Lyrik-Alarm

Bhagavad Gita feat. 2016 – Mit vorsätzlichem Edelmut hinein in unausweichliche Exzesse

2. Gesang – Über die Erkenntnis

[…]

Wer jede sinnliche Begier,

O Sohn der Pritha, von sich weist,

In sich und durch sich selbst beglückt,

Den, Tapferer, nennt man fest im Geist.

Wen nie ein Leid erschüttern kann,

Kein Freudentaumel überwand,

Wer frei von Gier, von Furcht und Zorn

Ein „Schweigender“ wird er genannt.

Wer nicht frohlockt, nicht mürrisch wird,

Ob Glück, ob Unglück ihn befällt.

In allem frei von Leidenschaft,

Der heißt, o Freund, ein Geistesheld.

Die Schildkröte, berührt man sie,

Zieht alle ihre Glieder ein,

So halte von der Sinnenwelt,

Wer standhaft ist, die Sinne rein!

[…]

 

5. Gesang – Über die Entsagung

[…]

Entsagung zwar und Tätigkeit,

Sie führen beide wohl zum Heil.

Doch wird vor dem Entsagenden

Dem Tätigen der Preis zuteil,

Wer nicht begehrt und wer nicht hasst,

Übt wahrhaft die Enthaltsamkeit,

Entrückt jedwedem Gegensatz

Er von der Bindung sich befreit.

„Vernunft“ (Sankhya), und „Andacht“ (Yoga),

sondern sich.

Kein Weiser spricht so, nur ein Kind,

Wenn eins von beidem man erlangt,

Man aller beiden Frucht gewinnt.

Gleich stehen, wer „Andacht“ sich

Und wer sich der „Vernunft“ befleißt,

Wer nur ein Ziel in beiden sieht,

O Freund, der sieht mit hellem Geist.

[…]

Dem äußern Sinneseindruck fern,

Mit starrem, unverwandtem Blick,

Den Atem durch der Nase Spalt

Bald vorwärtsstoßend, bald zurück,

Wer Sinne, „Herz“, „Vernunft“ beherrscht,

Von Gier, Furcht, Zorn sich hat befreit

Und einzig die Erlösung sucht,

Der ist erlöst für alle Zeit.

[…]

 

6. Gesang – Über die Meditation

[…]

So sitzt er in Ergebenheit.

Wer so im Geist die Andacht übt

Beherrschten Denkens, frei von Gier,

Der geht zum Frieden, zum Verwehn,

Das wurzelt ganz und gar in mir.

Nicht ist ein Yogi, wer zu viel,

Noch auch wer nichts isst, Ardschuna,

Noch wer zu viel des Schlafes pflegt,

Noch wer stets wacht, o Pandava.

Wer maßvoll speist und sich erholt,

Wer maßvoll handelt jederzeit,

Wer maßvoll schläft und maßvoll wacht,

Bei dem tilgt Yoga jedes Leid.

Wer einen wohlbezähmten Sinn

Im Innern tief befestigt hat,

Von keinerlei Begier befleckt,

Der hat Andacht sich genaht.

„Das Licht am stillen Platz,

Das nicht des Windes Hauch bewegt“,

Ein Gleichnis für den Yogi ist’s,

der steten Sinns der Andacht pflegt.

[…]

 

18. Gesang – Über die Befreiung

[…]

Denn der Verzicht ist dreierlei.

Auf Schenken leiste nicht Verzicht,

Auf Buße noch auf Opferung,

Denn Schenken, Buße und Opfer sind

Der Einsichtsvollen Läuterung.

Doch ohne Hang stets übe sie

Und ohne Rücksicht auf die Furcht,

Das ist der ganz entschied’ne Rat,

O Printhasohn, den du gesucht.

Entsagung vorgeschrieb’nen Werks

In keinem Fall sich gebührt;

Wer aus Verblendung dieses tut,

Der wird durch „Dunkelheit“ verführt.

Wer unbequemes Werk nicht tut,

Weil es dem Leib Beschwerde schafft,

Gewinnt nicht des Verzichtes Frucht,

Denn ihn beherrscht die „Leidenschaft“.

Wer vorgeschrieb’nes Werk vollzieht

Ganz ohne Hang und nur aus Pflicht,

Der übt, weil er nicht Lohn erstrebt,

Den „wesenhaften“ Werk-Verzicht.

