartenhaus in sich hätte zusammenstürzen können – früher oder spätestens auf der Wache.

 

Nun nach den beruhigenden Zugeständnissen durch Hofmeister, gab es auch endlich die Gelegenheit, sich einander vorzustellen. Es war Zeit sich besser abzusprechen, selbstverständlich unter Wahrung der fingierten Rollen, also hinter vorgehaltener Hand und im Flüsterton.

 

Eris hatte sich zuerst erfrischend herzlich, offen und ehrlich, aber nicht distanzlos bei Xaver und sogar Hoffmeister bedankt. Im Zuge der kurzen Umarmung, die Xaver sehr genossen hatte, hatte sie ihm die nötigsten Informationen zugeraunt. Kurz darauf war vor wenigen Atemzügen dann auch ihr Partner Edgar wohlbehalten aus der mobilen Medizinalstation gestiegen. Er hatte damit von der Schwelle zum Tod zurück ins Leben gefunden. Wenn man sich seines jämmerlichen Anblicks von vorhin entsann, mit schmerzverzehrtem Gesicht, schreiend und blutend, grenzte diese spontane Heilung beinahe an ein Wunder. Er hatte etliche Rippenbrüche erlitten; Läsionen von Milz, Nieren und Lunge davon getragen sowie schwere bis leichte Traumata und Prellungen aller inneren Organe zu beklagen; einschließlich eines gebrochenen Kiefers mitsamt einem schweren Schädelhirntrauma. Schließlich war er letztlich nur Dank einer ersten Kontrolltechnologie vor noch Schlimmerem – dem Tod vermutlich – bewahrt worden und war nun von einer zweiten Technologie, in Form eines medizinischen Artefakts kuriert worden. Es fiel Nietzsche und damit Xaver dennoch nicht schwer, hier die Schattenseiten der Technologien zu reflektieren.

 

Nach seinem Ausstieg äußerlich hin fast vollkommen wiederhergestellt, eilte Edgar van Beeger freudestrahlend zu seinen Lieben und feierte seine Wiedergeburt entsprechend frenetisch. Danach wandte er sich zu Xaver um, der still und zurückhaltend dem familiären Glück seinen Raum gegeben hatte, indem er auf halber Strecke zu Hofmeister abgewartet hatte.

 

Er und seine Familie bestanden zum Dank für Xavers Hilfe darauf, ihn wenigstens zu einem gemeinsamen Essen einzuladen. Mauritius liebte seinen Zauber sowieso und so war die anschließende Fahrt in lebendigeren Bezirke von Frankfurt Rhein/Main schnell beschlossen.

 

Dafür galt es nun als erstes aus dem Zentralknoten herauszufinden, wofür sie sich geschlossen auf den Weg in die subterranen Tiefen machen mussten. Dort, ungefähr drei Kilometer unter der Erde, so erklärte Hofmeister auf dem Weg, würde sein und Kirchners Fahrzeug auf sie warten. Gegen den Weg und die kurzweilige Möglichkeit, Eris genauer kennenzulernen, hatte Xaver wenig einzuwenden – ganz im Gegenteil; Kind und Ehemann zum Trotz und ohne den Glauben, seine verstiegene Fantasie je verwirklichen zu können, überhaupt wirklich zu wollen. Sowohl stand er sich, als auch sie ihm dabei im Wege. Er mochte Mauritius viel zu sehr und begann langsam, Edgar wertzuschätzen, außerdem war er Frauen gegenüber immer ziemlich abgeneigt gewesen – früher, bevor er schrittweise augmentiert worden war. Ein nicht zu unterschätzender Nebeneffekt, der sich im Laufe seines Exils auf dem Mond eingestellt hatte. Vor allem aber hatte Eris noch ein Wörtchen mitzureden, von Edgar mal großzügig abgesehen. Sie war zwar zutiefst dankbar und öffnete sich, alleine wegen ihrer extrovertierten Art, anderen gegenüber relativ schnell, mehr aber auch nicht.

 

So tat ein augmentierter Neu-Mensch, der wider seiner Natur und hauptsächlich aus existenzieller Notwendigkeit heimkehrte Richtiges im Falschen: Im Herzen Zorns und auf dem größten Schlachtfeld, das die menschliche Geschichte je hervorgebracht hatte; im Vakuum der Humanität hatten er und die Segnungen der Hochtechnologie für eine hoffnungsvollen und schönen Moment an diesem Saturntag gesorgt. Er war endlich zurückgekehrt auf die Erde, zehn Solar-Jahre nachdem der Fortbestand der solaren Menschheit vor gut 27 alten Jahren aufs Äußerste gefährdet worden war, aufgrund einer Katastrophe, deren unmittelbaren Schäden noch nicht annähernd beseitigt und deren mittelbare Konsequenzen, geschweige denn langfristige Folgen, kaum vorstellbar waren – dem historisch unvergleichlichen Einschnitt, der so prosaisch als solarer Kollaps Eingang in die Annalen der Menschheit gefunden hatte.

 

Dieser düstere Hintergrund spielte aber seit der Landung auf der Erde für Xaver Satorius und seine kuriosen Bewusstseinsgefährten kaum noch eine Rolle; für den kleinen Mauritius, dessen Eltern Edgar und Eris und die beiden Wächter ebenso wenig. Denn es gab Wichtigeres, wie Matrina so geschwungen und sachlich zugleich formulierte: „Abstrakt gesprochen geht es um das gute Leben, was konkret bezogen bedeutet, die Leiden und Freuden der Wirklichkeit in eine gute Balance zu bringen, wobei couragierte und inspirierte Tätigkeit, gute Arbeit also, privilegiertes Medium sein sollte.“

 

Alle litten sie unbewusst oder bewusst trotzdem auf ihre je eigene Art an den vielfältigen Folgen des epochal-traumatischen Ereignisses, das einfach nicht verdrängt werden kann. Am folgenreichsten waren wohl Menschen wie der brutale Wachsoldat Kirchner betroffen oder auch die anonymen Dritten, die ihre Hilfe unterlassen hatten, oder wie Hofmeister davor standen, wieder einmal wegzusehen. Sie alle zusammen aber, das muss hier wirklich betont werden, zählten mit ihrem alltäglichen, grauen Leid dennoch zu einer auserwählten Elite der Menschheit. Ob Organiker oder Neu-Mensch, sie alle besaßen vom Bruchteil des zivilisatorischen Erbes einen ungebührlich großen Anteil. Sie gehörten damit zu den wenigen, privilegierten Menschen, welche – der Fast-Magister Xaver Satorius exerziert es biografisch und zugleich pathologisch – die Augen nur fest genug verschließen mussten, um sich fast vorstellen zu können, alles wäre oder würde wenigstens bald wieder gut.

 

Sie standen damit in ihrer einigermaßen geordneten, leidlich funktionierenden Existenz im beinahe inhumanen Kontrast zu der tatsächlichen Lebenswirklichkeit der großen Masse an Überlebenden: Auf der Erde, den vielen Monden, Planeten, Planetoiden und Asteroiden des Sonnensystems, sogar weit unter den Oberflächen der Landmassen und in den tiefen der Ozeane, weit oben in den vielen Raumschiffen, Orbitalstationen und künstlichen Habitaten, die sich die Menschheit an den unmöglichsten Orten geschaffen hatte; überall dort litten derzeit Abermilliarden von Menschen an existenziellem, rotem Leid. Dieses Leid forderte wenigstens schmerzlichen Blutzoll und kostete häufig das nackte Überleben. Eine unhaltbare Kluft zwischen technologisch-märchenhaftem Luxus auf der einen Seite und erbärmlichen, menschenunwürdigen Zuständen auf der anderen Seite, geprägt von Elend, Leid und Unfreiheit – eine historisch unhaltbare Asymmetrie.

 

Eine ambivalent schimmernde Seifenblase war erstmals erschüttert worden und fast geplatzt. Ihr Schein von politischer und technischer Stabilität hatte die ersten beiden Etappen der Reise geprägt und erleichtert. Allerdings handelte es sich dabei um ein höchst fragiles Gebilde, das zunächst glanzvoll in seinen bunten Regenbogenfarben blendete, im Nu aber bereits wirklich zu zerplatzen drohte. Ein impulsiver, technologisch überzüchteter Wächtersoldat, ohne nötige Selbstbeherrschung und bar humanen Anstands, reichte beinahe aus.

 

Das war eine Überraschung gewesen, wenn auch eine spontan riskierte. Ein geplantes Risiko wartete noch auf seinem Weg. Durch ein knapp kalkuliertes Budget hatte sich für den Reisenden eine problematische Situation ergeben. War man nicht Teil eines der unterschiedlichen Kollektive, die es derzeit im Sonnensystem gab, so traf man nicht immer und überall auf Gastfreundschaft, Hilfsbereitschaft und Selbstlosigkeit. Von Geld als universellem Tauschwert konnte kaum noch die Rede sein, seit dem Zusammenbruch der meisten planetaren und nahezu aller solaren Strukturen und Institutionen. Bisher hatte Xaver auf seiner Reise in exakt sieben unterschiedlichen Währungen gezahlt. Vom digitalen Kredit bis zur handfesten Goldmünze erstreckten sich dabei die ontologischen Aussprägungen des Geldes.

 

Die Zustände in den vielen Lebenszonen hier auf der Erde, den anderen Planeten und Monden sowie den anderen Refugien der Menschheit, waren sehr unterschiedlich, variabel bis in die Extreme hinein. Diese kulturelle Vielfalt hoben Googol und Sokrates ständig hervor. Sie war ihr penetrantestes Diskussionsthema:

 

„Ausdifferenzierung der historischen, zivilistarotischen und existenziellen Zustände hatte sich eingestellt. Vom postapokalyptischen Überlebenskampf, über die diversen guten wie schlechten Formen von Politik und Nichtpolitik hin zu hoch entwickelten, sozialen Utopien und Dystopien war alles dabei“, so lautet eine letzte Version dieser Faszination.

 

In diesem Moment wanderte sein Blick das erste mal bewusst durch den düster-grauen, technikdurchzogenen und dadurch irgendwie schaurig-schönen Himmel. Soweit das über die medial gefilterten Panoramaschirme auf dem Weg in die Tiefe hinab zu den Schwerefeldern eben möglich war, holte er die verpassten Reiseimpressionen nach. Ein verstörrender Anblick, der einen unter sich begrub, wie er und fast alle Module außer Nietzsche und Hoffmann befanden. Letzter enthielt sich, da er sich in Hinblick auf Emotionales und Ästhetisches für inkompetent hielt, wie er in gewohnt wenigen Worten zögerlich als Begründung vor sich hernuschelte. Eben der Hoffmann, des Kompetenz im Mixen pharmazeutisch-psychedelischer Cocktails verdankte Xaver seine rasche Erholung, direkt nach dem Flug und ein Gross seines bravourösen Istzustands. So ging es ihm nunmehr in fast jeder physischen und psychischen Hinsicht wieder gut und sogar noch mehr als das. Seit der therapeutisch induzierten Applikation kurz nach der Landung sorgten die diversen Mixturen für die wirksame Erholung des gesamten Körpers, allem voran durch das restlose Verschwinden aller Psychosomatiken und physischen Folgen des auszerrenden Fluges. Nach dem Ende der sozialen Bewährungsprobe entfaltete nun eine dritte Rezeptur aus Hoffmanns Repertoire ihre Wirkung. Anfangs hatte sie sich nur leicht, mittlerweile aber merklich berauschend geäußert. Die Droge spendete mild-manische Euphorie; entspannte Körper und Geist gleichermaßen tief und restlos; stimulierte und ermunterte derart, dass keine Anstrengung zu groß und keine Herausforderung zur schwer erschienen und regte nicht zuletzt Kreativität und Fantasie zu unbeschreiblichen Höhenflügen an – dies alles ganz ohne Nebenwirkungen, von den unvermeidlichen alltäglichen Abhängigkeiten mal abgesehen. Diese technisch sanktionierte Sucht ohne physische Konsequenz oder moralischer Reue, aber mit modularem Korrektiv namens Matrina genoss er rundum. Lucy‘s Soma nannte Hoffmann diese Wirkstoffkombination, welche Xaver nicht mehr missen wollte, die aber als Suchtobjekt nicht mit den eskapistischen Ausflügen in Wissensnetze und Erfahrungswelten zu vergleichen war. Er musste nämlich in seinem Leib und damit in der wirklichen Welt präsent sein, um die Vorzüge von Hoffmanns Alchemie empfinden zu können: direkte Konkurrenz. Tiefenimmersion durch das Gedankenkonzil oder leiblicher Genuss, es gab keine Synergien zwischen beidem, nur den Wechsel.  

 

Neugierde überspülte gerade Xavers Bewusstsein, sie trieb über die Gegenwart in die Zukunft: Wer waren wohl diese seltsamen van-Beegers wirklich, die sich gerade mit Hofmeister unterhielten, was er für eine gewagte Strategie erachtete. Er kannte nun den Spruch von Edgars Zylinder. Er wartete geduldig: Sobald sie alleine sein würden, stünde ein klärendes Gespräch an.

 

Hier in Zentraleuropa, nur noch wenige 100 Kilometer von seinem Ziel entfernt, standen noch spannendere Etappen an. Der eingeschlagene Weg führte ihn als nächstes hinunter in subplanetaren Tiefen, dann ins Herz der Stadt und daraufhin weiter nach Nordwesten an den Rand des Einflussbereichs der KK – wie die fast staatsähnliche Neo-Genossenschaft Karlus-Korporation meist abgekürzt wurde. Er würde die wenigen Todeszonen, die er auf der Route nicht einfach überfliegen konnte, gut zu überstehen zu haben, denn die dort hausenden Schrecken sollte niemand am eigenen Leib erfahren müssen. Hätte er innerhalb der zivilsatorischen Hierarchie ganz oben gestanden, wäre vielleicht ein direkter Gleiterflug von hier zum Ziel finanzierbar gewesen. Da er aber mit seinen geringen monetären Mitteln haushalten musste, blieben ihm nur unsichere, aber dafür sehr viel günstigere Fortbewegungsarten. Mit einer Techno-Karawane aus einer der großen Sieben Metropolregionen in die Peripherie einer zweiten Megacity.

 

Wann auch immer der Abend in einem x-beliebigen Hotel enden würde, die nächste Zukunft war fixiert. Am nächsten Morgen musste er weiterreisen, an den Rand der hiesigen Lebenszonen und damit ans Ende der relativen, zivilisatorischen Sicherheit. Die Route führte den Rhein hinunter. Sein Ziel war eine Region, die früher mal Nordrhein-Westfalen genannt worden war, als es die Bundesrepublik Deutschland noch gegeben hatte. Das bedeutete, er musste durch neue und alte Wildnis reisen, musste dabei ausgedehnte urbane und teilweise sogar eine der wenigen natürlichen Todeszone überwinden. Letztere lag als düsterromatische Waldzone im Süden der Reiseroute und Erstere würden als trostlose Architekturwüsten das atmosphärische Hauptthema der Reise ausmachen. Beiden gemeinsam war die dort herrschende, ständige Lebensgefahr, auch wenn eine Techno-Karawane von schwer bewaffneten Fahrzeugen und den unvermeidlichen Militärs begleitet wurde – zumeist ungehobelte Söldner. Mitsamt seiner ausgedehnten Lebenszonen lag das Ziel der Reise im Nordenwesten. Dorthin zog es den angehenden Quereinsteiger. Beinahe befand er sich auf einer Heimreise in seine eigene Vergangenheit. Wenige dreistellige Kilometer Differenz trennten ihn von seiner eigenen Geburtsregion auf der Erde. Diese lag im Nordosten von Frankfurt Rhein/Main und war damit im solaren Maßstab nur eine Winzigkeit entfernt.

 

Vom galaktischen oder gar kosmischen Maßstab brauchte man derzeit nicht sprechen. Die Galaxis oder gar der Kosmos lagen jenseits der Grenzen des Machbaren und Vorstellbaren. Die Milchstraße blieb trotz allem technischen Fortschritt ferner und nach dem historischen Rückschritt unerreichbarer Horizont für die solare Menschheit. Die Weiten des Weltraums reduzierten sich auf die Grenzen des Sonnensystems. Die Menschheit hatte sich erst im Aufbruch in die galaktische Nachbarschaft befunden, als alles kollabiert war. Seither hatte die Vision eines galaktischen Lebensraums an Anziehungskraft verloren. Nichts mehr war zu hören von extrasolraren Kolonien, ausgeträumt war der Traum von Erforschung und Expansion.

 

Hier vor Ort, in der existenziellen Nähe der Heimat waren die entscheidenden Herausforderungen zu meistern. Erst danach würde sich der Blick langsam wieder in die Fern ausrichten können. Ob Xaver, Eris und Edgar, Mauritius oder die beiden Wächter Hofmeister und Kirchner diesen Zeitpunkt des Wiederaufbruchs noch erleben würden, war eine offene Frage. So offen und unbestimmt wie alles Zukünftige, hingen die Erwartungen der Menschen von vielem ab. Je nach Charakter und Situation waren sie voll optimistischer Hoffnung; versunken in pessimistischer Verzweiflung; getrieben durch aggressive Projektion oder geblendet von purer Ignoranz – wahrscheinlich aber irgendwo zwischen diesen Worten.

 

Die entscheidenden Schlachten um die Zukunft der solaren Menschheit fielen wie zu allen Zeiten auf dem wichtigsten aller Kriegsschauplätze: im Bewusstsein und in den Herzen der einzelnen Menschen. Einzig davon, wie diese sich jeweils entscheiden würde, wurde der Lauf der Dinge bestimmt. Im Grunde würde es letztlich nur sekundär auf ihre technischen Hilfsmittel ankommen, primär dafür auf sie selbst. Ihre Prinzipien, ihre Haltung, ihre Utopien, ihre Ängste, ihre Erfahrungen, ihre Entscheidungen würden die Zukunft bestimmen und natürlich ein unvermeidlicher Rest an allgegenwärtigem Zufall, mit unbekannter Qualität und Quantität.

Widerruf oder 2. Auflage?

Meine letzte Nachricht hatte es bereits angedeutet: Ich habe meinem literarisch-versuchenden Kollegen eine harte Kritik anlässlich seines ersten Textes zuteil werden lassen. Anfangs in der Rolle als unkritischer Herausgeber noch beworben, habe ich nunmehr diese Rolle gegenüber dem Text abgelegt und bin zum Hybrid aus kritischem Lektor und gemeinem Rezensenten geworden.

Als solcher darf ich, mehr noch, muss ich harte Worte finden, und sofern sich irgendwo in ihnen ein konstruktiver Keim verbirgt, umso besser. Fazit: Der Text war nicht nur langatmig und kompliziert, sondern richtiggehend leserunfreundlich.

Die ausführliche Version dieser Kurzfassung bekam mein textender Freund in langen Gesprächen zu hören. Die Idee aber fand und finde ich gut, nur die Umsetzung ließ zu wünschen übrig. Kurzum, als Rohfassung war der Text zu gebrauchen. Meine Empfehlung war ganz simpel. Ich riet ihm zum Überarbeiten und dazu, zuvor über Figuren, Plot, Schauplatz und Syntax zu reflektieren. Meine Denkanstöße waren unter anderem diese: Die Erzählsprache eines weltfremden Wissenschaftlers darf auch weiterhin verkopft, ausführlich und abschweifend sein. Der Plot darf einfach sein und sich sehr zögerlich entwickeln. Aber der Leser muss motiviert bleiben, diesen Gang zu den Hintergründen der Geschichte durchzuhalten. Wenn so Viel berichtet werden soll, dann muss das Wenige, das man darstellen kann, auch dargestellt werden. Es braucht gute Gründe für die vielen Berichte und Erinnerungen. Sogar Spannung ist möglich, wenigstens ein bisschen. Etc. pp. – So ging es noch lange weiter, immer wieder im Kreis und um Ecken herum.

Heraus gekommen ist eine Teilung in zwei Kapitel und eine komplette Überarbeitung des Textes. Ich hätte ihm mehr Streichungen empfohlen, aber er bestand auf den Inhalten und Ausdrücken. Er wolle in den ersten Kapiteln oder besser Zugängen seines Romanprojekts deshalb so viel über die Hintergründe der Erzählwelt vermitteln, um für die teilweise sehr eng geführten späteren Zugänge einen Kontext vorzuschießen. Eines dieser Kapitel haben wir kürzlich mit „Yin und Yang…“ kennengelernt. Neben dem Fast-Magister werde er mindestens fünf, wahrscheinlich aber sogar sieben, grundverschiedene Figurenensembles entwickeln. Jeder dieser Zugänge solle diese Bezeichnung auch wirklich verdienen, also möglichst unterschiedlich sein.

Ich wittere zwar noch immer die eine oder andere literarische Durststreck auf dem Weg durch den Zugang mit Namen Xaver Satorius, bin aber gespannt. Ob es ihm gelingen wird, den Leser durch die Abwechslung der Stile zu unterhalten oder ob er damit nicht zu viel, zu früh will? Ich verstehe die kindliche Vorfreude verschiedene Plots, Perspektiven, Erzählsprachen, (Sub-)Genres auszuprobieren, gewagt bleibt die Kombination all dessen in einer gemeinsamen Rahmenhandlung trotzdem – gerade ohne Erfahrung und Sicherheit.

Wir mögen unterschiedlicher Meinung sein, dennoch glaube ich, dass Quanzland der richtige Ort, die richtige Bühne für diese Experimente ist. In diesem versöhnlichen Sinne präsentiere ich Euch heute den neuen, ersten Zugang mit Fast-Magister Xaver Satorius. Wahrscheinlich nur deshalb, weil mein notorischer Narzissmus noch immer von der Namensgebung gebauchpinselt ist. Wie dem auch sein mag, hier nun die 2. Auflage des vormals veröffentlichten Textes bzw. dessen erstes Drittel.

Viel Spaß beim (Wieder-)Lesen und hoffentlich mehr Lesefreude als zuvor, Euer Satorius


Ein Neumensch im Ausnahmezustand

Seiten 1 – 18

Verwirrung und nostalgische Melancholie umwaberten seinen Geist. Erinnerungen und Erwartungen blitzten abrupt auf, verbanden sich und drifteten gemeinsam davon.

 

Sein sonst optimal unter Kontrolle gehaltener Körper nutzte den herrschenden Ausnahmezustand ungehemmt aus. Er tat, was er sonst nicht konnte, und überschüttete ihn seit Beginn des Fluges mit einer exquisiten Auswahl an Unannehmlichkeiten: Juckreiz, Übelkeit, Kopfschmerzen, Niesen und Augentränen beispielsweise.

 

Derzeit juckte sein anarchischer Körper, also kratzte er ihn. Flüchtig zunächst, im Nacken am Haaransatz begann er, ging aber sofort nahtlos dazu über, die Muskulatur dort immer energischer zu massieren. Was dort seit einigen Stunden an Verspannung angewachsen war, entsprach proportional so ungefähr dem Maß an Veränderung, das sein Leben seit Längerem irritierte. Eine aktuelle Veränderung, eine epochale Entwicklung und der akute Zustand spielten in diesem unschönen Zusammenhang herausragende Rollen. Ein Umzug, eine Katastrophe und ein Technikausfall, mit psychischen und physischen Folgen belasteten ihn.

 

Entgegen seinem Temperament und fast alle Gewohnheiten musste er handeln. Seine Sesshaftigkeit, der Hang zu Kontemplation und Gemütlichkeit, aber auch die Neigung zu Weltflucht und Trägheit waren seither gefährdete Güter. Denn Xaver Satorius befand sich seit nunmehr 5 Aktuell-Tagen auf der Reise. An deren Ziel, so hoffte er inständig, würde ein neues Zuhause auf ihn warten; ob der Plan überhaupt aufging, und für welche Dauer er ein Zuhause haben würde, stand dabei zurzeit noch gänzlich offen.

 

Trotz aller Fährnisse und Unannehmlichkeiten, die ein interplanetarer Umzug unter den herrschenden Zuständen mit sich brachte, gab es viel zu gewinnen. Ihn erwartete die Chance auf verheißungsvolle Anstellungen in den besten Häusern. Damit würde er in seiner beruflichen Laufbahn den Schritt vom Theoretiker zum Praktiker wagen. Über die klassischen Anforderungen an einen Bewusstseinsformer hinaus, kämen ihm die Rollen eines moralischen Erziehers und intellektuellen Mentors zu. Vielleicht würde er später gar zum Vertrauten oder Berater eines seiner Zöglinge. Das waren die verheißungsvollsten Visionen. Falls diese nicht wahr wurden, war die Tätigkeit immer noch gut genug honoriert, um darüber hinwegzusehen. Zumal er ganz nebenbei ein herrschaftliches Dach über dem Kopf haben würde.

 

Heraus aus seinem Exil, einer erträglichen aber tristen Zuflucht auf dem Mond, führte ihn sein Weg. Er hatte die ebenso mickrige wie sichere Siedlung verlassen, deren einzige Existenzberechtigung in ertragreichem Tiefenbergbau bestand. Sie besaß nicht einmal einen echten Namen und hieß entsetzlich nüchtern: KK-L 2342.

 

Warum gerade hier eines der Refugien der Academia Universalis verborgen war, beantwortete die Bedeutungslosigkeit dieses Ortes in solarer Perspektive. Keiner der diversen Kriegstreiber interessierte sich für diese unbedeutende Gegend, womit ideale Bedingungen für eine Zuflucht vorlagen.

 

In jener trotz allem technischen Fortschritt noch immer schlecht erschlossenen Region auf der dunklen Rückseite des Mondes hatte die Reise vor wenigen Aktuell-Tagen begonnen. Danach führte sie ihn über nur wenige Zwischenstationen zum zentralen Raumknoten des Erdtrabanten in Eluna. Dort musste er sich ohne Umschweife, so sah es nämlich seine rigide Planung vor, eine Passage in Richtung traumatischer Vergangenheit buchen: Destination Erde – Endstation Zentraleuropa!

