Text-Fast-Food

Überall Utopisches

Ich weile weiterhin auf meiner Version des Mannschen Zauberbergs, Zeit spielt hier oben keine Rolle und mein Denken schweift schreibend weiter. Es landet nach einigen Sprüngen, Haken und einer gewagten Pirouette abermals bei meinem intellektuellen Steckpferd, dem sogenannten Utopischen.

Genauer gesprochen handelt es sich bei den folgenden beiden TFF’s um zwei unterschiedlich Formen des Umgangs mit diesem öminösen Utopischen, nämlich wiederum um sogenannte Utopik. Einmal fiktional im literarischen Gewand und einmal eher faktisch als philosophische Debatte. Beides sichtet und fabuliert, beides modelliert und analysiert den Zustand des utopischen Denkens. Mithin tangiert es notwendig das erwähnte Utopsiche, also die ontologisch-brisante Sphäre des Noch-Nicht-Seinenden und ihre diversen Objekte, die im Subjekt als Traum oder Utopie erscheinen und objektiv unbestritten wirkmächtige Faktoren innerhalb des Weltgeschehens waren, sind und sein werden.

Was also sagen die Zeugnisse und die Zeugen über das so zwielichtige, so schillernde Thema, das mich seit Studientagen begleitet und vermutlich lebenslang faszinieren wird? Lassen wir sie für sich selbst sprechen und protokollieren unterdessen eilfertig für uns ihre Aussagen zu Visionen, Zukunftsphantasien, ja allgemein zum Utopischen:


Juli Zeh: […] Ist es quasi so, dass uns die Visionen ausgegangen sind? Oder …

Richard David Precht [kurz unterbrechend]: Fallen ihnen welche ein?

Juli Zeh [nachfragend]: … die man noch haben könnte?

Richard David Precht [präzisierend]: Sagen Sie mal gesellschaftliche Visionen, die Sie im Raum stehen sehen, an die Menschen glauben, bei ’ner guten Zukunft …

Juli Zeh [kurz unterbrechend]: Könnten? Oder tatsächlich, …

Richard David Precht [letztlich präzisierend]: Die da sind …

Juli Zeh [nochmals einhankend]: … aktiv glauben?

Richard David Precht: Naja, die viele Menschen haben vielleicht. Wo Sie sagen: In zwanzig Jahren wird es auf der Erde besser sein, weil es wird das und das Gute passieren.

Juli Zeh: Na, da müssen ‚mer wohl alle passen, oder? Also es gibt momentan keine Vision, die wirklich von mehr als vielleicht drei, vier Leuten geteilt wird und die sich auf was Positives richtet. Da fällt mir nichts ein, also vielleicht ein Gegenmodell zum Kapitalismus, aber das ist nichts, wo wir flächendeckend dran glauben. Also da kann man drüber nachdenken, da kann man vielleicht was entwickeln und mal ein Buch drüber schreiben und so weiter. Das schon, aber wir reden ja jetzt über was, was die Massen elektrisiert, wo Leute sagen: „Dafür gehe ich auf die Straße! Dafür stehe ich ein; meine Lebenskraft, meine Zeit geht in dieses Projekt, weil das überzeugt mich.“

Richard David Precht [nickend und kopfschüttelnd]: Das sehe ich auch nicht! Ich sehe zwei Visionen, die von Minderheiten verfochten werden. Die eine Vision ist, dass das biologisch so unvollkommene, stinkende, Energie verbrauchende Experiment „Mensch“ zu Ende geht. Das wird im Silicon Valley erträumt. Von Leuten wie Ray Kurzweil, der eine eigene Uni gegründet hat – der Transhumanismus, der sagt: Wir werden irgendwann unsterblich werden; wir werden mit Maschinen verschmelzen; wir werden irgendwann eben keine biologische Grundlage mehr haben, sondern wir werden einen Informationsspeichersystem werden; wir werden uns in einer Cloud verewigen und das wird ganz großartig! … das hat übrigens den großen Vorteil: Dann stört auch der Klimawandel nicht. Wenn wir kein biologischer Organismus mehr sind, sondern die Menschheit dann ihre biologisch Hüller verliert, dann kann der Planet eigentlich ruhig den Bach runter gehen. Das ist die eine Vision. Das ist ja eine klare Zukunfts …

Juli Zeh [kurz einstreuend]: Man braucht den Planeten ja gar nicht dazu. Das kannst’e ja im Weltraum stattfinden lassen. Wenn alles nur noch Kommunikation ist. Du brauchst nur ne Energiequelle …

Richard David Precht [wieder übernehmend und fortführend]: Klare, klare Zukunftsvision. Wir verlassen die menschliche Hülle. Das ist die eine Vision. Die wird ganz, ganz stark von mehreren wichtigen Exponenten im Silicon Valley vertreten. Und dann gibt es noch diejenigen, die sagen: Wir müssen endlich aus dem Kapitalismus raus. Weil, dann müssen wir nicht mehr wachsen, dann müssen wir nicht mehr, mehr Energie verbrauchen und so weiter, ein anderes Verteilungssystem … – die wird allerdings auch nur von einer kleinen Minderheit verfochten. Und ich gebe ihnen sofort Recht. Für die große, breite Menge gibt es im Augenblick keine positive Vorstellung von morgen und übermorgen.

Richard David Precht (1964 – ) & Juli Zeh aka Julia Barbara Finck (1974 – ), Gespräch unter dem Titel „Mehr Fortschritt, mehr Wohlstand, mehr Glück?“, in: Precht – 6:23-8:43 [28.04.2019, ZDF; Direktlink: ZDF]


[Die Geräusche eines anfahrenden Zuges im Hintergrund, leiser werdend] Die größte Angst ist, vom fahrenden Zug zu fallen; hinter ander’n Ländern zurückzubleiben; dass wir von China überrollt werden können, das ist die Panik! Deswegen wird alles Überflüssige abgeschafft. Er glaubt nicht, dass Kunstunterricht in zehn Jahren noch existieren wird. Utopien, für Gesellschaft und Schule – Wer sind wir? Was brauchen wir? Was wollen wir ändern, was erhalten? -, das können die von ihnen Ausgebildeten nicht mehr leisten; das kann die nächste Generation nicht – unmöglich! Die sind nur kanalisiert auf das, was sie ihnen vorgebetet haben. Aktives Gestalten findet nicht mehr statt – können die einfach nicht!

Inga Helfrich (1966 – ), Ich Wir Ihr Sie – 37:41-38:20 [Direktlink: BR-Podcast]


Ein populärer TV-Philosoph und eine renommierte Schriftstellerin im Dialog, eine zufällige Figur aus einem zufällig zum einschlägigen Thema passenden Hörspiel kommen einhellig zum analogen, negativen Urteil: Schlechte Gegenwart für gute Geschichten über die Zukunft.

Damit sprechen sie ein Gefühl aus, das mich immer wieder aufs Neue heimsucht und Jahr um Jahr umtreibt: Utopisches, Utopien und zeitgenössische Utopielosigkeit, Dystopietendenz zuletzt. Was je nach Utopieverständnis schnell in einen schlimmen (sozial-)psychologischen Verdachtsmoment münden kann: (historisch-zivilisatorische) Hoffnungslosigkeit?

Ohne Attribut: Nein, mir geht’s gut! – mit: Eventuell, vermutlich leider sogar, Ja!

Für mich ist also das Attribut „historisch-zivilisatorisch“ im Kontext des Utopischen entscheidend, denn an kleinen, individuellen Utopien mangelt es – auch ich bekenne mich: schuldig! – ebenso wenig wie an kleinen, kollektiven Utopien, die „von vielleicht drei, vier Leuten geteilt“ werden. Diese kleinen Visionen können glücken und individuell verzücken, aber das war’s dann auch schon wieder. Kollektiv und vor allem „historisch-zivilisatorisch“, sind sie kaum als Parameter quantifizierbar, kaum als Fußnote qualifizierbar.

Mit dem hehren Attribut sieht die Sache unklarer, womöglich sogar düster aus: Was global, national, regional (, bisweilen sogar: inner-individuell) als Pluralität und Wettbewerb von Ideen und Argumenten positiv betrachtet werden kann, kann ebenso als Zerstrittenheit und Konkurrenz gewendet werden. Im Ergebnis landen wir schlimmstenfalls beim Hobbschen Universalkrieg einer logisch endlichen, praktisch aber unendlichen Anzahl von Einzelinteressen oder, im Kontext gesprochen, Einzelutopien, die im epischen Kampf um die Seelen und Bewusstseine der Menschen liegen. Ohne Sieger in diesem ewigen Wettstreit – und jetzt wird es eigentlich problematisch – lässt sich keine demokratisch legitime Politik denken und auch keine Gruppe bis hin zur Menschheit als funktionale Gemeinschaft vorstellen.

Politik, Utopisches und Utopie sind somit aufs Fatalste verbunden und bedürfen einander, neben anderen Quellen, wechselseitig. Nach unzähligen angeblichen Enden der Geschichte sind wir im 21. Jahrhundert in einer globalen Heteronomie sonders gleichen gelandet. Alle wollen leben und die meisten mehr oder weniger Geld verdienen, aber damit endet die Gleichheit auch schon längst. Ob in der Familie, der Nachbarschaft, der Stadt oder dem Land, auf der Welt allemal, es herrschen der Unterschied, die Vielfalt, das Andere. Globalisierung und Normierung sind real, aber ein Kampf gegen Windmühlen. Jeder für sich und für die seinen das Beste, und damit zum Besten aller – so ungefähr lautet das moderne, letztlich heraklitsche Credo vom Krieg als Vater der Geschichte nunmehr in unheiliger Allianz mit neoliberalem Konsum- und Finanzkaptilaismus, der nebenher mal so eben die Lebengrundlage auf Erden dahinrafft – tragischerweise nicht nur diejenige vieler Tiere und Pflanzen, sondern sogar diejenige der eigenen Gattung. Die homo oeconomicus marginalisiert den homo sapiens und bedroht solcherart sich selbst, seine eigene Zivilisation steht auf dem Spiel.

Glücklicherweise zugegeben, es gibt Solidarität, Freundschaft, Kooperation, Verständnis, Kompromisse, Gastfreundschaft und so vieles Schönes, Gutes und Wahres mehr; wo aber ist die auf humanem Weg siegreiche „historisch-zivilisatorische“ Utopie, die Hoffnung gibt und wirksam wirksame Politik inspiriert, möchte man abschließend fragen? Denn sonst bleibt das Urteil aller, zugegeben einseitig und buchstäblich beliebig ausgewählten Akteure salopp gesagt: „Wat, äschte und geräschte Udophie? Sowas Quersches gibbet bei uns net!“

Mit diesem mundartlich-komischen Auswurf möchte eine ewige Kontroverse harsch aber kontrolliert beenden, denn, wenn man einmal ambitioniert anfängt, sieht man überall Utopisches; ebenso leicht übrigens – liebe Verschwörungstheoretiker und -fans – wie man überall die „23“ findet oder Indizien entdeckt, das „SIE“ am Werk waren. Will abschließend, maximal verkürzt sagen: Utopisches und Utopien gegenüber kruden, negativen wie positiven Scheinerzählungen aka Verschwörungsteheorie, Fake-News etc. sind aller Liberalität in Sachen Begriffsontologie zum Trotz wie Äpfel und Bitumen – grundverschieden, die eine definitiv gesund, die anderen sogar giftig!

In Abwehr und Neugier wie froher Erwartung kleiner, mittlerer und großer Utopien, Euer Satorius

Perry Rhodan (Neo): Ein hoffnungslos hoffnungsfroher Idealist und „positiver“ Populist

»Wenn wir in diesen Tagen von unserer Welt sprechen, richten wir die Augen zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit zum Horizont. Wir blicken nicht mehr nur vor unsere Füße, sehen nicht mehr nur unseren eigenen Schatten, sondern heben den Kopf und begreifen, dass wir nicht mehr allein sind. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich spüre in diesem Begreifen eine unbändige Kraft, die uns in den kommenden Jahrzehnten antreiben wird. Sie wird uns führen und leiten. Und sie wird uns zu Dingen befähigen, die wir bislang nicht einmal zu träumen wagten!
Wir stehen hier und heute zusammen. Vereint in der Trauer um jene Menschen, die wir verloren haben. Jene Menschen, die den Weg in eine bessere Zukunft nicht mehr an unserer Seite gehen können. Jene Menschen, die ihr Leben in der Überzeugung gegeben haben, dass eine solche Zukunft nicht nur möglich ist, sondern dass wir sie eines Tages erreichen werden. Jene Menschen, die wussten, dass die Zukunft nur auf einem Fundament in der Gegenwart gebaut werden kann, und die bereit waren, um jeden einzelnen Stein dieses Fundaments zu kämpfen – notfalls mit dem höchsten Einsatz, der ihnen möglich war!
Wir werden die Namen dieser Menschen niemals vergessen. Ebenso wenig wie das, was wir ihnen schuldig sind. Nämlich das zu vollenden, was sie begonnen haben. Auf ihrem Fundament ein Haus zu errichten, dessen Tür für jeden offen ist, das jedem Schutz und Wärme bietet, das uns alle endlich zu dem macht, was wir schon immer waren: Bewohner des wunderbarsten Planeten, den ich auf all meinen Reisen sehen durfte!
Wir stehen vor gewaltigen Herausforderungen. Manchem mögen die Aufgaben, die vor uns liegen, unlösbar erscheinen, die Hindernisse unüberwindbar und die Opfer, die wir bringen sollen, zu groß. Doch die Ereignisse der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass wir allen Gefahren trotzen können. Man hat versucht, uns unsere Freiheit zu nehmen. Man hat versucht, uns unsere Heimat zu nehmen. Man hat sogar versucht, uns unsere Menschlichkeit zu nehmen! Doch all das hat uns nicht gebrochen. Wir sind immer noch da. Weil wir Menschen sind! Weil wir nicht aufgeben! Weil wir stets einmal öfter aufstehen als hinfallen!
Ich möchte Ihnen sagen, was ich sehe, wenn ich in die Zukunft blicke. Ich sehe, wie Grenzen verschwinden und uralte Feindschaften zerbrechen. Ich sehe, wie wir Krankheit und Hunger besiegen. Ich sehe Menschen aller Kulturen, aller Hautfarben und aller Religionen, die sich die Hände reichen. Und ich sehe eine neue, wunderbare Welt, die auf Basis von Freundschaft und Vertrauen entsteht.
Einige nennen mich deshalb einen gefährlichen Spinner. Andere einen Phantasten und Träumer. Man attestiert mir Realitätsferne, wirft mir vor, ich sei weltfremd und unbelehrbar idealistisch. Doch wo wären wir heute, wenn es keine Menschen gäbe, die träumen? Wenn es keine Menschen gäbe, die für das einstehen, was sie glauben? Menschen mit Prinzipien und der festen Überzeugung, dass wir in dieses Universum geboren wurden, um uns an ihm zu erfreuen, seine Wunder zu schauen und zu seiner Schönheit beizutragen?
Ich möchte Sie alle, jeden Einzelnen von Ihnen, einladen, mich auf meiner Reise zu begleiten. Ich verlange nichts, außer dass Sie Ihre Herzen für die unglaublichen Wunder öffnen, die da draußen auf uns warten. Haben Sie keine Angst. Sie sind nicht allein. Niemand von uns ist das. Wir stehen vor einem goldenen Zeitalter, und jeder von uns hat die Chance, Teil von etwas zu werden, das so viel größer und bedeutender ist als all die kleinlichen Streitereien, der engstirnige Egoismus, das Misstrauen und der Hass, die unser Denken vergiften und uns krank und bitter machen.
Kommen Sie mit mir! Es ist einfacher, als Sie denken. Es braucht nur ein wenig Mut, um den ersten Schritt zu tun. Ich stehe heute nicht als Politiker vor Ihnen. Nicht in meiner Eigenschaft als Protektor der Terranischen Union. Ich spreche zu Ihnen als Bewohner des Planeten Erde … als Mensch … als Terraner!«