Der weise „wesenhafte“ Mensch

Auch unerwünschtes Werk nicht scheut

Und frei von Zweifel, frei von Hang,

Am Angenehmen sich nicht freut.

Kein Sterblicher vermag jemals

Das Handeln aufzugeben ganz,

Doch wer aufgibt den Wunsch nach Lohn,

Der strahlt in des Verzichtes Glanz.

[…]

 

Diverse Brahmanen, Krishna und Co., Robert Boxberger (Übers.) und Helmuth von Glasenapp (Hrsg.) (um das 0, +- 300 Jahre), Bhagavad Gita (Das Lied der Gottheit), in: Mahabharata


Das nenne ich mal große Vorsätze für das neue Jahr, die auf spirituellem Sprachniveau, mit prominetem, historisch tiefem Colorit wunderschön gebunden daherkommen. Vom Ursprung zweier Weltreligionen her rühren die Worte von Krishnas Avatar, der Aruna in höchster Not beisteht und ihn weise bis dogmenbildend belehrt und unterweist.

An dieser Poetik und rhetorischen Gewandheit sollte sich der durschnittliche Bibelautor ein Vorbild nehmen und bei den indischen Urmeistern der Weisheitslehre und Sprachbildung Unterweisung suchen. Ex oriente lux mal wieder und wie immer, aber das ist nur meine bescheiden kommentierende Spöttermeinung: Zurückhaltung und Verzicht, Konzentration und Achtsamkeit, dennoch Fortschritt und Wachstum, diese Formel führt in den westlich-östlichen Divan hinter Postmoderne, Neorealismus und Populismus. Von schamanistischem Ethos in seiner ethnograpischen Breite und historischen Tiefe möchte ich garnicht erst anfangen zu fabulieren.

Was bleibt noch übrig von der technisch-wissenschaftlich-industriellen Modernität westlicher Provenienz nach einer tugendhaften Bereinigung alá Yoga? Wieviel digital naitiv darf der urbane Informationskrieger sein, will er noch yoga genug sein für Krischnas hehre Ideale?

Ein wenig mehr Bewusstsein für Grenzen und Folgen der eigenen Gewohnheiten sind sicher nie schädlich. Wenn dann noch ein Quantum lebenslangen Lernens stattfindet, das nicht einzig durch entfremdete Motive angetrieben wird, begründet sich eine moderne Form von minimalem Moralismus. Er würde sich anschließend an einen Moment der Bekenntnis, motiviert durch die Lust am und auf den nächsten Trippelschritt entlang des acht- oder – zeitgemäß und plural besser formuliert – n-fachen Weges mit diversem Ziel: Selbstvervollkommung, Perfektion, Erwachen, Alchemie des Selbst und dergleichen mehr oder in den nihilistisch anmutenden Worten der Erleuchteten aus dem ferneren Osten im Verwehn, durch Verlöschen – Nirvana lockt.

Bis dahin bleibt noch viel Zeit, für Genüsse, Lüste, Freuden und Begehren, all die schönen, angeblich so leidvollen Anhaftungen und Bindungen des Lebens. Zwischen den besinnlichen Tagen, auf deren Ende wir allesamt nun zusteuern, findet es statt das wirkliche Leben, der Alltag, der sie herausfordert, die ach so schönen und allzu guten Vorsätze, wie groß oder klein, nötig oder nutzlos, ernsthaft oder vorgespielt sie auch sein mögen.

Welchen Pfad ihr Euch für das kommende Jahr auch immer vorgezeichnet haben mögt, ich wünsche Euch, dass ihr ihn nicht gänzlich aus den Augen verliert, wenn ihr die genauso wünschenwerten, weil existenziell erfrischenden Ausflüge fern des Weges unternehmt.

Möge es edel und exzessiv gleichermaßen werden, auf ein existenziell erquickendes 2016, Euer Satorius

 

Poesie wider Ernst und Sinn

Dunkel war’s, der Mond schien helle,
Schneebedeckt die grüne Flur,
Als ein Auto blitzesschnelle
Langsam um die Ecke fuhr.

 

Drinnen saßen stehend Leute
Schweigend ins Gespräch vertieft,
Als ein totgeschossner Hase
Auf der Sandbank Schlittschuh lief.

 

Und der Wagen fuhr im Trabe
Rückwärts einen Berg hinauf.
Droben zog ein alter Rabe
Grade eine Turmuhr auf.