 

Ohne sich auf seinem Weg ernstlich mit seiner Umgebung zu beschäftigen, war er die meiste Zeit über in der sensorisch-geschützten, digital-aufbereiteten Hyperrealität seines Gedankenkonzils gereist. Dieses technische Wunderwerk bestimmte Xavers alltägliches Leben grundlegend. In einem Reisekokon genannten Modus dieser künstlichen Bewusstseinserweiterung war ihm trotz minimalem Kontakt zur Außenwelt eine zielstrebige, hocheffiziente Fortbewegung möglich. Mobilität fast ohne Reibung mit der Umwelt, der Kontrapunkt zu dem, was in früherer Zeit als Flanieren Kulturgeschichte geschrieben hatte.

 

Er hatte den Schutz des Reisekokons öfter aufgesucht, als gut für ihn war und er sich das wünschte – mehr noch, sehnlich erhoffte. Er musste sich unbedingt wieder mehr an die reale Außenwelt, die Menschen dort und vor allem den Umgang mit beidem gewöhnen, sonst würde er es zukünftig schwer haben.

 

Sowohl in professioneller als auch in existenzieller Hinsicht waren die Rückkehr in die wirkliche Welt und vor allem die Wiederaneignung des Sozialen vordringliche Ziele. Die Fähigkeit zu Empathie und das Erzeugen von Bindung würden unumgängliche Ebenen seiner praktischen Arbeit in naher Zukunft sein. All seine theoretische Brillanz half ihm dabei zunächst kaum weiter. Er hatte gelernt, starke Emotionen zu scheuen und solche waren hochwahrscheinliche Folgen des eingeschlagenen Pfades. Angesichts der epochalen Entwicklung würden die Gefühle wahrscheinlich eher Leid und Schmerz, denn Glück und Freude sein.

 

Im Anflug einer Marotte – damit zurück zum akuten Zustand – rechnete er in Nanosekunden-Schnelle mithilfe einer simplen Kognitivfunktion seines zur Zeit weitgehend inaktiven Gedankenkonzils um: 5 Aktuell-Tage entsprachen heute, laut letztem von Googol vor Abflug recherchiertem Kurs, auf dem Planeten Erde 1,23 alten Tagen. Also wäre er bereits 5 mal 1,23 Tage unterwegs gewesen, damit im Ergebnis exakt 6,15 Tage, bevor damals plötzlich die ganze Welt auf die schiefe Bahn geraten war – knapp 6 Tage, rief er sich sofort gedanklich zur Ordnung. Dieses bisweilen komplizierte Kalendarium besaß sowohl im Zentralknoten Frankfurt Rhein/Main als auch im gesamten übrigen Einflussbereich der Karlus-Korporation Gültigkeit. Mit kleinen Modifikationen wurde es weltweit und sogar systemweit von vielen Gesellschaften genutzt. Er liebte es zwar, zwischen den verschiedenen Datumssystemen herumzurechnen, wollte sich diese Eigenart aber abgewöhnen.

 

Sich selbst darin zu bremsen, nicht in neurotischem Ausmaß detailverliebt zu sein, war als mentale Einstiegsübung zunächst noch leicht machbar. Sich aber ganz alleine seinen übrigen Existenzmustern und all den Veränderungen und unangenehmen Zuständen zu stellen, war hingegen schon reichlich zermürbend. Der wohlfeile Fachbegriff Potenzialreduktion täuschte über die Schwierigkeiten seiner Umsetzung hinweg. Gezielt und kontrolliert wenig Wiederholung sowie Verstärkung von ungewolltem Denken und Verhalten zuzulassen, klang zwar schon konkreter, war aber dennoch nicht leichter zu machen.

 

Die Tücken der Praxis seiner Wissenschaft machten ihm heftig zu schaffen. Ohne seine Technik war er bloß ein gebildeter Mensch, der kaum mit sich selbst zurechtkam: Sein Körper quälte ihn und sein Geist kam einfach nicht zur Ruhe, lies weiterhin Klarheit und Kürze sträflich vermissen.

 

Ohne mediale Zerstreuung und ohne höhere augmentale Unterstützung musste er derzeit sein Dasein fristen; mental irgendwie über die Runden kommen. Die Existenz wurde tatsächlich nur durch Willen und Disziplin aufrechterhalten. Die Eindrücke aus der realen Umgebung fielen kärglich aus. Die sporadischen Impulse seines Gedankenkonzils störten mehr, als sie halfen. Fast nur sein nacktes Ich war im Moment präsent – ein höchst ungewohnter Bewusstseinszustand für den technikverwöhnten Xaver Satorius. Wenn der Köper nicht auch noch solche Querelen machen würde, könnte er weit besser mit der Situation zurechtkommen. Mit wirklichem Widerstand und realer Reibung konnte er nur schwerlich umgehen.

 

Radikaler Entzug, idealistische Weltfremdheit, soziale Inkompetenz und körperliches Leiden sorgten zusammen für richtig viel Stress, da durfte er ruhig mit der größten Herausforderung hadern: dem Bannen von Vergangenheit und Zukunft im Guten wie im Schlechten. Er hatte die existenzielle Herausforderung zu bewältigen, seine schmerzvolle Erinnerung zu besänftigen und gleichzeitig der bittersüßen Versuchung der Heimat zu widerstehen. Die eine drohte, die anderen lockte; so in etwa analysierte er den Zustand seines Bewusstseins, keineswegs derartig schnell und sauber, wie sonst. Er musste zwischendurch immer wieder innehalten, seine Gedanken klären und Kraft schöpfen. Müdigkeit und Verwirrung hatten Juckreiz und Verspannung derweil den Rang abgelaufen.

 

Wie artikulierten sich wohl die Ansprüche an eine rational wie emotional kluge Haltung in der aktuellen Situation? Die gedankenschnelle Erörterung dieser Frage wollte Xaver nicht glücken, obwohl eigentlich ein Kinderspiel für die Lebenskunst eines Magister Universalis – eines Fast-Magisters genauer gesagt. So hatte er früher bei heiteren Gelegenheiten selbstironisch zu scherzen gepflegt. Er hatte lange nicht mehr an diesen Namen und diese Zeit gedacht, dafür gab es viele Gründe.

 

Nun würde es bis auf Weiteres bei dem scherzhaften Titel bleiben, denn die materiellen wie ideellen Strukturen der Academia Universalis existierten nur noch als verstreute Bruchstücke. Dieses Schicksal teilt sie mit vielen anderer Institutionen und Errungenschaften der menschlichen Kultur; aber immerhin, sie existierten, noch immer, nach allem! Bis die zivilisatorischen Scherben, wenn überhaupt, je wieder zu einem lebendigen Ganzen zusammengesetzt sein würden, waren geachtete Titel, renommierte Abschlüsse und wichtige Prüfungen abgeworfene Aspekte der Kultur. Ein Verlust, der leicht wog, verglichen mit der weitreichenden und tief greifenden Zerstörung des kulturellen Fundaments, der Zersplitterung des Erbes der solaren Menschheit:

 

Sicherheit im Einklang mit Freiheit, Gerechtigkeit gepaart mit Frieden, Humanität im Angesicht radikaler Pluralität sowie nicht zuletzt Fortschritt im Verbund mit Hoffnung! Historisch zunächst noch höchst allgemeine, utopische Ideen, welche in den letzten Epochen der Menschheitsentwicklung an konkreter Kontur gewonnen hatten. Sie hatten sich schrittweise durchgesetzt, waren sozial wie politisch manifest geworden. Notwendig ging mit der Konkretisierung dieser großen Ideale eine Revolution auf allen Ebenen des Daseins einhergegangen. Nach wenigen Dekaden hatten Welt und Bewusstsein sich grundlegend gewandelt – scheinbar für immer.

 

Geistige Spekulanten und phantastische Freidenker des frühen 2. solaren Jahrhunderts waren durch diese friedliche Revolution überrascht worden, solche des 1. Solar-Jahrhunderts wären mindestens verblüfft gewesen und solche noch früherer, gar alter christlicher Jahrhunderte hätten laut gelacht oder wären kopfschüttelnd weiter ihres Weges gegangen.

 

„Nicht so oft daran denken; schau einfach nicht zurück in Richtung Vergangenheit, sondern lieber voraus in eine Zukunft, die unweigerlich besser sein wird!“, schallte es kraftlos und ziemlich plakativ durch sein Bewusstsein. Mit solchen Ratschlägen waren ihm die Mitglieder seines Gedankenkonzils kaum eine Hilfe bei der Bewältigung der akuten Krise. Wobei er durch den verirrten Impuls letztlich doch aus den Weiten einer Erinnerungsspirale zurückkehren konnte.

 

In einem zynischen, inneren Lachanfall über die gesamte Situation kehrte er ins Hier und Jetzt und damit zu einer beharrlich und dumpf schmerzenden Nackenmuskulatur zurück. Hinzu gesellten sich noch ein dreifachs schnelles Niesen und er wünschte sich bereits wieder zurück. Wäre er seinem mentalen Sermon doch eben nicht entflohen, ein Aufenthalt hier in der rauen Realität seines Körpers war aktuell tatsächlich die weniger wünschenswerte Alternative.

 

Ob es ihm nun besser ginge, hätte er Gymnastik in den letzten Solar-Jahren ernster genommen? Gewiss, er hätte wirklich mehr Zeit mit der Pflege seines Körpers verbringen sollen, anstatt fast ausschließlich durch den Äther des Gedankenkonzils zu schweben. Anfangs in soeben noch zulässigem Maße betrieben, wurde seine Weltflucht ab einem bestimmten Punkt wirklich problematisch. Gerade für seinen Berufsstand war eine Affinität zu Hyperrealitäten nicht ungewöhnlich. Überdies war ein ganzes Arsenal an Augmentaten mit Xaver verschmolzen. Er musste förmlich Gebrauch von diesen mächtigen Werkzeugen machen. Er hatte jedoch rasch auch den Missbrauch derselben für sich entdeckt und fleißig kultiviert. Die Entwicklung von da an verlief lehrbuchartig, sodass er nach einiger Zeit mit den meisten Kennzeichen einer Sucht gebrandmarkt gewesen war: Konsumzwang, Kontrollverlust, Toleranz, Isolation, Schädigung und ja, auch Entzug, wie er gerade mit Nachdruck zu spüren bekam.

 

Konkret hatte er sich mit dem Konzil sowie der Hilfe und Gesellschaft der mittlerweile sechs Mitglieder an alles erdenkliche und greifbare Wissen über verlorene Welten und verlorene Zeiten geklammert. Wo es zu Beginn durch seinen Beruf gesetzte und nur am Rande privat motivierte Schwerpunkte gegeben hatte, wurden seine Forschungen zunehmend willkürlicher und wahlloser – zuletzt waren sie zum reinen Selbstzweck verkommen. Die Eskapaden hatten schließlich sogar fast seine komplette Freizeit und die eben noch vertretbaren Anteile der Arbeitszeit eingenommen.

 

Immerhin hatte er sich während dieser Aufenthalte in den künstlichen Paradiesen Unmengen an totem, besser verstorbenem Wissen über Geschichte und diverse Wissenschaften erworben. Den eigentlichen, unsagbaren Grund dieser zweiten Flucht, hatte er tief vergraben: die unvorstellbaren Schrecken der solaren Wirklichkeit und den milliardenfachen Tod in der nahen Vergangenheit.

 

Die Abhängigkeit von den Errungenschaften, Einflüssen und Einflüsterungen seines Gedankenkonzils und seiner Mitglieder hatte zwei Gesichter. Ihr harmloses Antlitz bestand in der alltäglichen Allgegenwart von Hochtechnologie; ihre hässliche Fratze offenbarte sie jene, die sich alltäglich in ihren Illusionen verloren. Da machten Inhalt und Anspruch der Eskapaden, ob hochintellektuell oder total trivial, keinen wesentlichen Unterschied mehr. Er war an einem Punkt angekommen, wo Form und Inhalt auseinandergebrochen waren. Die Sucht dirigierte eine stetige Wiederholung ihres liebsten Duos: Wissen und Spiel. Was auch immer sich anbot, solange es nur in diesen Formen aufzutreten vermochte, wurde es konsumiert.

 

Sein mächtigster Verbündeter war die besondere Bauart eines Cerebral-Augmentats. Wie viele andere Geräte dieser Art war sie Ergebnis langwieriger, interdisziplinärer Forschungen. Im Prinzip gestatteten es Augmentate dieser Klasse ihrem Träger, seinem Bewusstsein eine Art Betriebssystem – bei Xaver das Gedankenkonzil – mit vielfältigen Funktionen hinzuzufügen. Auf dessen Basis konnten dann die fantastischsten Erweiterungen installiert werden. Beispielsweise waren autarke Persönlichkeits-Module – oder eben Mitglieder – eine gängige Implementation der technologischen Möglichkeiten.

 

Auf seine eigene, illustre Runde von Bewusstseinsgefährten musste Xaver im Moment gezwungenermaßen verzichten. Da sie in ihrer Konfiguration und Kombination seine Persönlichkeit wunderbar, aber leider dringend nötig ergänzten, herrschte insofern kognitiver Ausnahmezustand. Seine leistungsstraken Begleiter waren seit dem Start seltsam gestört und gaben nur noch von Zeit zu Zeit schwache Impulse von sich.

 

Die Reise an sich war erzwungen. Seine finanziellen Mittel und insbesondere die persönlichen Spielräume hatten sich im Lauf des vergangenen Solar-Jahrzehnts unwiederbringlich erschöpft, nicht zuletzt wegen seines Fluchtproblems. Deshalb mussten zweite und auch erste Flucht nun unbedingt aufhören. Insbesondere wegen der schleichenden Entwertung reingeistiger Kompetenzen, die in der vergangenen Dekade gefühlt wie tatsächlich immer stärker um sich gegriffen hatte.

 

Es blieb ihm also erst einmal nur der Weg von der Theorie in die Praxis; immerhin die der gut dotierten Elitenerziehung und -bildung. Eine berufliche Option, bei deren Anbahnung er noch von den Kontakten aus der aktiven Akademiezeit hatte profitieren können. Wie er insgesamt der Academia den Großteil seins derzeitigen materiellen Wohlstands verdankte. Zu allem Überfluss war der Markt für rein-zivile oder auch nur im Ansatz ethisch vertretbare Forschungsprojekte eingebrochen. Einerseits gab es wenig Bedarf, andererseits keinen liberalen, solaren Arbeitsmarkt.

 

Er war schon wieder in unerquicklich Meditationen abgeglitten. Wie war seine Lage? Nach fünf Aktuell-Tagen befand er sich fast wieder auf der guten alten, neuen Erde. Das war damit einen Reisetag früher, als er angesichts der politischen Zustände, die im Moment seiner minutiösen Planung geherrscht hatten, für möglich gehalten hatte.

 

„Wobei man hier treffender von militärischen, denn von politischen Zuständen sprechen sollte!“, wurde er geistig, jedoch sehr leise vernehmbar, von einem Aspekt seines Konzils augmental beeinflusst. Der thematischen Zuständigkeit nach ähnlich, aber dem gedanklich-sanfteren Unterton nach eher Sokrates und nicht Nietzsche. Dafür brauchte er sich nachher nicht einmal die internen Logdateien ansehen oder später einfach nachfragen, wenn wieder alle Funktionen, Instanzen und Module des Gedankenkonzils störungsfrei aktiviert sein würden.

 

Warum Sokrates eigentlich „Sokrates“ hieß? Wohl am ehesten deshalb, weil er – besser müsste man ja sagen: es, das Modul – unabhängig vom jeweiligen Wissensgebiet operieren konnte und beim Vergleich, insgesamt der Bewertung und dem analytischen, wie synthetischen Umgang mit Wissen und Information im allgemeinsten Sinn dieser Begriffe behilflich war. In lebenspraktischer Hinsicht unterstützte dieses Modul die alltägliche Gesprächsführung, dabei besonders wissenschaftliche Diskurse, aber auch die Sprachspiele des Alltags. Sich Einfühlen und Zuhören gehörten einfach nicht zu seinen Stärken, noch zu seinen innersten Interessen. Sokrates füllte einige Lücken, die Xavers Charakter zu bieten hatte: lebendige, gesprochene Kommunikation, insgesamt Extraversion und in Ansätzen auch Empathie und zwischenmenschliche Bindungsfähigkeit. Zudem brachte er viele Fähigkeiten und Fertigkeiten von beruflicher Relevanz in passgenauer Form mit sich. Er war der perfekte, mentale Berater eines Theoretikers und theoretisch auch Praktikers von Wissen, Bildung und Erziehung. Nicht nur zufällig genau auf die Bedürfnisse der Academia Universalis zugeschnitten, wurde die Grundversion eines solchen Moduls allen Adepten nach der Konstituierung ihres Gedankenkonzils feierlich installiert. Insofern war Sokrates auch das erste und somit älteste Zusatzmodul mit ultrastarker KI, welches den Fast-Magister auf seinem Lebensweg begleitete.

 

Ein thematischer Fokus für die aktuelle Selbstoptimierung war gesetzt: Empathie und Sozialkompetenz. Denn ohne Offenheit und Klarheit im Gespräch würde er beruflich und existenziell versagen. Sokrates, Matrina und neuerdings Xaya unterstützten Xaver in diesem Lernprozess. Individuationsassistenz war eine tolle Errungenschaft und das ließ ihn beruhigt in die Zukunft blicken.

 

Dieser Abschnitt war der bei weitem zivilisierteste Teil seiner knapp zwei Neu-Wochen dauernden Reise. Deshalb freute er sich über den unerwarteten Puffer, den er gewonnen hatte. Damit konnte er vielleicht in der weiteren Planung doch einen Besuch in den musealen Zeichennetzen einschieben. Glücklicherweise wurden in Zentraleuropa enorme Anstrengungen unternommen, das Wissen der Menschheit zu bergen und zu bewahren.

 

Er stand nun also tatsächlich kurz vor dem Ende seines ersten interplanetaren Fluges seit – ja, seit der schicksalhaften Passage kurz nach der überraschenden und überstürzten, ersten Flucht. Einer Flucht, die aufgrund des Zusammenbruchs der Normalität vor gut zehn Solar-Jahren unumgänglich geworden war. So lange dauerte das Ende der Geschichte nunmehr schon an; der alten Geschichtsschreibung wohlgemerkt, mit ihrer chronologischen Glattheit und begrifflichen Universalität. Wollte man die alte Sprache parodieren, könnte man zusammenfassen: Nach der Verzweiflung kam die konkrete Utopie, welche durch die singuläre Katastrophe beendet wurde, und nun war die postutopische und postapokalyptische Epoche angebrochen.

 

„Wem in dieser schönen, neuen Welt geht es wohl nicht andauernd so wie uns jetzt gerade?“, meldete sich ein weiterer Aspekt des Konzils im Jammerton kollektiven Selbstmitleids zu Wort.

 

„Hätten die alten Meister der Menschheit schon gewusst, welch unbegreifliches Leid kosmischen Ausmaßes mindestens drei Generationen zu erdulden haben würden, dann hätten sie sich mit ihrer Lebenskunst und all ihrer Ethik damals etwas mehr Mühe gegeben.“

 

Zwei hilfreiche Impulse, die ihn aus dem nächsten, mentalen Abgrund geholt hatten. Die zweite Botschaft war vermutlich Nietzsche geschuldet, die erste Nachricht ging am ehesten auf Matrina zurück. Er befand sich in der verwirrenden Lage, die eigene, innere Quellenlage nicht klar übersehen und damit seine Gedanken eindeutig adressieren zu können. Wenn überhaupt, waren die künstlichen Aspekte seines Selbst nur subtil und sporadisch wahrnehmbar. Kaum integriert, wenig kontrolliert, dämmerten die sechs künstlichen Intelligenzen irgendwo im Dunkelraum um sein Bewusstsein herum.

 

Für eine zivilisatorische Situation, wie sie derzeit im Sonnensystem herrschte, hatte es schlicht keine vergleichbaren Vorläufer in der Menschheitsgeschichte gegeben und damit auch keinerlei Empirie für ernsthafte Prognosen. Die erwähnten drei Generationen waren jedenfalls maßlos untertrieben. Es hatte seit einigen Jahrhunderten Epi-, Pan– und Holodemien mit ähnlicher Letalität gegeben. Pest, HIV/AIDS, Ebola, Marsfieber und H23BN3, so meinte er sich, richtig an ein paar Namen zu erinnern. Bei all diesen aber, und das markierte den entscheidenden Unterschied, konnten Schicksal, Gott oder medizinische sowie gesundheitspolitische Defizite als denkbare Gründe angeführt werden. Der solare Kollaps und mehr noch seine Folgen hatten eine andere Qualität. Abermals ging es mental bergab, Xaver verlor sich schon wieder in wahllosen Erinnerungen, auch wenn sie recht linear dahergekommen waren.

 

Der liebste Dialogpartner von Sokrates war Nietzsche, der seinerseits eine Mixtur aus metakognitiven, sozialen und charakterlichen Aufgaben zu leisten hatte. So war es seine Domäne, in selbstzweckhaftem Maße zu hinterfragen und zu zweifeln. Bei jedem logischen Schluss und jeder moralischen Wertung nahm er den egozentrischen, meist zynischen Gegenstandpunkt ein. Wo Sokrates schuf, zerstörte Nietzsche: „Mit dem kritischen Hammer und einer Prise maliziösem Humor immer munter in Bausch und Bogen gegen alles und jeden zu Felde ziehen!“, hätte man seine Leitmotive treffend zusammenfassen können. Man könnte ebenso treffend behaupten, die Module entwickelten sich parallel und im Wechsel mit ihrem Träger zu eigenständigen und reiferen Versionen ihrer Grundversion, womit auch interessante Binnen-Persönlichkeiten heranreiften. Deren interne Beziehungsdynamik war skurriler bis banaler Art – gerade Nietzsche war auffällig begabt in der skurrilen Richtung. Er sorgte in Beratungen, besonders denen des gesamten Konzils notorisch für scharfe Kontroverse und mit seinen amüsanten, aber schnell ätzenden Provokationen nicht selten für einen Eklat.

 

Er musste gleichzeitig niesen, husten und aufstoßen – langsam reichte es nun wirklich. Schon entglitten ihm wieder die Fäden seines Bewusstseins. Da war sicher hyperreale Kognition am Werk. Unvermittelt kamen ihm die beiden Weltkriege des fernen 20. Jahrhunderts mit Informationen und Illustrationen in den Sinn. So plastisch und echt, wie die Grausamkeiten wirkten, funkten tatsächlich Störimpulse des Konzils dazwischen. Wie die zuvor harmlos erinnerten Seuchen waren die historischen Fakten mittlerweile kaum noch Gegenstand eines allgemeinen Wissens, sondern vielmehr dem Wirken von Meinung, Macht und Mythos übereignet.

 

Wider Erwarten hatte er historisch ähnliche und vielleicht vergleichbare Ereignisse mit eventuell analogen psychokulturellen Konsequenzen gefunden. Zwei der letzten großen Kriege der modernen Menschheit. Es hatte in deren Folge seinerzeit nachweislich traumatisierte Generationen gegeben. Die damals gerade im Entstehen begriffenen Schulen der Psychotherapie hatte in vielen dieser Menschen ihre Klientel gefunden und entwickelte ihre Methoden und Begriffe auch unter dem Eindruck besagter Weltkriege. Ebenso konzipierten spätere Generationen ihre Wissenschaft unter dem Phänomenhorizont der seelischen Belastungen, die der Menschheit durch den Spätkapitalismus zugefügt worden waren. Die Reihe setzte sich noch fort, …

 

„Stop!“, beendete er diese Abschweifung mit einem mentalen Befehl aus eigener Kraft. Er driftete zunehmend in einen Zustand ungezügelter Nostalgie ab, wobei er wahrscheinlich durch Fehlfunktionen seines Konzils irgendwie beeinflusst wurde. Solche teils psychedelischen Zustände, durchsetzt von Fakten, Einfällen, Impressionen und Assoziationen, kamen gewiss nicht ohne Einfluss der Module zustande.

 

Er war tatsächlich einer von derzeit wohl nur wenigen Millionen Menschen, die noch so etwas wie ein angemessenes Bild der Menschheitsgeschichte besaßen. Vor allem aber unterschied ihn sein vitales, fast manisches Interesse an der historischen Perspektive und der Glaube an deren unabdingbaren Wert von den meisten seiner verbliebenen Mitmenschen. Auch wenn die wenigsten eine so leistungsstarke und bisweilen sogar unterhaltsame Erweiterung ihres Bewusstseins ihr Eigen nennen konnten, wie das im Fall von Xaver und seinem Gedankenkonzil der Fall war, blieben die Lust auf Bildung und die Wahl der Interessen noch immer Fragen der persönlichen Verantwortung. Leider zu aller erst eine Frage der existenziellen Möglichkeiten; in einer Zeit, in der sehr grob geschätzt die Hälfte, der im Sonnensystem lebenden, noch gut 8 Milliarden Menschen, kein gesichertes Überleben mehr hatten.

 

Trotz aller qualitativen historischen Ähnlichkeit blieb noch der planetenweite quantitative Unterschied zwischen den Weltkriegen 1 und 2 auf der einen sowie dem solaren Kollaps auf der anderen Seite. Dieser absolute Unterschied fiel derart überwältigend aus, dass doch von einer anderen Qualität zu sprechen ebenso unlogisch wie reizvoll war.

 

„Uns wird damit nun die bittere Aufgabe zuteil die Tatsache zu akzeptieren und irgendwie, irgendwann einmal emotional zu integrieren, dass es einzig menschliche Freiheit war, in deren Raum die kosmische Katastrophe ihren Ursprung genommen hat. Die Last der damit unwiderruflich aufgebürdeten Verantwortung wird und sollte in Anbetracht der angedeuteten Quantität mehr als nur 3 Generationen auf den Schultern lasten!“, folgerte irgendetwas mit bestechender Klarheit in die kurze, geistige Stille hinein, zugleich aber ohne den kleinsten Funken Trost. Eine Bewertung des Istzustands, welcher wohl bis auf Nietzsche und Matrina alle übrigen Module des Gedankenkonzils zuneigten, aber wie sollten er als ewig-nörgelndes Kontramodul und sie als sorgendes und behütendes Mutterethos das auch je tun können.

 

Also blieben ihm in seiner ganz persönlichen Version dieses Istzustands bisweilen weiterhin nur möglichst kluge Spekulationen und ein paar psychomanipulative Tricks als Auswege aus dem Jammertal der Gegenwart; bald aber hoffentlich auch wieder der Zugriff auf sein Gedankenkonzil.