 

[…]

 

»Es gibt klügere Leute als mich, die behaupten, dass unsere Existenz auf einem Zufall beruht. Auf der Tatsache, dass das Universum so unvorstellbar groß ist, so unglaublich vielfältig, dass früher oder später eine Spezies wie wir Menschen ganz zwangsläufig entstehen musste. Ich bin nicht dieser Meinung. Ich glaube, dass wir eine Aufgabe haben. Jeder von uns. Wir werden in diese Welt geboren, um etwas zu tun, und unser Leben ist die Zeit, die uns zur Verfügung steht, um herauszufinden, was das ist.«
Farouq rieb sich die Nase. »Wie kannst du da so sicher sein?«
»Schau dich um«, antwortete Rhodan. »Schau dir die Welt an, in der wir existieren. Und dann sag mir mit voller Überzeugung, dass du all diese Schönheit für ein Zufallsprodukt hältst. Schau in den Nachthimmel hinauf, und dann sag mir, dass all diese Pracht und der Überfluss eine bloße Laune der Natur sind. Öffne deine Augen an jedem beliebigen Ort, und dann versuche mich davon zu überzeugen, dass dem Universum keine tiefere Bedeutung innewohnt; dass es nichts weiter ist als eine wahllose Kombination aus Raum, Zeit und Materie. Nein, Farouq. Das ist schlicht und einfach unmöglich!«
Minutenlang sagte keiner etwas. Sie saßen einfach nur da und schauten auf den See hinaus, folgten den Bewegungen des Wassers und ließen sich die Sonne ins Gesicht scheinen.
»Hast du deine Aufgabe gefunden?«, durchbrach Tom schließlich die Stille.
Rhodan schloss für einen Moment die Augen, was die Empfindung von Wärme auf seiner Haut verstärkte.
»Ich glaube schon«, gab er zurück. »Auch wenn ich es weniger als Aufgabe und eher als Chance bezeichnen würde. Das Schicksal hat mich in die Lage versetzt, viele Dinge zum Guten zu verändern. Diese Möglichkeit bekommen nur sehr wenige. Ja, wir haben schwere Rückschläge hinnehmen müssen. Aber die Erfolge sind ebenfalls deutlich sichtbar. Hunger und Armut sind fast vollständig besiegt. Seit Gründung der Terranischen Union haben sich die Lebensbedingungen von Milliarden Menschen spürbar verbessert. Wir konnten einige Krankheiten ausrotten, die noch vor fünfzig oder hundert Jahren Millionen umgebracht haben. Wir bekommen die Probleme der Umweltzerstörung nach und nach in den Griff. Die Erde ist sicher kein Paradies, aber ich finde, wir sind auf einem ziemlich guten Weg.

 

 

Rüdiger Schäfer (1965 – ), Als ANDROS kam …Perry Rhodan Neo, Band 190, 91% & 95% [@Satorius: Bei E-Books als Quelle werde ich von nun an aus pragmatischen Gründen nur noch den %-Anteil der zitierten Stelle am Gesamtwerk angeben]

Trifftiges findet sich bisweilen inmitten selbst trivialster Unterhaltungsliteratur; hier lauschten, lassen wir Perry Rhodans Worte, der seinerseits Namesgeber und gutmenschlich-optimistischer Protagonist des längsten und umfangreichsten Science-Fiction-Epos aller Zeiten ist. Gegen diese fiktionale Welt und den dazugehörigen Kosmos verblassen Star Trek und Star Wars gleich doppelt, objektiv quantitativ wie subjektiv qualitativ – keine Chance Hollywood! Perry Rhodan also – ja, ich gestehe nunmehr mein bisher verstecktes Fandom!

Einer Version seiner privaten Utopie zum Abschluss des TFF korrespondiert zu Beginn der öffentliche Utopismus seiner Rede an die krisengeschüttelte Menschheit. „Utopismus“ hier im Sinne eines positiven, weil konstruktiven Populismus verstanden, der nach Versöhnung qua politischer Realisierung drängt und dazu rhetorische Mittel wie manipulative Methoden gleichermaßen instrumentalisert. „Utopie“ hingegen gedacht als eine narrativ konzipierte wie historisch orientierte, somit fiktional wie faktisch angebundene Erzählung über eine gute Welt, der authentische Glaube an eine bessere Zukunft und die prinzipielle wie konkrete Möglichkeit der Menschheit und des Menschen zum echten Fortschritt. Individueller Idealismus im Inneren geht hierbei einher mit kollektivem Populismus im Äußern, in Rhodans Äußerungen als Politiker und Vater schillert es gewaltig. Licht wird von Schatten umspielt, dialektisch und fatal verschränkt geistern Humanismus, Heroismus und Moralismus durch die Zeilen des Textes – „Terraner aller Planeten vereinigt Euch, verteidigt Euch!“

Bevor ich aber der Versuchung erliege, intensiv zu analysieren und anschließend massiv zu interpretieren, womöglich schlussendlich gar zu dekonstruieren, überlasse ich Euch und eurem Bewusstsein freimütig das TFF. Zumal ich ich höchster fiktionaler Erregung der dritten Episode der achten Staffel von GoT entgegenfiebere. In dieser episch eingeleiteten Episode wird vermutlich der über neun lange Jahre Erzählzeit hinweg gespannte Bogen sich schließen und lösen. Während die (Über-)Lebenden in Winterfell auf die Nicht-mehr-Lebenden von jenseits und diesseits der Mauer treffen, bleibt abzuwarten, ob es noch eine unerwartete, doch erwartete Wendung gibt und ob die Autoren die Eier hatten, entgegen Konvention und Klischee, das einzig würdige Ende für die Geschichte zu verfassen: Oh Herr, lass es bitte eine Tragödie sein!

Immer auf der Suche nach fiktionaler Spannung in einer faktisch spannenden Welt, Euer Satorius

Wann kommen die Systemupdates: (Techno-)Politik 2.0?

Welche Wirkung werden die technologischen Neuerungen, die seit Anfang der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts den Alltag und die Köpfe der Menschen fundamental verändern, auf die Gesellschaft im Allgmeinen und die Politk im Besonderen haben?

Kompakter und klarer könnte eine Frage kaum ausfallen; spannender und aktueller kaum sein. Klar, jeder hat hierzu sofort einige Intuitionen, eigene Erfahrung und etliche Meinungen. Stellt man diese Frage jedoch ernstlich, eventuell gar unter wissenschaftlichem Anspruch, sei er nun philosophisch, psychologisch, soziologisch akzentueirt oder sonst wie interdiszilpinär gemischt gemeint, wird es herausfordernd bis heikel. Das Leben selbst transmutiert, eine einmalige und neue Entwicklung ist im Gange unter den Oberflächen und hinter den Vorhängen von politischer Korrektheit und Normalität.

Klar ist, wenn auch vieles im Laufe der Geschichte(n) wiederkehrt, so gibt es doch echte Progression und Innovation: Vom „Scherbengericht“ der Griechen bis zu heraufdämmernden neuen Formen wie „Digitaler Demokratie“ und „Techno-Kollektivismus“ ist es ein kultur-historisch weiter Weg.

Wenn also „Re-Nationalisierung“, „Neu-Populisimus“, „Ent-Politisierung“ und „Liberalisierung“ nicht überhand nehmen, könnten wir an der Schwelle zu einem Zeitalter echter politischer Metamorphosen stehen: Block-Chain, Web 2.0, Cyborgisierung und Digitalisierung insgesamt haben auch politisch ein revolutionäres Potential, soviel ist wohl unstrittig; strittig hingegen ist, wann sich dieses Potential bahnbricht, wo und wie es sich historisch somit realsiert und manifestiert.

Europa und China sind hier zwei Kandidaten, bei denen Neuerungen in der einen oder anderen politischen Richtung denkbar oder bereits absehbar sind; Schwellen- und Entwicklungsländer bieten neuen Formen und Strukturen von Herrschaft und Markt einen Entwicklungsraum, wenn es auch weltweit an Versuchen der zwanghaften Konservierung und reaktiven Regulierung nicht mangelt.

Das Neue kommt notwendig auf uns zu, die Frage ist hierbei nicht das generelle „ob“, sondern das konkrete „wer, wann, wo und wie“ dieser Wandel stattfinden wird. Ich jedenfalls glaube und hoffe gleichermaßen, dass aus dem Schosse des 21. Jahrhunderts echte politische Innovationen hervorgehen, welche die seit Aristoteles so zyklisch erscheinende Welt der politischen Systeme aufbrechen und erneuern. Dass hierbei gerechtere wie ungerechtere Formen von Politik, Regierung und Öffentlichkeit entstehen werden, ist ebenso logisch wahr, wie es inhaltlich banal ist.

Bei aller prognostischen Offenheit hinsichtlich Weg und Wesen bleibt zuletzt, kurz die Gründe für die steile Behauptung darzulegen, es gebe notwendig aus- und anstehende Updates, also nicht bloßes Wiederkehren des abstrakt immer wieder Gleichen unter historisch konkret unterschiedlichem Gewand: Die zivilisatorischen Herausforderungen sind derart extrem, global und komplex, dass die alten Formen von Wirtschaft und Politik (ich muss hier glücklicherweise keine Klärung dieses [Miss-]Verhältnisses vornehmen) sie nicht (mehr) zu lösen vermögen; die Quantität und Qualität der Mittel zum politischen Zweck erweitert sich exponentiell; die Grenzerfahrung wird zum generellen Narrativ der Menschheit und fordert Umorientierung; Information, Vernetzung und Globalisierung haben stark integriert und wenn nicht harmonisiert, jedenfalls standardisiert.

Man darf also m.E. gespannt sein auf neue Impulse und Konzepte, insbesondere bin ich gespannt darauf, wer die Avantgard sein wird, die angeblich per selbstregulatorischem System flexible und lernfähige, jedoch auch konservative bis ineffiziente Demokratietradition oder die nicht minder ambivalenten Formen von Kollektivismus und Marktliberalismus…

… kritisch bis neugierig, offen bis sorgenvoll der globalen Zukunft zugewandt, harrend der Updates auf „Politik 2.0“, Euer Satorius


Ja, es ist das aktuelle große politische Problem. Die neuen Technologien haben die Möglichkeiten ins Unermessliche schießen lassen. Was macht man nun, da die Vielfalt ihre Zügel ablegt? Letztlich hat sie das nicht ganz getan, insofern Google die Rolle der Regierungen übernommen hat. Google hält die Vielfalt im Zaum, doch wie lange noch? Bereits Titus Livius stellte sich diese Frage: Was würde die Menge machen, wenn es nicht zu einem bestimmten Moment einen König, einen Kaiser, einen Tribun gäbe, der sie in Schach hält? Ein Fixpunkt ist wie ein Konzept in der Philosophie – die fluktuierende Vielfalt wird von ihm geschluckt. Das kann man sich auch als eine architektonische Form vorstellen: Von ägyptischen Pyramiden bis zum Eiffelturm gibt es einen Fixpunkt und ein breites Fundament, das den Raum absorbiert. Heute haben die neuen Technologien diese Struktur gesprengt. Man ist mit der Vielfalt als solcher konfrontiert. Jeder besitzt mehr globale Hinweise über den Zustand der Welt als Augustus, Napoleon oder sogar Mitterand. Die Entscheidungsgrundlage ist heute bei jedem – bei Milliarden – reicher als durch alle Fixpunkte der Vergangenheit.

Philosophie Magazin: Und dennoch hat man den Eindruck, dass alles schwimmt …

Das ist heute das große Problem: Kann man wirklich auf Fixpunkte verzichten? Leibniz meint, wir brauchen einen Fixpunkt, nämlich Gott, um kommunizieren zu können. Ich spreche in diesem Moment nicht mit ihnen: Sie anworten mir nur, weil Sie mit Gott sprechen und Gott mir ihre Antwort übermittelt. Es erscheint absurd, den Umweg über ein drittes Glied gehen zu müssen, doch sobald es mehr als drei Gesprächspartner gibt, ist es ökonomischer, über einen Fixpunkt zu gehen, der jedem die Informationen übermittelt, als sie individuell von jedem zu jedem übermitteln zu müssen. Heute hat das Netz den Platz Gottes eingenommen. Wird sich die reine Vielfalt regieren lassen, ohne dass neue Formen der Überwachung aufkommen? Vielleicht bildet sich ja gerade eine neue Demokratie heraus? Das ist die Frage.

Michel Serres (1930 – ), Gespräch unter dem Titel „Ich denke mit den Füßen“, in: Philosophie Magazin Nr. 05/2016 (August/September), S. 73.

DS-GVO/Fakt gegen QualityLand/Fiktion – 1:0

Faktische Fiktionen und fiktionale Fakten – Gesetze und Geschichten, temporale und kausale Wirrungen: Wie hätte es gewesen sein können, bevor die Welt geendet sein würde, womit sie sich – genug der temporalen Konsequenz – endgültig zwischen Tragödie oder Komödie entscheiden müsste? Aus und vorbei, der Vorhang fällt! Zivilisatorisch eingefärbt landen wir sogleich beim klassischen Gegensatzpaar von Utopie und Dystopie. Synthetisch nunmehr beides vermischend enden wir im konfusen Komplex aus fiktional entwerfender Literatur und faktisch wirksamer Politik, die so abstrakt und kontrastierend betrachtet, einer rationalen wie zugleich regulatorischen Verschränkung von Fakt und Fiktion gleichkommt. Getreu der lateinischen Wurzeln und sprachpragmatischen angepasst, verstehe ich unter „Fakt“ (Ignorierend die schöpferischen und damit eben künstlichen bis künstlerischen Aspekte, wie auch die kulturell bis intersubjektiv und historisch variablen Anteile) eine feststehende Tatsache im Indikativ und unter „Fiktion“ (Ganz davon zu schweigend, dass Geschichte, Politik, Wirtschaft, Lebensvollzug insgesamt womöglich, ziemlich wirklich sind) eine gestaltete Vorstellung im Konjunktiv – „ist und war so“ trifft auf „hätte, wäre, sei, könnte, sollte, dürfte gewesen sein“.

Möglichkeit und Wirklichkeit prallen in diesen Begriffen, wenn man es darauf anlegt, ambivalent und brisant aufeinander. Ein Phänomen, das unter anderen Vorzeichen kürzlich zur zeitgenössisch beliebten Sportart avanciert, weshalb ich mich hier zu Anfang gleich und gänzlich von der infantilen Debatte um rund um Fake!-News?! distanzieren möchte, mir geht es um etwas anderes, etwas konstruktiveres: Konkret trifft mit und in diesem Artikel der durchweg dystopische, durchaus tragisch-komische Entwurf in Romanform, geschrieben von Marc-Uwe Kling, der wortwitzig bis gegenwartskritisch eine Zukunft Deutschtlands als QualityLand porträtiert, also nicht zufällig auf die durchaus alltagswirksame, geradezu aufdringliche EU-Gesetzgebung namens DSGVO = Datenschutzgrundverordnung.

Wodurch die beiden so unterschiedlichen Textformen wesentlich verbunden werden, wird durch den Anfagnsimpuls, einen Passus aus besagtem Roman, zuerst eindrucksvoll veranschaulicht und damit als Thema maximal konkretisiert: Daten und digitales Leben sowie vor allem die Frage nach der persönlichen Kontrolle über beides. Genau diesen Bereich will der zweite Schreibanlass im Rahmen einer europäischen Gesetzgebung nun endlich umfassend regulieren: Datenschutz respektive Datenautonomie.