 

Ringsumher herrscht tiefes Schweigen
Und mit fürchterlichem Krach
Spielen in des Grases Zweigen
Zwei Kamele lautlos Schach.

 

Und auf einer roten Bank,
Die blau angestrichen war
Saß ein blondgelockter Jüngling
Mit kohlrabenschwarzem Haar.

 

Neben ihm ’ne alte Schachtel,
Zählte kaum erst sechzehn Jahr,
Und sie aß ein Butterbrot,
Das mit Schmalz bestrichen war.

 

Oben auf dem Apfelbaume,
Der sehr süße Birnen trug,
Hing des Frühlings letzte Pflaume
Und an Nüssen noch genug.

 

Von der regennassen Straße
Wirbelte der Staub empor.
Und ein Junge bei der Hitze
Mächtig an den Ohren fror.

 

Beide Hände in den Taschen
Hielt er sich die Augen zu.
Denn er konnte nicht ertragen,
Wie nach Veilchen roch die Kuh.

 

Und zwei Fische liefen munter
Durch das blaue Kornfeld hin.
Endlich ging die Sonne unter
Und der graue Tag erschien.

 

Dies Gedicht schrieb Wolfgang Goethe
Abends in der Morgenröte,
Als er auf dem Nachttopf saß
Und seine Morgenzeitung las.

 

AnonymusDunkel war’s, der Mond schien helle (1898)

Chaos, Ordnung oder keines von beidem

The laws of God, the laws of man,
He may keep that will and can;
Not I: let God and man decree
Laws for themselves and not for me;
And if my ways are not as theirs
Let them mind their own affairs.
Their deeds I judge and much condemn,
Yet when did I make laws for them?
Please yourselves, say I, and they
Need only look the other way.
But no, they will not; they must still
Wrest their neighbor to their will,
And make me dance as they desire
With jail and gallows and hell-fire.
And how am I to face the odds
Of man’s bedevilment and God’s?
I, a stranger and afraid
In a world I never made.
They will be master, right or wrong;
Though both are foolish, both are strong.
And since, my soul, we cannot fly
To Saturn nor to Mercury,
Keep we must, if keep we can,
These foreign laws of God and man.

 

Alfred Edward Housman (1859 – 1936), The Laws of God, The Laws of Man (1922)

Die unheimliche Dritte im Bunde: Die Sprachphilosophie

Spätestens seit Hegels „Phänomenologie des Geistes“ ist klar, dass das Problem des Geistes ein Problem der Sprache ist. Folgerichtig entwickelte sich die Kritik der Hegelschen Philosophie etwa bei Schopenhauer und Nietzsche auch als Sprachphilosophie. Spätestens seit Nietzsche wird Metaphysik als in die Sprache eingeschrieben gedacht. Und das bedeutet die Erkenntnis, dass die Sprache selbst das Hindernis für die sprachliche Überwindung der Metaphysik ist. Nietzsche sowie die metaphysikkritischen Philosophen nach ihm versuchen deshalb, mit unterschiedlichen Strategien, dem Zirkel der Metaphysikkritik zu entkommen. Die Hinwendung zu poetischer Diskursivität findet hier ihre rationale Erklärung. Sie ist nicht nur poetischen Neigungen zu verdanken, sondern ist eine philosophisch motivierte Strategie, den Zirkel der Metaphysikkritik zu durchbrechen.

 

Peter Engelmann (1947 – ), Jacques Derrida. Die différance: S. 23f. (Einleitung – Semiotik und Metaphysikkritik; 2004)


Kürzlich (Direktlink) sprach ich von Seinslehre (Ontologie) und Erkenntnistheorie (Epistemologie), wies ihnen eine herausragende Stellung im Korpus der philosophischen Disziplinen zu und nun das: Metaphysik und Sprachphilosophie seien die neuralgischen Punkte des verehrten Fachs?

Ja und Nein, äh Jain – möchte ich fast sagen, denn zwischen Metaphysik und Ontologie gibt es keine strikte, und wenn überhaupt dann eine fließende Grenze. Was allerdings die Sprachphilosophie betrifft, da lenke ich gerne reumütig ein und gestehe zu: Sie ist allerdings zentral und hochrelevant, mehr noch, ohne sie ist keine zeitgenössische Philosophie denkbar und damit verständlich. 