 

Er musste aber wirklich aufpassen, durfte nicht wieder flüchten. Dieses brisante Verhaltensmuster galt es weiter konsequent einzudämmen, denn er wurde ihm trotz all seinem Wissen um Bewusstseinsveränderung noch nicht so recht Herr: ein Komplex aus Sucht, Nostalgie und Gelehrsamkeit. Durch ihn angetrieben nutzte er das Gedankenkonzil als Instrument einer akribischen und weitschweifigen Lektüre. Diese virtuell aufwendig gestalteten Lesereisen hatten sich längs und quer durch die Vergangenheit des menschlichen Geistes gezogen, mit sporadischen Schwerpunkten in den Disziplinen Psychologie, Philosophie, Pädagogik, Politik sowie besonders Geschichte und Soziologie.

 

Die vielfältigen Themen nahm Xaver nicht bloß passiv auf, sondern erlernte vieles zusätzlich interaktiv oder kurz gesagt: Er spielte.

 

Solche Eskapaden im Erfahrungsnetz hatten sich gewöhnlich den Studien im Zeichennetz angeschlossen und manchmal mehrere Tage gedauert. Ein Ritual exzessiver Vertiefung, das letztlich in den Abgrund hinabführte. Dort warten Verleugnung, Vergessen, Verwahrlosung und Verwaisung auf ihn, seine persönlichen vier apokalyptischen Reiter.

 

Es war eine Phase der verderblichsten Allianz mit seinem Gedankenkonzil gewesen. Dessen Mitglieder hatten dem Missbrauch zunächst kaum Einhalt geboten. Dann war zuerst Matrina vor einem Solar-Jahr und daraufhin Xaya vor wenigen Solar-Monaten als therapeutische Module installiert worden. Mit Hilfe der beiden KI’s war er letztlich überhaupt erst schrittweise in den mentalen und charakterlichen Zustand versetzt worden, der ihn letztlich hierher geführt hatte.

 

Was er nun tat, waren damals undenkbare Dinge gewesen. Befähigt hatte ihn das Duo Xaya-Matrina, zu seinem Ausbruch, heraus aus der digitalen, reizüberfluteten Isolation wieder hinein in ein leidendes, tätiges Leben. Wobei er nun bald auch noch die beruflichen Herausforderungen und einen neuen Alltag als heilsame Neuerungen hinzugewinnen würde. Die Dynamik einer Reise war schon mal eine gute Arznei. Dass er die bisherige Reise weitestgehend im Modus Reisekokon verbracht hatte, war hierbei symptomatisches Erbe. Ein Erbe, auf das er liebend gerne verzichtet hätte. Aber trotz aller Technik, so perfekt sie auch war, blieben gewisse Probleme renitent.

 

Wer, wenn nicht er, war für solche intellektuellen Formen der Eskapade prädestiniert. So war er sieben volle Sonnen-Jahre in der Disziplin der Disziplinen ausgebildet und dabei mit neuster Köpertechnik und Geistestechnologie ausgestattet worden, bevor Armageddon-Light sein etwas überfällige Finalakkreditierung dann endgültig vereitelt hatte.

 

„Nun also mit Humor als Mittel zum Zweck der Maskierung und somit als Medium der Verdrängungsarbeit; besser jedenfalls, als tödlich zu resignieren, wie das ungeahnte Prozentwerte der solaren Bevölkerung in der Zwischenzeit getan haben“, versuchte ein verirrter, eventuell von Xaya oder Nietzsche geprägter Impuls ihn erfolgreich zu irritieren.

 

Sich in diesem Zusammenhang zu den anteilig gefassten Statistiken, die er vor einigen Solar-Monaten noch vor Augen gehabt hatte, absolute Zahlen vorzustellen, besonders bei der Kategorie Suizid und suizidanaloge Todesfälle, wagte er nicht einmal ansatzweise. 15,76% von einst noch rund 10 Milliarden, die selbst wiederum nur die Überlebenden von dereinst beinahe 35 Milliarden Menschen im Sonnensystem gewesen waren. Nicht einmal das vermeintliche Meisterargument, noch am Leben zu sein, lebendig zu sein und wieder hoffen zu können, half bei dieser unbegreiflichen Dimension an Leid.

 

„Wie kompliziert Datierung heutzutage geworden ist, seit kaum noch astronomische Stabilität gewährleistet ist und nicht mehr nur jeder Himmelskörper an sich seine relativen Eigenzeiten hat, sondern diese sogar noch jeweils für sich dynamisch geworden sind“, dachte er in dem sermonartigen Versuch, seine Gedanken wieder in die freundlichen Bahnen seiner Datumsneurose zurückzulenken.

Er scheiterte mit diesem kläglichen Versuch und wurde prompt von einer düsteren Vision heimgesucht:

 

„Tod, einfach so, milliardenfach mal eben!

 

Unendlich, unbegreiflicher Tod!

 

Nur, das nagt, wo ist der Sinn dahinter?

 

Wofür nur, warum nur?

 

Wahrheit, verzweifelt gesucht, sollst du haben:

 

Die Sonne …“, eine weibliche Stimme riss ihn plötzlich zurück in die Wirklichkeit.

 

„Bitte aktivieren sie Ihr schützendes Stabilisierungsfeld! Falls dies nicht ihrerseits geschieht, übernimmt es die Automatik 90 Sekunden nach dem Ende dieser Mitteilung für sie“, flüsterte eine sonore und etwas laszive Frauenstimme scheinbar direkt und mitten in seinem Kopf.

 

Er hatte sie zu Beginn seines Flugs vom Mond zur Erde selbst eingestellt. Anstatt wie die meisten Reisenden über ein lokales Eingabefeld am Sitzplatz, war dies bei ihm über eine hyperreale Eingabemaske, also durch die Möglichkeiten des Konzils geschehen. Nun gratulierte er sich entschieden zu diesem Entschluss.

 

„Wir werden in wenigen Minuten den Boden des Planeten Erde berühren und bedanken uns deshalb schon einmal vorab für das uns von Ihnen entgegengebrachte Vertrauen“, säuselte es da schon sanft weiter.

 

„Da sich die solare Sicherheitslage auf unserer Reiseroute wider Erwarten entschärft hat, konnten wir die Reisedauer beträchtlich reduzieren. Wir werden also insgesamt 50 Minuten früher landen. Die Meisten unter Ihnen werden höhere Augmentate wie Netzports, Cerebral-Schnittstellen, Bewusstseinserweiterungen, Muskelverstärker, Fernoptiken, Nahrungs- oder Nachschubreplikatoren und dergleichen besitzen. Wir bitten sie in ihrem eigenen Interesse nochmals, diese bis zur abgeschlossenen Landung deaktiviert zu lassen. In Verbindung mit unserer Antriebstechnologie und aktuellen, astronomischen Phänomenen kam es leider mehrfach zu Störungen und sogar zu einigen bedauerlichen Zwischenfällen. Überdies wird es sehr wahrscheinlich stärkere Turbulenzen und kleinere Erschütterungen bei der Landung geben. Dabei handelt es sich um leider unvermeidliche Unbequemlichkeiten, durch welche die technische Sicherheit jedoch in keiner Weise beeinträchtigt wird. Der Auslöser des Problems liegt weit außerhalb unseres Einflussbereichs – um Verzeihung bitten wir dennoch. Wir wünschen ihnen eine gute Ankunft im Zentralknoten Frankfurt Rhein/Main, einen erfüllenden Aufenthalt in Zentraleuropa sowie den Transitgästen eine sichere Weiterreise – Ihr Team von Karlus-Raumflug, einer Marke der Karlus-Korporation.“

 

Als wäre das nicht bereits genug der uneigentlichen Rede gewesen, folgte noch ein vor Werbung triefender Nachsatz: „Empfehlen sie uns später in ihren intimen Gruppen bitte weiter, sofern Sie mit unserer Dienstleistung so zufrieden waren, wie es unser stetes Anliegen und innigster Wunsch sind. Beachten sie ferner die vielen kombinierbaren Unterhaltungs- und Kulturangebote, die wir ihnen in unserer Heimatregion exklusiv offerieren. Für weitere Details und diesbezügliche Buchungen helfen die hiesigen Kontakt-Schnittstellen weiter. Am besten nutzen sie die direkte Verbindung über unseren Auftritt in den Zeichennetzen; am allerbesten tauchen sie sogar in die hyperrealen Welten unserer Erfahrungsnetze ein: Hier bieten wir ihnen die vielfältigen Waren und Dienstleistungen der Karlus-Korporation hautnah zum Ausprobieren an. Unser gesamtes Sortiment können Sie gefühlsecht erleben und unkompliziert erwerben. Neben den üblichen Warenformen können sie ihre Bestellung, sofern sie das wünschen und dieser Zusatz für das Produkt angeboten wird, sogar als limitierte Blaupause für ihren eigenen Replikator erhalten. Überzeugen sie sich von unseren Qualitäten und unserer bewährten Qualität. Seit Generationen gilt bei uns das Unternehmensmotto: Qualität über Quantität!“

 

Der anfänglichen Dankbarkeit entgegen erzeugten derart viel geheuchelte Normalität und inszenierte Hochzivilisation, wie sie in dieser Botschaft zum Ausdruck gekommen waren, eine sehr unangenehme Kombination an Emotionen bei Xaver. So spürte er derzeit sowohl in der Magengegend den Druck, sich vor Ekel angesichts solchen Zynismus übergeben zu müssen, als auch im Bereich der Kehle den Drang, seine Wut über diese freche und beinahe pietätlose Realitätsverleugnung in die kleine Welt ihrer 30-Mann-Maschine herauszubrüllen.

 

Selbstverständlich tat er nichts dergleichen und machte sich stattdessen daran, sein aufgewühltes Gemüt mithilfe wenig routinierter Atem- und Imaginationstechniken zu besänftigen.

 

Dieses Kunststück war ihm zu seiner eigenen Überraschung bereits gelungen, als die angekündigten 90 Sekunden verstrichen waren und er rücksichtsvoll, aber bestimmt in seinen Schalensitz gepresst wurde. Dass dieser ergonomisch perfekt auf seine Statur angepasst war und sich wohlig um seinen Körper schmiegte, gab ihm das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit; welches aber schnell wieder verschwand, weil er ruckartig von Krämpfen geschüttelt wurde. Sein rebellischer Köper musste schnell wieder unter Kontrolle gebracht werden.

 

Bald würden die technischen Wunderdinge wieder funktionieren, alles wieder möglich sein. Denn der Landeanflug hatte nun endlich begonnen und der Moment seiner ganz persönlichen Rückkehr auf den schicksalhaften Heimatplaneten der Menschheit stand damit unmittelbar bevor. Ob diese klingende Rede von Schicksal und Menschheit überhaupt eine Zukunft haben würde, stand Spuren gleich in den Sternen geschrieben.

 

„Vielleicht wird das Ende der Geschichte doch nicht nur zu langsam abgewickelt, sondern birgt wider Erwarten und Gefühl den Keim einer besseren Zukunft in sich!“ Das war eindeutig ein erbauender Impuls von Matrina gewesen, der trotz Deaktivierung und durch die Störung hindurch so klar in sein Denken hineintönen konnte.

 

Er brauchte solches Wissen nicht, denn er wusste seit Langem, dass er zu einer privilegierten Minderheit gehörte. Geholfen hatte dies kaum. Als Gelehrter im besten Alter, dem erste und zweite Flucht sowie Überleben im Exil aufgrund seiner privilegierten Herkunft und der Ausbildung in der Academia ohne Weiteres offen gestanden hatten, ging es ihm materiell noch immer unerhört gut. Dennoch blickte er ungewiss in die Zukunft, war sich ganz und gar nicht sicher, ob Hoffnung für sich und die Menschheit bestand.

 

Er wandte sich in seinem Sitz neugierig so weit um, wie es Stabilisierungsfeld und akuter Nackenschmerz soeben zuließen. Ein schmerzerfüllter, nur flüchtiger Blick ins Antlitz seiner Mitreisenden, zeigte ihm erwartungsgemäß Ernüchterndes. Der Anblick bot kaum Anlass zu glauben, dass positive Emotionen es aktuell leicht hatten. Allen anderen voran waren Hoffnung, Freude, Genuss und insgesamt Glück rare Güter im Sonnensystem geworden.

 

„Überall graue, starre und maskenhafte Trauerfratzen. Die Leichenarmeen des psychokulturellen Niedergangs, der sich an den Tag der großen Asymmetrie angeschlossen hat und seither in den Seelen der meisten Menschen wütet“, blitzte es durch sein Bewusstsein. Morbid und abstoßend waren die sinnlichen Eindrücke, die den Flash begleitetet hatten und gerade abebbten. Ein Wechselbad körperlicher und geistiger Qualen ergoss sich weiterhin unnachgiebig über Xaver Satorius.

 

Selbstvergewisserung half womöglich, also dachte er in harmlos biografischen Bahnen: Die fast hermetische Kunst der Magister Universalis war seine Wissenschaft und sein Handwerk. Ihr ging es im Allgemeinen darum, eigenes wie fremdes Bewusstsein nach flexiblen Maßgaben zu manipulieren und wunschgemäß zu formen; es kontinuierlich zu trainieren und zu erweitern, um ihm im Ergebnis ebenso vielfältigen, wie in seiner Effizienz atemberaubenden Nutzen abgewinnen zu können. Die Grundlagen dieser Disziplin hatte er gründlich erlernt, zumal mit eigenen Vertiefungen. In langjähriger, vornehmlich theoretischer Forschung hatte er an diversen Projekten mitgearbeitet.

 

Schließlich war er dann nach seiner Flucht von der Erde mit einer kleinen Gruppe an Magistern auf dem Mond gestrandet. Dort hatten sie in einem Refugium der Academia die Wirren der Katastrophe überstanden. Fast autark in ihrer Versorgung hatten sie genug Zeit gehabt, um bald darauf den Kontakt zu ihren Brüdern und Schwestern herzustellen.

 

Ihre Organisation war ein Hort der Innovation. Komplexe Pharmazeutik und Körper- sowie Geistestechnologien wurden seit weit über einem Jahrhundert munter eingesetzt. Nicht zuletzt wegen der Arbeit der Academia Universalis waren solche Technologien mittlerweile im Alltag erprobte Hilfsmittel. Der rapide Fortschritt auf diesem Gebiet war Xaver mehrfach am eigenen Leib zugutegekommen. So trug er selbst eine ganze Reihe sogenannter Augmentate an und in sich. Mittlerweile kannte er zwar auch Licht und Schatten dieser Artefakte, war aber alles in allem dankbar für deren Existenz.

 

Trotz aller derzeit heraufziehenden Geistesfeindlichkeit waren die Ausbildung zum Magister und deren technologische Mitgift seine zurzeit wertvollsten Güter. Sein trotz kleiner Verfehlungen guter Leumund und besonders die mitgeführten Referenzen waren viel wert, aber ohne einen optimalen Einsatz all seiner Fähigkeiten und Mittel würde er den geplanten Quereinstieg in die Praxis, und zwar direkt auf Meisterniveau, nicht schaffen.

 

Xaver war von sich selbst erstaunt, und tief dankbar für diese Überraschung. Während des grauenvollen Fluges hatte es in der Tristesse der Passagierkabine und neben dem Aufbegehren seines Leibes eine einzige, schöne Ausnahme gegeben: ein junges, sichtlich verliebtes Paar mit einem bereits halbwüchsigen Sohn. Pausenlos hatte der Junge seine Eltern aufgeregt und begierig nach allerlei Sinn und vermutlich viel mehr Unsinn gefragt. Nachdem er darauf geduldig wirkende Antworten erhalten hatte, war er befriedigt wieder ins Spielen zurückgekehrt, nur um bald darauf abermals fragenden Blickes in Richtung seiner Eltern zu rennen. Ein Schauspiel, das trotz der tiefschürfenden Kraft von Kinderfragen, einer Komödie glich, also fast ohne die überall lauernde Tragik auskam.

 

Der Anblick dieses familiären Idylls war ihm in seinem akuten Zustand ein größerer Trost gewesen, als er je für möglich gehalten hätte. Er, der notorische Einzelgänger, der sein Leben nur seinen Passionen, also im Grunde nur sich selbst gewidmet hatte, entdeckte während dieses Raumflugs eine verschüttete Seite in sich wieder.

 

Obwohl Xaver von den Gesprächen der entfernt sitzenden Familie bestenfalls wenige Bruchstücke aufgeschnappt hatte und deshalb vor allem auf die Deutung des lebendigen Miteinanders angewiesen war, traute er sich seine Einschätzung gelassen zu. Dabei half ihm ein weiterer Vorzug seiner Ausbildung: Die Schulung in diversen Methoden der Verhaltensanalyse, welche zur optimalen Lernkonfektionierung unerlässlich waren. Im Alltag assistierten ihm technologische Helfer, nun musste er sich auf sein Erfahrungswissen verlassen.

 

Er verstand fast alles, nur nicht, warum ihn der Anblick so sehr erbaute. Für seine Verhältnisse hochsensibel registrierte er einen auffälligen Umstand, witterte das unvermeidliche Quantum Tragik im Spiel: Wenn das Kind kurz mit sich selbst und die Eltern infolgedessen miteinander beschäftigt waren, hatte sich deren freudiges Strahlen schon mäßig abgedunkelt und in den Phasen von Einsamkeit war es dann sogar beinahe ganz erloschen. Dann glichen die liebenden Eltern der grauen Masse um sie herum; glichen vermutlich auch ihm selbst, wie er im Auge eines unsichtbaren Betrachters, vorzugsweise Lesers erschienen wäre.

 

Familie bot in diesen schrecklichen Zeiten wohl schlicht eine unvergleichliche Form von Heimat – viel echter, erfüllender und ernster, als dies dem technisch optimierten Individuum zur Verfügung gestanden hätte; sei es noch so gut vernetzt und hochgerüstet. Es gab in seinem Fall zwar die sechs Module des Gedankenkonzils, aber was bedeutete das denn in der Bilanz und insbesondere im Vergleich: Dass Nietzsche mit seinem beißenden Zynismus in dieser Hinsicht ein Trost hätte sein können, stand kaum zu erwarten; Googol und Hoffmann waren zu verschroben respektive zu wortkarg für diesen Bereich; Sokrates half mit seiner Weisheit immerhin ein wenig weiter und die motivierende Xaya machte ihn psychisch wie physisch insgesamt stärker; allen voran kümmerte sich die auf Seelsorge, Empathie und Lebenskunst spezialisierte Matrina um sein emotionales Befinden. Sie glich Launen aus, beugte also neurochemischen Ungleichgewichten vor; stimmte die Erwartung positiv, was sie in Zusammenarbeit mit Hoffmann durch neurochemische Ungleichgewichte erreichte; öffnete seine Persönlichkeit empathisch gegenüber anderen, wobei sie mit Sokrates und Xaya kooperierte, und impfte ihn insgesamt mit dem Glauben an Gutes, Schönes und Wahres.

 

Alle diese Technik fehlte aktuell und sie war auch zuvor nicht schon immer da gewesen. Er hatte lange Zeit versucht, aus dem Mangel eine Tugend zu machen. Er hatte aber schmerzlich erkennen müssen, dass sein Ersatz wie eine schale Simulation wirkte, verglichen beispielsweise mit der familiären Komödie. Diese war ihm mehrmals zum Anker geworden, ebenso gegen die psychotischen Eintrübungen wie gegen die körperliche Pein, unter denen er schubweise litt: Schmerzhafter Augendruck und rhythmischer Tinnitus gaben derzeit ihr Duett.

 

Xaver war Zeit seines Lebens höchstens wenige Male Familie und Freundschaft nahegekommen, nur um beides wieder und wieder zu verlieren. Sein Problem war wohl schlicht und einfach dasjenige, was seit Menschengedenken als Liebe fassbar gemacht werden sollte. Für ihn wirkte sie nunmehr nur noch wie ein bloßes Wort ohne tiefen Sinn und Gehalt. Er hatte daraufhin vorgesorgt.

 

Er hatte irgendwann beschlossen, sich mit einem Panzer aus Weisheit, einem aus Gelehrigkeit geschmiedeten Schild und waffenfähigen Klinge an Mundwerk und Verstand auszustatten. Dafür wurde er mit Triumphen im wissenschaftlichen Disput belohnt, genauso wie er unweigerlich durch Niederlagen im politischen Schacher um Posten und Portale bestraft wurde. Dass kaum Jemand den unnahbaren Eigenbrötler besonders gut und lange leiden konnte, lag dabei vor allem an seinem offensichtlichen Desinteresse für die soziale Lebenswelt. Die ersten Jahre mit dem Gedankenkonzil vertieften die vorhandenen Gräben zu seinen Mitmenschen noch merklich. Er isolierte sich zunehmend, entband sich sozial wie emotional.

 

Vor zehn Solar-Jahren aber, da war aus diesem Makel quasi über Nacht und auf einen perversen Schlag hin eine Art Stärke geworden. Er war emotional ungebunden und zugleich praktisch unabhängig, ohne jede ernsthafte Anhaftung. So konnte er schneller als die meisten reagieren und den Startschuss geben, zu seiner ersten Flucht. Er blieb von dem milliardenfachen Verlust geliebter Angehöriger in seiner abrupten, ja brutalen, Direktheit verschont und hatte sich seelisch gesünder über die erste Zeit retten können. Insgesamt hatte sich der Einzelgänger Xaver Satorius auf einmal besser zu behaupten vermocht. Der zu höchster Abstraktion befähigte Magier in ihm und insbesondere die ebenso stark ausgebildete Fähigkeit des Narren, sich in Illusionen und Hyperrealitäten zu flüchten und über diese die tatsächlichen Nöte des wahren Sonnensystems zu vergessen, waren aufgewertet worden.

 

Hätte er doch damals bereits geahnt, wohin ihn die zweite Flucht über Jahre hinweg führen würde: von der wirklichen Lebenskompetenz zur bloßen Text- und Informationskompetenz; ins selbst gewählte Exil eines nur noch technologisch-sozialen Daseins; ins hyperreale Elysium, das ihm sein Gedankenkonzil zu schaffen vermochte. Dabei handelte es sich um eine künstliche Realität, ähnlich einem Klartraum. Im Detail war die Hyperrealität aber viel mehr als ein bloßer Traum. Ihr lag eine restlos logische Struktur zugrunde, sie konnte nach Belieben kontrolliert und verändert werden und bot vor allem eine Illusion, die mit allen Sinnen erlebt werden konnte. Die geschaffene Welt konnte fast perfekt sein, durfte das aber aus gutem Grund nicht. Erkannte der Geist des Trägers die Scheinwelt als real an, endete er im Digitalen Solipsismus. Diese effektiv tödliche Nebenwirkung hatte in der Anfangszeit der technischen Bewusstseinserweiterung viele Opfer gefordert und tat das vereinzelt immer wieder. Auf irgendeine Art musste die sicher falsche von der angeblich richtigen Realität unterscheidbar sein, sonst drohte Lebensgefahr.

 

Macht und Militär, Misstrauen und Mord hatten seit dem solaren Kollaps das Regiment in großen Teilen dessen übernommen, was zuvor so unwahrscheinlich lange gewährt hatte. Eine in globalem, mehr noch solarem Maßstab herrschende Phase institutionalisierten Friedens war jäh zu ihrem Ende gekommen. Es hatte zwar immer Interessenkonflikte, Differenzen und unterschiedliche Visionen der eigenen Zukunft gegeben, aber diese waren politisch ausgeglichen und nutzbringend kanalisiert worden. Keineswegs waren Harmonie oder Einheit dabei die leitenden Ideale gewesen, sondern Respekt, Pluralität – nicht bloß Pluralismus – und Klugheit. Nicht paradiesisch war dieser Abschnitt der Menschheitsgeschichte gewesen, aber derart politisch organisiert und durch Traditionen gebunden, dass die solare Menschheit eine zivilisatorische Blütezeit ungeahnten Ausmaßes hervorgebracht hatte. Die weltweiten Entwicklungsunterschiede, welche in der Mitte des alten 21. Jahrhunderts als unüberwindlich gegolten hatten, waren nachhaltig ausgeglichen worden. Ausgleich und Solidarität hatten tatsächlich Wettkampf und Eigensinn als Prinzipien ersetzt.

 

Für einen Intellektuellen seines Ranges mag all dies gleichermaßen plakativ wie schöngefärbt klingen, aber in den verblassenden Erinnerungen an sein früheres Leben hatte die politische Ebene zeitlebens im krassen Gegensatz zu seinen persönlichen Nöten und existenziellen Miseren gestanden – Glorie neben Elend. Es war eine solare Öffentlichkeit entstanden, innerhalb derer ein politischer Diskurs sorgsam kultiviert worden war, dessen politische Konsequenzen daraufhin das Angesicht der politischen Kultur für immer verändert zu haben schienen. Die im Folgenden gegründeten supraplanetaren Institutionen hatten umfassende Legitimität ideal mit konstitutioneller Unabhängigkeit gegenüber den unvermeidlichen, anderen Machtfaktoren vereint; gegenüber den unzähligen föderal organisierten planetaren, kontinentalen, nationalen, regionalen Akteuren und auch gegenüber privat-wirtschaftlichen, ideologischen und religiösen Fraktionen. Die unweigerlich weiterhin vorhandenen Interessenskonflikte waren auf kleinstmöglicher Ebene und mit dem geringsten Maß an Vorteil und Schaden auf allen Seiten geschlichtet worden.

 

Dieses heillos komplexe, gleichwohl stabile Vielebenensystem war nach mehr als einem Solar-Jahrhundert plötzlich kollabiert und hatte nicht nur tiefe Gräben, sondern schiere Abgründe zwischen den diversen Interessengruppen, Machtblöcken und Ideologien innerhalb des kolonial erschlossenen Sonnensystems freigelegt. Dass ein entstanden war, war nicht zu leugnen gewesen, wurde er doch sogar unter dem unverhofften Wertepaar von Pluralität und Differenz immer als Stärke wahrgenommen und als solche kultiviert. Ob die epochale Errungenschaft eines Verzichts auf Universalismen mittelfristig mit zu ihrem eigenen Untergang geführt hatte, war weiterhin historisch und faktisch ebenso unklar wie es ein sehr bitter-ironisches Ende einer glorreichen Ära gewesen wäre.