Nur ein intimier Kenner von Fakten und Fiktionen könnte ohne dieses Vorwort dem Titel dieses Artikels Sinn entlehnen: Was hat ein in die Kritik geratenes, leider nie so recht vollendetes Staatenkonglomerat wie die EU mit einem Roman zu schaffen, gar zu streiten? Gehört nicht überhaupt die Politik ins Reich der Fakten, wohingegen die Literatur klar dem Dunstkreis der Fiktion angehört? Auf den ersten Blick mag das so erscheinen: fragwürdig, konfus; auf den zweiten Gedanken hin wird die innige Verbundenheit beider Begriffe offenbar: Fakten erzwingen neue Fiktionen, Fiktionen formen neue Fakten, ad infinitum.

Derart miteinander vermittelt sind Fakt und Fiktion rasch abstrakt versöhnt und innig verbunden, kommen wir damit nun langsam wieder zurück zum betitelten Wettstreit, dem konkreten Kontext und vor allem dem Gegenstand des Disputs: Eine EU-Gesetzgebung tritt proaktiv gegen eine (nicht nur legislative) BRD-Dystopie an. Bei dieser witzigen, aber wahnsinnig zugespitzten Zukunftfantasie geht es vor allem um den gemeinsamen Gegenstand: Daten und nochmals: Daten.

Gold der Moderne nennen sie manche unserer Zeitgenossen vollmundig; ich nenne sie einfach nur Spuren im Speicher. Dasjenige, was wir hinterlassen, auf unseren digitalen (seltener, aber im überwachten Post-Terror-Westen nicht zu vergessen auch: analogen) Wegen, Umwegen und Abwegen. Individuelle Informationen überall, persönliche Daten zuhauf und diese sind jedenfalls in der anonymen Summe und allenfalls auch individuell einiges wert in einer Welt, wo Werbung  und Wissen, Kommunikation und Isolation, reales und digitales Leben als zuvor klare Gegensätze pragmatisch wie wohl auch ontologisch zunehmend verwischen. Wobei hiermit gleichsam die Begriffe der altvorderen Philosophie an ihre Grenzen kommen.

An den neuen Phänomenen, die munter aus der Weltgeschichte auftauchen, sollt ihr Euch messen, sie erklären, ihr lieben Wissensschaffner und -schaftler, womit der Haufen an mehr oder minder zuständigen Wissenschaften (Philosophie, Psychologie, Soziologie, Kultur- und Medienwissenschaft, Informatik, Ökonomie, etc. pp.) gemeint und zur Erkundung, Beoabachtung, Messung, Modellierung sowie schließlich der Bildung und Integration neuer Theorie aufgefordert sein soll. Ob das unterdessen auf interdisziplinärem Weg oder in Konkurrenz zueinander geschieht, mag ich nicht oraklen. Klar ist hingegen jedenfalls, dass eine adäquate und umfassende Aufarbeitung der zivilisatorischen Geschehnisse seit Erfindung der zuletzt vernetzten (Heim-)Computer im Laufe des 20. und noch verstärkt im 21. Jahrhundert noch aussteht. Auch wenn ich ehrlicherweise schon lange in keiner universitären Bibliothek war und ebenso einen Rechereche-Marathon in der einschlägigen Richtung gescheut habe, entdecke ich bisweilen auf meinen Streifzügen durch die Medienlandschaft zumeist nur partikulare und spezifische Fragen nach Einfluss und Modus von (Informations-)Technik. Heim- und Körpertechnologien prägen den modernen Menschen, zunehmend autonomer verändern Algorithmen die Gesellschaft und schreiben die Geschichte der Menschheit weiter, neu und hoffentlich nicht um

Die Cyborgisierung findet definitiv und unlegbar statt; sie rücken uns auf den Leib, kommen immer näher und werden unsere intimsten Weggefährten, all die tollen Maschinen, Rechner, Geräte und smarten Devices: Das Smartphone ist da, wo sonst nur Eros die Regeln schreibt, in der Hand, am Hintern, nahe am Mund. Die Medizintechnologie, die Alchemie der Pharmakologen und allerlei exotische Abartigkeiten (Mikroplastik, Hormone, Phthalate, etc.) tummeln sich, zumal als uneingeladene Gäste in unserem Organismus. Die hoffentlich meisten Technologien erhalten und erleichtern, verbessern und verlängern unser Leben, manche Innovationen hingegen bewirken Gegenteiliges. Unser Dasein ist unterdessen auf nahezu allen Ebenen des Alltags wenigstens semi-artifiziell geworden. Kulturell und damit künstlich bis technisch werden wir modernen Menschen schon von Kindesbeinen an aufgezogen, wenn selbst schon das ungeborene Kind bereits durch Medizintechnologie in vielfältigster Form bearbeitet, gemessen, diagnostiziert und therapiert oder gar erzeugt wird; aber das ist nur eine mögliche Assoziation als kurzer Spontan-Beleg für diese an sich triviale Behauptung, die wohl vielmehr eine allgemein akzeptierte Beschreibung unserer Lebenswelt sein dürfte

Breiter und etwas tiefer gedacht sind die Wunder und Abgründe der Informationstechnologie in unserem heutigen Alltag nur die Spitzen vieler verborgener, historischer Eisberge, bloß ein neues Kapitel im Buch der menschlichen Zivilisationsgeschichte, nunmehr gespickt mit perfekt animierten Bildern und effektvoll dargestellt mit den subtilsten sowie den krassesten Mitteln. Gleichwohl bleibt die Kulturgeschichte der Technisierung von Leib, Gesellschaft und Alltag, die Umgestaltung der Natur durch die Kultur eine Konstante in der menschlichen Zivilisation. Wobei wir trotzdem von einer qualitativen Konstante sprechen, die aber quantitativ historisch keineswegs immer konstant geblieben ist. Es gab Stillstand und Rückschrittee, aber heute geht es stetig voran, bergauf und dabei ereignet sich alles immer schneller: Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft, Politik beschleunigen, multiplizieren, potenzieren sich. Eine an sich unendliche Welt wird nochmals komplizierter und nicht nur in diesem anthropologisch-epochalen Kontext hängen, hinken Wissenschaftler, Manager, Politiker somit epistemisch wie praktisch, tragisch und unentrinnbar zugleich, dem Sprint der globalisierten Zivilisation hinterher.

Der Künstler hingegen freut sich über diesen Zustand der Überforderung, kommt somit doch der Literatur mit ihren fantastischen Möglichkeiten der Spekulation und Illustration eine Abart von Mitverantwortung dafür zu, zu zeigen, was sein kann, zu verwerfen, was nicht sein soll, zu entwerfen wie es besser, gerechter, schöner sein könnte. Je schneller und heftiger die Zukunft die Gegenwart mit Möglichkeiten bombardiert, desto eher versagen die Mittel und Medien der Vergangenheit von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft.

Das Tagteam macht’s m.E.! Denn im besten Fall vermählen sich Fakt und Fiktion dergestalt, dass viele ausgefeilte Fiktionen späterhin neue Fakten hervorbringen. Denn nur so handelt der Mensch perspektivisch, planvoll und samit politisch, indem er Faktisches beschreibt und modelliert, um daraufhin zu verändern, zu prognostizieren und zu projizieren, zu fantasieren und zu selbsterfüllend zu fabrizieren, sich die (zukünftige) Welt – wie Marx in der Folge Hegels, betonte – durch Arbeit anzueigenen.

Abstraktionsgefahr – STOP! Um also abrupt anzuhalten und da aufzuhören, wo es unschön untief wird, somit einen viel zu komplexe Diskurs gnädig wieder ruhen zu lassen und ihn damit nur insoweit für Euch anzudenken, Euch nur soweit anzuregen wie gerade nötig, komme ich zum Anfang und damit dem Gegenstand des Artikels zurück: Den Effekten und Verwerfungen der allerneusten Heraus- und vielleicht Überforderung des Menschengeschlechts durch seine ungezügelte Technikfreude: Die polternden, allzu neugierigen Geister, die wir gerufen haben und nun nicht mehr gebannt bekommen. Zuallererst denke ich hierbei selbstredend an Facebook, Google, Amazon, Paypal; aber auch DB, Post, AOK, BRD sind nicht ohne; letztlich sind REWE, McDonalds, Aral und selbstverständlich Payback gemeint. Überall werden Daten gesammelt und manipuliert, wobei sich wohl nur die wenigsten von uns sich fürsorglich um ihre diesbezüglichen Daten kümmern, wer verwischt schon seine Spuren gründlich genug, um nicht tagtäglich einem nicht nur hellen, sondern gleichsam grellen Licht in der Infomationsmatrix der Datenströme zu gleichen.

Genau deshalb, zum Schutz der tumben Europäer vor sich selbst und ihren Unternehmen des Vertrauens, hat die auch dafür vielgescholtene EU einen Meilenstein geworfen und reagiert mit politischen Fakten, geschaffen und manifestiert durch die DSGVO, auf all die kritischen Fragen nach dem Datenschutz, wie sie beispielsweise besagte literarische Fiktion namens QualityLand in der Breite, unterhaltsam bis anschaulich stellt. Ob die tatsächlichen Motive der Gesetzgeber tiefer und weiter gehen, zumal die ubiquitäre Videoüberwachung keineswegs direkt davon betroffen zu sein scheint, lasse ich hier ebenso offen, wie ein ausführliches ästhetisches Urteil über die literarische Fiktion, auf die alszweites sogleich die legislativen Fakten folgen.

Ich jedenfalls habe viel gelacht über die Erzählung und fühle mich zunächst sympathisch angesprochen durch die oberflächlich so gut-gemeinte Stoßrichtung des Gesetzestextes. Alles weitere wird uns die Geschichte in Form von Fakten und Fiktionen zukünftig erweisen – Spannung, Spannung, (Kinder-)Überraschung also! Derzeit steht es erstmal 1:0 für den Datenschutz unseres Datenschatzes.

Zukunftszugewandt grüßt Euch, Euer faktisch fiktionenverliebter Satorius


»Herr Arbeitsloser«, sagt Julia Nonne und versucht die Kontrolle über ihre Sendung zurückzugewinnen. »Sie behaupten, Ihr Profil sei falsch. Aber wie kann das sein?«

»Maschinen machen keine Fehler«, sagt Zeppola.

»Ihre Algorithmen«, beginnt Peter, »präsentieren uns Inhalte, basierend auf unseren Interessen.«

»Ja«, sagt der Pressesprecher von TheShop. »Es ist wirklich toll.«

»Was aber, wenn diese angeblichen Interessen gar nicht meine Interessen sind?«

»Natürlich sind das Ihre Interessen«, sagt Charles. »Ihre Interessen wurden durch zuvor aufgerufene Inhalte ermittelt.«

»Zuvor aufgerufene Inhalte, die ich nur deshalb aufgerufen habe, weil sie mir als zu meinen angeblichen Interessen passend vorgeschlagen worden waren.«

»Ja, aber diese Interessen sind doch durch zuvor von Ihnen aufgerufene Inhalte ermittelt worden«, sagt Charles.

»Inhalte, die ich nur deshalb aufgerufen habe, weil …« Peter bricht ab. »Sie nehmen mir die Möglichkeit, mich zu verändern, weil meine Vergangenheit festschreibt, was mir in Zukunft zur Verfügung steht!«

»Ich bin Level 9«, sagt Peter.

»Das tut mir leid für Sie.«

»Ein Nutzloser …«, sagt Charles.

»Ganz genau! Ein Nutzloser, dem nur der Weg eines Nutzlosen angeboten wird. Meine Möglichkeiten gleichen einem Fächer, den sie mit jedem meiner Klicks immer weiter zuklappen, bis ich nur noch in eine Richtung gehen kann. Sie rauben meiner Persönlichkeit alle Ecken und Kanten! Sie nehmen meinem Lebensweg die Abzweigungen!«

»Das haben Sie aber schön auswendig gelernt«, sagt Erik Dentist.

»81,92 Prozent unserer Nutzer treffen ungern große Entscheidungen«, hört man Zeppolas Stimme.

»Aber dass man etwas nur ungern tut«, ruft Peter, »heißt doch nicht, dass man darauf verzichten kann! Ihre Algorithmen schaffen um jeden von uns eine Blase, und in diese Blase pumpen Sie immer mehr vom Gleichen. Sehen Sie darin wirklich kein Problem?«

»Nicht, wenn jeder dadurch bekommt, was er möchte«, sagt Patricia.

»Aber vielleicht möchte ich lieber etwas anderes.«

»Niemand zwingt Sie, unsere Angebote zu nutzen oder sich an unsere Vorschläge zu halten«, sagt Erik.

Peter muss lächeln. »Niemand«, murmelt er. »Genau. Niemand zwingt mich. Ist das nicht so, Zeppola? Niemand zwingt mich.«

Zeppola antwortet nicht. Und Niemand [@Satorius: Sein sog. persönlicher Assistent, eine Art digitaler Freund und Helfer] bleibt stumm.

Peter steht auf. Und plötzlich ist es nicht mehr Kikis Plan, dass er hier ist. Es sind nicht mehr die Gedanken des Alten, die er ausspricht. Es ist sein Plan. Es sind seine Gedanken.

»Schon immer«, sagt er, »haben Menschen dadurch gelernt, und nur dadurch, dass sie mit anderen Meinungen, anderen Ideen, anderen Weltbildern in Kontakt kamen.«

»Worauf wollen Sie hinaus?«, fragt Julia.

»Etwas lernen kann man nur, wenn man auf etwas stößt, was man noch nicht kennt. Das müsste doch selbstverständlich sein! Und jetzt kommen Sie und sagen mir, es ist kein Problem, wenn Menschen nur noch mit ihrer eigenen Meinung bombardiert werden?« Peter wendet sich zum Studiopublikum. »Alles, was jeder von uns hört, ist nur noch ein Echo dessen, was er in die Welt hinausgerufen hat.«

»Schon vor dem Internet«, sagt Erik, »haben die Menschen Medien bevorzugt, die ihre eigene Meinung widerspiegelten.«

»Ja, aber da wussten die Menschen immerhin noch, dass ihnen die Welt durch eine bestimmte Brille präsentiert wurde. Sie aber geben Objektivität vor, wo gar keine ist!«

»Unsere Modelle sind objektiv«, hört man Zeppola sagen. »Kein Mensch macht sich an unseren Zahlen zu schaffen.«

»Pah«, sagt Peter. »Modelle sind auch nur Meinungen, die sich als Mathematik verkleidet haben!«

»Ich verstehe sein Problem einfach nicht«, sagt Patricia. »Wir machen doch nichts Falsches. Wir bringen Körperbewusste mit Körperbewussten zusammen, Gläubige mit Gläubigen, Workaholics mit Workaholics …«

»Und Rassisten mit Rassisten!«, ruft Peter.

»Ja und? Auch Rassisten brauchen Liebe! Wahrscheinlich brauchen sogar gerade Rassisten Liebe.«

»Wow. Mir wird ganz warm ums Herz. Zum Glück gibt es Ihre Unternehmen. Sonst wäre es für Rassisten sicherlich viel schwieriger, sich zu befreunden und zu vernetzen.«

»Jeder braucht Freunde«, sagt Patricia.

»Und Ihre Algorithmen tragen netterweise sogar noch dafür Sorge, dass das Weltbild dieser Rassisten nicht mehr in Frage gestellt wird! Vielmehr wird es konstant bestätigt. Zum Beispiel durch zu rassistischen Interessen passender Nachrichtenselektion.«

»Wir sind kein Medienunternehmen«, wirft Erik ein. »Für die Nachrichten können Sie uns nicht verantwortlich machen!«

»Durch Empfehlungen für patriotische Musik oder Filme«, fährt Peter fort. »Sogar durch Produktvorschläge! Kunden, die diesen Baseballschläger gekauft haben, kauften auch diesen Brandbeschleuniger! Ihre Personalisierungs-Algorithmen verpassen jedem eine Gehirnwäsche durch eine ungesunde Dosis seiner eigenen Meinung!«

»Das ist Ihre Meinung«, sagt Patricia.