Neben den erwähnten zweieindrittel Begriffen – Ontologie/Metaphysik und Epistemologie – darf sie im historischen Inventar der modernen philosophischen Trickkiste keinesfalls unterschlagen werden. Ohne einen Sprung auf die Metaebene der Sprache, sei sie Medium oder gar umfassende Grenze von Denken und damit Philosophieren, bliebe ein allzu großer blinder Fleck in der Reflexionslandschaft bestehen. 

Dabei sind es typischerweise auch die im vorausgehenden Artikel bedachten (neo-)transzendentalen Ansätze, die seit Kant so ihre liebe Last mit der Sprachlichkeit des Denkens haben. Während die diversen Neukantianer in der Folge des Königsberger Klopses für eine Vermittlung von Geist und Materie eintraten, blieben bei ihnen eben die sprachlichen Strukturen bisweilen noch unterbelichtet. Damit standen sie zwar weiterhin und immerhin zwischen den Fronten eines den Geist überbelichtenden Idealismus und eines diesen sträflich verdunkelnden Materialismus, dennoch war noch ein Stück Denkweg zu gehen bis zum sog. lingustic turn zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Erwähnens- und anerkennenswerte Trittsteine auf diesem ideengeschichtlichen Weg waren für die philosophische Seite des Diskurses vor allem Ernst Cassirers Philosophie der Symbolischen Formen und Wittgensteins Philosophische Untersuchungen. Dessen vielbeachtetem Frühwerk Tractatus logico-philosophicus verweigere ich hier mal bewusst die Ehrerbietung, auch wenn es sich dem Problem der Sprache für das Denken explizit annimmt – zu explizit und logisch, um noch einer lebendigen Welt angemessen zu sein. Erst recht war noch ein weite Reise zu machen, bis man bei der analytischen Philosophie auf Basis des Pragmatismus und den vielen, mir hochsympathischen Formen von Differenzphilosophie und kritischer Theorie landen würde. Insbesondere Jacques Derridas Dekonstruktion möchte ich hier andeutungsweise hinsichtlich des Text-Fast-Foods erwähnen. Das 21. Jahrhundert also, war noch fern und einige ausgewiesen hässliche Perioden der Menschheitsgeschichte mussten erst noch durchschritten werden, aus denen dann auch die (Sprach-)Philosophie ihre bitteren Lehren zu ziehen hatte. 

Hier kommen wir nach dem womöglich etwas ermüdenden, philosophiegeschichtlichen Umweg von einer Ergänzungen zum letzten Denkwelt-Artikel endlich zum eigentlichen Anlass dieses Textes. Bevor hier jedoch der falsche Eindruck von Wissenschaftlichkeit aufkommt, bei all den Anflügen von Struktur, Argument und Chronologie, lasse ich nun Poesie über Sprache sprechen. Damit gewähre ich dem Nachdenken über Sprache seinen ihm gebührenden Platz neben den bereits besagten zwei Teildisziplinen der nicht nur akademischen Philosophie. Dass ich sie zunächst vergessen habe, mag mit der Unheimlichkeit zusammenhängen, die sie und den Sprung auf die Metaebene begleiten, oder einfach mit der Kürze von Zugang und Anspruch. Das zuvor besagte sprachlose X dankt mir die Wiedergutmachen sicherlich ebenso, wie mein schließlich damit wieder zu beschwörender Agnostizismus.

Aus dem Landschaftspark zwischen Philosophie, Poesie und Linguistik grüßt zweifelnd, Euer Satorius


Für Nelly Sachs, die Freundin, die Dichterin, in Verehrung

 

Ihr Worte, auf, mir nach!,
und sind wir auch schon weiter,
zu weit gegangen, geht’s noch einmal
weiter, zu keinem Ende geht’s.

 

Es hellt nicht auf.

 

Das Wort
wird doch nur
andre Worte nach sich ziehn,
Satz den Satz.
So möchte Welt,
endgültig,
sich aufdrängen,
schon gesagt sein.
Sagt sie nicht.

 

Worte, mir nach,
dass nicht endgültig wird
– nicht diese Wortbegier
und Spruch auf Widerspruch!

 

Lasst eine Weile jetzt
keins der Gefühle sprechen,
den Muskel Herz sich anders üben.

 

Lasst, sag ich, lasst.

 

Ins höchste Ohr nicht,
nichts, sag ich, geflüstert,
zum Tod fall Dir nichts ein,
lass, und mir nach, nicht mild
noch bitterlich,
nicht trostreich,
ohne Trost,
bezeichnend nicht,
so auch nicht zeichenlos –

 

Und nur nicht dies: das Bild
im Staubgespinst, leeres Geroll
von Silben, Sterbenswörter.