 

„Hör endlich auf damit, das ist ja vielfach widerwärtig! Am Ende singst du noch das Lied der Philosophia perennis oder sprichst von Moderne, Neuzeit, goldenen Dingen und weiteren historisch unzulänglichen Selbstüberschätzungen. Von deinen wissenschaftlichen Mängeln in der Darstellung der goldenen Epoche und den ungebührlichen Vereinfachungen der historischen Entwicklung will ich gar nicht erst anfangen. Pah! Hör endlich auf damit und komm in die Gegenwart zurück!“, hämmerte es auf einmal in seinen tiefen Traum hinein.

 

Wenn bei dieser polemischen, aber hilfreichen Intervention nicht hauptsächlich Nietzsche federführend gewesen war, musste er sich doch ziemlich täuschen. Wie lange war er nun wieder geflasht gewesen; hatte die Fähre nicht eben zur Landung angesetzt? Nackenschmerz flutete durch seinen Schädel und verhinderte eine schnellere Orientierung.

 

Die planetare Fähre eines der vielen mächtigen und mächtigeren Akteure hatte dem einsamen Wanderer den Weg durch die meisten Schichten der Erdatmosphäre gebahnt. In einem von Fusionszellen betriebenen Meisterstück menschlicher Fertigungskunst, dessen neuartigen Triebwerke Schwerkraftneutralisation mit Pulsation optimal kombinierten. Wären nicht die chronischen Folgen von solarem Kollaps und die akuten Auswirkungen der interplanetaren Kriege gewesen, so wäre die Landung wohl ohne jede Turbulenz abgegangen. So aber mussten die Reisenden die eine oder andere Schwerkraftspitze nebst der schon erwähnten Technikstörungen erdulden.

 

Eine neuerliche Eskapade hatte Xaver bereits absorbiert und so realisierte dieser die physischen Unannehmlichkeiten während der Landung kaum noch. Ebenso wenig nahm er den nunmehr weinenden Jungen wahr.

 

Letztlich brachte das Eigentum der mächtigen Karlus-Korporation ihn, den leidenden Fast-Magister, lebendig und so wohlbehalten wie nur möglich auf die geschundene und ausgeblutete Erde zurück. Dort konnte es nur besser werden. Nach diesem Flug war Xaver Satorius sich so sicher, wie es sein akuter Zustand ihm erlaubte. Noch immer tief versunken, saß er ungerührt in seinem Sitz. Die letzten Passagiere hatte die Maschine vor gut zehn Minuten verlassen. So war er nun der letzte Mensch an Bord der Robotfähre, da das einzige Besatzungsmitglied ihn eben wach gerüttelt hatte und dann vorausgegangen war. Jetzt konnte er auch endlich seine Augmentate wieder aktiveren, wodurch sich seine Lage grundlegend verbessern würde. Aber wie sehr, wie weit und wie viel durfte er flüchten, mithilfe des Gedankenkonzils heraus der realen Welt ins hyperreale Exil?

 

Neues vom Dilettanten: Yin und Yang

Nach der schweren und stark nach Überarbeitung lechzenden Geschichte um den Fast-Magister Xaver Satorius, gab mir der dilettierende Kollege einen weiteren Text aus seiner Feder. Er versprach mir hoch und heilig, er sei viel besser lesbar und vor allem eines: kurzweilig und spannend.

Urteilen wir selbst und zwar in einem großen Schlag, alles auf ein mal. Hoffen wir, dass sich niemand verschluckt oder gar an dem zwölfeinhalb Seiten starken Textbrocken überfrisst.

Gute Lektüre und schöne Zeit, Euer Satorius


 

Ein Sturm zieht auf

Seiten 1 – 13

„Wir sind zwei und zugleich eins – mein Bruderherz Yang und ich – Yin, einfach nur Yin“, begann ich das Gespräch andeutungsvoll, abgebrüht und gleichzeitig doch reichlich abgedroschen mit meiner üblichen Begrüßung für Neulinge.

 

Ich hatte die abgenutzten Worte über den halben Platz hinweg Richtung Südtor gebrüllt. Wie meistens, wenn einer von uns sich lautstark bemerkbar machte, interessierte das die wenigen Wächter in der Nähe überhaupt nicht. Wir waren fast unsichtbar. Auch die zwei unnötigen Wachen dort drüben auf dem Wall beachteten unseresgleichen nicht, so auch jetzt.

 

Mit meiner Eröffnung wollte ich zugleich cool, schlagfertig und selbstsicher wirken, war ich aber nicht. Besonders nicht so kurz nach der letzten Tagschicht, die ich vorhin erst hinter mich gebracht hatte. Ich war müde, übellaunig und fertig mit der Welt. Außerdem waren die erbärmlichen Gestalten dort drüben ganz sicher kein begeisterungsfähiges Publikum für meine Showeinlage. So erntete ich auch überhaupt keine Reaktion auf meine Ansprache, nicht Mal die kleinste Regung. Wie sie so herumstanden in ihren abgerissenen, vor Dreck stehenden Klamotten, galt es hier weder, irgendwen zu beeindrucken, noch, gab es irgendwas zu gewinnen.

 

Die Gruppe stand starr im Eingangsbereich unseres Lagers, nachdem sich das schwere Panzertor vor wenigen Augenblicken mit einem unheilvollen Krachen fest und unwiderruflich hinter ihnen verschlossen hatte. Während das Krachen in der Ferne leiser geworden war und nun beinahe verhallt war, kehrten die beruhigenden Geräusche des prasselnden Regens wieder in den Vordergrund meiner Wahrnehmung zurück – rhythmisch, wohltuend und angenehm einschläfernd. Jugendliche Neugier rang in mir mit der Unlust, mich ernsthaft mit der Außenwelt und diesen da drüben zu beschäftigen. Die Neugierde gewann nur sehr knapp und spülte mit ihrer Frische die abendliche Mattheit und den berechtigten Ärger über unsere gesamte Lage nur ein wenig zur Seite.

 

Viel konnte ich aber beim besten Willen nicht erkennen: Kleine schmutzige Flecken, etwas verschwommen, gehalten in Abstufungen von Grau und Braun, eventuell gesprenkelt mit ein paar Tupfern Rot – aber dabei war ich schon nicht mal mehr sicher. Dass es vier Menschen waren, wusste ich aus Erinnerung und Nachdenken. Vor dem dunkelbraunen Tor mit einem düstergrünen Hintergrund fielen sie kaum auf, aber sie waren eben erst angekommen und daraufhin wie versteinert stehen geblieben – mehr konnte ich echt nicht sehen. In dem abendlichen Zwielicht und bei dem typisch schlechten Wetter war einfach nichts Genauere zu sehen. Scheiß Wetter wie eh und je, Nebel und Nieselregen – zudem lag ein Sturm in der Luft.

 

Der Fernblick über die Gruppe und den äußersten Schutzwall hinweg, bot bei gutem Wetter einen tollen Ausblick – nur kam das fast nie vor. Das wusste ich sehr gut, denn man prägte sich die wenigen schönen Dinge, die es hier überhaupt gab, besser gut ein. Ohne solche Kraftquellen verlor man schnell den Lebenswillen. Derzeit war mal wieder fast nichts davon zu sehen, also blieb mir nur fantasievolle Erinnerung: Rundherum die Randregion einer riesigen, mit Pflanzen überwucherten Ruinenstadt; nur in einer Richtung, in meinem Rücken, jenseits der Mauern, jenseits von allem hier drinnen, weit hinter dem aufdringlichen Zentralturm, gab es eine Ausnahme. Dort erstreckte sich ein tiefer ausgedehnter Urwald. Wie ein verschlungener, bunt gescheckter Pflanzenteppich wand er sich bergauf bis ins Hügelland im Südwesten. Es gab dort Baumriesen, die wohl bis in Tausend Meter Höhe emporragten, bis hinauf in die Wolken, vielleicht sogar über die Wolken hinaus. Manchmal stellte ich mir vor, wie ich mutig dort hin floh und einfach an den Bäumen hinauf bis in die Wolken kletterte, wie ich über die Wolken hinauskam und dadurch in ein neues, besseres Leben entkommen konnte. Ganz so, wie in den Märchen, die unsere Eltern uns früher vorgelesen hatten. Das waren bessere Tage gewesen, in einem früheren Leben, in einer unwiederbringlich verlorenen Zeit.

 

Heute Abend blieb all das unter einer tief hängenden, grau-dunklen Wolkendecke verborgen. Scheiß Wetter und wilde Natur soweit das Auge reichte und die Füße trugen, da machte die Nachbarschaft von Ruine und Wald kaum einen Unterschied. So schön die damit verbundenen Vorstellungen auch waren, so falsch waren sie; so dumm war ich, wenn ich sie mir machte: Menschenfeindliche Wildnis umgab uns rundherum, rücksichtslos, wüst und tödlich.

 

Der dampfenden Schlamm, der sich überall breitmachte, widerwärtig stank und hier draußen unter dem Dauerregen munter vor sich hingluckste und dabei widerwärtig schmatzte, war ein Vorbote dieser aggressiven Umgebung – militantes Dreckszeug, das mir gern gestohlen bleiben konnte. Ich war sehr gerne hier draußen, aber man sah danach immer aus wie ein schlammiges Monster. Da half am besten, den Dreck trocknen zu lassen und dann grob auszubürsten und das immer wieder: Tag für Tag, immer wieder, ohne Unterlass.
Durch Unmengen von dem unnützen Dreck hatten sich die Neuankömmlinge zuvor mühsam – da war ich mir sicher – ihren Weg hierher erst bahnen müssen. Währenddessen mussten sie ständig fürchten, von irgendetwas angegriffen und verletzt, wenn nicht sogar getötet zu werden. Oder sie wussten noch nichts von diesen Gefahren, die Glücklichen, und waren wenigstens in dieser Hinsicht Heil hier angekommen.

 

Sie mussten den weiten Weg durch den Matsch und die gefährliche Wildnis zu Fuß zurücklegen. Mitten hindurch durch einen Albtraum ging es der Tradition gemäß, ungefähr einen halben Tagesmarsch lang, so sah es das Ritual vor. Dabei sah man die rettende Zuflucht in der Ferne liegen, mitten im Talkessel mit dem markanten Pyramidenturm in ihrem Zentrum. Trotz allem, was zuvor passiert war, sehnte man die Ankunft dort herbei; um am Ende, wenn alles gut ging, Gor-Taunus soeben noch im Hellen zu erreichen. Erst die brutale Gefangennahme, dann noch der anstrengende Weg, zu Fuß durch die Wildnis, nur um dann letztlich in einem Gefängnis zu landen. Das war schon eine ziemlich grausame Art der Folter. Nicht nur das, diese Qual war ein entscheidender Teil ihres Plans, war der Anfang eines Versuchs von Gehirnwäsche, wie ich mittlerweile glaubte.

 

Wir hatten diese Tortur auch hinter uns gebracht. Damals vor langer Zeit hatten auch wir da durch gemusst, sogar vier Mal hintereinander. Beim ersten Mal war es schon schlimm, aber mit jedem weiteren Mal wurde es schlimmer, denn man wusste nun, was einem alles drohte. Die dauernde Angst sorgte, zumal ohne Nahrung und Wasser, dort draußen für unangenehme Grenzerfahrungen. Danach wusste man kaum noch, wer man vorher gewesen war. Genau darum ging es ihnen. Einmal aus jeder Himmelsrichtung mussten sich Neulinge in ihrer ersten Woche hier zum Lager durchkämpfen. Ich dachte aber besser nicht wieder darüber nach, das lag lange hinter mir und noch mehrfach vor den armen Teufeln dort drüben.

 

Also weiter im Gespräch, beschloss ich und rief noch lauter als eben: „Hey, Hallo! Keine Angst – kommt einfach zu uns rüber, wenn ihr könnt.“ Das war ehrlich und nett, mehr konnte und wollte ich nicht versuchen – jedenfalls nicht an einem so scheußlichen Tag, nach einem so zermürbenden Arbeitseinsatz.

 

Wie nach dem ersten Marsch und seinen Strapazen zu erwarten, reagierten die Neulinge nicht, auch nicht auf meine freundlichere, zweite Ansprache. Wahrscheinlich waren sie heftig traumatisiert und brauchten eine Weile, um wieder klarzukommen. Egal jetzt, ich sollte einfach noch ein paar Atemzüge lang schweigen, dann würde sich alles Weitere schon von selbst ergeben. Ich konnte einfach weitermachen wie zuvor, entspannen und zusehen. Mal ehrlich, ich hatte es ernsthaft versucht. Einfach nur abwarten und auf ihn aufpassen, mehr musste ich von hier an nicht mehr tun. Gleich würde es losgehen – ja, jetzt gleich musste es passieren, das spürte ich.

 

„Mein süßes Schwesterherz und ich sind verdammt unterschiedliche Marken, nicht wahr? Aber so dicke miteinander, dass wir eigentlich eins sind“, riss ich – Yang – impulsiv, wie ich halt bin, die Initiative nun an mich und setzte schnell nach:

 

„So richtig verstehen wir das verdammte Mysterium unserer Existenz ja auch nicht. Ihr versteht sicher gerade auch nicht viel, deswegen helfe ich euch ein bisschen auf die Sprünge.“

 

„Eins ist von nun an ganz klar und das müsst ihr euch von Anfang an wirklich gut merken: Wir sind hier keine Menschen unter Menschen mehr. Wir sind nicht mehr als räudige Sklaven. Also verhaltet euch von nun an wie solche!“

 

„Von nun an seid ihr, genau wie ich und Yin, ganz offiziell: Gefangene Seelen …“, ich ließ das letzte Wort in der Luft stehend wirken.

 

„Jeden verdammten Tag müssen wir uns den Gesetzen unterordnen und mehr als den halben Tag lang in Arbeitsschichten buckeln, sonst geht’s uns dreckig. Wenn wir mal nicht spuren, bekommen wir mindestens kein Essen und schlimmstenfalls versetzt einem das Ding hier schmerzhafte Stromschläge – aber keine Sorge, ihr bekommt auch noch euer Geschirr, dauert gewiss nicht mehr lange.“ Ich wies mit einer Grimasse auf meinen Disziplinator, der wie ein Käfig um meinen Kopf herum befestigt war.

 

„Solltet ihr Mal wirklich lebensmüde sein, könnte dieses technische Machwerk euch helfen. In einem Wimpernschlag kann es euch auslöschen, euch einfach so mal eben töten, wenn ihr es darauf anlegt. Aber genug davon, das kommt später. Spätestens Morgen wird man euch zusätzlich zu der Peilvorrichtung, die sie euch während der Inbesitznahme schon eingepflanzt haben, euren technischen Maulkorb verpassen.“

 

„Klingt grausam, nicht wahr? Ist es auch! Aber das alles ist wohl trotzdem besser, als hier wieder rausgeschmissen zu werden. Davon brauch ich euch eher nicht viel erzählen, das werdet ihr schon noch mitkriegen, wenn ihr es nicht jetzt schon geschnallt habt. Denn obwohl wir hier drinnen nichtige Würmer sind, unbedeutend und unwürdig, wären unsere kleinen Scheißleben dort draußen, hinter dem schützenden Wall, noch weniger wert. Keinen mickrigen Taugor, um genau zu sein, wären euer Leben dann noch wert!“ Trotz meiner eindrücklichen Worte zeigten sich weder Begreifen noch Verstehen in den wächsernen Mienen der kleinen Scheißer. Sie stand einfach so da, wie angewurzelt.

 

Ich musste wohl noch eine Schippe draufsetzen, wenn ich irgendwie zu ihnen durchdringen wollte. Also entschloss ich mich, noch lauter mit fast theatralischer Stimme fortzufahren:
„Nein ehrlich, glaubt mir! Mit Glück und Schnelligkeit schafft ihr den Tag über, vielleicht auch noch eine Stunde in der Dämmerung. Die Besten machen es eventuell ein klein bisschen länger, aber allerhöchstens überleben auch sie nur bis zum Beginn der Nacht. Dann sind auch sie dran. Eine Nacht in der Todeszone bedeutet ganz einfach nur eines: euren Tod. Nachts überlebt da draußen keiner von uns halbwüchsigen Schwächlingen. Keine Chance, nicht ohne ein paar ordentliche Waffen, gute Ausrüstung, viel Erfahrung und Killerinstinkte. Wo auch immer das hier herkommen soll, selbst damit bräuchtet ihr verdammtes Glück. Wir Scheißer sind wie ein Snack für die Jäger da draußen.“

 

„Träumt also gar nicht erst von Flucht! Freiheit bedeutet von nun an für Euch nur noch eines: den Tod!“, das letzte Wort hatte ich nun gellend laut geschrien, nachdem ich weiterhin nicht zu ihnen durchgedrungen war.

 

Harte Worte, aber wahre Worte hatte ich ihnen damit soeben als Begrüßung über den schlammigen Platz hinweg an ihre kleinen Köpfe geschmissen; aber ich hätte mir so offene Wahrheiten damals bei unserer eigenen Ankunft hier in der Siedlung echt gewünscht. Je eher sie ihre Lage verstanden, sich also ganz unten in die hiesige Hackordnung einfügten, gehorsam und konform wurden, desto kürzer war ihr Leidensweg. Ich wollte ihnen damit im Grunde nur helfen, genau so wie meine gutherzige, viel zu weiche und Schwester es eben auf ihre unsichere Art versucht hatte. Trotzdem, auch ich war damit nicht weiter gekommen als sie – guter Sklave, böser Sklave, auf die unvergleichliche, ungleiche Yin-Yang-Art eben.

 

Bei ihrer und erst recht meiner Laune und den dazu passenden, brutalen Worten, wunderte mich ihre gut gespielte Ruhe: Respekt Kleine! Lange lies ihre Reaktion nicht mehr auf sich warten, das ahnte ich – so leicht lies sie sich nicht den Chip von der Platine rippen. Meine Redezeit war fast vorüber, das wusste ich nun und sah ich es auch kommen. Ich hatte sie zuviel gereizt, das arme, gutherzige Ding.

 

„Mensch Yang, es reicht – du bist ein fieses Ekelpaket; lass sie doch jetzt damit in Ruhe!“, fuhr ich meinem Bruder nun endlich dazwischen, bevor er sich weiter in seinen unnötigen Gemeinheiten ergehen konnte. Er geriert schon wieder in verbale Rage und verlor sich in seiner Angriffslust. Von wegen: nur dasitzen und abwarten, so leicht machte es mir mein Bruder doch nicht.

 

„Sie sollen erst mal richtig hier in Gor-Taunus ankommen und sich ein wenig beruhigen können. Denk doch mal nach, die sind sicher total fertig, und verstört obendrauf durch das, was sie den Tag über durchmachen mussten“, redete ich auf Yang ein und fügte dann, versöhnlicher nun, noch etwas hinzu:

 

„Erinnere dich doch bitte einfach an unsere eigene Ankunft in diesem Drecksloch! Wir waren damals beide vier mal da draußen. Wie viele Tage lang wir danach total neben dem Datenkabel waren, ich weiß es nicht mehr, aber es waren einige. Es waren grauenvolle Tage, mit Schmerzen und Albträumen. Wir hatten sogar noch unsere alten Namen, erinnerst du dich denn nicht mehr?“ Bei den eignen Gefühlen und seinen schlimmen Erinnerungen konnte ich ihn packen, nicht sehr einfühlsam, aber nötig.

 

„Draußen hatten wir gerade so eben überlebt. Wir mussten von Anfang an nur auf uns gestellt klarkommen, ganz alleine. Dann die Spinner mit ihren dreiundzwanzig Sklavengesetze; das menschenunwürdige Geschirr, die ganze Scheiße damals!“

 

„Lass es uns ihnen bitte so einfach wie irgendwie möglich machen“, sagte ich versöhnlicher und fügte nun flüsternd hinzu, „denk daran, was ihnen noch bevorsteht. Das wird so schon schwer genug, das alles hintereinander und auf einmal zu verpacken, ohne daran zu zerbrechen. Das wissen du und ich ganz genau – zu genau. Bitte Yang!“

 

Damit versuchte ich, meinen Bruder in seinem überzogenen Gehabe zu bremsen und frühzeitig emotional zu entschärfen. Sein ätzender Drang, Schwächeren die Angst einzujagen, die er selbst nicht zulassen konnte, nervte mich aller Verbundenheit zum Trotz. Er tat das, um sich selbst besser zu fühlen. Ja, vielleicht hatte er im Grunde sogar Recht mit seiner Warnung, aber so durfte er die Sache nun wirklich nicht angehen. Dabei war er nicht immer so gewesen: gemein, bissig, teilweise verletzend. Das Lagerleben hatte ihn sehr verändert, er war härter und kälter geworden. Wenigstens sprach er noch immer die Wahrheit aus, das war ein kleiner Trost für mich.

 

Während mir dies durch den Kopf ging, wusste ich, es war im Grunde total gleichgültig; denn ich liebte meinen Bruder Yang über alles, innig und unbedingt. Er war systemweit der einzige Mensch, der mir in dieser grausamen Zeit von meinem alten Leben und meiner Familie geblieben war und dem ich lebenslang blind vertrauen würde. Wir waren entgegen dem äußeren Anschein vermutlich Zwillinge. Dadurch waren wir viel enger verbunden, als sich das die meisten einsamen Menschen vorstellen konnten. Auch wenn wir äußerlich und charakterlich alles andere als ähnlich waren, spürten wir und glaubten wir – nein, wussten wir sicher –, dass wir mehr waren als bloße Geschwister. So erspürte ich nun im geistigen Hintergrund seinen Wunsch, im Grunde auch nur beschützen und damit zu helfen zu wollen – leider auf seine aggressive, forsche Art. Daneben empfand ich jedoch auch die Erleichterung und die Genugtuung, die er spürte, während er auf den noch Schwächeren herumhackte; dumpfe Angst und ohnmächtiger Zorn eines selbst gequälten Opfers. Ich hatte die gleichen, kaum verheilten Wunden aus der gemeinsamen Vergangenheit zu tragen, einem Leben von Sklaven in einem Lager von Sklavenreibern. Natürlich lag ihm das alles ebenso, wenn nicht schwerer auf der Seele. Nur ging er schlechter damit um, wie ich entgegen aller Liebe zu urteilen wagte. Egal, die Schuldigen waren andere; sie waren verantwortlich, die ihn überhaupt erst in seine Offensive getrieben hatten.

 

Wegen unserer engen Bindung hatte ich ein Gespür dafür, was ihn ritt, und konnte meistens rechtzeitig eingreifen und ihn an den richtigen Stellen unterbrechen. Damit half ich ihm, ohne dass er das nach außen hin würdigen würde, und ähnlich, wie er dies auch bei anderer Gelegenheit auf seine Art für mich getan hatte und sicher wieder tun würde – ohne, dass ich es meinerseits großartig zum Thema machen musste. Jeder kannten wir die Schwächen des anderen genauso gut und besser noch, wie unsere eigenen und unterstützten einander dementsprechend. Wie in jedem guten Team ergänzten wir uns in unseren Eigenschaften und Fähigkeiten, im Guten wie im Schlechten.

 

„Okay! Bleib bitte Mal locker und werde wieder geschmeidig. Ist ja schon gut – dann also auf die nette Tour; aber nur für dich, Schwesterchen. Ich geh mal rüber und schau mir das aus der Nähe an, bleib du einfach auf deiner faulen Haut liegen“, lenkte ich milde und mürrisch ein, zu meiner eignen Überraschung.

 

Ja, sie kannte mich. Ich hatte ihre Einladung zu mehr Selbstbeherrschung gerne angenommen. Also zog ich brav meinen Schwanz ein und war schön artig, für die Harmonie. Ich hätte mich eigentlich bei ihr dafür bedanken können, aber warum Worte verschwenden. Wie fast immer war ich zu stolz, aber das war ok; eigentlich war das überhaupt nicht nötig, wir verstanden uns ohne Worte. Wir kannten keine gegenseitigen Schulden.

 

Noch immer hatte sich nicht viel verändert an der Situation: Die vier Grünschnäbel verharrten weiter wortlos und noch immer wie gelähmt; ja, sie schauten nicht Mal zu uns herüber. Also entschloss ich mich spontan, meiner Ansage die nötige Aktion folgen zu lassen, stand auf und begann ganz ruhig auf die Gruppe zuzugehen, mit meinem freundlichsten Lächeln auf den Lippen.

 

Da ich zuvor etliche Meter vom Tor entfernt mit Yin rumgesessen und relaxt hatte, erkannte ich das schräge Quartett erst jetzt beim langsamen Näherkommen in seiner vollen Pracht. Bei der Witterung und dem miserablen Licht, am frühen Abend, war die Sichtweite mehr als bescheiden. Eine komische Truppe war das, wie ich nun schrittweise klare erkennen konnte:
Der blasse, rothaarige Junge – Marke Streber – wirkte verängstigt und blickte bisher nur starr und zitternd auf den schlammigen Boden. Er wirkte unscheinbar und sogar noch eine Nummer schwächer, noch harmloser als der Rest der Truppe.

 

In der Mitte, rechts neben dem Rothaarigen standen zwei etwas zu dick geratene, dadurch aber kräftiger und fitter wirkende Mädchen. Mit ihren blonden, strähnig-fetten Haaren, die sie unvorteilhaft zu dicken Zöpfen gebunden hatten, sahen sie sich verdammt ähnlich. Nein, mehr als das, sie sahen, soweit ich das jetzt erkennen konnte, allen Ernstes wie waschechte Zwillinge aus. Die Linke der beiden hatte draußen wohl was abkommen, hielt sich bloß noch irgendwie auf den Beinen. Ihre unverletzte Schwester stand rechts neben ihr, blickte panisch umher, schielte scheinbar in mehrere Richtungen gleichzeitig. Wie ihre Leute schien auch sie am Ende ihrer Kräfte angekommen zu sein. Im Gegensatz zu ihrer Schwester wirkte sie aufmerksam und fast hektisch, wie sie dennoch gebannt dastand. Sie half der verletzten Zwillingsschwester nach Kräften, hatte sie im Arm und unterstützte sie. Die regte sich gerade erstmals, ihr Gesicht wurde kurz lebendig; von Schmerz leicht verzehrte, blutunterlaufene Augen schauten mich scheu an. Bis dahin hätte man die Kleine für bewusstlos oder halb tot halten können, so schlaff hing sie an ihrer Schwester. In den Knien eingeknickt hielt sich gerade so aufrecht. Nun war ihr Kopf wieder vorüber gefallen. Reglos dennoch und still ging das vor sich. Aber was war das?