»Zudem glauben die Bewohner dieser Meinungsinseln irrigerweise, dass ihre Meinung der Meinung der Mehrheit entspricht, weil ja alle, die sie kennen, so denken! Also ist es auch okay, Hasskommentare zu schreiben, weil ja alle, die sie kennen, Hasskommentare schreiben. Und es ist okay, Ausländer zu verprügeln, weil alle, die sie kennen, davon reden, Ausländer verprügeln zu wollen.«

Patricia Teamleiterin lacht. »Das ist jetzt aber alles sehr hypothetisch.«

»Hypothetisch?«, fragt Peter. »In Ihrer Filterblase geht es anscheinend nur um Einhörner, Regenbögen und Katzenfotos!«

»Was haben Sie denn gegen Katzenfotos?«, fragt Patricia pikiert. Auch Teile des Publikums sind empört.

»Was verlangen Sie eigentlich?«, fragt Erik. »Haben Sie eine Idee, was passieren würde, wenn wir die Algorithmen abschalten? Das totale Chaos wäre die Folge. Es gibt so viel Content. Kein Mensch ist fähig, diese Masse zu überschauen.«

»Ich verlange nicht, dass Sie alles abschalten«, sagt Peter. »Aber Sie sollten uns Kontrollmöglichkeiten geben! Ich will, dass ich die Algorithmen steuere, und nicht, dass die Algorithmen mich steuern! Ich will mein Profil einsehen können, und ich will es korrigieren können. Ich will nachvollziehen können, was mir warum vorgeschlagen oder vorenthalten wird.«

»Das ist unmöglich«, sagt Zeppola. »Der Aufbau unserer Algorithmen ist ein Geschäftsgeheimnis.«

»Na klar, wie praktisch.«

»Unsere Produkte …«, beginnt Erik.

»Ich!«, ruft Peter aufgebracht. »Ich bin Ihr Produkt!«

»Sie – sind unser Kunde«, sagt Erik.

»Nein«, sagt Peter. »Ihre Kunden sind die Konzerne, die Versicherungen, die Parteien, die Lobbygruppen, an die Sie meine Aufmerksamkeit und meine Daten verscherbeln. Ich bin nicht Ihr Kunde. Ich bin nur das Produkt, mit dessen Verkauf Sie Ihr Geld verdienen! Es wäre ja alles nur halb so schlimm, wenn ich tatsächlich Ihr Kunde sein dürfte. Es wird Zeit, dass Sie sich eingestehen, dass Ihre Jagd nach immer noch mehr Werbeeinnahmen längst das ganze Netz vergiftet hat! Ihre Art von gratis kommt uns alle teuer zu stehen!«

»Ich bin mir sicher«, sagt Patricia, »dass die meisten Menschen froh darüber sind, unsere Services kostenlos …«

»Ich will mein Profil löschen können, wenn es mir beliebt!«, wirft Peter ein. »Das ist mein Leben. Meine Daten! Sie haben kein Recht daran.«

»Das ist nicht korrekt«, sagt Zeppola. »Die Verordnung 65 536 – mit absoluter Mehrheit vom Parlament bestätigt – gibt uns sehr wohl das Recht an deinen Daten. Schließlich haben wir sie gesammelt. Nicht du.«

»Das ist doch alles Quatsch hier«, ruft Charles Designer. »Der Typ hat ja noch nicht mal einen Beweis vorgelegt, dass sein Profil tatsächlich nicht stimmt!«

Peter holt einen rosafarbenen Vibrator in Delfinform aus seinem Rucksack und knallt ihn auf den Tisch.

Marc-Uwe Kling (1982 – ), QualityLand (2017; Die Beschwerde)


Datenschutz-Prinzipien der DSGVO

  1. Verarbeitung „nach Treu und Glauben“
    Anders formuliert: Handeln Sie nach gesundem Menschenverstand. Jemand anderes sollte nachvollziehen können, warum Sie unter den gegebenen Umständen so gehandelt haben. Fragen Sie sich, ob jemand anderes ihr Handeln als zuverlässig, aufrichtig und rücksichtsvoll beschreiben würde.
  2. Transparenz
    Handeln Sie nicht heimlich und ohne Wissen derjenigen, deren Daten Sie verarbeiten. Ihre Datenschutzerklärung muss klar darlegen, wie und zu welchem Zweck Ihr Unternehmen Daten verarbeitet.
  3. Zweckbindung
    Sie dürfen personenbezogene Daten nur für klar und eindeutig festgelegte, legitime Zwecke erheben – das heißt nicht „auf Vorrat“, frei nach dem Motto „falls wir sie irgendwann mal brauchen“.
  4. Datenminimierung
    Grundsätzlich sollten Sie möglichst wenig personenbezogene Daten sammeln, also nur genau in dem Umfang, der notwendig ist, um sie zweckgemäß zu verarbeiten.
  5. Richtigkeit
    Personenbezogene Daten sollten sachlich richtig und ggf. aktuell sein. Wenn Sie wissen, dass bestimmte personenbezogene Daten falsch oder nicht mehr aktuell sind, sind Sie verpflichtet, diese unverzüglich zu korrigieren oder zu löschen.
  6. Speicherbegrenzung
    Personenbezogene Daten müssen so gespeichert werden, dass die betroffene Person nur solange mittels dieser Daten identifiziert werden kann, wie nötig. Das heißt, nur solange diese Daten wirklich gebraucht werden.
  7. Integrität und Vertraulichkeit
    Personenbezogene Daten müssen sicher gespeichert werden. Das bedeutet zum Beispiel, dass nur diejenigen Zugriff auf sie erhalten, die diesen Zugriff wirklich benötigen. Darüber hinaus muss sichergestellt sein, dass keine Daten verloren gehen oder aus Versehen weitergegeben werden. Ihr Unternehmen ist in der Pflicht, geeignete Vorkehrungen zu treffen, um dies zu verhindern.
  8. Rechenschaftspflicht
    Ihr Unternehmen ist nicht bloß zur Einhaltung dieser Grundsätze verpflichtet. Sie müssen auch jederzeit gegenüber Kunden, Behörden und Mitarbeitern nachweisen können, dass Sie diese Grundsätze einhalten.

Die Europäische Union (1951 – ), VERORDNUNG (EU) 2016/679 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung; Direktlink zum offiziellen Dokument)

Wir sind die Roboter!

Manchmal ist das Alte wertvoll, die Vergangenheit doch nicht so vergänglich und der Blick zurück auf wohlig-warme Weise nostalgisch-sentimental. Diesem Motto getreu gebe ich einem selten gepflegten Konservatisimus Raum und die Ehre, schwelge in der Liebe zur Tradition und ergötze mich an Gewohntem; gebe also formal Gutenberg und seinen Blöcken kurzzeitig den Laufpass und komme inhaltlich sodann rasch zum Gegenstand des heutigen TFF: meinem – wie zuvor anderer Stelle erstmals erwähnten – Lieblingsroman. Diese Trilogie ist eine wahre Schatzkiste voll literarischer Artefakte, bezaubernd in seiner Form und bereichernd in seinen Inhalt, zugleich schöner Schein und wahres Wort.

Illuminatus! kehrt also wieder Mal zurück nach Quanzland, avanciert damit sowohl als Werk zum rezeptiven Rekordhalter, wie auch einer der beiden Co-Autoren, der hochverehrte und vielgelesene Robert Anton Wilson, das als bisher mit Abstand meistzitierter Autor tut.

Das Motiv, vielleicht gar der Archetyp, des Roboters war Anlass für Artikel und rein-recherchierende Relektüre des Romans und führt seinerseits, sticht vielmehr, mehr noch als die vormalige, erste Impression zweifach tief heinein und damit mitten ins Nervenzentrum der Erzählung, trifft zumal ihre neuralgischen Punkte, ihre thematisch-stofflichen Kraftlinien: Mystik und Wissenschaft, fiktional verbunden, versöhnend und verstörend, faktisch und praktisch als Position und Parodie munter changiert, meist als Esoterik zwischen, seltener als Exoterik durch die Zeilen dargeboten.

Im Prinzip ist die latent vermittelte Weisheit so simpel wie potenziell persönlich folgenreich: Wir alle tragen Mechanisches in uns, besitzen, bestehen aus starren Strukturen, die Zeit, Entropie und Zufall trotzen; dabei ist individuell egal, aber prinzipiell nicht trivial, ob wir diese Sedimente des Seins im wilden Strom des Werdens nun als Natur, Kultur, Sprache, Ideologie oder Utopie konkretisiert. Wir alle wählen aus, stanzen aus dem unendlichen All immer nur unseren endlichen, kleinen Schablonen aus, bestimmen und werden bestimmt, konstruieren und sind konstruiert, sind Subjekt und Objekt im Aktiv wie im Passiv. Wenn wir diese Wahrheit von der Relativität der Welt zunächst einmal erfahren und reflektiert haben, ist jedoch nur der erste Schritt getan; denn damit haben wir uns nur die (angelbich für manche, sogar die meisten Menschen verborgene) Prämisse des Daseins erhellt, aus der heraus eine m.E. effektiv-unendliche Folge an weiteren Schritten mündet – Aufklärung eben, als erster Schritt aus der Unmündigkeit. Die weiteren Schritte führen das Individuum immer weiter hinaus aus der Finsternis des homogenen Kreises und hinein ins Licht der heterogenen Linie, Etappe für Etappe näher zum Ziel, Stufe für Stufe hinauf zum höchsten Ideal, der vollkommenen Perfektion, welches mythisch-religöse Nomen oder rational-methodische Substantiv dieses Höchste dann auch immer bezeichnen mag. Nicht nur die Erkenntnis von Gutem und Bösem, sondern die Lust am Fortschritt und die Suche nach (weltlicher) Wahrheit haben die Menschen aus dem Paradies herausgetrieben und angestalchelt, seine eigene(n) Geschichte(n) zu schreiben: Das vormalige Tier, das erst Mensch wurde, will letztlich Gott gleichen; Schöpfer nicht nur seiner Selbst und seiner eigenen Welt sein und bleiben, sondern die wirkliche Welt der Objekte, Daten und informationen verändern – oder in den Worten des TFF, zuerst den inneren Roborter kontrollieren und sodann die äußeren Roboter programmieren.

Fern jeder Robotik, einfach nur wild und lebendig wachsend grüßt, Euer Satorius


Du siehst aus wie ein Roboter, sagte Joe Malik in San Francisco, in einem perspektivisch verzerrten Zimmer, in völlig verdrehter Zeit. Ich meine, du bewegst dich und gehst wie ein Roboter.

 

Bleib dabei, Mister Wabbit, sagte ein junger, bärtiger Mann mit düsterem Lächeln. Manche Tripper sehen sich selbst als Roboter. Andere sehen den Führer als Roboter. Bleib bei dieser Perspektive. Ist es eine Halluzination, oder ist es die Erkenntnis von etwas, das wir normalerweise unterdrücken?

 

Warte, sagte Joe. Ein Teil von dir ist wie ein Roboter. Aber ein anderer Teil von dir ist lebendig, wie etwas Wachsendes, ein Baum oder eine Pflanze…

 

Der junge Mann lächelt, sein Blick gleitet nach oben, zum Mandala, das unter die Decke gemalt ist. Well? fragt er. Glaubst du, das ist eine verständliche, poetische Kurzschrift: dass ein Teil von mir mechanisch ist wie ein Roboter und ein Teil von mir organisch wie ein Rosenbusch? Und was ist der Unterschied zwischen dem Mechanischen und dem Organischen? Ist der Rosenbusch nicht eine Art Maschine, die vom DNS-Kode benutzt wird, um mehr Rosenbüsche zu produzieren?

 

Nein, sagt Joe. Alles ist mechanisch, aber Menschen sind anders. Katzen besitzen eine Anmut, die uns verlorengegangen ist, oder zumindest teilweise verlorenging.

 

Wie glaubst du, haben wir sie verloren ?

 

 

Robert Anton Wilson (1932 – 2007) & Robert Shea (1933 – 1994), Illuminatus! Das Auge in der Pyramide – Band 1 (Der dritte Trip, oder Binah; 1977)


Tage, und George fand sich ohne jede Leidenschaft grübelnd, ohne Hoffnung oder Kummer oder Selbstgefälligkeit oder Schuld; wenn nicht völlig egolos oder in vollem Darshana, so dann doch wenigstens ohne jenes gierige und flammende Ego, das entweder nackten Tatsachen entsprang oder sich vor ihnen zurückzog. Er betrachtete seine Erinnerungen und blieb unbewegt, objektiv, in Frieden. Er dachte an Schwarze und Frauen und ihre subtile Rache gegenüber ihren Meistern; an Sabotageakte, die sich als solche nicht klar zu erkennen gaben, weil sie die Form von Gehorsamsakten annahmen; er dachte an die Shoshone-Indianer und ihre derben Witze, den Witzen und Scherzen unterdrückter Menschen überall so ähnlich; er sah plötzlich die Bedeutung des Aschermittwochs und der Saturnalien sowie der Weihnachtsparty in den Ämtern und den Büros und all die anderen beschränkten, genehmigten, strukturierten Gelegenheiten, bei denen Freuds Wiederkehr des Unterdrückten erlaubt war; er erinnerte sich aller Situationen, in denen er sich gegen einen Professor, einen Vorgesetzten, einen Bürokraten aufgelehnt hatte, oder, noch weiter zurückliegend, gegen seine Eltern, indem er auf die Gelegenheit wartete, in der er, dadurch, daß er haargenau das tat, was ihm aufgetragen wurde, eine mittlere Katastrophe hervorrief. Er sah eine Welt von Robotern, die starr auf den von oben vorbestimmten Pfaden ein-hermarschierten, und jeder Roboter besaß ein Stückchen Leben, war irgendwo ein bißchen menschenähnlich und wartete auf seine Gelegenheit, seinen eigenen Schraubenschlüssel irgendwann einmal in die Maschinerie zu werfen. Er sah schließlich, warum alles in der Welt fehlzuschlagen schien und die Situation Normal so All Fucked Up war. «Hagbard», sagte er langsam. «Ich glaube, ich komme dahinter. Die Genesis verläuft genau rückwärts. All unsere Probleme nahmen ihren Anfang beim Gehorsam, nicht beim Ungehorsam. Und die Menschheit ist noch gar nicht geschaffen worden.»

 

Hagbard, mehr denn je falkengesichtig, sagte sorgsam: «Du näherst dich der Wahrheit. Geh jetzt ganz vorsichtig, George. Die Wahrheit ist nicht, wie Shakespeare es sagen würde, wie ein Hund, den man in seine Hütte prügeln kann. Wahrheit ist ein Tiger. Geh jetzt ganz vorsichtig, George.» Er drehte sich in seinem Stuhl und zog aus der Schublade seines modernen, dänischen, quasi marsianischen Schreibtisches einen Revolver. George sah zu, so kühl und allein wie ein Mann auf dem Gipfel des Mount Everest, wie Hagbard die Trommel öffnete und auf die sechs Kugeln darinnen zeigte. Dann schloß er die Trommel und legte den Revolver vor sich auf die Schreibunterlage. Hagbard sah die Waffe nicht weiter an. Dieselbe Szene wie mit Carlo wiederholte sich da, doch blieb Hagbards Herausforderung unausgesprochen, aphoristisch; sein Blick verriet nicht einmal, daß ein Wettkampf begonnen hatte. Die Waffe glitzerte unheilverkündend; im Flüsterton sprach sie von all der Gewalttätigkeit und Heimlichkeit auf dieser Welt, von Verrat, der von Medici bis Machiavelli unge-träumt geblieben war, von Fallen, die für unschuldige Opfer aufgestellt worden waren; er schien den Raum mit der Aura seiner Gegenwart anzufüllen, und ja, er barg in sich sogar die subtilere Drohung, die von einem Messer ausging, der Waffe der Leisetretenden, oder der Peitsche in den Händen eines Mannes, dessen Lächeln zu sinnlich ist, zu intim, zu wissend; mitten in Georges so absolute Ruhe war sie eingedrungen, unentrinnbar und unerwartet wie eine Klapperschlange im Laufe eines Nachmittags an einem so süßen Frühlingstag in der Welt gepflegtestem und künstlichstem Garten. George konnte das Adrenalin in seinem Blutstrom pulsieren hören; sah das «Aktivationssyndrom» seine Handflächen feucht werden lassen, seinen Herzschlag zunehmen, sein Sphinkter sich um einen Millimeter weiten; und immer noch, high und cool auf seinem Berg, fühlte er: nichts.