 

Kein Sterbenswort,
Ihr Worte!

 

Ingeborg Bachmann (1926 – 1973), Ihr Worte (1961)


Halte mich in deinem Dienst
lebenslang
in dir will ich atmen

 

Ich dürste nach dir
trinke dich Wort für Wort
mein Quell

 

Dein zorniges Funkeln
Winterwort

 

Fliederfein
blühst du in mir
Frühlingswort

 

Ich folge dir
bis in den Schlaf
buchstabiere deine Träume

 

Wir verstehen uns aufs Wort
Wir lieben einander

 

Rose Ausländer (1901 – 1988), Sprache (1976)

Achtung: Lyrik-Alarm!

Lyrik-Alarm!

Er schrillt unglaublich laut, durch die Gänge der Redaktionsräume von Quanzland. Die Mitglieder der Metatext-Redaktion verkriechen sich in ihren Büroboxen ganz tief unter ihrem Schreibtisch, die Hände fest auf die Ohren gepresst. Wie eine Schulglocke, wie eine Totenglocke, bedrohlich und lächerlich gleichermaßen.

Bisher war der Alarm eher selten erklungen, nun aber wird das öfter vorkommen – dafür sorge ich höchstselbst und mit diabolischem Genuss. Heute erst war ich für einen doppelten Alarm von beträchtlicher Länge verantwortlich. Die Töne hallen mir noch in den Ohren, aber das war es wirklich wert. Von der Banause zum Banausen-Sadist, ist mein derzeitige Leitmotiv im Umgang mit den Redakteuren.

Das schlichte Gedicht, damit eine der kräftigsten und ältesten Quellen dessen, was wir mindestens Literatur, manch einer überzogen gar Kultur nennt: Die gut alte Lyrik. Wer hat sie in der Schule nicht hassen gelernt? Eine Frage deren Umfrage mich wahrlich reizen würde. Ich jedenfalls bin seit Langem wortaffin, musste mich aber noch länge und zwar gründlich von der Lyrikunlust erholen, die mir die Schule, der Deutschunterricht in seiner Brillanz verpasst hatte.

Nun erwacht sie wieder, zaghaft aber stetig. Wo waren und sind Worte freier und fließender: im Roman, dem Internetvideo, dem Hörspiel oder dem Gedicht? In Allem potentiell und in der Gewichtung wohl immer individuell. Meine Gewichtung jedenfalls verschiebt sich ständig.

Diese Dynamik ist hart erarbeitet und erscheint aus anderem Blickwinkle womöglich als Rastlosigkeit, Sprunghaftigkeit oder sogar als Oberflächlichkeit. Vielleicht ist beides wahr, unwahrscheinlich nur eines von beiden oder vermutlich keines. Allerdings gibt es so viel zu entdecken, warum also: rasten, stillstehen oder versinken?

Die doppelte Dosis Dichtung,

derentwegen die demütigen Diener daniederknien,

darf durch die Düsternis der dunklen Dame dein Denken dekontaminieren.

Ein Lyrikalarm setzt an, droht aufzubranden, bricht aber sofort wieder ab: Fehlalarm – Puh, Glück gehabt!

Nun aber endlich zu den zwei Anlässen des nächtlichen Textes, den Dichtern Heine und Hoffmann von Hoffmannswaldau. Beiden gingen wohl offenen Ohres und Herzens durch ihre Welt. Deren Tendenzen in ihrer Vergangenheit und Zukunft aufzuspüren, den Zeitgeist einzufangen und allesamt sorgsam zu verdichten, gelang ihnen meisterlich: „Eins Plus“ – Aufgabe voll erfüllt und mit herausragendem Talent aufgefallen.

Die beiden dazugehörigen Alarme liegen bereits hinter den armen Teufeln, die unter mir und meinen Allüren leiden müssen, seit ich hier und jetzt tippe. Während meine Meta-Texter deshalb nunmehr zögerlich und verschüchtert, manche sogar sichtlich verstört, unter ihren Tischen hervorkriechen, schreite ich stumm tippend zur Text-Tat. Zwei erlesen Exempel deutscher Literatur, Text-Fast-Food möchte ich fast sagen, wären sie nicht so unglaublich nahrhaft und sättigend, wird pünktlich zum Frühaufsteher-Frühstück serviert.