 

Mein Blick wanderte weiter zum letzten Mitglied der Gruppe, sie stand etwas abseits und weiter hinten. Auch sie verharrte dort wie gebannt. Die Letzte der Vier war, so etwas gabe es hier eigentlich nie, sie war – schön. Eine angenehme Ausnahme und weit mehr als das, sie sah trotz der ungünstigen Umstände verdammt gut aus. Nein, sei ehrlich, sie sah verdammt heiß aus. Wohl die Älteste der Gruppe war sie wohl nur wenig jünger als ich selbst. Schwarze, lange Haare umrahmten ein dreckiges und blutverschmiertes Gesicht, das einer selbstbewussten Schönheit gehörte.

 

Während ich, meinen Blick auf die Schönheit geheftet, die letzten Meter zurücklegte, drängte sich plötzlich das Prasseln des Regens, die erfrischende Kühle auf der Haut und der widerwärtige Gestank der Wildnis unwiderstehlich in den Vordergrund. Die Umgebung wurde mir schlagartig mit allen anderen Sinnen bewusst. Da lag ein fauliger Geruch in der Luft, unnachahmlich und zugleich unbekannt.

 

Wenige Sekunden waren so vergangen, bis ich wieder in die Welt zurückkehrte und in dieser gerade bei unseren Neulingen angekommen war. Also setzte ich direkt zu meiner offiziellen Begrüßung an:

 

„Wie vorhin gesagt, seid ihr von nun an Sklaven. Wie ich, meine Schwester und die meisten hier im äußeren Ring welche sind! Nicht böse gemeint, aber das sind die Fakten.“
„An sich erst mal scheiße; das stimmt! Aber erstens, ihr lebt und zweitens, ihr habt hier einen zivilisierten Ort betreten. Der hiesige Stil ist zwar ziemlich altmodisch und etwas derb, aber allemal besser als die tödliche Wildnis, aus der ihr gerade kommt.“

 

Damit hatte ich erste kleine Bewegungen erreicht. Die Blicke des lebhafteren Zwillings und der Schönheit waren nun schon mal auf mich gerichtet. Auch der Junge hob nun wenigstens einmal kurz seinen Kopf und schaute auf. Ich blickte in Augen voll unterdrückter Panik. Er blickte verstohlen zur Verletzten und wandte sich sofort wieder ab; ganz so, als wäre er bei etwas ertappt worden. So schlimm war sie nicht verletzt, äußerlich hatte sie nur ein paar blutige Schrammen an ihrem rechten Oberarm. Es blutete nicht mal mehr. Halb so wild also, befand ich stillschweigend.

 

„Kommt einfach erst mal mit rüber. Vom Tor weg, raus aus dem kalten Regen und dem Schlamm. Ich zeig euch anschließend schnell eure vier Suiten dort drüben im Penthouse. Selbstverständlich serviere ich einen Aperitif und dann geht’s sofort zum Hausarzt. Naja, so oder so ähnlich wird‘s zumindest laufen.“ Mit dieser humorigen Einlage hatte ich sogar den Jungen etwas aufgemuntert. Er beruhigte sich ein wenig. Dem Gesicht der Schönheit hatte ich dabei mit all meinem Charme sogar ein erstes, kleines Schmunzeln entlocken können.
Plötzlich gab der verletzte Zwilling ein seltsames, undefinierbares Geräusch von sich: ein tiefes, kehliges Gurgeln, irgendwie alt, jedenfalls überraschend. Nur kurz und bellend, nun herrschte wieder Stille. Der Junge verlor seine Ruhe sofort wieder und ging ein wenig zur Seite. Auch die Schöne machte einen kleinen Bogen. Meine Güte, die Kleine musste verdammt schnell zu einem Arzt oder ihr war nicht mehr zu helfen. Dass der andere Zwilling nun in noch tieferer Sorge war und vermutlich Seelenqualen litt, konnte wohl gerade ich sehr gut nachempfinden. Die zuvor gewonnene Aufmerksamkeit hatte ich fast wieder verloren. Das Eis war also am Antauen, vielleicht konnte ich es ja direkt brechen, wenn ich mit meinem stupiden, aber herzlichen Humor einfach unbeirrt weitermachte:

 

„Ich bin Yang“, gefolgt von einer tiefen Verbeugung, „euer persönlicher Ansprechpartner hier vor Ort. Meines Zeichens das Willkommenskomitee von Gor-Taunus. Vielleicht werden Freund, später irgendwann, wenn ihr dann noch Bock auf so was Kitschiges wie Freundschaft haben solltet. Kommt einfach mit rüber oder lasst es.“

 

„Auf dem Weg dürft ihr euch im Übrigen gerne auch eine Runde zu Wort melden. Wenn ihr euch vorstellen könntet, wäre das ein guter Anfang. Ihr müsst das aber natürlich nicht – alles kann, nichts muss. Denn wie jede gute Servicekraft, lese ich euch alle Wünsche auch von den stummen Lippen ab. Kommt aber bitte wirklich mit rüber zu Yin und dann schauen wir gemeinsam weiter. Sieht übel für die Kleine aus, was hat sie abbekommen?
„Nein, immer noch kein Kommentar? Ok, also gut – dann sollten wir keine wertvolle Zeit verschenken.“

 

Zuletzt fügte ich noch zur Schönheit gewandt hinzu: „Auch du könntest auch ein kleines rosa Pflaster vertragen – schmutzige Schönheit!“

 

Ohne lange auf eine Reaktion zu warten, drehte ich mich kurz entschlossen um, vielleicht ein bisschen zu barsch, und ging schnurstracks los. Zurück in Richtung des Überdachs aus durchsichtigem Kunststoff. Dort wartete Yin, saß gemütlich und ziemlich passiv in ihren Formschaumsack gefläzt: Der Lilafarbene war ihrer und ich benutzte üblicherweise den Dunkelgrünen. Durch eine dicke Schicht aus Dreck entstellt, erkannte vermutlich nur noch ich die ursprüngliche Farbe, weil ich sie aus Gewohnheit zuordnen konnte. Die Sitzsäcke lagen vor unserer kreisrunden Glashütte mit ihren knapp vier Metern Durchmesser und einer mittleren Höhe von 2 Metern. Sie lag inmitten eines chaotischen Wirrwarrs aus den unwahrscheinlichsten Gegenständen. In ihrer Gesamtheit waren die runtergekommene Umgebung und der Vorplatz unserer gläsernen Behausung das, was wir zwei in liebevoller Übertreibung unsere Veranda nannten.

 

Alles war unglaublich dreckig, klebte und triefte. Es stank widerwärtig; überall lagen Unrat und Schrott herum. Einzig die kugelrunden Gebäude unterschieden sich, makellos, im krassen Kontrast zu allem anderen – ekelhaft in ihrer technischen Perfektheit. Durch die Schmutzresistenz des Werkstoffs waren die Wände immer sauber und fast durchsichtig. Ohne den Regen, der in dicken Perlen hinunterlief, konnte man sie glatt übersehen, was erfahrungsgemäß schmerzhafte Folgen haben konnte. In ihrer Durchsichtigkeit glichen sie Fenstern, durch die hindurch man abermals noch mehr Dreck und lebendiges Elend beobachten konnte: unsere schmutzigen kleinen Existenzen in ihren intimen Einzelheiten. Wir Sklaven aus der Außenstadt waren Menschen der untersten Ebene und mussten allen Ernstes in Glashütten hausen – immer unter Beobachtung stehend, stets unter Kontrolle und damit den verdammten Gesetzen ausgeliefert. Die Überwachung wurde nicht verheimlicht, wieso auch: Optiktürme, mobile Überwachungseinheiten und unser Geschirr waren allgegenwärtige Begleiter und erinnerten uns ständig daran, wer wir waren: menschliches Vieh.

 

Die wenige Freizeit, die uns neben der harten Arbeit vergönnt war, verbrachten wir am liebsten hier draußen knapp hinter dem äußersten Wall und unweit des nordöstlichen Zugangs zur Stadt. Wir mieden die hübscheren, zentraler gelegenen Bereiche der mit drei Schutzwällen stark befestigten Anlage. Von den Gebäuden und Möglichkeit dort hätten uns sowieso nur die wenigstens offengestanden. Es stank hier definitiv mehr, war gewiss kälter, windiger und unwirtlicher; im Ernstfall sogar der unsicherer; dafür kamen unsere hohen Herren selten persönlich hierher an den Rand ihres kleinen Reichs. Konnte sich ein Sklave ohne anwesende Herren nicht wenigstens eine bisschen freier fühlen? Wir blieben weiterhin absolut überwacht und kontrolliert: mechanisch, elektronisch und existenziell. Egal, ich konnte hier einfach freier Atmen. Noch wusste ich nicht, ob sie mir folgten. Ich würde mich auf dem restlichen Weg nicht rumdrehen.

 

Da kam er schon wieder zurück, zurück von seiner netten Tour; scheinbar ohne Erfolg. Die Gruppe stand nämlich noch im unbewegt und so weit ich das gegen den Regen hören konnte, weiterhin schweigsam vor dem Ausgang in den Kreis zur äußeren Hölle. Ihnen selbst war das Tor wohl davor wie eine Verheißung auf zu Zuflucht und Rettung erschienen. In Wirklichkeit war es das Portal in den inneren Kreis der Hölle.

 

Ich fühlte aber, dass er irgendetwas erreicht hatte. Wenn er wenigstens mit ein paar Details und ohne große Neuigkeit zurückkam – auch gut. Falls sie nicht kamen, sollten sie halt weiter im Regen stehen und frieren: ihr Pech!

 

Doch dann, ohne Anzeichen, wie auf einen geheimen Befehl hin, kam Bewegung in die Szenerie. Als ich schon fast nicht mehr damit gerechnet hatte, schloss sich zuerst die größte der vier Gestalten an – zögerlich zunächst, doch dann, Schritt für Schritt, mit wachsender Entschlossenheit, folgte sie meinem Bruder über den schlammigen Vorplatz. Kurz darauf gab sich auch ein zweiter der Neuankömmlinge einen Ruck. Als Yang an der Spitze beinahe hier angekommen war, setzten sich auch noch die letzten beiden Figuren, die eine schleppend, die andere humpelnd in Bewegung. Mit der linken Person war irgendwas schwerwiegend im Argen, jedoch nicht schlimm genug, um dafür extra aufzustehen. Sollten sie ruhig zu mir kommen, denn wir würden ihnen heute sicher noch genug helfen, da war ein klein bisschen Bequemlichkeit im Vorfeld vollkommen in Ordnung.

 

Außerdem hatte ich seit wenigen Sekunden ein ziemlich ungutes Gefühl im Magen. Dazu noch ein Sausen in den Ohren und ein Kribbeln in der Nase, damit waren die Anzeichen komplett. Ich war weder weich, noch erkältet, sondern feinfühlig. Abergläubisch bin ich nicht, ich glaube nicht an Magie. Dennoch folgte auf dieses Gefühl und seine typischen Begleiterscheinungen meist etwas Bedeutsames. Meiner Intuition konnte ich vertrauen, denn sie hatte mir oft genug einen hilfreichen Wink gegeben. Leider wusste ich wie immer nicht, ob eine Gefahr drohte, eine Gelegenheit auftauchte oder ein unglaublicher Zufall ins Haus stand. Erst ganz kurz vor dem Ereignis kam die passende Emotion hinzu. Erst dann wurde aus ungewisser Erwartung, eine als gut oder schlecht beurteilbare Zukunft.

 

Eine der Wachen hatte soeben zum ersten Mal flüchtig zu meinem Bruder und den Neuankömmlingen herüber geschaut. Daraufhin hatte sie in ihrem Nichtstun innegehalten und ihrem Begleiter rasch etwas zugerufen, woraufhin dieser nun aktiv wurde. Er holte etwas aus dem Tornister seiner Panzerung hervor: Keine Waffe, dafür war das Gerät zu klobig, irgendwas anderes.

 

Die Zeit schien auf einmal träger dahinzufließen als zuvor. Langsamer, immer langsamer; wie Honig floss sie nun zähflüssig dahin. Ich spürte sie, hörte sie Tropfen für Tropfen tausendfach um mich herum aufschlagen, leise, laut, platschend auf Schlamm, klackend auf dem Metall und prasselnd auf dem transparenten Kunststoffdach über mir, dumpf pochend drüben auf dem Wall und noch dumpfer schmatzend auf den Polstern der Sitzsäcke, um mich herum.

 

Die Wachen wurden hektisch. Die Zeit blieb träge und das Gefühl weiterhin unbestimmt.

 

Yang war mittlerweile schon fast heran und setzte mental wahrscheinlich gerade zu einem seiner blöden Kommentare an, als es passierte:

 

Erst ein seltsames Knurren,
tierisch und unbändig, urgewaltig und brutal.

 

Dann ein widerwärtiges Krachen,
gefolgt von einem schrillen, markerschütternden Schrei!

 

Stille, unendlich lang …

 

Angst flutete mein Bewusstsein, schlagartig und heftig zugleich!
Lähmende Panik nahte heran …

 

Fast gleichzeitig brauste nun eine heftige Sturmböe auf, wirbelte mein blondes Haar empor und peitschte direkt schmerzhaft in Gesicht und Augen. Ganz so, als habe plötzlich jemand einen Regler in dramatischer Geste bedeutungsvoll in die Höhe gerissen, drehte das Unwetter schlagartig richtig auf und bot damit dem Geschehen eine Kulisse: gespenstisch-grauenvolles Aufheulen des Windes; zornig umherfliegendes Laub in einer feuchten, geradezu modrigen Luft. Vom einen Augenblick zum anderen rutschte die komplette Atmosphäre auf der Wohlfühlskala schlagartig in den negativen Bereich.

 

Glich die Zeit eben noch einem trägen, süßen Honig, so schien dieser Zustand auf einmal umgedreht worden zu sein. Ein Damm war gebrochen und die zuvor angestaute Zeit wollte wohl ihren Rückstand wieder gut machen. Wie ein Schwall salziges Wasser ergoss sie sich auf meinen Geist. Ich war herausgefallen aus der gemütlichen Langsamkeit von Erinnerung und Denken – mitten hinein in einen unnachgiebigen Strom der Ereignisse; einen Sturm des Geschehens.

 

Ich hatte es vorher nur unbestimmt gespürt; ich hatte es aber wieder einmal geahnt. Mein Bauchgefühl trog mich selten, aber was hier nun genau losgebrochen war, wusste ich nicht – warum eigentlich nicht? Was hatte da so entsetzlich geklungen, wer hatte eben so jämmerlich geschrien und warum überhaupt?

 

Panik und Stress fluteten mein Bewusstsein nun vollends und zwangen es gnadenlos und unwiderstehlich in den Moment, heraus aus der Nachträglichkeit der erinnerten Vergangenheit hinein in die lebendige Zudringlichkeit der Gegenwart: Eben war und musste ich, jetzt bin ich am Leben und muss überleben. Also wische ich mir Haare und Tränen aus den Augen und blinzle nur kurz, damit ich ein wenig mehr sehen kann. Mein Bruder steht nun knapp vor mir; dreht mir kurz den Rücken zu. Er hat sich schneller als ich zur Quelle des Schreis herumgedreht und hat scheinbar schon Klarheit erlangt. Soeben stößt er einen Seufzer des Entsetzens aus. Er scheint eine bittere Erkenntnis gewonnen zu haben.
„Argh! Nein, nicht doch – scheiße Yin. Wie konnten wir nur so dumm und naiv sein, das war doch nur eine Frage der Zeit! Sie war offensichtlich verletzt und wir haben den Braten trotzdem nicht gerochen. Ich stand vor ihr, habe sie gehört und etwas gerochen,“ fluchte ich lauthals, taumelte kurz und hielt mich daraufhin an meiner Schwester fest; sie gab mir die nötige Kraft. Wir umarmten uns.

 

Mein Bruder ist mittlerweile bei mir angekommen und hat mich kurz umarmt. Er wirkt verstört und hat irgendwas gesagt, aber ich verstehe nicht, was, noch gar warum hier alles auf einmal verrückt spielen muss. Abscheuliches, Widernatürliches bahnt sich seinen Weg in mein Bewusstsein, vorbei an allen schützenden Schranken. Hinter Yang sehe ich etwas, beginne ich die Ursache für das Chaos zu realisieren. Ungläubig und widerwillig sträubt sich mein Kopf jedoch, das hinzunehmen.

 

„Was zur Hölle ist denn das dahinten?“, bringe ich endlich erstickt japsend hervor und bin dabei wie angewurzelt. Ich schaue an ihm vorbei und traue meinen Augen kaum, dabei vertieft sich die Lähmung in meinen Gliedern weiter. Eine ekelhafte Kälte wandert meine Wirbelsäule hinauf; greift jetzt nach meinem Gehirn, droht es erbarmungslos auf Eis zu legen. Ich weiß weder warum noch woher, aber ich spüre, wenn ich hier nicht schleunigst wegkomme, wird die Sache hier richtig übel ausgehen.
„Komm schnell Schwester, weg hier – und ihr auch: Macht hin und rennt um eure verdammten Leben!“

 

Gerade als ich mich zurückdrehte, beginnen wollte loszurennen, spürte und sah ich gerade noch rechtzeitig, dass Yin wie vom Blitz getroffen stehen geblieben war und sich nicht vom Fleck rührte. Deshalb griff ich nach ihr und wollte sie mit mir wegziehen, was mir nach wertvollen Sekunden nur mühevoll gelungen war. Sie vor sich selbst zu bewahren, war meine Aufgabe. Sie hatte das Ereignis wohl ein paar Sekunden vorher bereits geahnt, womit bei ihrem Temperament aus einem Segen ein Fluch geworden war. Anstatt sich dankbar vorzubereiten, nutzte ihr Geist die kostbare Zeit, um aus Angst lähmende Furcht werden zu lassen.

 

Unsere einziges Ziel lautete: Hinter den zweiten Wall gelangen und dabei bloß nicht zurückblicken.

 

Zwei kurze, unerwiderte Sätze haben Yang und ich uns wie im Stakkato zugeschossen. Nun packt er mich an der Schulter und will mich herumwirbeln, um mich mit sich fortzureisen. Es gelingt ihm stockend und er befreit mich damit aus meiner Versteinerung. Ich erwache zu neuem Leben, kann die Lähmung abschütteln und schleiße mich ihm an. Da kommen auch schon die anderen, die Wachen rennen.

 

Nun gibt es nur eine Richtung: Weg von dem Unfassbaren, dem Schrecklichen, dem, was meine Sinne zwar in all seiner brutalen Hässlichkeit aufgenommen haben, dessen Ungeheuerlichkeit anzunehmen sich mein Bewusstsein aber weiterhin konsequent weigert.
Jetzt, da meine Gliedmaßen mir wieder gehorchen, habe ich nur einen knappen Befehl an meine beiden Beine: Flucht! Lauft richtig schnell fort von hier, rennt einfach nur ganz weit weg.

 

 

#12/12 – Einstweiliges, erweitertes Ende eines ergötzlichen Einstands

Eine kleine Geschichte in der großen Geschichte geht zu Ende. Jedenfalls lässt der Einstand mehr erwarten. Mehr zu lesen vor diesem ersten Ende der Erzählung gibt es noch oben drauf. Der ungenannte Kollege und Erstlingsschreiberling trat mit weiteren Seiten an mich heran. Deshalb gibt es nun zum Abschluss in Teil 12 eine doppelte Portion Text.

Genussvolles Lesen und Leben, Euer Satorius


Die Heimkehr des verspannten Fast-Magisters

Teil 12 von 12: Seiten 34 bis 40.

Nachdem der Aggressor buchstäblich außer Gefecht gesetzt worden war, stürmte Frau van Beeger die wenigen Meter zu ihrem Mann und kümmerte sich sofort mit ihren Möglichkeiten um ihn; ohne die sofort herbeigerufene, mobile Medizinalstation wären all ihre Fürsorge und Liebe jedoch vergebens gewesen, hier half nur noch medizinische Hochtechnologie. Denn der aggressive Gewaltausbruch des gefechtsaugmentierten Wächters hatte ernstliche innere Verletzungen zur Folge gehabt, was angesichts von unfairen Vorteilen wie Muskelverstärkung, Panzerung und Nahkampferfahrung kaum überraschte. Dank enormer Fortschritte in Medizin, Robotik und Informatik würden die Behandlung der Schäden, die eine zertrümmerte Flanke und ein ebensolches Gesicht mit sich brachten, nur eine Frage von gut 15 Neu-Minuten Notfalloperation direkt vor Ort sein. Danach würde der Patient lediglich noch einige Tage Schonung bei normaler Alltagsbelastung bedürfen. Selbst die ästhetischen Entstellungen konnten kosmetisch gut kaschiert werden, bis sie endgültig abgeheilt sein würden. Ob dieser glimpfliche Ausgang Kirchner bewusst gewesen war, als dieser losgestürmt war und wie ein Wilder angegriffen hatte, mag angezweifelt werden.

 

Als er die erste Hilfe für das schwer verletzte Opfer veranlasst hatte, wies Hofmeister den nunmehr zwar wieder beweglichen, aber weiterhin mit Lähmungen gestraften Kollegen förmlich zurecht und beließ es aus Disziplinargründen bei einer Paralyse der oberen Gliedmaßen, mitsamt der Sprachmuskulatur. Damit gleichsam Richter und Henker, tat er sich selbst und allen anderen einen großen Gefallen. Xaver ging, während er die Situation bei Hofmeister in guten Händen wähnte, den kurzen Weg zurück und wollte holte, sehr zu dessen offenkundiger Freude, den kleinen Mauritius ab. Hofmeister hatte zuvor auf seine Anfrage hin, nur stumm und wohlwollend genickt.

 

„Hallo, da bist du – endlich! Gehen wir jetzt zusammen zu Mama und Papa, Zauberer Xaver Satorius?“ fragte dieser sofort frei heraus zur Begrüßung; dabei war Xaver wahrlich nicht sehr lange weg gewesen. Mauritus Mutter – Eris, wie er von dem roten Lockenkopf gerade auf dem kurzen Rückweg erfahren hatte – hatte in ihrer akuten Sorge um den lebensgefährlich verletzten Partner noch keine Zeit gehabt, nach ihrem Sohn zu sehen. Nun freute sie sich deshalb um so mehr, als dieser in Xavers Begleitung unerwartet die Szene betrat. Die Freude der Ehefrau über die Rettung ihres Mannes wurde noch durch die Erleichterung der besorgten Mutter gesteigert. Ihr wunderschönes, elfenhaftes Gesicht, nun noch verziert durch ein glockenhell klingedens, einfach bezauberndes Lachen, zog Xaver in seinen Bann. So ließ er sich einen unendlichen Augenblick des Glücks und der Liebe lang in das Antlitz von Eris van Beeger versinken. Es war geborgtes, fremdes Glück und die Liebe galt nicht ihm, trotzdem er hatte sie in dieser Form hier überhaupt erst möglich gemacht. Anteilnahme dieser Sorte war eine seltene Erfahrung für den emotionalen Einzelgänger, aber sie fühlte sich gar nicht so übel an; ein Ereignis das Matrina mehrfach hervorhob und dessen Bedeutsamkeit sie wortreich und schmeichlerisch betonte.

 

Nachdem die pure Freude sich in einer unendlichen Folge unendlicher Augenblicke erschöpft hatte, kehrte die sogenannte Normalität zurück und damit griffen alle wieder zu ihren öffentlichen Masken: Er selbst, der augmentat-starrende Gelehrte, zufällig und unverhofft zum Retter avanciert; sie, die schrille und womöglich rebellische, atemberaubend schöne, junge Mutter; er, der ungeduldige und unstete, aber insgesamt integere und verträgliche Wächter; es, das überglückliche, verzogene, dennoch im Grunde sympathische Kind – es trägt übrigens, wie nicht anders zu erwarten, die kleinste Maske – und schließlich noch die beiden Archetypen: Das geschundene Opfer, das gerade von seiner Familie sehnlich erwartet, in einer mobilen Operationseinheit unter Temporalnarkose stand und in wundersamer Eile geheilt wurde, und letztlich der sadistische Peiniger, der einer Groteske gleich, stumm und sichtlich gematert am Rand der Szenerie stand, nicht konnte, was er wollte und zudem einer ernsten Strafe entgegensah – so standen sie da und wurden von nur wenigen verstohlenen Blicken gestreift. Die Passanten taten alles, um nicht aufzufallen, sei es im Guten wie im Schlechten. Man scheute sich davor, auch nur in den Blick der Mächtigen zu geraten, dieser Tage in dieser Gegend des Sonnensystems.

 

„Was ich vorhin sagen wollte, bevor Kirchner ausgetickt ist und mit seinem Übergriff den kleinen Rest an Glaubwürdigkeit verspielt hat, den ich ihm noch zugebilligt hatte, spielt nun keine Rolle mehr. Ich muss mich im Name der Karlus-Korporation vielfach bei ihnen und vor allem ihrem Gatten entschuldigen. Mein Kollege wird in jedem Fall disziplinarische Maßnahmen zu tragen haben. Es mögen düstere Zeiten sein, aber zumindest grundsätzliche Grenzen von Sittlichkeit und Anstande kennen wir noch, hier im alten Deutschland. Ich werde mich persönlich für eine Ausschüttung von Schmerzensgeld stark machen, kann aber in dieser Hinsicht nichts versprechen. Was die Behandlung und die Folgekosten der Verletzung angeht, garantiere ich ihnen weiterhin Kostenfreiheit in allen unseren Einrichtungen – und glauben sie mir, das sind fast alle Empfehlenswerten hier vor Ort.“ Eine glaubhafte Entschuldigung, mit der sich Hofmeister, etwas zu abrupt um gut platziert zu sein, an die Versammelten wandt; dem Ton nach untertänig und sich der Offensichtlichkeit der groben polizeilichen Verfehlung bewusst. Er würde des Weiteren selbstverständlich auf Ermittlung in diesem Fall verzichten und erbot sich nun uneingeschränkt als Fahrer für die vier, überraschend zusammengewürfelten Weggefährten. Wer hätte anfangs gewagt, diesen günstigen Verlauf der Ereignisse zu prognostizieren: 66,6023 Prozent Erfolgswahrscheinlichkeit hatten sich eindrucksvoller realisiert, als sie zunächst in ihrer Nüchternheit hatten erwarten lassen hatten. Wahrscheinlich war der Ausraster des ungehobelten Barbaren der ausschlaggebende Faktor gewesen, zum Leidwesen von Edgar van Beeger, durch dessen Ausbleiben Xavers Blatt, seiner Trümpfe zum Trotz, wie ein Kartenhaus in sich hätte zusammenstürzen können – früher oder später.