 

«Der Roboter», sagte er, und sah dabei Hagbard an, «ist leicht durcheinander.»

 

«Leg deine Hand nicht in dieses Feuer», warnte Hagbard, unbeeindruckt. «Du wirst dich verbrennen.» Er guckte, er wartete; George konnte seinen Blick nicht von diesen Augen lösen, und dann sah er in ihnen jenen belustigten Ausdruck von Howard, dem Delphin, die Verachtung seines Grundschuldirektors («Ein hoher IQ rechtfertigt weder Arroganz noch Ungehorsam»), die verzweifelte Liebe seiner Mutter, die ihn niemals hatte verstehen können; die Einsamkeit Nemos, seines Katers in jenen Kindertagen; die Bedrohung durch Billy Holtz, dem Stärksten seiner Klasse, und die totale Andersartigkeit eines Insekts oder einer Schlange. Mehr noch: er sah das Kind Hagbard, stolz wie er selbst auf seine intellektuelle Überlegenheit und ängstlich wie er selbst vor der Bösartigkeit dümmerer aber stärkerer Klassenkameraden, und dann den ganz alten Hagbard, Jahre von hier, mit Falten am Hals wie ein Reptil, aber noch immer mit dem Ausdruck einer endlosen, suchenden Intelligenz. Das Eis begann zu schmelzen; der Berg stürzte in einem Aufschrei von Protest und Trotz in sich zusammen; und George wurde den Strom hinabgetragen, den Stromschnellen entgegen, wo der Gorilla brüllte und die Maus rasch dahinlief, wo der Saurier seinen Kopf aus tertiärem Blätterwerk hob, wo das Meer schlief und die DNS-Spirale sich rückwärts dem Aufblitzen zudrehte, das jetzt diese Helligkeit, dieses Licht, verursachte, dieses Wüten, das ewige Wüten gegen das schier unmögliche Sterben des Lichts, dieses Sturms und dieser Zentrierung.

 

«Hagbard …» sagte er zum Schluß.

 

«Ich weiß. Ich kann es sehen. Fall jetzt nur nicht in jenes andere Ding zurück. Das ist der Irrtum der Illuminaten.» George lächelte schwach, noch immer nicht völlig in die Welt der Worte zurückgekehrt. «<Esset und ihr werdet sein wie Gott>?» sagte er.

 

«Ich nenne das den Non-Ego-Egotrip. Natürlich ist das der größte Egotrip, den es gibt. Jedermann kann ihn lernen. Ein zwei Monate altes Kind, ein Hund, eine Katze. Aber wenn ein Erwachsener ihn entdeckt, nachdem ihn Gehorsam und Unterwürfigkeit über Jahre oder Jahrzehnte hinweg in ihm ausgelöscht haben, kann das, was sich einstellt, furchtbar wirken. Deshalb sagen die Zen Roshis: <Einer, der erhabene Illumination erlangt, ist wie ein Pfeil, der direkt in die Hölle fliegt.> Vergiß nicht, was ich dir über gebotene Vorsicht gesagt habe, George. Du kannst jeden Moment aufhören. Es ist toll dort oben, und du brauchst ein Mantra, um dich davon fernzuhalten, bis du weißt, wie du dich dort bewegen mußt. Hier ist dein Mantra, und würdest du die Gefahr kennen, in der du dich befindest, würdest du es mit einem Brandeisen brutal in dein Hirn einbrennen, um sicherzugehen, es niemals zu vergessen: Ich bin der Roboter. Wiederhole es.» «Ich bin der Roboter.»

 

Hagbard machte ein Gesicht wie ein Pavian, und George lachte wieder; endlich. «Wenn du mal Zeit hast», sagte Hagbard, «wirf mal einen Blick in mein kleines Buch, Pfeif Nicht, Wenn Du Pißt … Exemplare davon gibt es auf dem ganzen Schiff. Das ist mein Egotrip. Und halt dir immer vor Augen: du bist der Roboter und niemals wirst du etwas anderes sein. Natürlich bist du auch der Programmierer, und sogar der Meta-Programmierer; doch das ist eine andere Lektion, für ein anderes Mal. Jetzt genügt es, daß du dich des Säugetiers, des Roboters erinnerst.» «Ich weiß», sagte George. «Ich habe T. S. Eliot gelesen, und jetzt verstehe ich ihn. <Demut hat kein Ende.>» «Und Menschheit ist erschaffen. Das … andere … ist nicht menschlich.»

 

George sagte dann: «So bin ich also angekommen. Und da ist nichts als ein weiterer Startplatz. Der Anfang eines anderen Trips. Eines härteren Trips.»

 

«Bei Heraklit lautet das so: <Das Ende ist der Anfang.»> Hagbard stand auf und schüttelte sich wie ein Hund. «Ich denke, ich sollte jetzt lieber ein wenig mit FUCKUP arbeiten. Du kannst hierbleiben, wenn du willst, oder in deine eigene Kabine gehen. Eines schlage ich dir jedoch vor, lauf nicht gleich herum und posaune deine neue Erfahrung aus. Auf diese Art und Weise kannst du es zu Tode schwatzen.»

 

 

Robert Anton Wilson (1932 – 2007) & Robert Shea (1933 – 1994), Illuminatus! Der goldene Apfel – Band 2 (Der siebte Trip, oder Netzach; 1978)

Wider die Unsichtbarkeit

Sollte es tatsächlich eifrige Stamm-Leser geben; sollte das Ganze hier nicht eine digitale Form, effektiv einsamen Narzissmus sein; sollte also insbesondere jemand an den Wochenendlektüren interessiert sein und an deren vermeintlichem Ausbleiben Anstoß nehmen, dann möchte ich diejenigen hiermit (ver-)trösten: Dieses und letztes Wochenende wurden ältere, bereits publizierte Texte in stark überarbeiteter Form aktualisiert, was aber angesichts der Blog-Chronologie im Verborgenen von Statten gegangen ist.

Sobald dieses erste Kapitel über Xaver S. Woche für Woche á 5 Seiten, letztlich vollständig aktualisiert worden sein wird, eventuell auch früher und damit parallel, geht es weiter mit der Version 1.0 von Yin & Yang.

Bis bald liebe Stamm-, Gelegenheits- und Nichtleser, Euer derzeit männerverschnupfter Satorius

P.S. @ Metatext-Redaktion: Wir haben den Wunsch unseres werten Herrn Autoren technisch und konsequent verwirklicht, womit wir die Updates der älteren Wochenendlektüren auf eine Zeitreise hinein ins Jahr 2019 geschickt und damit in ihrer konfusen Chronologie bereinigt haben.

Das deutsche Wahlsystem, seine Tücken und die latente Lust am Politikverdruss



Mein erstes Mal quasi, mein erster bescheidener Beitrag zur politischen Bildung, ganz sachlich und nüchtern, ohne Kunst (und zunächst ohne Verben), aber mit ganz viel Information und einer ordentlichen Portion Kritik!

(@Metatext-Redaktion: FreudianFakeNews! Sachlich falsche Aussage unseres werten Autoren, da dessen verdrängter Anspruch, politisch zu sein und politisch zu bilden, vor einigen Jahren mehrfach in Beiträgen auftauchte und latent immer wieder durchscheint. Zumal die „Diskurse der Nacht“ eine eindeutige Sprache sprechen. Kurios!)

Das politische System der BRD, insbesondere dessen Wahlrecht, also steht heute zur Debatte, soweit, so (un)klar. Ob diese Themen bei Euch vitales Allgemeinwissen sind oder als angestaubter Schulstoff dahinsiecht – sei’s drum, ich erkläre es mal eben ungefragt: Verhältnis- plus Mehrheitswahlrecht, zwei Stimmen, die erste davon für die Personenwahl vor Ort im Wahlkreis, die zweite sodann für die (gefühlt je Partei ab Listenplatz zwei bis fünf abwärts effektiv „anonyme“) Listenwahl, verleihen dem Wähler Macht und Einfluss. Denn hierzulande ist das Volk der Souverän und übt diese Rolle vornehmlich aus, indem es seine Repräsentanten in allgemeiner, freier, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl in den Berliner Bundestag wählt. Dort angekommen stellen die Gewinner, nach dem mittlerweile fast postideologischen (AFD und Linke mal ausgeklammert) Koalitionsgeschacher, das mitunter 20% der Legislaturperiode verschlingen kann, die Regierung, bestehend aus vielen Ministern und einem Kanzler. Neben dieser Exekutive beherrscht die Siegerkoalition in der Regel auch die Legislative, das tut sie durch einfache Mehrheit (>50%) im Parlament mithilfe von Gesetzgebung. Damit werden zwei von drei Gewalten direkt dem Wirken von Parteien bzw. der gleichen Koalitionsparteien ausgeliefert und die effektive Regierungsarbeit im Sinne des KgV der jeweilien Wähleraufträge und Wahlprogramme kann losgehen. Das Regieren geht solcherart weiter, bis in gut drei bzw. knapp vier Jahren wieder gewählt wird oder ein außergewöhnliches Ereignis eintritt.

Beispielsweise und nicht unwahrscheinlich kann ein effektiver Ungehorsam von Parlamentariern gegen die Praxis der sog. Fraktionsdisziplin und damit eine Ausübung der verbrieften Freiheit zur Gewissensentscheidung passieren oder eine fragile Koalition zerbricht an persönlichen Streitigkeiten oder ebensolchen Verfehlungen, woraufhin die Misstrauensfrage positiv beantwortet würde; eher unwahrscheinliche Gründe für vorzeitige Neuwahlen hingegen könnten Krieg, Revolution, Attentate oder Apokalypsen sein.

Schlimmstenfalls jedoch, weil sowohl tragisch als auch komisch, herrscht irgendwann eine „Demokratie, ohne Demos“ (leider vermag ich nicht mehr zu zitieren, von wem diese griffige Parole stammt), was schlichtweg bedeuten würde, dass Wahltag ist und niemand mehr hingeht. Auch wenn es ganz so schlimm wohl absehbar nicht kommen wird, aber gefühlt greift Politikverdrossenheit tendenziell bereits dieser Tage um sich und greift nach dem Herz jeder Demokratie – der Lust der Bürger an (Selbst-)Regierung. Wie komme ich dazu? Die Wahlbeteiligung bei der letzten Bundestagswahl betrug 75% und liegt regelmäßig unter 50% bei kommunalen sowie europäischen Urnengängen; Verschwörungswahn und postmoderne Verwirrung, Individualismus und Separatismus, Neo-Biedermeier und selektiver, manipulativer Medienkonsum sägen am Vertrauen gegenüber dem Politiker für sich und dem System der Politik an sich; Finanzkapitalismus, Globalisierung, Lobbyismus, Angst um den Arbeitsplatz und vor sozialem Abstieg lassen den marxschen Primat der Ökonomie vor der Politik als nicht eben unplausibele Einsicht erscheinen; der globale Siegeszug der Demokratie ist vorbei, Autokratie, Populismus und Fanatismus trump(f)en auf; zuletzt und vor allem erlebe ich Politikunlust bis Tabuisierung in vielen sozialen Milieus meiner eigenen Lebenswelt, seit Jahrzenten, hautnah und unsympathisch – die Zahl der Menschen, mit denen ich gepfelgt über Politik sprechen kann, ist klein, die Gelegenheit rar, in meiner Herkunftsfamilie herrscht ein thematisch einschlägiges Redeverbot gar, über das ich mich selbstredend notorisch hinwegsetze.

Glücklicherweise, kann man allen- und jedenfalls hoffen, gibt es gegenläufige Tendenzen und ambivalente Zukunftstrends, die ich hier aber aus rhetorischen Gründen unterschlage und performativ nur der Fairness halber pauschalisiert erwähne. Ach und ja, immerhin der drohende globale Umweltkollaps schafft es zunehmend und nachhaltig, die Menschheit zu aktivieren. Es geht hierbei aber ausdrücklich nicht um hehre politische Ideale, sondern um Sicherheit, ums Überleben und die schönde Stillung der eigenen, zukünftigen Grundbedürfnisse und Lebensgrundlagen.

Kommen wir von den spekulativen Höhenflügen über die politische Weltgeschichte hinweg zurück, wieder herauf aus den analytischen Niederungen der lebensweltlichen Demokratiekritik und insgesamt zurück zum Artikelanlass, dem politischen (Wahl-)System, das unser verfassungsmäßig garantiertes Mittel und generelles Medium der Politik ist: Dabei ist – zu allem Überfluss beim politischen Verdruss – die Sache mit dem Wählen im Detail dann doch nicht so einfach, so unschuldig; denn die Logik des Wahlsystems kann bisweilen sogar paradoxe Resultate zeitigen und auf den Schwachsinn mit den Überhangmandate will selbst ich bei aller Politik- und Schreiblust nicht mehr erklärend eingehen.

Es grüßt, diskursiv umnachtet und politisch erhellend, Euer Satorius


Die Verteilung der Mandate auf die Parteien entsprechend dem Verhältnis der Summen der Wählerstimmen darf im Grundsatz nicht dazu führen, dass die Sitzzahl einer Partei erwartungswidrig mit der auf diese oder eine konkurrierende Partei entfallenden Stimmenzahl korreliert (Effekt des negativen Stimmgewichts). Es ist zwar ohne Weiteres einsichtig, dass als mathematisch unausweichliche Folge eines jeglichen Verteilungsverfahrens (vgl. dazu BVerfGE 95, 335 <372>) einzelne Stimmen sich nicht zugunsten einer Partei auswirken können. Ein Sitzzuteilungsverfahren, das ermöglicht, dass ein Zuwachs an Stimmen zu Mandatsverlusten führt, oder dass für den Wahlvorschlag einer Partei insgesamt mehr Mandate erzielt werden, wenn auf ihn selbst weniger oder auf einen konkurrierenden Vorschlag mehr Stimmen entfallen, widerspricht aber Sinn und Zweck einer demokratischen Wahl (vgl. BVerfGE 121, 266 <299 f.>). Solche widersinnigen Wirkungszusammenhänge zwischen Stimmabgabe und Stimmerfolg beeinträchtigen nicht nur die Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der Parteien, sondern verstoßen auch gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl, da es für den Wähler nicht mehr erkennbar ist, wie sich seine Stimmabgabe auf den Erfolg oder Misserfolg der Wahlbewerber auswirken kann (BVerfGE 121, 266 <307>).