In freudig-fieser Erwartung kommender Lyrik-Alarme, Euer Satorius

P.S. der geschundenen Metatext-Redaktion: Von nun an ist es gegen unsere ausdrückliche Bitte und zu unserem Leidwesen möglich, die lyrischen Exempel an Text-Fast-Food in der Unterkategorie Lyrik-Alarm (Direktlink) zu finden.


Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,

Ich kenn auch die Herren Verfasser;

Ich weiß, sie tranken heimlich Wein

Und predigten öffentlich Wasser.

Ein neues Lied, ein besseres Lied,

O Freunde, will ich euch dichten!

Wir wollen hier auf Erden schon

Das Himmelreich errichten.

Wir wollen auf Erden glücklich sein,

Und wollen nicht mehr darben;

Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,

Was fleißige Hände erwarben.

Es wächst hienieden Brot genug

Für alle Menschenkinder,

Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,

Und Zuckererbsen nicht minder.

Ja, Zuckererbsen für jedermann,

Sobald die Schoten platzen!

Den Himmel überlassen wir

Den Engeln und den Spatzen.

Und wachsen uns Flügel nach dem Tod,

So wollen wir euch besuchen

Dort oben, und wir, wir essen mit euch

Die seligsten Torten und Kuchen.

Heinrich Heine (1797 – 1856), Deutschland. Ein Wintermärchen: S. 6f (Caput 1; 1844)


Was ist die Welt und ihr berühmtes Glänzen?
Was ist die Welt und ihre ganze Pracht?
Ein schnöder Schein in kurzgefaßten Grenzen,
Ein schneller Blitz bei schwarzgewölkter Nacht,
Ein buntes Feld, da Kummerdisteln grünen,
Ein schön Spital, so voller Krankheit steckt,
Ein Sklavenhaus, da alle Menschen dienen,
Ein faules Grab, so Alabaster deckt.
Das ist der Grund, darauf wir Menschen bauen
Und was das Fleisch für einen Abgott hält.
Komm, Seele, komm und lerne weiter schauen,
Als sich erstreckt der Zirkel dieser Welt!
Streich ab von dir derselben kurzes Prangen,
Halt ihre Lust für eine schwere Last:
So wirst du leicht in diesen Port gelangen,
Da Ewigkeit und Schönheit sich umfaßt.

Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616 – 1679), Die Welt (1647 – 1648)

Legendäre Gelassenheit

Lass den Zorn,

die stürmische Erregung,

Alles Ungestüm,

hat keine Dauer:

Keine Stunde währt

ein Hagelschauer,

Keinen Tag des

des Wirbelwinds Bewegung!

Rasch verglüht des

Blitzes Feuerklinge –

Und dies sind des

Himmels große Mächte.

Stille ziemt dem

kleineren Geschlecht,

Und von selber,

ordnen sich die Dinge.


Genug zu haben, ist Glück,

mehr als genug zu haben, ist unheilvoll.

Das gilt von allen Dingen,

aber besonders vom Geld.


Übe die Regungslosigkeit,

beschäftige dich mit Untätigkeit,

finde im Verzicht Genuss,

und du siehst das Große im Kleinen,

das Viele im Wenigen.

 

Laozi bzw. Lao-Tse (um 600 v.Chr.), zufällige Weisheiten.

Hin und Her – wo ist denn bitte, hier verdammt nochmal die goldene Mitte?!

Du weißt nicht mehr, wie Blumen duften,

Kennst nur die Arbeit und das Schuften –

… so gehen sie hin, die schönsten Jahre,

am Ende liegst du auf der Bahre

und hinter dir, da grinst der Tod:

Kaputtgerackert – Vollidiot!

 

Joachim Ringelnatz (1883 – 1934), ihm zugeschrieben, gleichwohl sind Autorenschaft und Titel unklar.

Im nächsten Leben, soviel ist dir nun klar,

scheißt du auf Blaumann, Anzug und Talar!

… sagst „Ja!“ zur Muße, frönst voll dem Müßiggang,

bist für Ehre, Macht und Geld kein guter Fang;

aber dann – beim nächsten Urnengang – fragt dich der Schnitter:

War das nun reines Glück, das Paradies gar, oder doch nur schal und bitter?

 

Daniel Heinz Quanz (1983 – ), Geht schon – oder wie oder was? (2015) 

Paradoxes spricht: Frau Spicht!