 

Nun nach den Zugeständnissen durch Hofmeister, gab es auch endlich die Gelegenheit, sich einander zu näher vorzustellen und abzusprechen, selbstverständlich unter Wahrung der Rollen, also teilweise hinter vorgehaltener Hand und im Flüsterton. Eris hatte sich zuerst erfrischend herzlich, offen und ehrlich, aber nicht distanzlos bei ihrem Retter bedankt und hatte ihm während der kurzen Umarmung, die Xaver sehr genossen hatte, die nötigsten Informationen zugeraunt. Kurz darauf war dann auch ihr Partner Edgar wohlbehalten aus der mobilen Medizinalstation gestiegen und hatte damit von der Schwelle zum Tod zurück ins Leben gefunden. Wenn man sich seines jämmerlichen Anblicks von Vorhin entsann, mit schmerzverzehrtem Gesicht, schreiend und blutend, grenzte diese spontane Heilung beinahe an ein Wunder. Er hatte etliche Rippenbrüche erlitten; Läsionen von Milz, Nieren und Lunge zu ertragen sowie schwere bis leichte Traumata bis Prellungen aller inneren Organe zu beklagen; einschließlich eines gebrochenen Kiefers mitsamt einem schweren Schädelhirntrauma. Schließlich war er nun Dank einer ersten, zwiespältigen Kontrolltechnologie vor noch Schlimmerem – dem Tod vermutlich – bewahrt worden und wurde nun von einem zweiten, medizinischen Artefakt kuriert.

 

Nach seinem Ausstieg nach Außen hin fast vollkommen wiederhergestellt, eilte er freudestrahlend zu seinen Lieben und feierte seine Wiedergeburt entsprechend frenetisch. Danach wandte er sich zu Xaver um, der still und zurückhaltend dem familiären Glück seinen Raum gegeben hatte, indem er auf halber Strecke zu Hofmeister abgewartet hatte. Er und sein Familie bestanden zum Dank für Xavers Hilfe darauf, ihn wenigstens zu einem gemeinsamen Essen einzuladen. Mauritius liebte seinen Zauber sowieso und so war die anschließende Fahrt in lebendigeren Bezirke von Frankfurt Rhein/Main schnell beschlossen. Dafür galt es nun als erstes aus dem Zentralknoten herauszukommen, wofür sie sich geschlossen auf den Weg in die subterranen Tiefen machen mussten. Dort, ungefähr drei Kilometer unter der Erde, so erklärte Hofmeister auf dem Weg, würde sein und Kirchners Fahrzeug auf sie warten. Gegen den Weg und die kurzweilige Möglichkeit, Eris genauer kennenzulernen, hatte Xaver wenig einzuwenden – ganz im Gegenteil; Kind und Ehemann zum Trotz und ohne den Glauben, seine verstiegene Fantasie je verwirklichen zu können, überhaupt wirklich zu wollen. Sowohl stand er sich, als auch sie ihm dabei im Wege. Er mochte Mauritius viel zu sehr und begann langsam Edgar wertzuschätzen, außerdem war er Frauen gegenüber immer ziemlich abgeneigt gewesen – früher, bevor er schrittweise augmentiert worden war. Ein nicht zu unterschätzender Nebeneffekt, der sich im Laufe seines Exils auf dem Mond eingestellt hatte. Vor allem aber hatte Eris noch ein Wörtchen mitzureden, von Edgar mal großzügig abgesehen. Sie war zwar zutiefst dankbar und öffnete sich, alleine wegen ihrer extrovertierten Art, anderen gegenüber relativ schnell, mehr aber auch nicht.

 

So tat ein augmentierter Neu-Mensch, der wider seiner Natur und hauptsächlich aus existenzieller Notwendigkeit heimkehrte Richtiges im Falschen: Im Herzen Zorns und auf dem größten Schlachtfeld das die menschliche Geschichte je hervorgebracht hatte; im Vakuum der Humanität hatten er und die Segnungen der Hochtechnologie für eine hoffnungsvollen und schönen Moment an diesem Saturntag den 21.5 des Jahres 2205 gesorgt. Nur zehn Sonnen-Jahre nachdem der Fortbestand der solaren Menschheit in 2195 aufs Äußerste gefährdet worden war; aufgrund einer Katastrophe, deren unmittelbaren Schäden noch nicht annähernd beseitigt und deren mittelbare Konsequenzen, geschweige denn langfristige Folgen, kaum vorstellbar waren – dem historisch unvergleichlichen Einschnitt, der so prosaisch als solarer Kollaps Eingang in die Annalen der Menschheit gefunden hatte. Dieser düstere, solar-historische Hintergrund spielte aber seit der Landung für Xaver Satorius und seine kuriosen Bewusstseins-Module kaum noch eine Rolle; für den kleinen Mauritius, dessen Eltern Edgar und Eris und die beiden Wächter ebenso wenig. Denn es gab Wichtigeres, wie Matrina so geschwungen und sachlich zugleich formulierte: „Abstrakt gesprochen geht es um das gute Leben, was konkret bezogen bedeutet, die Leiden und Freuden der Wirklichkeit in eine gute Balance zu bringen, wobei couragierte und inspirierte Tätigkeit, gute Arbeit also, privilegiertes Medium sein sollte.“

 

Alle litten sie unbewusst oder bewusst auf ihre eigene Art an den vielfältigen Folgen dieses epochal-traumatischen Ereignisses. Am folgenreichsten waren wohl Menschen wie der brutale Wachsoldat Kirchner betroffen oder auch die vielen ungenannten, anonymen Dritten, die ihre Hilfe unterlassen hatten, oder wie Hofmeister davor standen wieder einmal wegzusehen. Sie alle zusammen aber, das muss hier wirklich betont werden, zählten mit ihrem alltäglichen, grauen Leid dennoch zu einer auserwählten Elite der Menschheit. Ob Organiker oder Neu-Mensch, sie alle besaßen vom Bruchteil des zivilisatorischen Erbes einen ungebührlich großen Anteil. Sie gehörten damit zu den wenigen, privilegierten Menschen, welche – der Fast-Magister Xaver Satorius exerziert es biografisch und zugleich pathologisch – die Augen nur fest genug verschließen mussten, um sich einfach vorstellen zu können, alles wäre oder würde wenigstens bald wieder gut. Sie standen damit in ihrer einigermaßen geordneten, leidlich funktionierenden Existenz im beinahe inhumanen Kontrast zu der tatsächlichen Lebenswirklichkeit der großen Masse an Überlebenden: Auf der Erde, den vielen Monden, Planeten, Planetoiden und Asteroiden des Sonnensystems, sogar weit unter den Oberflächen der Landmassen und in den tiefen der Ozeane, weit oben in den vielen Raumschiffen, Orbitalstationen und künstlichen Habitaten, die sich die Menschheit an den unmöglichsten Orten geschaffen hatte; überall dort litten derzeit Abermilliarden von Menschen an existenziellem, rotem Leid. Dieses Leid forderte wenigstens schmerzlichen Blutzoll und kostete höchstens das nackte Überleben. Eine unhaltbare Kluft zwischen technologisch-märchenhaftem Luxus auf der einen Seite und erbärmlichen, menschenunwürdigen Zuständen geprägt von Elend, Leid und Unfreiheit; eine historisch unhaltbare Asymmetrie.

 

Eine ambivalent schimmernde Seifenblase insgesamt, deren Anschein von politischer und technischer Stabilität diese ersten beiden Etappen der Reise geprägt und erleichtert hatte. Allerdings handelte es sich dabei um ein fragiles Gebilde, das zunächst glanzvoll in seinen bunten Regenbogenfarben blendet, im Nu aber bereits wieder zu zerplatzen droht. Ein impulsiver, technologisch überzüchteter Wächtersoldat, ohne nötige Selbstbeherrschung und bar humanen Anstands, reicht da vielleicht schon aus. Aber auch ein knapp kalkuliertes Budget konnte für Exilanten problematisch werden. War man nicht Teil der so unterschiedlichen Kollektive, die es derzeit im Sonnensystem gab, traf man nicht immer und überall auf Gastfreundschaft, Hilfsbereitschaft und Selbstlosigkeit. Von Geld als universellem Tauschwert konnte kaum noch die Rede sein, seit dem Zusammenbruch der meisten planetaren und nahezu aller solaren Strukturen und Institutionen. Bisher hatte Xaver auf seiner Reise in exakt sieben unterschiedlichen Währungen gezahlt. Vom digitalen Kredit bis zur handfesten Goldmünze erstreckten sich dabei die ontologischen Aussprägungen von Geld.

 

So war die Lage in vielen der Lebenszonen hier auf der Erde, den anderen Planten und Monden sowie den anderen Refugien der Menschheit, sehr unterschiedlich und extrem. Das konnten Googol und Sokrates nicht unterlassen, immer wieder zu wiederholen und damit über Gebühr zu betonen: „Ausdifferenzierung der historischen, zivilistarotischen und existenziellen Zustände: Vom postapokalyptischen Überlebenskampf, über die diversen guten wie schlechten Formen von Politik und Nichtpolitik hin zu hoch entwickelten, sozialen Utopien und Dystopien“, so lautet eine letzte Version dieser Überzeugung. Soweit es seine Persönlichkeit zuließ, stimmte sogar der prinzipiell ablehnende Nietzsche mit diesem Bild der Menschheit weitgehend überein und war damit abermals auf Seiten seines historischen Namenspatrons, wenn auch aus anderen Gründen als dieser im 19. Jahrhundert. Zunächst aber blieben ihm, also dem heroischen Exilanten Xaver Satorius der schimmernde Glanz der technisierten Seifenblase auf seiner Reise noch ein klein wenig erhalten, nachdem er sich angeschickt hatte, den gigantischen Komplex des zentralen Raumknotens Zentraleuropa in Frankfurt am Rhein und am Main in unverhofft reizvoller und vielfacher Begleitung zu verlassen.

 

In diesem Moment wanderte sein Blick das erste mal bewusst durch den düster-grauen, technikdurchzogenen, irgendwie schaurig-schönen Himmel, soweit das über die medial gefilterten Panoramaschirme auf dem Weg in die Tiefe hinab zu den Schwerefeldern eben möglich war; ein verstörrender Anblick, wie er und fast alle Module außer Nietzsche und Hoffmann befanden. Letzter enthielt sich, da er sich in Hinblick auf Emotionales und Ästhetisches für inkompetent hielt, wie er in gewohnt wenigen Worten zögerlich als Begründung vor sich hernuschelte. Eben jenem Hoffmann, genauer seiner Kompetenz im Mixen pharmazeutisch-psychedelischer Cocktails verdankte Xaver seine rasche Erholung nach dem Flug und ein Gross seines bravourösen Istzustands. So ging es ihm nunmehr in fast jeder physischen und psychischen Hinsicht wieder gut und sogar noch mehr als das. Seit der therapeutisch induzierten Applikation kurz nach der Landung sorgten die diversen Mixturen für die wirksame Erholung des gesamten Körpers, allem voran durch das restlose Verschwinden aller Psychosomatiken und physischen Folgen des auszerrenden Fluges. Nach dem Ende der sozialen Bewährungsprobe entfaltete nun eine dritte Rezeptur aus Hoffmanns Repertoire ihre Wirkung. Anfangs hatte sie sich nur leicht, mittlerweile aber merklich berauschend geäußert. Die Droge spendete mild-manische Euphorie; entspannte Körper und Geist gleichermaßen tief und restlos; stimulierte und ermunterte derart, das keine Anstrengung zu groß und kein Herausforderung zur schwer erschienen und regte nicht zuletzt Kreativität und Fantasie zu unbeschreiblichen Höhenflügen an – dies alles ganz ohne Nebenwirkungen, von den unvermeidlichen alltäglichen Abhängigkeiten mal abgesehen. Technisch sanktionierte Sucht ohne physische Konsequenz oder moralischer Reue, aber mit modularem Korrektiv namens Matrina. Lucy‘s Soma nannte Hoffmann diese Wirkstoffkombination, welche Xaver nicht mehr missen wollte, die aber als Suchtobjekt nicht mit den eskapistischen Ausflügen in Wissensnetze und Erfahrungswelten zu vergleichen sind. Im Gegensatz dazu musste Xaver nämlich in seinem Leib und damit in der wirklichen Welt präsent sein, um Hoffmanns pharmazeutische Alchemie empfinden zu können. Tiefenimmersion durch das Gedankenkonzil oder leiblicher Genuss, es gab keine Synergien zwischen beidem, nur den Wechsel.

 

Fast alles beim Alten beim aktuell verzückten Fast-Magister also: Vom planetaren Umzug ohne Rückkehr, der Heimkehr aus dem Exil und dem damit beginnenden neuen Lebensabschnitt mit all seinen Ungewissheiten und Hürden sowie selbstverständlich der Verlängerung des Endes der Geschichte selig berauscht mal abgesehen. Neugierde überspülte gerade Xavers Bewusstsein: Wer waren wohl diese seltsamen van-Beegers wirklich und was würde er hier in Zentraleuropa, nur noch wenige 100 Standard-Kilometer von seinem Ziel entfernt, wohl als nächstes zu erleben haben? Der eingeschlagene Weg führte ihn nun als nächstes im kleinen hinunter in die subplanetaren Tiefen des Zentralknotens und daraufhin im großen Maßstab weiter nach Nordwesten an den Rand des Einflussbereichs der KK – wie die fast staatsähnliche Neo-Genossenschaft Karlus-Korporation meist abgekürzt wurde. Er würde die wenigen Todeszonen, die er auf der Route nicht einfach umfliegen konnte, gut zu überstehen zu haben, denn die dort hausenden Schrecken sollte niemand am eigenen Leib erfahren müssen. Hätte er innerhalb der zivilsatorischen Hierarchie ganz oben gestanden, wäre vielleicht ein direkter Gleiterflug von hier zum Ziel finanzierbar gewesen. Da er aber mit seinen geringen monetären Mitteln haushalten musste, blieben ihm nur unsichere, aber dafür sehr viel günstigere Fortbewegungsarten. Mit einer Techno-Karawane aus einer der großen Sieben Metropolregionen in die Peripherie einer zweiten.

 

Aber erst stand noch ein rauschender Spaziergang in die Tiefe, mit anschließendem Höhenflug an. Der lange Tag würde im Anschluss von einem vergnüglichen Festmahl mit Eris und den anderen beiden van-Beegers gekrönt werden und dann in einem x-beliebigen Hotel enden. Erst am nächsten Morgen musste er weiterreisen, an den Rand der hiesigen Lebenszonen und damit den der relativen, zivilisatorischen Sicherheit. Die Route führte den Rhein hinunter in eine Region die früher mal Nordrhein-Westfalen genannt worden war, als es die Bundesrepublik Deutschland noch gegeben hatte. Das bedeutete, man musste durch neue und alte Wildnis reisen, musste dabei ausgedehnte urbane und teilweise sogar eine der wenigen natürlichen Todeszone bezwingen. Letztere lag als düsterromatische Wälder im Süden der Reiseroute und erstere würden als trostlose Architekturwüsten das atmosphärische Hauptthema der Reise ausmachen. Beiden gemein war die dort herrschende, ständige Lebensgefahr, auch wenn eine Techno-Karawane von schwer bewaffneten Fahrzeugen und den unvermeidlich dazugehörigen Militärs begleitet wurde – zumeist dreckige, ungehobelte Söldner.

 

Mitsamt seine vielen Lebenszonen lag das Ziel der Reise im Nordenwesten; dorthin zog es den verspannten Fast-Magister, der sich derzeit beinahe auf einer Heimreise in seine eigene Vergangenheit befunden hätte. Wenige dreistellige Standard-Kilometer Differenz zu seiner eigenen Geburtsregion auf der Erde im Nordosten von Frankfurt Rhein/Main werden im solaren Maßstab zur unbedeutenden Winzigkeit – hier vom galaktischen oder gar kosmischen Maßstab zu reden, wäre zu viel des Vorstellbaren und blieb neben allem technischen Fortschritt und historischen Rückschritt weiterhin unerreichbar für die solare Menschheit. Ein noch immer viel zu abstrakter, unerreichbarer Horizont, zu dem sich die Menschehit gerade erst im Aufbruch befunden hatte, als alles kollabierte: Der galaktische Lebensraum Milchstraße hatte bisweilen an Glanz verloren. In der unmittelbaren existenziellen Nähe galt es die entscheidenden Herausforderungen zu meistern, erst dann würde der Blick langsam wieder in die Fern gerichtet werden können. Ob Xaver, Eris und Edgar, Mauritius sowie die beiden Wächter Hofmeister und Kirchner diesen Zeitpunkt noch erleben würden, blieb wie alles Zukünftige zu erwarten: Je nach Herkunft, Haltung, Charakter und Zufall voll optimistischer Hoffnung; versunken in pessimistischer Verzweiflung; getrieben durch aggressive Projektion oder geblendet von purer Ignoranz.

#11/12 – Ein elftes Segment der blutigen Frühgeburt

Der dramaturgische Höhepunkt der Geschichte naht, und ebenso das Ende dieser Exkursion in den Bereich roher und frischer Literaturversuche. Wie es danach weitergehen wird, liegt im ungewissen Dunkel der Zukunft. Durch einen Abgrund aus Zufall, Freiheit und Entscheidung von der Gegenwart, der Präsenz dem unendlich kleinen und kurzen Hier und Jetzt.

Auf einen ordentlichen Klimax und einen angenehmen Ausgang des Wochenendes, Euer Satorius


Die Heimkehr des verspannten Fast-Magisters

Teil 11 von 12: Seiten 31 bis 34.

Ein Wimpernschlag später setzte Xaver – ein prächtiges Exempel des technisch optimierten Neumenschen – dazu an, auf das Drängen der beiden Sicherheitskräfte zu reagieren und würde dies mit kalkulierten 66,6023 Prozent Erfolgswahrscheinlichkeit dafür tun, dass sein geplanter und geübter Vorstoß letztlich erfolgreich sein würde. Als mäßig hoher Wert nicht unbedingt sicher, waren die zu erwägenden Nachteile jedoch in ihrer Wahrscheinlichkeit und Schädlichkeit insgesamt harmlos; also war die notwendige Intervention und anvisierte Bereinigung der Lage vielleicht elegant auf einem diplomatischen Weg machbar; andere Weg blieben dem Fast-Magister auch nicht – wollte er sich nicht selbst ernsthaft in Gefahr bringen. Dies zu vermieden war als eine der prinzipiellen Direktiven der gesamten Arbeit des Konzils vorrangig, stand somit fast außer Frage. Denn das letzte Wort hatte immer das klassische Ich und Xaver glaubte fest an dessen Existenz. Dessen Ränder mögen porös geworden sein, wegen der vielen technischen Erweiterungen und Eingriffe, aber es musste eine stabilen Kern geben; eine in sich veränderliche aber autonome Domäne seines ureigenen Willens. Damit weit mehr als bloß Ich – selbstverständlich war Bewusstsein synergetisch aus mindestens neun weiteren Aspekten zusammengesetzt. Je nach favorisierter Theorie des Bewusstseins, die derzeit anerkannte Mode waren, gab es diesen Minimalkompromiss: Die Bewusstseins-Dekade.

 

Die weitgehend Passivität, welche die beiden anderen Figuren im Zuge dieser Eröffnung bis hierhin an den Tag gelegt hatten, zeugte entweder von Klugheit, Verwirrung oder Unentschiedenheit. Wahrscheinlich war es Klugheit, sonst hätte Frau van Beeger nicht so geistesschnell auf sein Erscheinen reagiert. Sie standen seither gespannt und neugierig daneben, während sie schweigsam dem kommunikativen Schlagabtausch folgten. Bis auf die abgewürgte Begrüßung und eine kleine Geste der Dankbarkeit auf Xavers Nachricht über den Zustand gemeinsamen Sohn hin, hatten sie sich bisher zurückgehalten. Für den weiteren Verlauf stand damit jedenfalls eine gewisse Stabilität zu erwarten; sollten sie also gerne weiter die Ruhe bewahren.

 

„Oh – Demos! Das ist wirklich keine unerhebliche Kleinigkeit mehr, da stimmte ich ihnen natürlich sofort zu“, nahm er der Neuigkeit kompromissbereit und verständnisvoll ihre Schärfe, während er zu seinem Meisterargument fortschritt: „Das wäre für mich sehr traurig und unerwartet zu hören. Als ich während unserer gemeinsamen Reise mit den beiden Angeklagten des Längeren angeregt über meine berufliche Zukunft gesprochen habe, äußerten sie sich glaubhaft und vor allem wohlwollend über die damit unweigerlich verbundenen politischen Aspekte. Sie müssen wissen“, er macht ein bedeutungsvolle Pause, bevor er die rhetorische Rakete zündete, „zwei meiner zukünftigen Auftraggeber begleiten nämlich nicht gerade unbedeutende Positionen innerhalb der kontinentalen Politik. Ich bin derzeit auf dem Weg, um Anstellungen sowohl bei General Tadeusz von Quarz als auch bei Direktorin Eleonora Rether anzutreten. Mehr darf ich allerdings, wie sie sicher leicht nachvollziehen können, aus Gründen der Diskretion und Geheimniswahrung nicht sagen. Diese beiden Namen sollten ihnen aus den höchsten Führungskreisen der großen Sieben bekannt sein. Wenn sie, wie ich unschwer zu erkennen meine, Mitarbeiter der Karlus-Korporation sind, sei es direkt oder indirekt, so können sie sich wohl besser als die meisten vorstellen, dass man über diese beiden prominenten Persönlichkeiten schnell ins Gespräch über die große Politik gerät. Stehen unsere Arbeitgeber nicht sogar in ausgewiesen gutem Verhältnis zueinander?“

 

Während sich erste Reaktionen auf Xavers Aussage bei allen Beteiligten abzuzeichnen begannen, war dieser sehr froh darüber, durch die Finte mit dem Datenschutz, um hinderliche Details herumgekommen zu sein. Hoffentlich würden demütige Verblüffung und vorauseilender Gehorsam verhindern, dass diese Lücken noch sichtbar würden. So hatte er leichter Dings verschweigen können, dass er erst noch eine letzte, persönliche Runde im Auswahlverfahren um die Anstellung zu bestehen hatte und dass er eigentlich letztlich lediglich die Kinder der Mächtigen schulen und optimieren würde. Aber das waren alles andere als offensichtliche Schwächen, denn die Academia unterhielt bekanntlich Verbindungen zu fast allen Spielern im großen, solaren Spiel und offerierte diesen ihre diverse Dienstleistungen. harmlose Anwendung des durchaus gefährlichen Wissens ging, das Xavers Organisation den Mächtigen nicht nur dieser Welt anbot, war in diesem Zusammenhang, ein solches hinderliches Detail. Er blickte aufmerksam und neugierig, aber zugleich ruhig und unaufgeregt in die Runde und registrierte dabei zufrieden die Wirkung, die seine Eröffnung erzielte. Er konnte seine aufkeimende Freude an diesem Spiel in vollen Zügen genießen und wunderte sich während all dessen weiterhin über sich selbst: Früher hätte er nie so selbstbewusst und ausnehmend raffiniert eine derart brenzlige Situation meistern können, geschweige denn hätte er diese Hölle der Emotionen souverän beherrschen und sogar genießen können.

 

Den Eltern von Mauritius sah man bereits verhaltene Erleichterung an und die beiden Wachen verloren spürbar an Autorität im Angesicht solch mächtiger Namen und damit Referenzen, mit denen Xaver sich zu schmücken vermochte. Was, wenn sich herausstellte, dass zwei mehr oder weniger einfache Wachen Freunden oder auch nur Bekannten einer Person, die im Dienst solch erlesener Kreise stand oder stehen würde, Unannehmlichkeiten bereitet hatten; sie womöglich zu Unrecht der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung bezichtigt hatten. Dann riskierten diese einfachen Wachen schlicht Kopf und Kragen. In despotischen Zeiten, in den steile Hierarchien klarer und unversöhnlicher hervortraten als sonst, war man gut beraten, diese zu kennen und sofern möglich für seine Ziele zu nutzen. Nicht immer waren Klugheit und Wissen um Historie oder besser ein Wissen um zeitgenössische Solarpolitik und die dazugehörigen sozialen Zustände so unmittelbar nutzbringend wie in dieser Situation. Xaver jedenfalls war einstweilen sehr zufrieden mit der Entwicklung, ohne dass dafür bestätigende Worte hätten gewechselt werden müssen. Sogar als Wachführer Hofmeister scheinbar entrüstet zu einer Erwiderung ansetzte, blieb sich Xaver seiner machtvollen Verhandlungsposition bewusst und las aus der Haltung, dem Gestus – ja aus der ganzen Erscheinung der beiden Wachen, dass er die Partie so gut wie gewonnen hatte, wenn er seine Karten mitsamt den schlagenden Trümpfe von Quarz und Rether sicher zu Ende spielen würde. Natürlich war diese Gewissheit kein Ergebnis harter Arbeit oder ausgeprägten Talents, sondern wurde abermals von Berechnungen und entsprechenden Folgerungen technischen Ursprungs gestützt. Die aktuelle Prognose der Erfolgswahrscheinlichkeit hatte sich zwischenzeitlich auf stattliche 86,4231 Prozent erhöht – gut so, die Wächter schienen von dem Glanz der puren Macht nachhaltig beeindruckt worden zu sein.