Bundesverfassungsgericht, Urteil des Zweiten Senats vom 25. Juli 2012 – 2 BvE 9/11 – Rn. (1-164), S. 86 (Direktlink)


Das Wahlsystem, in dem Elemente der Verhältnis- und der Mehrheitswahl über drei Ebenen (Wahlkreis, Land, Bund) kombiniert werden, ist insbesondere durch die anfallenden Überhangmandate wenig durchsichtig. Zudem motiviert es wegen der starren Kandidatenlisten Kandidierende sowie Wählerinnen und Wähler weit weniger zur Beteiligung, als dies in einer vitalen Demokratie wünschenswert wäre. Angesichts dieser fundamentalen Mängel des geltenden Wahlsystems und der gewachsenen Distanz zwischen Bevölkerung und Staat erscheint eine demokratische Wahlreform überfällig. Diese könnte ein erster Schritt dazu sein, verlorengegangenes Vertrauen in die repräsentative Demokratie wiederzugewinnen. Eine Chance hierzu bietet sich dadurch, dass das Bundesverfassungsgericht den Deutschen Bundestag aufgefordert hat, das Bundeswahlgesetz bis zum 30. Juni 2011 so zu ändern, dass keine negativen Stimmgewichte mehr entstehen können. [6] Voraussetzung einer solchen Reform wäre allerdings eine öffentliche Wahlsystemdiskussion. Die Bundestagsparteien behandeln die Problematik aber offensichtlich bisher so geheim wie möglich, mit dem Ziel, mit minimalen wahlrechtlichen Reparaturen über die Runden zu kommen; ja, allem Anschein nach fürchten sie eine öffentliche Diskussion über Wahlrechtsfragen. Die Sensibilität der Bevölkerung und der Medien für das problematische Verhältnis zwischen Bürgerinnen und Bürgern und dem Parteienstaat ist allerdings gewachsen. Zudem besteht ein Interessenkonflikt zwischen den Parteien darüber, wie negative Stimmgewichte beseitigt werden sollen: Während insbesondere CDU und CSU von der Erhaltung von Überhangmandaten profitieren, werden die anderen Parteien durch Überhangmandate benachteiligt. An diesem Interessenkonflikt scheiterte im Frühjahr 2009 der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, das Problem durch die bundesweite Verrechnung von Überhangmandaten mit Listenmandaten derselben Partei zu lösen. [7] Umgekehrt treffen unionsnahe Optionen auf breiten Widerspruch, unverbundene Landeslisten einführen zu wollen, so dass keine negativen Stimmgewichte mehr anfallen, aber alle Überhangmandate erhalten bleiben. Hiermit wären nämlich nicht nur alle kleineren und mittleren Parteien benachteiligt; auch das auf die Annahme eines Staatsvolks gegründete Staatsverständnis der Bundesrepublik würde in Frage gestellt. Zudem ergäben sich andere normative und organisatorische Probleme, etwa mit Bezug auf die Handhabung der Fünfprozenthürde der Stimmenverrechnung. Ähnliche Probleme stellen sich Kompromissentwürfen einer schonenden Problemlösung. [8] Diese schließen negative Stimmgewichte nicht völlig aus, erfüllen insofern also nicht die Auflage des Bundesverfassungsgerichts, produzieren aber neue normative Komplikationen: So würde etwa nicht mehr jeder Wahlkreis durch den jeweiligen Wahlsieger im Parlament repräsentiert. Das Bundeswahlgesetz sollte daher nicht nur reformiert werden, um neues Vertrauen in den demokratischen Staat zu gewinnen; es geht auch darum, ein normatives und wahlrechtspolitisches Chaos zu vermeiden.
6. Vgl. www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/cs20080703_2bvc000107.html (2.12.2010).
7. Bundestagsdrucksache 16/885, online: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/16/118/1611885.pdf (2.12. 2010).
8. Vgl. Kai-Friederike Oelbermann/Friedrich Pukelsheim/Matthias Rossi/Olga Ruff, Eine schonende Verbindung von Personen- und Verhältniswahl zum Abbau negativer Stimmgewichte bei Bundestagswahlen. Institut für Mathematik, Universität Augsburg 2010, online: http://opus.bibliothek.uni-augsburg.de/volltexte/2010/1636/pdf/mpreprint_10_011.pdf (2.12.2010).

Volker von Prittwitz (1950 – ), Hat Deutschland ein demokratisches Wahlsystem? (Direktlink; vom 18.01.2011)

KGdM feat. Homo Deus: Harari’s History

Vor rund 13,5 Milliarden Jahren entstanden Materie, Energie, Raum und Zeit in einem Ereignis namens Urknall. Die Geschichte dieser grundlegenden Eigenschaften unseres Universums nennen wir Physik.

 

 

Etwa 300000 Jahre später verbanden sich Materie und Energie zu komplexeren Strukturen namens Atome, die sich wiederum zu Molekülen zusammenschlossen. Die Geschichte der Atome, Moleküle und ihrer Reaktionen nennen wir Chemie.

 

 

Vor 3,8 Milliarden Jahren begannen auf einem Planeten namens Erde bestimmte Moleküle, sich zu besonders großen und komplexen Strukturen zu verbinden, die wir als Organismen bezeichnen. Die Geschichte dieser Organismen nennen wir Biologie.

 

 

Und vor gut 70000 Jahren begannen Organismen der Art Homo sapiens mit dem Aufbau von noch komplexeren Strukturen namens Kulturen. Die Entwicklung dieser Kulturen nennen wir Geschichte.

 

 

Die Geschichte der menschlichen Kulturen wurde von drei großen Revolutionen geprägt. Die kognitive Revolution vor etwa 70000 Jahren brachte die Geschichte überhaupt erst in Gang. Die landwirtschaftliche Revolution vor rund 12000 Jahren beschleunigte sie. Und die wissenschaftliche Revolution, die vor knapp 500 Jahren ihren Anfang nahm, könnte das Ende der Geschichte und der Beginn von etwas völlig Neuem sein. Dieses Buch erzählt, welche Konsequenzen diese drei Revolutionen für den Menschen und seine Mitlebewesen hatten und haben.

 

 

Menschen gab es schon lange vor dem Beginn der Geschichte. Die ersten menschenähnlichen Tiere betraten vor etwa 2,5 Millionen Jahren die Bühne. Aber über zahllose Generationen hinweg stachen sie nicht aus der Vielzahl der Tiere heraus, mit denen sie ihren Lebensraum teilten. Wenn wir 2 Millionen Jahre in die Vergangenheit reisen und einen Spaziergang durch Ostafrika unternehmen könnten, würden wir dort vermutlich Gruppen von Menschen begegnen, die äußerlich gewisse Ähnlichkeit mit uns haben. Besorgte Mütter tragen ihre Babys auf dem Arm, Kinder spielen im Matsch. Von irgendwoher dringt das Geräusch von Steinen, die aufeinandergeschlagen werden, und wir sehen einen ernst dreinblickenden jungen Mann, der sich in der Kunst der Werkzeugherstellung übt. Die Technik hat er sich bei zwei Männern abgeschaut, die sich gerade um einen besonders fein gearbeiteten Feuerstein streiten; knurrend und mit gefletschten Zähnen tragen sie eine weitere Runde im Kampf um die Vormachtstellung in der Gruppe aus. Währenddessen zieht sich ein älterer Herr mit weißen Haaren aus dem Trubel zurück und streift allein durch ein nahe gelegenes Waldstück, wo er von einer Horde Schimpansen überrascht wird.

 

 

(Kapitel 1: Ein ziemlich unaffälliges Tier)


 

Vor 70000 Jahren war der Homo sapiens ein unbedeutendes Tier, das in einer abgelegenen Ecke Afrikas seinem Leben nachging. In den folgenden Jahrtausenden stieg es zum Herrscher des gesamten Planeten auf und wurde zum Schrecken des Ökosystems. Heute steht er kurz davor, zum Gott zu werden und nicht nur die ewige Jugend zu gewinnen, sondern auch göttliche Macht über Leben und Tod. Leider hat die Herrschaft des Sapiens bislang wenig hinterlassen, auf das wir uneingeschränkt stolz sein könnten. Wir haben uns die Umwelt untertan gemacht, unsere Nahrungsproduktion gesteigert, Städte gebaut, Weltreiche gegründet und Handelsnetze errichtet. Aber haben wir das Leid in der Welt gelindert? Wieder und wieder bedeuteten die massiven Machtzuwächse der Menschheit keine Verbesserung für die einzelnen Menschen und immenses Leid für andere Lebewesen.

 

 

Trotz unserer erstaunlichen Leistungen haben wir nach wie vor keine Ahnung, wohin wir eigentlich wollen, und sind so unzufrieden wie eh und je. Von Kanus sind wir erst auf Galeeren, dann auf Dampfschiffe und schließlich auf Raumschiffe umgestiegen, doch wir wissen immer noch nicht, wohin die Reise gehen soll. Wir haben größere Macht als je zuvor, aber wir haben noch immer keine Ahnung, was wir damit anfangen wollen. Schlimmer noch, die Menschheit scheint verantwortungsloser denn je. Wir sind Selfmade-Götter, die nur noch den Gesetzen der Physik gehorchen und niemandem Rechenschaft schuldig sind. Und so richten wir unter unseren Mitlebewesen und der Umwelt Chaos und Vernichtung an, interessieren uns nur für unsere eigenen Annehmlichkeiten und unsere Unterhaltung und finden doch nie Zufriedenheit.

 

 

Gibt es etwas Gefährlicheres als unzufriedene und verantwortungslose Götter, die nicht wissen, was sie wollen?

 

 

(Nachwort)

 

 

Yuval Noah Harari (1976 – ), Eine kurz Geschichte der Menschheit (2011), passim


Alles begann vor etwa 70.000 Jahren, als die kognitive Revolution die Sapiens in die Lage versetzte, über Dinge zu sprechen, die nur in ihrer Vorstellungswelt existierten. In den folgenden 60.000 Jahren flochten sie zahlreiche fiktionale Netze, doch diese blieben klein und lokal begrenzt. Der Geist eines verehrten Ahnen, der vom einen Stamm angebetet wurde, war bei den Nachbarn völlig unbekannt, und Muscheln, die an einem Ort wertvoll waren, wurden wertlos, sobald man die nächste Bergkette überquert hatte. Geschichten über die Geister von Ahnen und wertvolle Muscheln verschafften den Sapiens durchaus einen enormen Vorteil, weil sie es Hunderten und mitunter sogar Tausenden von ihnen ermöglichten, effektiv zusammenzuarbeiten, wozu Neandertaler oder Schimpansen nicht in der Lage waren. Doch solange die Sapiens Jäger und Sammler blieben, konnten sie nicht wirklich massenhaft kooperieren, denn es war schlicht unmöglich, eine Stadt oder ein Königreich allein mit Jagen und Sammeln zu ernähren. Folglich waren die Geister, Feen und Dämonen der Steinzeit relativ schwache Wesenheiten.

 

 

Die landwirtschaftliche Revolution, die vor ungefähr 12.000 Jahren begann, lieferte die erforderliche materielle Grundlage, um die intersubjektiven Netzwerke zu vergrößern und zu stärken. Der Ackerbau ermöglichte es, Tausende von Menschen in dicht besiedelten Städten und Tausende von Soldaten in disziplinierten Armeen zu ernähren. Doch dann standen die intersubjektiven Geflechte vor einer neuen Hürde. Um die kollektiven Mythen zu bewahren und massenhafte Kooperation zu organisieren, setzten die frühen Bauern auf die Datenverarbeitungsfähigkeiten des menschlichen Gehirns, und die waren nun einmal recht begrenzt.

 

 

Bauern glaubten an Geschichten über große Götter. Für ihren Lieblingsgott errichteten sie Tempel, zu seinen Ehren hielten sie Feste ab, sie brachten ihm Opfer dar und ließen ihm Land, Getreide und Geschenke zukommen. In den ersten Städten im antiken Sumer, vor rund 6000 Jahren, waren die Tempel nicht nur Zentren der Anbetung, sondern auch die wichtigsten politischen und ökonomischen Knotenpunkte. Die Götter der Sumerer erfüllten eine ähnliche Funktion wie moderne Marken und Unternehmen. Heute sind Unternehmen fiktive juristische Personen, die über Eigentum verfügen, Geld verleihen, Arbeitnehmer beschäftigen und ökonomische Risiken eingehen. In den antiken Städten Uruk, Lagasch und Schuruppak fungierten die Götter als solche Rechtspersonen, die Felder und Sklaven besitzen, Kredite vergeben und aufnehmen, Löhne bezahlen und Dämme sowie Kanäle bauen konnten.

 

 

(Kapitel 4: Geschichtenerzähler)

 

 

[…]

 

 

Vor 70.000 Jahren veränderte die kognitive Revolution des Geist des Sapiens und machte damit aus einem unbedeutenden afrikanischen Affen den Herrscher der Welt. Der verbesserte Geist des Sapiens hatte plötzlich Zugang zum riesigen Bereich des Intersubjektiven, was uns in die Lage versetzte, Götter und Unternehmen zu schaffen, Städte und Imperien zu errichten, die Schrift und das Geld zu erfinden und schließlich das Atom zu spalten und zum Mond zu fliegen. Soweit wir wissen, resultierte diese weltbewegende Revolution aus ein paar kleinen Veränderungen in der DNA des Sapiens und einer geringfügigen Neuverdrahtung im Gehirn. Wenn das so ist, so der Techno-Humanismus, reichen ein paar weitere Veränderungen in unserem Genom und eine weitere Neuverschaltung unseres Gehirns aus, um eine zweite kognitive Revolution ins Werk zu setzen. Die geistigen Neuerungen der ersten kognitiven Revolution verschafften Homo sapiens Zugang zum Bereich des Intersubjektiven und machten uns zu Herrschern über den Planeten. Eine zweite kognitive Revolution könnte Homo deus Zugang zu unvorstellbaren neuen Sphären verschaffen und uns zu Herren der Galaxie erheben.

 

 

Diese Idee ist eine aktualisierte Variante der alten Träume des evolutionären Humanismus, der schon vor einem Jahrhundert die Schaffung von Übermenschen forderte. Doch während Hitler und sein Gefolge solche Übermenschen mit Hilfe von Zuchtwahl und ethnischer Säuberung produzieren wollten, hofft der Techno-Humanismus des 21. Jahrhunderts, dieses Ziel weitaus friedlicher zu erreichen, nämlich mit Hilfe von Gentechnik, Nanotechnologie und Schnittstellen zwischen Gehirn und Computer.

 

 

(Kapitel 10: Der Ozean des Bewusstseins)

 

 

[…]

 

 

Kombiniert man die praktische Fähigkeit, den Geist zu manipulieren, mit unserer Unkenntnis des mentalen Spektrums und den eng gefassten Interessen von Regierungen, Armeen und Unternehmen, sind Probleme vorprogrammiert. Es könnte gut sein, dass wir unsere Körper und unsere Gehirne erfolgreich optimieren, dabei aber unseren Geist verlieren. Tatsächlich könnte der Techno-Humanismus die Menschen am Ende «downgraden». Denn das System dürfte zurückgestufte Menschen bevorzugen, nicht weil sie über irgendeinen übermenschlichen Knacks verfügen, sondern weil es ihnen an einigen wirklich störenden menschlichen Eigenschaften fehlen würde, die das System behindern und es verlangsamen. Wie jeder Bauer weiß, sorgt üblicherweise die schlauste Ziege für die größten Probleme, weshalb zur landwirtschaftlichen Revolution auch gehörte, die mentalen Fähigkeiten der Tiere zu beschneiden. Die zweite kognitive Revolution, von der Techno-Humanisten träumen, könnte das Gleiche mit uns machen, indem sie menschliche Verwandte produziert, die effektiver als je zuvor kommunizieren und Daten verarbeiten, aber nicht wirklich achtsam sein, träumen oder zweifeln können. Über Millionen von Jahren waren wir Schimpansen in verbesserter Ausführung. In Zukunft könnten wir zu Ameisen in Übergröße werden.

 

 

(Ich rieche Angst)

 

 

[…]

 

 

Die normalen Wähler spüren allmählich, dass ihnen der demokratische Mechanismus keine Macht mehr verschafft. Die Welt rings um sie herum verändert sich, und sie verstehen nicht, wie und warum das alles geschieht. Die Macht verschiebt sich weg von ihnen, aber sie können nicht sagen, wohin sie verschwunden ist. In Großbritannien glauben sie, die Macht sei an die EU übergegangen, und so stimmen sie für den Brexit. In den USA bilden sich die Wähler ein, das «Establishment» habe alle Macht an sich gerissen, und so unterstützen sie Anti-Establishment-Kandidaten wie Bernie Sanders und Donald Trump. Die traurige Wahrheit ist, dass niemand weiß, wo all die Macht hin ist. Fest steht nur: Sie wird nicht zu den gewöhnlichen Wählern zurückkehren, wenn Großbritannien aus der EU austritt oder Donald Trump ins Weiße Haus einzieht.