Lyrisch womöglich noch wenig faszinierend, stellt diese kleine Strophe ein bisher erfrischend unbewältigtes Gedankenspiel und seine Folgen zur Schau, das Einstein seiner Disziplin und unserem Weltverständnis gleich einem mentalen Kuckucksei ins kollektive Gedächtnis gelegt hat. An den vielfältigen Verwicklungen (Schrödingers Katze, Multiwelten, etc.), die sich aus der Vertiefung und Interpretation dieser Thematik als Problematik im Rahmen der Quantenmechanik ergeben, lässt uns Frau Spicht noch nicht einmal teilhaben, deutet sie höchstens an.

Da behaupte noch mal jemand, Paradoxie und Paradoxes sei der Wissenschaft fremd oder solle es jedenfalls bleiben, und wäre, wenn überhaupt, dann doch bitte ein Thema für die Philosophie und nicht die harten Wissenschaften. Die Geschichte der Physik in der guten ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und die sich daran anschließende tendenzielle Stille, sprechen eine andere Sprache.

In nostalgischer Rückbesinnung auf einen meiner ersten Zugänge zur Philosophie, Euer Satorius


Es war eine Dame, die hieß Frau Spicht

Und bewegte sich tatsächlich schneller als Licht.

Sie verschwand eines Tages

Relativ ungefraget

Und kam nachts zuvor schon zurück.

 

Robert Anton Wilson (1932 – 2007), Die neue Inquisition: S. 165 (1992)

#SD1&2@Das doppelte Dalí-Delirium

Salvador Dalí (1904 – 1989), Die Metamorphose des Narziss (1937; London: Tate Gallery)

Dada düngt derzeit da, 

da Dalis Dasein deliziös dekantiert daherkommt. 

Denn derweil Dali das Denken derangiert,

deflagrieren die dollsten Deutungen.

Salvador Dalí (1904 – 1989), Die Auflösung der Beständigkeit der Erinnerung (um 1952 – 1954; New York: MoMA)

Deprimiert das den dahergelaufenen Deutungs-Debütant,

dann darf dieser dennoch das Doppelpack dekonstruieren.

Dada deduziert digitales Delirium,

deshalb den derben Denk-Durchfall desinfiziert deponieren.

Fortschrittliche Affen

Einst haben die Kerls auf den Bäumen gehockt,
behaart und mit böser Visage.
Dann hat man sie aus dem Urwald gelockt
und die Welt asphaltiert und aufgestockt,
bis zur dreißigsten Etage.

 

Da saßen sie nun, den Flöhen entflohn,
in zentralgeheizten Räumen.
Da sitzen sie nun am Telefon.
Und es herrscht noch genau derselbe Ton
wie seinerzeit auf den Bäumen.

 

Sie hören weit. Sie sehen fern.
Sie sind mit dem Weltall in Fühlung.
Sie putzen die Zähne. Sie atmen modern.
Die Erde ist ein gebildeter Stern
mit sehr viel Wasserspülung.

 

Sie schießen die Briefschaften durch ein Rohr.
Sie jagen und züchten Mikroben.
Sie versehn die Natur mit allem Komfort.
Sie fliegen steil in den Himmel empor
und bleiben zwei Wochen oben.

 

Was ihre Verdauung übrigläßt,
das verarbeiten sie zu Watte.
Sie spalten Atome. Sie heilen Inzest.
Und sie stellen durch Stiluntersuchungen fest,
daß Cäsar Plattfüße hatte.

 

So haben sie mit dem Kopf und dem Mund
Den Fortschritt der Menschheit geschaffen.
Doch davon mal abgesehen und
bei Lichte betrachtet sind sie im Grund
noch immer die alten Affen.

 

Erich Kästner (1899 – 1974), Die Entwicklung der Menschheit (1932)


Ein neues Jahr, das für Euch hoffentlich wunschgemäß gut verlaufen wird, bietet mir leider weiterhin wenig Gelegenheit, für Quanzland zu texten. In diesem Sinne liefere ich bloß wieder schnödes Text-Fast-Food. Immerhin bleibt der anonyme Unruhestifter, dem wir dieses weitere Exemplar verdanken, fast so umtriebig wie zuvor; nun sogar mit leicht bekömmlicher Lyrik.

Mit reu– sowie demütigem Gruß, Euer Satorius