 

„Sie meinen also ihre flüchtige Bekanntschaft mit diesen beiden Subjekten und ihre angebliche Anstellung in höchsten Kreisen, sei Anlass genug, unseren Indizien zu misstrauen? Ziemlich gewagter Einsatz, wenn sie mich fragen,“ hob er an, nur um dann unmittelbar, schon etwas leiser fortzufahren: „Wenn sich ihre Angaben aber tatsächlich als richtig erweisen würden, wären unsere Ambitionen gewiss flexibel. Sie wissen ja – Eine Hand wäscht die andere; wenn sie wirklich für General von Quarz arbeiten sollten, dann wären sie qua ratifiziertem Vertragswerk mein Verbündeter und als solcher annehmbarer Bürge für die Beiden hier.“ Dabei zeigte er auf das schrille Pärchen und fügte nun im Flüsterton noch näher zu Xaver gewandt hinzu: „Unter uns gesagt: Die Indizien sind sowieso nicht allzu stark. Das Ganze lag auch mehr im Ermessen Kirchners und wurde von mir nur geduldet, damit dieser beschäftig ist und unter meiner Führung vielleicht sogar mal was dazulernt. Wie gut der Versuch geklappt hat, haben sie ja hautnah miterlebt und so gekonnt entschärft – Danke dafür! Der Typ ist kaum zu zähmen. Eine der vielen Bestien, die dieser Tage die Welt unsicher machen. In seiner Uniform ist er ein Wolf im Schafspelz, wie man früher wohl gesagt hätte. Aber auf die Wache müssen sie uns noch kurz begleiten, auch wenn ich sie und vielleicht sogar ihre Freunde von dort im günstigen Fall gerne an einem Ziel ihrer Wahl absetze.“

 

Wieder lauter und zu allen Anwesenden gewandt, wollte er seine Entscheidungen verkünden als Kirchner plötzlich auf Herrn van Beeger losging. Er hatte wohl irgendwie mitgehört und sah nun den krönenden Abschluss seiner Schikane in Gefahr geraten. Das in jeder Hinsicht unterlegen Opfer musste sich nach einem gebrüllten: „Scheiß Terroristenschwein, friss das hier!“, einen ziemlich derben Schlag ins Gesicht gefallen lassen, den ihm der im Spurt losgerannte Wüstling gnadenlos mit aller augmentalen Kraft und Wucht gerade zufügte. Daraufhin zu Boden gegangen, trat ihm Kirchner mit einem mächtigen Tritt von der Seite durch die Rippen in den Brustkorb. Zuerst ein vernehmliches Krachen und dann ein widerwärtiges Schmatzen zeugten von katastrophalen Folgen. Der Angriff konnte tödlich enden, wenn nicht jemand einschritt.

 

Zu diesem zu späten Zeitpunkt machte der sichtlich entsetzte und deshalb überforderte Hofmeister gerade noch rechtzeitig von den Privilegien seines höheren Rangs Gebrauch. Der rasende Berserker hielt wie vom Blitz getroffen in seinem Wüten inne. Er hatte gerade seinen blutbeschmierten Stiefel aus der Flanke seines Opfers gezogen und wollte eben neu ansetzten. Seine Visage war noch hässlicher geworden, verzerrt von Zorn, Wut und purem Gewaltrausch. Hofmeister hatte diesen Exzess soeben beendet, indem er den Schinder einfach kurzerhand paralysiert hatte; sonst hätte man vermutlich nach einem nächsten in Richtung der Kopfregion angesetzten Tritt mit dem Schlimmsten rechen müssen. Diese Rettung in aller letzter Sekunde gelang ganz ohne Einsatz der Waffe, die in Hofmeisters Gürtelhalfter ruhte und durchaus auch dazu im Stande gewesen wäre. Er als Wachführer und Unteroffizier hatte gegenüber Untergebenen gewisse disziplinarischen Möglichkeiten, um einen total ausgerasteten, augmental aufgerüsteten Wächtersoldaten technisch in seine Schranken zu weisen – per augmentaler Zwangsorder, die von ihm in Notfällen über Kirchners Cerebralschnittstelle mit Überrang direkt ausgeführt werden konnte: Technischer Zwang hatte rohe Aggression gebändigt.

#10/12 – Das zehnte Segment der blutigen Frühgeburt

Wo sich in dem doch recht meditativ und hintergründig gehaltenen Auftakt der Geschichte, erstmals so etwas wie Aktion und Handlung entwickelt, möchte ich deren Fluss nicht allzu lange unterbrechen. Deswegen gibt es hier und heute bereits Teil 10 von 12. Die Spannung steigt milde, aber sie steigt. Also – wie gesagt, so nun getan – bremse ich sie nun nicht weiter und schreite zur Veröffentlichung.

Vergnügliche Lektüre und insgesamt eine gute Zeit, Euer Satorius


Die Heimkehr des verspannten Fast-Magisters

Teil 10 von 12: Seiten 28 bis 31.

„Guten Tag – angenehm, die Bekanntschaft von zwei so eifrigen Wächtern zu machen. Ich bin Xaver Satorius. Tatsächlich Magister und nicht Mönch, noch gar Möchtegern um das gleich zu Beginn aufzuklären. Danke für ihre Aufmerksamkeit und die Gelegenheit, mich einzubringen. Ich wüsste zunächst gerne, was meinen geschätzten Mitreisenden zur Last gelegt wird, denn ich wäre über eine Verwicklung dieser beiden in verbrecherische Aktivitäten ebenso entsetzt wie sie“, antwortete er erst einmal mit einer Gegenfrage und wandet sich zwinkernden Auges unbemerkt an seine gänzlich uneingeweihten Schützlinge. „Hallo ihr beiden. Eurem Sohn geht es wieder gut. Macht euch wirklich keine Sorgen mehr, ich haben mich gewissenvoll um ihn gekümmert. Er wartet drüben auf uns.“ Ob diese schwache Finte funktionieren würde, war zu bezweifeln, aber den rhetorisch gefahrlosen Versuch war sie auf jeden Fall wert.

 

„Hi Xaver! Das ist liebenswert von dir, nach unserem Jungen zu schauen. Wir …“, setzte die junge Schönheit, blitzschnell in ihrer Rolle aufgegangen, freudestrahlend zu einer Reaktion auf Xavers Eröffnung an, wurde aber sogleich harsch vom aufbrausenden Kirchner angefahren und damit im Ansatz unterbrochen.

 

„Schnauze, Pack! Ihr hattet eure Gelegenheit und sie, kommen sie zum Punkt – kein Geschwafel, Magister: Was wissen sie, was wir nicht wissen, aber ihrer Meinung nach wissen sollten?“, übernahm leider der unangenehmere Part in seiner rüden Manier die Gesprächsführung, bezeichnender Weise ohne seinerseits eine Art der Vorstellung unternommen zu haben. Kirchner hatte ihn sein Vorgesetzter vorhin genannt, bevor er sich nun zu seinem Einstieg ins Gespräch anschickte.

 

„Dem was Wachsoldat Kirchner gerade so unvergleichlich zum Ausdruck gebracht hat, stimme ich im Kern sogar zu. Ich bin übrigens Wachführer Hofmeister – auch angenehm. Aber wir werden zu laufenden Fällen kaum Jedermann Auskunft erteilen; also verdienen sie sich unser Vertrauen durch eine plausible Erklärung ihrer Anwesenheit und ein paar erhellende Hintergründe.“ Nachdem er damit zu Xavers Freude die Führung wieder übernommen hatte, warf der Vorgesetzte seinem Untergebenen nun im Wechsel mahnende und seltsam flehende Blicke zu. Die weitere Eskalation war damit zunächst verhindert worden, aber nun galt es, rhetorisch vorsichtig und strategisch klug voranzugehen. Sokrates, Xaya und Hoffmann waren hochaktiv, um Xaver bestmöglich zu unterstützen – (aug-)mental und physiologisch, kognitiv und kreativ gleichermaßen.

 

„Nun, wie gesagt, von Verwicklungen der beiden in illegale Aktivitäten oder was auch immer hier so lange besprochen wurde, weiß ich rein Garnichts. Wir haben uns während unseres gemeinsamen Transitaufenthalts in Eluna zufällig kennengelernt und sind schnell ins Gespräch gekommen. In den nächsten Stunden haben wir uns angeregt unterhalten; was wir auch während des Fluges fortführen konnten. Eigentlich bin ich kein besonders offener und gesprächiger Typ, aber die Wellenlänge stimmte bei uns wohl einfach von Anfang an. Jedenfalls habe ich dabei eine rechtschaffene und lautere, wenn auch nach Außen hin unangepasste, junge Familie kennengelernt. An ihrer moralischen Integrität habe ich trotz der zugegeben kurzen Dauer unserer Bekanntschaft keinerlei Zweifel mehr. Denn als Magister Universalis sind Menschen und deren rasche Kenntnis meine professionelle Domäne. Wer ein Bewusstsein optimieren will, ist zu Beginn auf ein möglichst akribische Beschreibung und optimale Beurteilung des Trägers angewiesen, müssen sie wissen. Mit dieser noch immer großen und mächtigen Institution sind sie ja sicher grundsätzlich vertraut?“, begann der Fast-Magister mit gewagt dosierten Übertreibungen und gutmütigen Auslassungen. Er glaubte, damit einen guten Mittelweg zwischen nutzlosen Fakten und sophistischer Fiktion zu gehen, der sich zur Eröffnung seiner Verteidigung anbot. Dieser argumentativ vage und schwache Auftakt seiner Apologie würde zusammen mit der Prahlerei das anschließende Kernstück der Rede ungleich stärker wirken lassen.

 

„Das ich nicht laut losschreie! Pah, Magister …“, setzte Kirchner zu einer scharfen Antwort auf die bloß rhetorisch gemeinte Frage von Xaver an, wurde jedoch herrisch von seinem direkten Vorgesetzten unterbrochen und gestenreich zur Ruhe gewiesen. Dieser ging seinerseits erwartungsgemäß galant über die letzte Spitze von Xaver hinweg und ließ sich inhaltlich auf dessen Eröffnung ein: „Wir sollen also in einer Ermittlung, welche die innere Sicherheit tangiert, auf die unbestrittenen Kompetenzen eines Magister Universalis vertrauen – einfach mal so? Nach unserem bescheidenen Kenntnisstand haben wir hier wahrscheinlich zwei Mitglieder von Demos gestellt. Sicher sind sie mit dieser rapide wachsenden und als illegal und terroristisch geächteten Organisation grundsätzlich vertraut?“ Damit spielte er seinerseits den Ball im Spiel der anregenden Konversation mit einem Mindestmaß an neuer Information zurück, ohne die unter diesen Umständen kein konstruktives Gespräch möglich gewesen wäre. Immerhin wurde Xaver bisher als ebenbürtiger Gesprächspartner – von relevanter, weil vorgesetzter Seite jedenfalls – akzeptiert und respektiert. Die Schwere der eröffneten Hintergründe, mit denen die Festsetzung und das Verhör des Ehepaars van Beeger begründet worden waren, komplizierte die Lage jedoch unglücklich. Glücklicherweise waren Rechtsstaatlichkeit und Dienstbeflissenheit vor Ort keine besonders gefestigten Werte, deswegen entschloss sich Xaver unverzüglich zum Konter und kam damit schneller als anfangs geplant zum Kernstück seiner kommunikativen Strategie – soviel zum Vorsatz, rhetorisch sorgsam vorzugehen. Dennoch stimmte er Sokrates und Xayas psycho-rhetorischer Spontanberatung zu, Kirchner musste sowieso überrumpelt werden und Hofmeister durfte sich gar nicht erst in der Rolle des korrekten Wächters einnisten. Sonst wäre das entscheidende Finale von Xavers Argumentation in seiner Wirkung reduziert und überdies psychologische Komplikationen auf Seiten Hofmeisters nicht ausgeschlossen. Er war zu geschliffen, um ein sicher lesbarer Akteur und damit gewisser Faktor in der Kalkulation zu sein, wenn er sich einmal aus seiner bequemen Lethargie herauslaviert hatte.    

 

Während des Gesprächs wurden selbstverständlich permanent unzählige Daten über dessen Verlauf und das Verhalten aller Beteiligten erhoben und ausgewertet, um darauf aufbauend mögliche Szenarien für die Zukunft, diesbezügliche Optionen und Entscheidungspfade zu generieren. Das Gedankenkonzil war schon eine enorm wertvolle Unterstützung, wie es in Echtzeit die sich flüchtig entziehende Dynamik des Geschehens mit seinen magischen Algorithmen zu bannen vermochte; um diese sodann in nüchterne Statistiken gegossen und in schlichten Prozentwerten und Baumdiagrammen ausgedrückt anzubieten. Je nach Präferenz als Visualisierung im optischen Bereich oder als spontane Bewusstseinsinformation, also auf mentalem Weg zugänglich. Was sehr abstrakt klingt, bedeutete ein bisschen konkreter, dass halbtransparente, im Vergleich zur vollen Aktivität minder farbenfroh kolorierte Erfahrungs- und Wissensbereiche in Xavers Bewusstseinskanälen verankert wurden. So konnte er als Zeichen und Bild darstellbare Informationen optisch als Text und Grafik in seinem Gesichtsfeld wahrnehmen; die vielfältigen anderen Aspekte der Situation konnte er wahlweise in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit einer jeweils angepassten Anwahl an beteiligten Sinnen, also auf authentischere, vollere Weise erleben; und schließlich konnten die unerlässlichen Szenario-Übungen in Erfahrungsräumen synchron zu allem absolviert werden – zeitlich parallel und damit neben und während der eigentlichen Gesprächsführung ohne ernstlichen Aufmerksamkeitsverlust, der irgendwie auffällig oder gar einschränkend gewesen wäre; alles auf einmal, mit optimaler Verteilung der individuellen, kognitiven Ressourcen. Sokrates sowie Xaya und Hoffmann befanden sich dafür derzeit in enger Koexistenz mit Xaver und waren dabei auf ihrer je eigene Art unterstützend, beratend und medizierend tätig.

 

Modellierte und simulierte Kognition, Emotion und Aktion waren Grundfunktionen des Gedankenkonzils und wurden sogar noch von den diversen Modulen integriert und addiert, damit funktional ungeahnt potenziert. Da mit diesen Technologien Handlung und Denken weitgehend administrierbare Parameter geworden waren, hatte sich alltägliches Dasein für Menschen wie Xaver radikal verändert. Das zufällige Chaos, die spontane Freiheit und das unvermeidliche Allzumenschliche, welche ohne Augmentate – normaler-, natürlicherweise also die Existenz zu weiten Teilen bestimmten, wurde so zum rationierten, notwendigen Gut. Ohne sie war wenig Kreativität zu haben und vor allem die Menschlichkeit fundamental gefährdet; mit einem nicht regulierten, weil natürlichen Überschuss hingegen waren Effizienz und Harmonie bedroht. Ganz so einfach ließ sich die Existenz des Menschen dann aber doch nicht erklären und anschließend fugenlos technisch beherrschen, wie unter anderen Exempeln auch Xavers Techno-Biografie eindrücklich belegte. Bevor jedoch die historische Situation als existenzielle Belastung hinzugekommen war, waren die damals vorhandenen Augmentate fast problemlos angenommen worden und hatten reibungs- wie tadellos in den Alltag eingefügt werden können. Die pathologischen Fehlentwicklungen, die sich später, vor allem in seinem letzten Lebensabschnitt eingestellt und verschärft hatten, könnten vielleicht eine Reaktion auf individuelle Faktoren sein oder sie waren auf das fast singuläre, zivilisatorische Trauma zurückzuführen; hingen wenigstens irgendwie mit all dem zusammen. Aller technischen Kontrolle und Präzision zum Trotz, blieb also ein kleiner und entscheidender Rest Kontingenz in den Gleichungen erhalten, der aus den Tiefen der Person und von den Rändern deren Lebenswelt her die Existenz bereicherten und damit für Überraschungen aller Art gut blieben. Der metaphysische Albtraum, den frühere Generationen poetisch als Laplaceschen Dämon umschrieben oder nüchterner als Determinismus rationalisiert hatten, war für kleine und mittlere Systeme durchaus zu einer realen und technischen, also physischen Möglichkeit geworden. Der Preis für diesen Grad maximaler technologischer Beherrschung des Bewusstseins fiel zum Glück jedoch derart hoch aus, dass nur Wenige in zu zahlen bereit waren und es für den Rest noch immer genügend rationale wie ideale Gründe gab, ihn nicht zu zahlen, um damit sich selbst und ihrer menschlichen Natur treu zu bleiben.

#9/12 – Das neunte Fragment der blutigen Frühgeburt

Früh am Morgen, verschlafen und wortkarg überreiche ich Euch den nächsten Teil der Geschichte um Xaver und die van Beegers.

Beste Wünsche für den gerade heraufgedämmerten Tag, Euer Satorius


Kapitel 1 – Die Heimkehr des verspannten Fast-Magisters

Teil 9 von 12: Seiten 25 bis 28.

Die Meinungslage im Gedankenkonzil im Vorfeld dieser Entscheidung war uneins gewesen, deshalb war dementsprechend hochkontrovers diskutiert worden. Letztlich hatte sich natürlich klar die Position von Xaver durchgesetzt und ehrlicher Weise hatte er das komplexe Streitgespräch zwischen Xaya, Matrina, Nietzsche und Sokrates manchmal nicht so recht verstanden. Er zweifelte wenig an seiner pragmatische Haltung und war anfänglich nur neugierig auf den Disput gewesen. Im wirklichen Leben hätte er wohl zusammen mit Googol und Hoffmann unbeteiligt dabeigestanden und hätte sich durch seine eigene Initiative selbst zum schweigenden Zuhörer degradiert; ab und zu wohlwollend genickt, dabei interessiert und wissend dreinschauend. Hier aber war er Gott; er klinkte sich also einfach aus und begann seinen pragmatischen Plan endlich in die Tat umzusetzen. Diesem zufolge war der Junge nun abermals mit einer Medizin zu versorgen und sollte durch diese, ohne sein Wissen selbstverständlich, erst ruhiger, dann friedlich und schließlich richtiggehend lammfromm werden. An diesem Punkt angelangt, konnte er über den nächsten Schritt nachdenken. Sofern die Dauer eines Verhörs in einem Verhältnis mit der Schwere des Verdachts oder gar Delikts stand, sah es langsam schlecht für Familie van Beeger aus. Denn mittlerweile waren Herr und Frau van Beeger, nach deren Vornamen hatte Xaver bisher versäumt zu fragen, volle 30 Neu-Minuten in ihr unfreiwilliges Gespräch verwickelt – das waren sie doch noch?

 

„Sie halten das Alles also noch immer für ein riesiges Missverständnis; dann haben sie doch sicher keine Einwände dagegen, noch kurz mit auf die Wache zu kommen, um die Vorwürfe restlos zu zerstreuen?“, drohte der besonnene der beiden Wächter eine nächste Konsequenz an, da er wohl mit dem Verlauf des Gesprächs bis zu diesem Punkt nicht ganz zufrieden gewesen war.

 

„Dreckige Revoluzerbande, ihr gehört sicher zu Demos! Tut nicht so intellektuell, ihr sitzt nämlich zu Recht derb in der Scheiße. Ihr beiden meint wohl, nur weil ihr ein bisschen gebildeter seid als die Meisten und euch geschwollen ausdrücken könnt, wärt ihr was Besseres als Unsereins. Dabei sind nicht wir es, die dem Allgemeinwohl schaden; wir bewahren es sogar – stellt euch das mal vor! Und den ganzen Scheiß hier, nur für so ein paar bescheuerte, total verstiegene Ideale von Vorgestern?“, polterte der kleiner und stämmiger geratene, entschieden weniger besonnene Wächter unwirsch auf die Beiden los – wohl nicht zum ersten Mal. So wie er die Rolle des bösen Wächters ausfüllte, war der Genuss echt, den ihm das Schikanieren der beiden jungen Erwachsensen sichtlich bereitete.

 

Seine Opfer waren soweit man das sagen konnte athletisch gebaut, wirkten jung und gesund und in ihrem exzentrischen Auftreten durchaus attraktiv. Die Beiden waren Xaver bereits in der planetaren Fähre aufgefallen und dabei gleich sympathisch gewesen. Bis auf wenige, routinierte Gesten und Phrasen während Ein- und Ausstieg, waren sie einander nicht wirklich begegnet; dennoch waren das Paar zusammen mit ihrem quirligen Spross die einzigen Menschen an Bord der Fähre gewesen, denen Xaver mehr als nur gutmütige Ignoranz geschenkt hatte. Frau van Beeger war mit ihren exakt vermessenen 1,70m in einen olivenfarbenen, militärisch wirkenden Parker gekleidet, unter dem recht provokant ein pinke Skintex-Strumpfhose ihren Ausgang über die reizvollen Beine nahm, bis sie in neontürkiese Highheels mündete; das seidenglatte, wasserstoffhelle Haar mit den aufgetupften Farbakzenten in Pink, Türkis und Olive trug sie zu drei losen Zöpfen gebunden, dabei halb unter einer ziemlich gewagten, türkisen Fellmütze verborgen. Sie wirkte im Angesicht der hör- und spürbaren Brisanz ihrer Lage enorm selbstsicher und noch immer recht gefasst. Ihr fein geschnittenes Gesicht mit den hohen Wangenknochen, der kleinen spitzen Nase und den großen grünen Mandelaugen eingebettet in ein Antlitz hellen, fast blassen Teints hatte Etwas bezauberndes an sich, wurde scheinbar von innen beleuchtet und dabei kaum durch düstere Emotionen getrübt. Ihr mindestens einen Kopf größerer Partner war in so gut wie jeder Hinsicht eintöniger, aber eben nicht weniger eigenwillig gekleidet; wie er im Moment, fast Schutz suchend, halb schräg hinter ihr stand, in seinen kniehohen schwarzen Militärstiefeln; der derben, weißen Jeans, gefolgt von einem pechschwarzen Kapuzenpulli, auf dem ein seltsam stilisiertes „A“ in weißem Kontrast prangte, dessen Bedeutung Xaver Googol bereits recherchieren ließ. Über seinem unauffälligen, schwarzen Haar trug er einen um so auffälligeren Zylinder, in klassischem Schwarz gehalten mit dem passenden weißen Band, auf dem etwas Unleserliches geschrieben stand. Abgerundet wurde sein Farbthema konsequent von weißen Handschuhen und einer in Weiß verspiegelten Sonnenbrille. Er war keineswegs von Angst gezeichnet, wirkte im Gegensatz zu seiner Gefährtin aber weit weniger zufrieden mit Stand und Lage der Dinge. Intuitiv betrachtet zeigte er damit sogar die plausiblere Reaktion auf die ungewöhnliche Situation. Der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation bezichtigt zu werden, war nicht eben eine Bagatelle.

 

Die zwei ungleich großen, beide jedoch auf ihre Art bulligen Wächter schienen Mauritius Eltern im Verhör ziemlich hart bearbeitet zu haben. So ertrugen sie wohl schon eine ganze Weile ein wechselnd kühles bis impulsives Kreuzverhör, während sich das Gespräch nun einem entscheidenden Wendepunkt zu nähern schien. Sollte er nun direkt, buchstäblich noch planlos und damit ungewohnt spontan eingreifen? Nein – er musste in aller Schnelle eine instantane Krisensitzung des Konzils einberufen, um ein erfolgversprechendes Szenario auf Basis der bekannten Informationen auszuarbeiten. Den Jungen hatte er zur allseitigen Sicherheit lieber doch nicht mitgenommen. Er war nun besänftigt genug, um guten Gewissens wieder alleine gelassen werden zu können; jedoch sicherlich nicht friedfertig genug um den Peinigern seiner geliebten Eltern ruhig und zurückhaltend gegenüberzutreten.

 

Der entscheidente Hinweis kam wie so häufig vom streitlustigen, aber sehr produktiven Gespann SokratesNietzsche und basierte auf der Annahme, dass die Persönlichkeit der beiden Wächter leicht beeindruckt werden konnten. Der entscheidende Trumpf in diesem Plan waren zwei zukünftige Gelegenheiten, deretwegen Xaver die notwendig gewordene Umsiedlung nach Zentraleuropa unternahm. Seine Hilfe durfte er nun keinesfalls mehr versagen, sonst würden die Armen auf der Wache womöglich weit schlimmeres Übel zu erdulden haben, als wie bisher nur angeschrien und kurzzeitig ihrer Freiheit beraubt zu werden. Eine hypothetische Spekulation von Googol, auf Basis statistischer Auswertungen breit angelegter Netzrecherchen zu Sittlichkeit und Humanität in den Sicherheitsapparaten in Frankfurt Rhein/Main, deren weitere Details teilweise sehr unappetitlich gewesen waren, kaum zu dem ernüchternden Ergebnis: „Die teilprivatisierten Polizeidienste und teilweise autonomen Milizverbände, durch welche die öffentliche Ordnung hier und im Einflussbereich der großen Sieben so gut es geht aufrecht erhalten wird, sind im Grunde noch illegitimer und korrupter als es ihre Auftrageber schon sind. Ethische Normen und moralische Richtigkeit sind reine Glückssache, aber durchschnittlich sehr schwach ausgeprägt.“ Keine gute Prognose also leider für die Eltern des jungen Mauritius; deswegen wurde der sofortige Beistand nun tatsächlich zur moralischen Pflicht. Da ließ der ethische Rigorist Xaver Satorius nicht mit sich reden, jedoch bedurfte es zur Umsetzung dieser klaren Leitlinien der Hilfe und Unterstützung einiger Module.