 

 

Das heißt nicht, dass wir in Diktaturen im Stile des 20. Jahrhunderts zurückfallen werden. Autoritäre Regime scheinen vom Tempo der technologischen Entwicklung und der Geschwindigkeit sowie der Menge des Datenflusses gleichermaßen überfordert zu sein. Im 20. Jahrhundert hatten Diktatoren große Zukunftsvisionen. Kommunisten und Faschisten waren gleichermaßen bestrebt, die alte Welt vollständig zu zerstören und an ihrer Stelle eine neue Welt zu errichten. Was immer man von Lenin, Hitler oder Mao halten mag, einen Mangel an Vision kann man ihnen nicht vorwerfen. Heute, so scheint es, hätten Politiker eigentlich die Möglichkeit, noch größere Visionen zu verfolgen. Während die Kommunisten und die Nationalsozialisten mit Hilfe von Dampf- und Schreibmaschinen eine neue Gesellschaft und einen neuen Menschen zu schaffen versuchten, könnten die heutigen Propheten mit Biotechnologie und Supercomputern arbeiten.

 

 

In Science-Fiction-Filmen bedienen sich hitlereske, rücksichtslose Politiker nur zu gerne solch neuer Technologien und stellen sie in den Dienst dieses oder jenes größenwahnsinnigen politischen Ideals. Doch Politiker aus Fleisch und Blut haben zu Beginn des 21. Jahrhunderts selbst in autoritären Ländern wie Russland, Iran oder Nordkorea nichts mit ihren Hollywoodverwandten gemein. Sie scheinen keine schöne neue Welt zu planen. Die kühnsten Träume von Kim Jong-un und Ali Khamenei reichen im Grunde nicht über Atombomben und Langstreckenraketen hinaus – das wirkt wie bei 1945 stehen geblieben. Putins Bestrebungen bleiben offenkundig darauf beschränkt, die alte Sowjetunion oder das noch ältere Zarenreich wiederzuerrichten. In den USA werfen paranoide Republikaner derweil Barack Obama vor, er sei ein rücksichtsloser Despot, der Verschwörungen aushecke, um die Grundlagen der amerikanischen Gesellschaft zerstören – doch in acht Jahren Präsidentschaft brachte er gerade einmal eine bescheidene Gesundheitsreform zustande. Neue Welten und neue Menschen zu schaffen liegt weit abseits seiner Agenda.

 

 

Gerade weil sich die Technologie heute so schnell entwickelt und Parlamente wie Diktatoren durch Daten, die sie nicht schnell genug verarbeiten können, förmlich erschlagen werden, denken heutige Politiker in viel kleineren Dimensionen als ihre Vorgänger vor 100 Jahren. Der Politik fehlt es Anfang des 21. Jahrhunderts folglich an großen Visionen. Regieren ist zu bloßer Administration geworden.

 

 

Man verwaltet das Land, führt es aber nicht mehr. Die Regierung sorgt dafür, dass Lehrer pünktlich bezahlt werden und die Abwasserkanäle nicht überlaufen, aber sie hat keine Ahnung, wo das Land in 20 Jahren sein wird.

 

 

In mancher Hinsicht ist das durchaus eine gute Sache. Wenn man bedenkt, dass einige der großen politischen Visionen des 20. Jahrhunderts uns nach Auschwitz, nach Hiroshima und zum «Großen Sprung nach vorn» führten, sind wir in den Händen kleingeistiger Bürokraten heute möglicherweise besser aufgehoben. Die Verbindung aus gottgleicher Technologie mit größenwahnsinniger Politik würde der Katastrophe Tür und Tor öffnen. Viele neoliberale Ökonomen und Politikwissenschaftler behaupten, am besten sollte man alle wichtigen Entscheidungen dem freien Markt überlassen. Damit liefern sie Politikern die perfekte Entschuldigung für Nichthandeln und Nichtwissen, die als tiefreichende Klugheit uminterpretiert werden. Politiker glauben nur zu gerne, dass sie die Welt deshalb nicht verstehen, weil sie sie nicht verstehen müssen.

 

 

Doch auch die Verbindung von gottgleicher Technologie mit einer Politik, die auf kurze Sicht fährt, hat ihre Schattenseiten. Ein Mangel an Visionen ist nicht immer ein Segen, und nicht alle Visionen sind zwangsläufig schlecht. Im 20. Jahrhundert zerfiel die historische Vision der Nationalsozialisten nicht von selbst. Sie wurde von den gleichermaßen groß angelegten Visionen des Sozialismus und des Liberalismus besiegt. Unsere Zukunft den Kräften des Marktes zu überlassen ist gefährlich, denn diese Kräfte tun, was gut für den Markt ist, und nicht, was gut für die Menschheit oder für die Welt ist. Die Hand des Marktes ist ebenso blind wie unsichtbar, und wenn man sie sich selbst überlässt, wird sie gegen die Bedrohung durch den Klimawandel oder das gefährliche Potenzial künstlicher Intelligenz nichts tun.

 

 

Manche Leute glauben, dass trotzdem jemand verantwortlich ist. Nicht demokratische Politiker oder autokratische Despoten, sondern eine kleine Clique von Milliardären, die insgeheim die Welt regieren. Aber solche Verschwörungstheorien funktionieren nie, weil sie die Komplexität des Systems unterschätzen. Ein paar Milliardäre, die in irgendeinem Hinterzimmer Zigarren rauchen und Whisky trinken, können nicht alles verstehen, was auf der Welt passiert, und es schon gar nicht kontrollieren. Rücksichtslose Milliardäre und kleine Interessengruppen florieren in der chaotischen Welt von heute nicht deshalb, weil sie die Karte besser lesen können als alle anderen, sondern weil sie sehr eng gesteckte Ziele haben. In einem chaotischen System ist der Tunnelblick immer von Vorteil, und die Macht der Milliardäre entspricht genau ihren Zielen. Wollte der reichste Mensch der Welt eine weitere Milliarde US-Dollar verdienen, könnte er das System problemlos manipulieren, um sein Ziel zu erreichen. Wollte er jedoch die weltweite Ungleichheit verringern oder den globalen Klimawandel stoppen, wird nicht einmal ihm das gelingen, weil das System viel zu komplex ist.

 

 

(Wo ist all die Macht geblieben?)

 

 

[…]

 

 

Wenn es dem Dataismus gelingt, die Welt zu erobern, was wird dann mit uns Menschen geschehen? Anfangs wird es wahrscheinlich das menschliche Streben nach Gesundheit, Glück und Macht beschleunigen. Der Dataismus breitet sich gerade deshalb aus, weil er diese menschlichen Sehnsüchte zu stillen verspricht. Um Unsterblichkeit, Glück und göttliche Schöpfungskraft zu erlangen, müssen wir ungeheure Datenmengen verarbeiten, welche die Kapazitäten des menschlichen Gehirns weit überschreiten. Also werden die Algorithmen das für uns erledigen. Doch sobald die Macht von den Menschen auf die Algorithmen übergeht, könnten die humanistischen Projekte irrelevant werden. Sobald wir die homozentrische Weltsicht zugunsten eines datazentrischen Weltbilds aufgeben, könnten Gesundheit und Glück der Menschen immer weiter an Bedeutung einbüßen. Denn warum sollte man sich um obsolete Datenverarbeitungsmaschinen kümmern, wenn es bereits deutlich bessere Modelle gibt? Wir streben danach, das «Internet aller Dinge» zu entwickeln, weil wir hoffen, dass es uns gesund, glücklich und mächtig macht. Doch sobald das «Internet aller Dinge» existiert und funktioniert, könnten wir von Entwicklern zu Mikrochips und dann zu Daten schrumpfen und uns am Ende im Datenstrom auflösen wie ein Klumpen Erde in einem reißenden Fluss.

 

 

Der Dataismus droht somit, Homo sapiens das anzutun, was Homo sapiens allen anderen Tieren angetan hat. Im Verlauf der Geschichte haben die Menschen ein globales Netzwerk geschaffen und alles nach seiner Funktion in diesem Netzwerk bewertet. Jahrtausendelang nährte das den menschlichen Stolz und menschliche Vorurteile. Da wir Menschen die wichtigsten Funktionen in diesem Netzwerk erfüllten, war es ein Leichtes für uns, uns selbst die Errungenschaften des Netzwerks anzurechnen und uns als Krone der Schöpfung zu betrachten. Das Leben und die Erfahrungen aller anderen Tiere galten als minderwertig, weil sie weit weniger wichtige Funktionen erfüllten, und wenn ein Tier gar keine Funktion mehr hatte, wurde es ausgerottet. Doch sobald die Menschen ihre funktionale Bedeutung für das Netzwerk verlieren, werden sie erkennen, dass sie gar nicht die Krone der Schöpfung sind. Die Maßstäbe, die wir selbst entwickelt haben, werden uns dazu verdammen, den Mammuts und den chinesischen Flussdelphinen ins Vergessen zu folgen. Rückblickend betrachtet, wird die Menschheit nichts weiter gewesen sein als ein leichtes Kräuseln im großen kosmischen Datenstrom.

 

 

Wir können die Zukunft nicht wirklich vorhersagen. All die hier in diesem Buch entworfenen Szenarien sollten als Möglichkeiten und weniger als Prognosen verstanden werden. Wenn wir über die Zukunft nachdenken, sind unsere Horizonte üblicherweise durch gegenwärtige Ideologien und Gesellschaftssysteme beschränkt. Die Demokratie ermuntert uns dazu, an eine demokratische Zukunft zu glauben. Der Kapitalismus erlaubt es uns nicht, uns eine nicht-kapitalistische Alternative vorzustellen. Und der Humanismus macht es uns schwer, über eine posthumane Bestimmung nachzudenken. Bestenfalls recyceln wir mitunter vergangene Ereignisse und betrachten sie als alternative Zukünfte. So dienen beispielsweise der Nationalsozialismus und der Kommunismus des 20. Jahrhunderts als Blaupause für viele Dystopien, und Science-Fiction-Autoren bedienen sich des Vermächtnisses von Mittelalter und Antike, um sich Jedi-Ritter und galaktische Kaiser vorzustellen, die mit Raumschiffen und Laserwaffen gegeneinander kämpfen.

 

 

Dieses Buch spürt den Ursprüngen unserer gegenwärtigen Konditionierung nach, um ihren Griff zu lockern und uns in die Lage zu versetzen, weit fantasievoller als bisher über unsere Zukunft nachzudenken. Statt unsere Horizonte durch die Prophezeiung eines einzigen definitiven Szenarios einzuengen, will dieses Buch sie erweitern und uns vor Augen führen, dass es ein viel breiteres Spektrum an Möglichkeiten gibt. Wie ich mehrfach betont habe, weiß niemand wirklich, wie der Arbeitsmarkt, die Familie oder die Ökologie im Jahr 2050 aussehen und welche Religionen, Wirtschaftssysteme oder politischen Strukturen die Welt beherrschen werden.

 

 

Doch eine Horizonterweiterung kann sich auch als Bumerang erweisen, wenn wir danach verwirrter und tatenloser sind als zuvor. Worauf sollten wir angesichts so vieler Szenarien und Möglichkeiten unsere Aufmerksamkeit richten? Die Welt verändert sich schneller als je zuvor, wir werden von unglaublichen Mengen an Daten, Ideen, Versprechungen und Bedrohungen überschwemmt. Die Menschen überlassen nicht zuletzt deshalb, weil sie mit der Datenflut nicht mehr zurechtkommen, die Macht dem freien Markt, der Weisheit der Crowd und externen Algorithmen. In der Vergangenheit funktionierte Zensur dadurch, dass der Informationsfluss blockiert wurde. Im 21. Jahrhundert bedeutet Zensur, die Menschen mit irrelevanten Informationen zu überschwemmen. Die Menschen wissen einfach nicht, worauf sie achten sollen, und vergeuden ihre Zeit oft damit, sich mit Nebenaspekten zu beschäftigen. In früheren Zeiten bedeutete Macht, Zugang zu Daten zu haben. Heute bedeutet Macht zu wissen, was man ignorieren kann. Worauf von all dem, was in unserer chaotischen Welt geschieht, sollten wir uns also konzentrieren?

 

 

Wenn wir in Monaten denken, sollten wir unser Augenmerk vermutlich auf unmittelbare Probleme wie die Wirren im Nahen Osten, die Flüchtlingskrise in Europa und die Abschwächung der chinesischen Wirtschaft richten. Wenn wir in Jahrzehnten denken, spielen der Klimawandel, die wachsende Ungleichheit und der Zusammenbruch des Arbeitsmarkts eine zentrale Rolle. Wenn wir aber das Leben im Großen und Ganzen in den Blick nehmen, werden alle anderen Probleme und Entwicklungen von drei miteinander verknüpften Prozessen überschattet:

 

 

  1. Die Wissenschaft konvertiert zu einem allumfassenden Dogma, das behauptet, Organismen seien Algorithmen und Leben sei Datenverarbeitung.
  2. Intelligenz koppelt sich vom Bewusstsein ab.
  3. Nicht-bewusste, aber hochintelligente Algorithmen könnten uns schon bald besser kennen als wir uns selbst.

 

 

Diese drei Prozesse werfen drei Schlüsselfragen auf, die Sie, so hoffe ich, noch lange nach der Lektüre dieses Buches beschäftigen werden:

 

 

  1. Sind Organismen wirklich nur Algorithmen, und ist Leben wirklich nur Datenverarbeitung?
  2. Was ist wertvoller – Intelligenz oder Bewusstsein?
  3. Was wird aus unserer Gesellschaft, unserer Politik und unserem Alltagsleben, wenn nichtbewusste, aber hochintelligente Algorithmen uns besser kennen als wir uns selbst?

 

 

(Ein Kräuseln im Datenfluss)

 

 

Yuval Noah Harari (1976 – ), Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen (2015), passim


Das nenne ich mal einen ordentlichen Klopps an Text, der macht ordentlich satt und zugleich ziemlich voll. Deshalb habe ich mir entgegen des zuletzt beschriebenen Leseplans zunächst und zuvor die beiden oben zitierten Schinken o(h)ral als leidlich gut gelesenes Hör-Buch gegönnt und dadurch in ihrer nötigen Schwere moderat abgemildert. Ich konnte also doch nicht umhin, nach dem reizvollen Lektürebeginn der dritten populär(-wissenschaftlich-)en Monographie aus dem letzten Blog-Artikel zuerst die beiden älteren Bücher in einem zwanghaften Anflug von Werkschronologitis zu konsumieren.

Immehrin und insgesamt will Herr Harari („Danke!“ für diesen lautmalerisch-alliterierenden Namen) darin einiges an Gehalten auftischen: nichts weniger als die gesamte Geschichte der Menschheit, im großen Abriss ebenso wie in der kleinen Alltagsimpression. Derart vielsichichtig wird dieser buchstäblich epische Gegenstand umsichtig beschrieben und klar analysiert, zudem obendrauf noch fleißig kommentiert und reflektiert sowie zuletzt auch politisiert und polemisiert.

Schon an der Grenze zwischen Text-Fast-Food und Text-Slow-Food gelegen, zitiere ich hier tatsächlich querbeet über gut 1100 Druckseiten hinweg und versuche unterdessen ganz unambitioniert, das sog. Wesentliche von sowohl Inhalt (Argument, Beschreibung, etc.) als auch Form und Stil (Erzählung, Wortwahl, Stilistik, usw.) schlimmstenfalls nur anzudeuten oder bestenfalls sogar zu treffen. Bei diesem qualitativ also spannenden und quantitativ eindeutigen Verhältnis von Original zu Abbild kann ich mithin nur von „TFF“ sprechen, auch, weil ich mir zudem erlaube, kurzerhand zwei Werke zitierend in einem Artikel zu kombinieren: Ein kurze Geschichte der Menschheit feat. Homo Deus – namensgeben und eben nicht umgekehrt.