 

„Moment mal bitte! Darf ich mich kurz einmischen? – Vielleicht kann ich einige Unklarheiten beseitigen“, griff Xaver eventuell gerade noch rechtzeitig verbal in die Situation ein, bevor der aktuelle Aggressionsausbruch des impulsiven Schlägertypen sich vielleicht hätte weiterentwickeln können. Im Verlauf der anfänglich mitgehörten Hasstriade hatte der sich mittlerweile nämlich derart in Rage geredet, dass er jederzeit die Kontrolle restlos zu verlieren drohte. Sein Kollege wirkte trotz aller ihm eigenen Sachlichkeit und entgegen der Dominanz, die ihm sein höherer Rang einräumte, überfordert mit der rohen Emotion seines Partners und hätte wohl irgendwann bequem weggeschaut und so den Konflikt gelöst. So sah man ihm die Erleichterung an, als er die angebotene Einmischung dankend zum Anlass nahm. Von neuem Mut beseelt, stand er Xaver unverhofft und blitzschnell zur Seite: „Halt Kirchner! Lass die Kleinen bitte noch eine Weile in Ruhe – vor allem nicht hier, in aller Öffentlichkeit. Mann!“ gebot er und fragte an Xaver gewandt, „Wer sind sie denn? Sie haben hoffentlich Hilfreiches zum Sachverhalt beizutragen?“

 

„Macht doch alle mal halblang – boah, was’n Dreck! Diese Gören haben sich ihre Tracht Prügel redlich verdient. Die ganze verdammte Menschheit ist am Abkratzen und die haben nichts Besseres zu tun, als in ihrer vielen Freizeit Rebellion zu spielen. Seid froh, dass ihr hier so viele Schutzengel habt und wir nicht alleine unter sechs Augen sind. Wer kommt denn da zur Hilfe: Magister, Mönch oder Möchtegerndiplomat? Was willst du dich denn hier einmischen Alter; jeden Tag eine gute Tat, oder was?“, wurde nun auch Xaver standesgemäß aber erwartbar begrüßt. Wer lässt sich schon freudig die Befriedigung archaischer Triebregungen versagen? Sicher kein Barbar mit Dienstbefugnissen; mögen diese auch noch so gering ausfallen.

#7/12 – Das siebte Fragment der mutigen Erstveröffentlichung (Die Zweite)

Seltsames passiert: Dieser Beitrag war zum chronologisch richtigen Zeitpunkt, vor #8/12 veröffentlicht worden und ist nunmehr verschwunden gewesen. Also liefere ich schnell den Ersatz; denn falls jemand lesen sollte, wird damit ein arges Ärgernis behoben.

Viel Spaß, Euer Satorius


 

Die Heimkehr des verspannten Fast-Magisters

Teil 7 von 12: Seiten 18 bis 21.

„Der praktische Unterschied zwischen technologisch verbesserten Übermenschen wie uns und den zurückgebliebenen reinen Organikern, also den meisten anderen, ist im Alltag dermaßen groß, dass deren erbärmlicher Zustand fast als Fanal eines mit aller Überzeugung gelebten Idealismus der Reinheit durchgehen könnte. Aber das nehm ich ihnen einfach nicht ab, diesen Schwächlingen“, kommentierte Nietzsche gewohnt bissig und übertrieben geschliffen und langatmig, was ihm direkt die gewöhnliche Rüge von Sokrates einbrachte: „Denk doch erst mal – nur beispielsweise! – über die Frage nach, was mit Xavers Mensch-Sein, beeinflusst durch die Technik, in den letzten Jahrzehnten so alles passiert ist; gerade sogar weiterhin passiert, just während wir mit ihm zusammen denken und vor uns hin existieren. Oder frage dich besser gleich auch noch, ob die meisten anderen überhaupt die Wahl haben, sich technologisch zu verändern oder nicht – und ich sage bewusst verändern und spreche nicht vorschnell von Weiterentwicklung oder unreflektiert von Verbesserung. Geborgte Macht ist es vor allem, die unseren Anfragen Gewicht verleiht. Nur ein paar Fragen, Spekulationen und eine Perspektive – schnell aus dem diskursiven Stegreif. Bereits mit deren oberflächlicher Auseinandersetzung könnte dein krudes Weltbild gründlich erschüttert werden!“ Wie stets mischten sich die anderen Module selten in die intellektuell anspruchsvollen, aber gleichzeitig ziemlich provokativ geführten Kontroversen der beiden ältesten Mitglieder des Gedankenkonzils ein. Nietzsche beließ es in diesem Fall überraschend kleinlaut bei der anfänglichen Spitze und reagierte nicht auf die starke Eröffnung seines Kontrahenten. Er wusste wohl wann Schweigen Macht war, nämlich wenn er so verdammt schlechte Karten in einem Disput hatte, wie hier mit der unbedachten Polemik, die ihrem tatsächlichen historischen Vorläufer alle Ehre gemacht hatte. Ein paar dieser reinen Organiker fielen derzeit unangenehm auf. Die zuvor noch so beschauliche Familie fiel nun sogar ihm auf und damit den meisten anderen Passanten und Passagieren sicher schon lange zur Last. Den Kontext würde er sich mithilfe der Umweltprotokolle schnell rekonstruieren lassen müssen und was sich über den Hintergründe noch herausfinden ließ war der notwendige nächste Schritt.

 

Nach einem Bruchteil eines Augenblicks hatte er mit Hilfe von Googol und unter kurzen Kommentaren von Sokrates und Nietzsche den Verlauf der Ereignisse nachvollzogen und steckte nun mitten in den Auswertungen und vor allem bereits in spekulativen Projektionen. Der während der Passage so verzückte und verzückende Spross war seit der unruhigen Landung außer sich geraten, sodass die sorgenden Eltern sich letztlich nach einem längeren, anfangs verdeckt geführten, zuletzt in aller Öffentlichkeit lautstark beendeten Grundsatzstreit doch dazu durchgerungen hatten, die pharmazeutische Hilfe einer der vielen, in diesen melancholischen Tagen gängig gewordenen, vollautomatischen Medizinalstationen in Anspruch nehmen zu wollen. Allerdings hatte an dieser Stelle der Ereigniskette das Schalmassel begonnen. Vielleicht war mit dem Aufenthalts- oder Sicherheitsstatus der beiden Erwachsenen etwas nicht in Ordnung oder deren Bonität bereitete unerwartete Unannehmlichkeiten; eventuell nur ein unglücklicher Zufallsvektor. Was genau los war, das war bisher nicht plausibel zu bestimmen gewesen und sprach damit allen Analysen und Beratungen Hohn. Die Faktenlage bis zum Eintreffen der zwei momentanen Gesprächspartner der Eltern war glassklar, ohne Hintergründe über den persönlichen Status waren all die die Prognosen und Szenarien des Gedankenkonzils praktisch wertlos. Zwar deutete man die Lage einhellig im Sinne subtile sichtbarer Tendenzen hin zu einer möglichen, langsamen Eskalation der Lage, aber das waren müßige, stochastische Spekulationen.

 

Was auch immer wirklich zur aktuellen Lage der beiden geführt hatte, war also im Grunde völlig unklar; was immer sich ereignen würde bahnte sich jedoch gerade vor Xavers sehenden Augen an. Das Vorhaben des Vaters, die ideologisch scheinbar verteufelte Medizinaltechnik zur Beruhigung seines Sohns in Anspruch zu nehmen, war folgenreich gescheitert. Nach der rückwirkenden Verhaltensanalyse war ein Verhaltensprimat, möglichst wenig Aufmerksamkeit auf sich zu wissen und unbehelligt voranzukommen. Letztlich war dieser Vorsatz kapital schiefgegangen; denn die Vorfälle hatten sie zu allem Überfluss nicht nur in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gebracht. Andere Mächte waren erwacht, sodass die Eltern nur restlos ihrer auffälligen Unauffälligkeit beraubt worden waren. Sie waren seit kurzem in Konfrontation mit den hiesigen Ordnungsmächten geraten und sprachen mit zwei unbehaglich aussehenden Schergen, vermutlich Mitarbeiter der Karlus-Korporation. Da sich die anschließende Diskussion gerade zu entwickeln begann, waren die Nöte des Kleinen auf einmal zweitrangig geworden.

 

So verblieb der Filius ebenso alleine in seinem bedauerlichen Zustand, wie er seine Umwelt umgekehrt lautstark hören und zur Belustigung der wenigen, verstohlen schauenden Schaulustigen auch spüren ließ. Für die vielleicht ernsten Gründe seiner Eltern hatte das verstörte Kind in seiner definitiv ernsten Hilflosigkeit kaum etwas übrig. Außerdem schien derzeit Niemand couragiert genug zu helfen – kein Wunder bei der systemweit herrschenden politischen Neuorientierungsphase. Zivilcourage hatte es ohne Zivilgesellschaft besonders schwer. Nicht nur hier vor Ort in Zentraleuropa war die politische Atmosphäre frostiger geworden. „Du hast sicher Recht mit deiner Überlegung, dass brutale Zeiten brutale Zustände auf den Plan rufen, aber einzig und allein Gutes zu tun kann daran etwas ändern eventuell mit Glück sogar verbessern“, ermunterte ihn ein gemeinsamer Ratschlag von Xaya und Matrina. Diese beiden Module waren sogar zusammen nicht einmal annähernd so lange bei oder besser mit Xaver, wie Sokrates oder Nietzsche jeweils für sich alleine es gewesen waren, genossen aber hier und jetzt aufgrund der ihnen eigenen Kompetenz- und Zuständigkeitsbereiche eine höhere Priorität in den Beratungen des Konzils. Zumal sie für die Zukunft von so entscheidender Bedeutung waren, dass ihnen effizientere Einflussnahmen möglich waren – ein Privileg, das Xaver ohne Weiteres annullieren konnte, aber aus guten, weil gesunden Gründen nicht für ratsam hielt.  

 

Den Verlauf der Ereignisse bis hier hin hatte er sich also fluchs aus den Protokolldaten seines Umweltsensoriums, einmal auf alles aufmerksam geworden, rekonstruieren können und nun waren Entscheidungen zu fällen. Von der Situation ergriffen und angetrieben von den Impulsen der nur zufällig einzigen beiden weiblichen Modulen aus der Lähmung durch seinen hyperrealen Äther aufgeschreckt, wurde er sich der unerwarteten Wendung und des damit drohenden Finales der anfangs noch so tröstlichen Familiengeschichte gewahr – förmlich von der Komödie zur Tragödie – und konnte nicht anders, als sich entgegen seiner kompletten Gewohnheit und gegen jede Erwartung stärker zu interessieren. Sollte er sich nun wirklich einmischen, vielleicht wenigstens dem Kind zur Hilfe kommen, wenn schon nicht den Eltern zur Seite zu stehen. Wer aktiv leben wollte, musste handeln – und nun hatte er mutig einen weiteren Schritt in dieses aktive Leben zu gehen.

 

Nur wie – und ob wirklich in letzter Konsequenz –, das musste nun zunächst entschieden und dann noch theoretisch ersonnen werden, um überhaupt je praktisch bewerkstelligt werden zu können. Es galt einiges aus verschiedenen Bereichen gegeneinander abzuwägen. Die beiden stämmigen Kerle zu aller erst, die sahen reichlich ungemütlich aus, in ihren robusten, in mattem Blauschwarz schimmernden Körperpanzern, mit all den Indizien latenter Aggression und steter Gewaltbereitschaft. Problematisch war die professionelle Befugnis Beidem nach eigenem Ermessen Ausdruck verleihen zu können und zu dürfen. Besorgnis erregten in dieser Richtung besonders die ersten zögerlichen Anzeichen kaum gebändigter Impulsivität, die bei dem kleineren der beiden Ordnungshüter just aufkeimten; auch wenn sein größerer Kumpane so wirkte, als brächte er das nötige Übermaß an Ruhe und Besonnenheit mit, um hier mit seiner Präsenz einen Ausgleich zu schaffen.

 

Aus historischer Erfahrung wusste Xaver, dass das Verhalten von Menschen, die am unteren, ausführenden Ende ungerechter und ungerechtfertigter Hierarchien ihren Platz gefunden hatten, unberechenbar sein konnte und einer fatalen, charakterlich-enthemmenden Dynamik unterworfen war. Das unwürdige Nebeneinander von demütig-feigem Desinteresse einerseits und gehorsamer bis geheuchelter Empörung andererseits, das eine kurze Sondierung der sozialen Dynamik ergab, rief in ihm Erinnerungen an Ausflüge in Erfahrungs- und Wissensnetze wach. Leider waren es Inhalte aus dunkelsten Kapiteln der Menschheitsgeschichte gewesen. Sah man gutmütig von der historisch zufälligen Fortschrittlichkeit der Oberflächen ab, hatte man ein immer gleiches, stereotypes Szenenbild einer im Kern faschistoiden und inhumanen Zwangsgesellschaft und ihrer typischen Rollenmuster vor sich. Menschen übernahmen dabei nach Zahl und Temperament die ihnen gemäße Rolle im System: Opfer, Täter, MitläuferHeld oder Märtyrer? Worum es hier ging war Verantwortung, nicht bloß eine Frage der Konformität also, sondern eine von ehernen Prinzipien höchsten Rangs – in Fragen von Ethik und Moral brauchte Xaver keine Beratung; von Niemandem. Die wohl fundierten Überzeugungen jedoch zum unbedingten Gesetz des Willens zu machen, hätte zu viel des Guten für den Anfang bedeutet. „Glücklicherweise muss jede Moral gewordene ethische Überzeugung, ein ihr entsprechendes Können vorfinden, um zur moralischen Pflicht zu werden. Klassisch gesprochen: Sollen impliziert Können“, gab Matrina die Eröffnung. „Die Kerle können und dürfen weit mehr als wir, also leg dich bloß nicht dummdreist, außerdem schlecht aufgewärmt direkt mit den Platzhirschen an!“, führte Xaya den Gedanken wie zufällig und auf ihre eigene, schnoddrige Art zu einem Ende.

 

#8/12 – Das achte Fragment der blutigen Erstveröffentlichung

Ein digitales Lebenszeichen: Piep .. Piep .. Piep – wo zuvor nur ein langgezogenes Piiieeeppp zu hören war. Das schöne an einem freien Blog ist; wenn man keine Zeit und kein Bock auf den Blog hat, dann lässt man es eben einfach. Ihr, wenn es Euch denn bereit gibt oder irgendwann geben werdet, verzeiht es mir sicher gerne. Wer ist dieser Tage nicht selbst beschäftigt und findet daher zu wenig Zeit für zu viele Vorhaben?

Mit dem Auftritt von Mauritius van Beeger schließt sich der erste Passant auf Xavers Handlungsreise ins Ungewisse an. Dabei wächst der Fast-Magister über sich hinaus. Weiter geht es also – langsam aber stetig dem Ende der kurzweiligen Erzählung entgegen: Viel Vergnügen mit Teil 8!

Ein wirklich aus seiner tatsächlichen Heimat heimgekehrter Satorius wünscht eine gute Woche!


Die Heimkehr des verspannten Fast-Magisters

Teil 8 von 12: Seiten 21 bis 25.

Wenn er in wenigen Wochen tatsächlich bereits mit der Instruktion und Formung von jungem Bewusstsein sein Auskommen verdienen wollte, dann sollte ihn diese Situation keinesfalls überfordern. War dem Kind erst einmal geholfen, konnte er womöglich im Anschluss sogar doch noch den Eltern beistehen, je nach dem, wie ernst deren Lage dann sein würde. Der Test seiner Überzeugungen kam oder kam eben nicht; unweigerlich und notwendig. Nach seinem Wissensstand ging die örtliche Exekutive schon nicht gerade unter den Prinzipien der Humanität mit ihren widerspenstigen Bürgern um; da wollte er sich gar nicht erst ausmalen, was Fremden Drakonisches drohte. Hoffentlich waren die Gründe für die Verwicklung trivialer Natur und die polizeiliche Willkür würde schlimmstenfalls entwürdigend ausfallen. Dessen Vermeidung konnte aber nötigenfalls ein Fernziel sein, Nahziel musste und sollte ein anderes sein: Die Entscheidung war gefallen, nun galt es diese in die Praxis umzusetzen.

 

Hier auf dem Planeten seiner Geburt, am zweiten Etappenziel seiner noch gut zwei Neu-Wochen dauernden Reise in seine nahende, berufliche wie private Zukunft, wagte er den Sprung. Unter strenger Begleitung durch Matrina versuchte er sich zu Erheiterung des Kleinen an etwas radikal Neuem – Kompromisslosem. Die Eltern führten währenddessen ihr unangenehm investigatives Gespräch einige Meter entfernt, in einem abgeschirmten Konsularbereich und waren dadurch von ihrem Sohn abgeschnitten worden. Wohl eine perfide bis schikanöse Demonstration von Macht, wo doch offensichtlich war, dass dem Kind Zuwendung, Trost und vielleicht sogar Medizin fehlten. All das zu geben, war Privileg und zugleich erstes Bedürfnis sorgender Eltern, wurde diesen hier aber verwehrt. Das noch immer schreiende Kind war damit wohl eher Auslöser, denn Gegenstand der Debatte gewesen.

 

Während Xaver entschiedenen Schrittes und optimal vorbereitet auf den unruhig umherlaufenden Jungen zuging, schickte er sich gerade an, seine bestmögliche Umsetzung einer gewagten Interventionstaktik zu inszenieren: Erschrecken und Verblüffen! Eindrucksvoll war für die dutzenden Zuschauer sicher der absurde Kontrast eines zunächst bieder daherschlurfenden Magisters in der puristischen Ordenstracht, der sich abrupt, ohne jede Ankündigung und in sekundenschnellem Übergang farbensprühend in einen clownesken Paradiesvogel verwandelte. Farblich gingen nüchternes Grauweis und tristes Alltagsgrau über in die schrillsten nur vorstellbaren Tönungen und Kombinationen aller Regenbogenfarben. Klanglich wurde diese gutmütige Attacke untermalt von einer, nur eng gebündelt in Richtung des Kindes wahrnehmbaren, akustischen Bühne: Auf einen quäkenden Alarmton folgte ein Tusch und daraufhin amüsante Zirkus-Musik, die einem ohne das man sie eigentlich so recht mochte, trotzdem einfach ein Lächeln aufs Gesicht gezaubert hätte. Olfaktorisch und haptisch wurde dem Jungen eine konfuse Abfolge von angenehmen Gerüchen und wohligen Gefühlen bereitet, soweit das telemanipulativ eben möglich war. Leider konnte er den Geschmackssinn nicht ansprechen – noch nicht, wenn das dann überhaupt noch nötig sein sollte. Er hatte einen kurzen Sketch mit Elementen aus Pantomime und Slapstick in den Netzen gefunden, den er dank Xayas kinetisch-mimischer Kompetenzen schon perfekt beherrschte. Als Lohn für seinen couragierten Einsatz erntete er auch prompt einiges an verkniffenem Lachen und sogar etwas ersticktes Prusten von den vorbeieilenden Passanten; zu klatschen traute sich aber keiner und glücklicherweise nahm niemand Anstoß an der ungewöhnlichen Aktion. Ansonsten sorgte der Einsatz, der fabelhaften Technologie sei Dank, für erstaunlich wenig Aufsehen und vor allem für den gewollten Effekt. Der Junge hielt sofort erschrocken inne und schaute erst einmal nur verdutzt drein. Seine Aufmerksamkeit war nun absolut bei Xaver, vergessen aller Verdruss von zuvor; absorbiert von der Magie des Augenblicks, stand er einfach nur ungerührt da. Während er der Darbietung mit fast allen Sinnen folgen konnte, hob sich seine Stimmung sichtlich und gegen Ende der kleinen Show lachte er sogar herzlich und strahlte fast wieder so, wie noch vor der Landung in seinem Spiel und bei seinen Eltern.

 

„Es freut mich wirklich, dass meine kleine Einlage dich erheitern konnte“, wandte sich Xaver, nach seiner letzten Drehung noch außer Atem und leicht schnaubend, an sein Publikum – den nun wieder fröhlichen und neugierig zu ihm aufschauenden Jungen.

 

„Das war einfach spitze! Wie hast du das gemacht – bist du ein Zauberer?“, war die kindlich direkte Antwort mit der unweigerlichen Anschlussfrage.

 

„Danke und sehr gerne geschehen. Mein Name ist Xaver Satorius und nein – ich bin kein Zauberer, aber so etwas Ähnliches vielleicht schon“, stellte er sich kurz vor und erklärte dann: „Das eben waren bloß ein paar teuere, technische Spielereien. Ein Wunder, dass die noch nicht eingerostet waren.“ Ohne diese Spielereien hätte er nicht einmal mit dem Kleinen reden können. Denn dieser sprach sicherlich kein Neo-Latein, was aber auch nicht nötig war. Er besaß mit Googol nämlich einen sehr potenten Simultanübersetzer und seit der Auswertung der sensorischen Protokolle wusste er mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass die Familie sich in Deutsch unterhalten hatte.

 

„Hallo. Ich bin der Mauritius van Beeger und eigentlich darf ich gar nicht mit dir sprechen. Soll nämlich nicht mit Unbekannten sprechen. Du warst aber so lustig und lieb, da mache ich eine klitzekleine Ausnahme. Aber bloß nichts der Mama sagen – pssst!“

 

„Wir sind doch schon zusammen in der Fähre gewesen. Also sind wir sogar nicht einmal wirklich Unbekannte. Ich saß nur ein paar Reihen hinter euch, aber in meiner Ordensrobe bin ich weit weniger auffällig, als jetzt gerade.“ Daran erinnert, wie exzentrisch bunt er noch immer dastand, deaktivierte er das Körperfeld. Sofort erlangte er seine alte Erscheinung zurück – mal abgesehen von den psychedelischen Verzerrungen, die den Übergang notwendig begleiteten. Nun unterhielt sich ein unscheinbarer, erst auf den zweiten, genauen Blick hin eindrucksvoller Mann mit schwarzen, schulterlang und glatt herunterhängenden Haaren, deren Grauanteile unverkennbar waren, mit einem Halbwüchsigen, der blass und pausbäckig dastand, mit seinem rot-blonden Lockenkopf. Dort standen ein 1,90m Riese und ein 1,20m Zwerg beisammen und sprachen trotzdem auf Augenhöhe. Unterdessen wurde der Riese innerlich von seinen Elfen Xaya und Matrina und den Kobolden Sokrates und Hoffmann mehr oder weniger frenetisch bejubelt und zu seinem Erfolg beglückwünscht.

 

Der Junge überlegte erst angestrengt, kam aber dann rasch zu dem Ergebnis: „Ich kann mich wirklich nicht an dich erinnern Herr Satorius. Aber ist ja nicht schlimm – die Ausnahme!“ Er zwinkerte Xaver kess zu und begann sich fragend umzusehen.

 

„Du fragst dich sicher, wo deine Eltern sind, oder?“, nahm Xaver erstaunlich feinfühlig den situativen Faden auf.

 

„Oh ja, da kamen vorhin so zwei dumme Kerle und haben sich aufgespielt. Dann haben sie Mama und Papa einfach mitgenommen und zu mir gesagt, ich soll hier warten und ruhig sein. Doof waren die! Besonders der Kleine war richtig fies!“, schloss er und schnitt eine unflätige Grimasse.

 

„Geht es dir denn gesundheitlich soweit wieder gut genug, um deine Eltern suchen gehen zu können oder soll ich dir erst etwas Medizin machen – ihr wolltet doch gerade Medizin holen als ihr vorhin unterbrochen wurdet?“, erkundigte er sich daraufhin neugierig und zugleich sorgenvoll bei Mauritius. Er hatte den Jungen auf Anhieb gemocht und war bis hierhin selbst von seiner Extraversion und dem ziemlich erfolgreichen Einstand überrascht – technische Unterstützung hin oder her, er war gut.

 

„Jetzt, wo ich mich wieder beruhigt habe – mir ist schon noch ein bisschen komisch im Bauch und Kopf-Aua hab ich auch noch ganzschön dolle. Aber gar nicht so schlimm, wie ich vorhin noch gedacht habe. Blöde Fähre, blöde Landung!“

 

„Warte kurz und vertraue mir. Ich habe immer eine Art Medizinschrank – oder besser noch eine Art Apotheker bei mir und da hol ich dir jetzt schnell deine Medizin her“, bot Xaver freimütig an und erteilte zeitgleich Hoffmann den Auftrag, ein nebenwirkungsfreies Universalpräparat gegen leichte Übelkeit und Kopfschmerzen mit saurem Zitrone-Ingwer-Aroma herzustellen.

 

„Das wäre toll. So was kannst du auch noch? Sei ehrlich – du bist doch ein Magier oder sogar eine Art Superheld“, erstaunte sich der Junge als Xaver unter seinem Gewandt ein daumengroßes, intensiv gelbes Bonbon hervorholte und ihm auffordernd hinhielt. „Her damit – mhh, lecker!“, schmatzte der Kleine munter vor sich hin und genoss seine leckere Medizin sichtlich.

 

Dass diese Medizin ein hochwirksames Erzeugnis erlesenster Hochtechnologie war, zeigte sich bereits wenig Momente später. Zu Mauritius wiedergewonnener Heiterkeit gesellte sich nun eine körperliche Spontangenesung, was bei Kindern diesen Alters und von vergleichbarem Temperament leicht zu Überschwang frühen konnte und zu Xavers Leidwesen in den folgenden 10 Neu-Minuten auch führte. Anfangs wurde er nur etwas lauter und wortreicher, dann zunehmend unruhig und schließlich hibbelig, frech und vorlaut. Mit der Begründung, eine zweite Medizin wäre trotz allem doch noch von Nöten, sollte dieser unschöne Verlauf nun jedoch subtil gedämpft werden. Er tat zwar insgesamt Gutes, aber diese Zwangsmaßnahme gegenüber dem Bewusstsein des Jungen hielten einer ethischen Prüfung kaum stand; selbst konsequent folge-ethisch bewertet, war sein Verhalten gegenüber Mauritius bestenfalls eine Gratwanderung und das finale Urteil hing noch von der Zukunft und schlechterdings dabei von Glück ab. Er zögerte den anstehenden Gang zu den Eltern nicht nur deshalb heraus, weil er sich vor ihm und seinen Gefahren scheute, sondern weil der Junge vor seinen Augen zu einem eklatanten Sicherheitsrisiko mutiert war. Hätte er den kleinen Raufbold nicht in Zaum gehalten, so wäre der wohl schnurstracks zu den beiden Ordnungshütern gegangen; dort hätte er sich dann theatralisch aufgebaut und seinem Unmut schonungslos Luft gemacht. Mit seinem quäkenden Stimmchen und in Worte, die seinem Alter alle Ehre gemacht hätten, wäre er für das Recht auf Eltern ungleich mutiger gewesen, als es Xaver sich gerade selbst zutraute. Wahrheit und Direktheit standen derzeit jedoch nicht überall hoch im Kurs. Ein, wie er nunmehr wusste, Fünfjähriger konnte den Ernst der Lage gründlich missverstehen. Besonders dann, wenn es ihm zu gut ging und er weiterhin derart sehnlich sein Eltern vermisste. So galt es abzuwägen, zwischen der Freiheit des Kindes und der Sicherheit aller Beteiligten inklusive eines leidenden Kindes.