„Feat.“ also und deshalb auch klarer Zitatevorteil für Homo Deus! Denn in Summe lese ich die KGdM als Overtüre zu Homo Deus, weil der Geschichtswissenschaftler von der ersten Seite an förmlich danach drängt, den Bogen, den er nacherzählend zuvor historisch aufgespannt hat, praktisch anzubinden, sprich prognostisch fortzuführen, politisch zu problematisieren und bisweilen prophetisch weiterzuspinnen. Nach der Vergangenheit, die Gegenwart aus besagter und zuvor beschriebener dritten Monografie elegant überspringend, folgt also die Bruch-Landung irgendwo und irgendwann in möglichen Zukünften des Homo sapiens als Selfmade-Gott. Dessen und deren Entwurf sowie Kritik bedarf notwendig und wiederkehrend der Rückbindung an die Geschichte über die Geschichte und nunmehr endlich auch die bisher weithin ausgesparte Gegenwart; und macht zusammengenommen den intellektuell spannenderen Teil des Werkes aus, insbesondere da er auch praktisch-politisch von höhrer Relevanz ist, im Gegensatz zum theoretisch-deskriptiven Anspruch der bloßen Geschichtswissenschaft typischen Schlages, die Harari weit hinter sich zurücklässt.

Der bündige Blick auf 13.500.070.000 (In einem Wort: „Dreizehnmilliardenfünfhundermillionenundsiebzigtausend“) Jahre ist nichtsdestotrotz bewundernswert kompakt gehalten und dabei dennoch so anschaulich erzählt, dass Historie teilweise erlebar wird, in sie so plastisch wie humorvoll nachvollziehbar gemacht wird, wie das noch eben wünschenswert sein dürfte. Stereotypen treffen deshalb bisweilen auf Allgemeinplätzen aufeinander, was jedoch angesichts von Ironie und der zusätzlich brisanten Poly- und Ambivalenz von „Geschichte beschreiben“ und „Geschichten schreiben“ durchaus als Kompliment gemeint sein soll. Abstrakte Geschichte, die konkretes Geschehen für ihre Theoriarbeit zuvor vereinfacht hat, wird nachträglich wieder konkretisiert, indem ihr Farbe, Form und Gefühl zurückgegeben werden. Dadurch widerlegt der Schriftsteller Harari schon sehr früh das im letzten Artikel vorschnell gemachte Vorurteil von stilistischer Karg- und Nüchternheit. Er schreibt einfach und effektiv, was im Blick auf seine offenkundige Intention, (be-)schreibend insbesondere einen historisch aufgeklärten Einfluss auf den Zukunftsdiskurs der Menschheit zu üben, absolut stimmig ist.

Ebenso stimmig ist sein Portrait des Menschen als seßhaft und verkopft gewordenem ehemaligen Wildbeuter, der auf eine evolutionäre bewegte Vorgeschichte zurückblickt und dessen Geschichte unter eingängigen Schlagworten strukturiert und rekonstruiert wird: Auf die „Kognitive Revolution,“ in der wir fiktiv und abstrakt Denken und sozial interagieren gelernt haben, folgte die „Landwirtschaftliche Revolution“, die uns domestizierte und die ersten Hochzivilisationen hervorbrachte, worafhin sich zuletzt die „Wissenschaftliche Revolution“ ereignete, durch die wir technisiert und globalisiert wurden und dabei derart mächtig geworden seien, dass wir nunmehr gottgleich „Krieg, Hunger und Tod“ besiegen könnten oder gar schon hätten. Mit diesem unschuldig-beiläufigen Kippen in den Konjunktiv vollzieht sich bei Harari auch der im Text immer wieder angedeutete Übergang von der Beschreibung des Gewesenen in die Besprechung des Werdenden. Sein Ausblick auf das Zukommende ist dabei neugierig und bisweilen sorgenvoll und wendet sich unbestimmt auf die nähere und moderat fernere Zukunft im von mir grob geschätzten, von ihm nicht explizierten Intervall von 30 bis 100 Jahren.

Der globalisierte Humanismus, plausibel in seine liberale, evolutionäre und sozialistische Traditionslinie differenziert, könnte auf tragische Weise vielfach in die Krise geraten. Nachdem der Mensch sich zum Meister der Erde emporgearbeitet hat, indem er bei seiner Expansion ganze Ökosysteme samt Tieren, Pflanzen und Lebensraum schlicht zerstört oder funktional unterjocht hat, beherrscht er den Planeten zur Gänze. Die technologische Machtfülle hat jedoch massive Kosten verursacht und bringt ebensolche Konsequenzen mit sich: Während die Ressourcen rar werden und die natürlichen Puffer für fast jeden Umweltstressor gefühlt zur Neige gehen, das Klima sich jedenfalls zu unseren Unbilden wandelt, drängen zukünftige Gefahrenpotentiale auf uns ein und uns zu einer gestalterischen Proaktivität in Politik und Wirtschaft.

Nach Harari bedroht insbesondere der sog. „Dataismus“ den in sich spannungsvoll aufgespaltenen Humanismus und profitiert dabei, so lese ich seine Darstellung, von den offensichtlichen Widersprüche zwischen dessen libraler, sozial(-istisch-)er und evolutionärer Prägung. Um diesen drei Begriffen spontan ein griffigeres Bild zu geben: liberal wäre beispielsweise der in die Jahre gekommene „American Dream“, sozial bis sozialistisch der nie verwirklichte, vollendete „Kommunismus“ und evolutionär ein zumal noch biotechnologisch aufgerüsteter „Neo-Faschismus“; überall steht eine Idee, ein Ideal des Menschen im Zentrum, wohingegen Umwelt, Götter, Tiere überall, wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle spielen. Wie also mit der Bedrohung durch den Dataismus, d.h. der potentiellen Allmacht der Datenströme – der KI’s, Algorithmen und sonstigen neuen technologischen Unwesen – umgehen? So ungefähr lautet einer der wichtigsten Fragekomplexe, die Harari an den Anwärter auf den Göttertitel Homo Deus heranträgt.

Dass hier nebenbei eine gänzlich neue Phänomenklasse an Entitäten entsteht, interessiert wohl nur die wenigen Ontologen unter den wenigen Philosophen; der praktische Rest an Konsequenzen sollte aber definitiv jeden angehen. Denn jeder ist – Stichworte: Facebook, Amazon und Google – bereits betroffen und wird das zukünftig womöglich in noch stärkerem Maße sein. Je nach dem, wo man auf unserem Planeten zukünftig zufällig geboren wird, wird man womöglich von autonom fahrenden Autos befördert, in virtuellen Schulen E-unterrichtet, an jeder Ecke von künstlichen Intelligenzen bedient und beraten, sogar von ihnen operiert und stimuliert, bezahlt und gefeuert oder schlussendlich sogar politisch beherrscht. Dieser Klimax wird freilich mehr oder weniger, hier oder dort der Fall sein, aber die Herrschaft der Daten dämmert definitiv.

Ebenso dämmert die Nacht und mir zugleich, dass ich trotz vieler Aknüpfungspunkte und Ideen hier und jetzt einen schließenden Punkt machen sollte, um mich nicht von Hararis Universalitätsgebahren anstecken zu lassen: Er überzeugt in beiden Büchern durch seine lockere Art und die Fähigkeit, schwierige Sachverhalte einprägsam zu illustrieren, klar zu strukturiere, zugleich durch die selbstkritische Schonungslosigkeit seiner Analyse und die trotz versuchter Offenheit und Neutralität immer wieder durchscheinde strikt rationale Grundüberzeugung und einen zustiefst humanen Wertkanon. Deshalb gibt es eine klar Leseempfehlung von mir für Euch!

Gute Nacht und glückliches Gelingen im geschichtlichen Geschehen, Euer Satorius

Auf ein Neues: Hallo Gutenberg, hallo Gegenwart!

Was ist denn hier passiert, frage ich mich als müde gewordener, bisweilen verzagter Blogaspirant nach einer trägen Phase? Gutenberg bringt mich auf Trab, macht nicht nur alles anders, sondern auch vieles neu bei uns in Quanzland! Beispielsweise und konkret ist die ehemalige Formatierung von Text-Fast-Food im Detail unmöglich geworden und vermutlich auch die Form vieler anderer Formate. Deshalb heißt nun die Devise: Nicht zwanghaft am Alten kleben, lieber frei heraus das Neue erschaffen.

Block für Block entsteht hier und heute aus Anlass eines gelesenen Textes, der zuvor gefunden und für relevant oder wenigstens witzig befunden wurde, die neue Konvention für zukünftiges TFF. Mal sehen und abwarten, was hier in wenigen Sekunden erzählter Erzählzeit erscheint und wie lange die wirkliche Arbeitszeit auf dem Weg aus dem soliden Hardcover in meinen Händen heraus hinein in die hiesige Blogsphäre braucht.


Der Philosophie, der Religion und der Wissenschaft läuft die Zeit davon. Die Menschen diskutieren seit Jahrtausenden über den Sinn des Lebens. Wir können diese Debatte nicht endlos fortsetzen. Die sich anbahnende ökologische Krise, die wachsende Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen und das Aufkommen neuer, disruptiver Technologien werden das nicht erlauben. Wichtiger noch: Künstliche Intelligenz und Biotechnologie verschaffen der Menschheit die Macht das Leben zu verändern und zu manipulieren. Schon sehr bald wird irgendjemand entscheiden müssen, wie wir diese Macht nutzen – und zwar auf der Basis irgendeiner impliziten oder expliziten Erzählung über den Sinn des Lebens. Philosophen sind sehr geduldige Menschen, doch Ingenieure sind weit weniger geduldig, und am allerwenigsten Geduld haben Investoren. Wenn wir nicht wissen, was wir mit der Macht, Leben zu manipulieren, anfangen sollen, werden die Marktkräfte nicht ein Jahrtausend lang warten, bis wir eine Antwort darauf gefunden haben. Die unsichtbare Hand des Marktes wird uns ihre eigene, blinde Antwort aufzwingen.

Yuval Noah Harari (1976 – ), 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert, S. 17 (Einleitung)


Et voilà – ohne die Minuten tatsächlich gezählt zu haben, ist es zwischenzeitlich passiert: Das neue Gewand für den schnellen Texthappen von Heute und Morgen ist fertig geschneidert. Vor allem aber ist ein Bann gebrochen, bin ich wieder frei von Lese-/Schreibunlust und lustig auf Lese-/Schreibgenuss. Auf den Regress folgt nun wieder der Progress – so und soweit zumindest das aktuelle Credo!

Damit zurück zum Wesentlichen: Dem Text und dem Text über den Text, was nicht zufällig an Derridas Bild der Spur der Spur bei simultanem Verlöschen der Spur gemahnt. Hararis Spuren zu folgen, wie sie sich im Staub der Geschichte abzeichnen und durch den Sand der fließenden Zeit winden, immer mit Blick auf das Zukommende orientiert, erfüllt mich mit Vorfreude. Denn schon nach nur kurzer Aufwärm-Recherche, wenigen Seiten der Einleitung und der ursprünglich durch persönliches Gespräch geweckten Neugierde auf diesen Autoren, verspüre ich eine Sympathie für Hararis Denkstil und Werte. Wenn auch der literarische Stil bisher eher karg und nüchtern ausgefallen ist, so tut das der Relevanz der Themen und vermuteten Brillanz des Historikers keinen Abbruch.

Er unternimmt Großes, will vieles auf einmal und wagt große Schritte und Würfe. In seiner dritten Monographie nach Eine kurze Geschichte der Menschheit (2011) und Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen (2015) setzt er sich dennoch bisweilen demütig das ambitionierte Ziel, die wichtigsten Entwicklungsstränge der Gegenwart zu entwirren. Nach der Schnellvariante der Menschheitsgeschichte, also aus der beruflichen Domäne heraus mit Blick auf die Vergangenheit, gefolgt von dem inspirierenden Exkurs in die Zukunft, wagt er sich nun also an das Zeitgeschehen und nimmt die Gegenwart in den Fokus seiner Betrachtung. Es geht ihm damit ausdrücklich um den undenkbar schmalen Grat namens Präsens, das zwischen den beiden (Un-)Endlichkeiten Futur und Präteritum fristet, eingekeilt, flüchtig dahineilt, noch keine Erinnerung, kein Dokument, nicht mehr Erwartung, fern der Prognose, stattdessen ereignet sich bloßes, nacktes Geschehen – feucht, heiß, glitschig und mysteriös.

Ob es dem Historiker auf dem Weg durch gefährlichste der drei Zeitebenen abermals gelingt, klare, kritische und konstruktive Begriffe zu entwerfen, um die jüngsten Entwicklungen und Ereignisse stattlich einzukleiden und so gesellschaftsfähig, also verständlich und zumutbar zu machen, bleibt abzuwarten. Die nächsten Wochen werden mich jedenfalls durch die 21 Lektionen führen, soweit ich eben bereit bin, mich belehren zu lassen und gelehrig zu bleiben. Der Lehrer hinterlässt bei mir allenfalls und zunächst einen guten ersten Eindruck – mach‘ was daraus, Yuval!

Euer optimistischer Denk-/Lese- und Schreib-Re­ha­bi­li­tand, Satorius

Poets on drugs?!

Alles neu macht Gutenberg, der neue Editor von WordPress. Einiges wurde damit besser, einiges jedoch auch schlechter. Deshalb werde ich von nun an auf die über Jahre hinweg beinahe schon klassisch gewordene Formatierung für TFF und dergleichen Zitationen verzichten, denn sonst müsste wie auch beim Blocktyp Überschrift gänzlich auf Farbe und weitere Formatoptionen verzichten. Da ich das nicht will, Verzicht in dieser Hinsicht keine Optiondarstellt, behelfe ich mir mit einem stark veränderten Absatz-Block und versuche mich ansonsten nicht über die Steuerung von Zeilen und Absätzen aufzuregen.

Dergestalt pflege ich mit dem heutigen Artikel zugleich mit Lyrik-Alarm ein Fomat und mit Bilderfolgen ein Thema, die zwar nicht vom Aussterben bedroht, aber doch selten sind. Gemischt wird das ganze thematisch noch mit Fiktionalen Kleinoden und Denk-Welten und fertig ist der Blogbeitrag:


An den Mond

Füllest wieder Busch und Tal
Still mit Nebelglanz,
Lösest endlich auch einmal
Meine Seele ganz;

Breitest über mein Gefild
Lindernd deinen Blick,
Wie des Freundes Auge mild
Über mein Geschick.

Jeden Nachklang fühlt mein Herz
Froh- und trüber Zeit,
Wandle zwischen Freud‘ und Schmerz
In der Einsamkeit.

Fließe, fließe, lieber Fluß!
Nimmer werd‘ ich froh;
So verrauschte Scherz und Kuß
Und die Treue so.

Ich besaß es doch einmal,
was so köstlich ist!
Daß man doch zu seiner Qual
Nimmer es vergißt!

Rausche, Fluß, das Tal entlang,
Ohne Rast und Ruh,
Rausche, flüstre meinem Sang
Melodien zu!

Wenn du in der Winternacht
Wütend überschwillst
Oder um die Frühlingspracht
Junger Knospen quillst.

Selig, wer sich vor der Welt
Ohne Haß verschließt,
Einen Freund am Busen hält
Und mit dem genießt,

Was, von Menschen nicht gewußt
Oder nicht bedacht,
Durch das Labyrinth der Brust
Wandelt in der Nacht.

   

Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832), An den Mond (1777)


Liebliches

Was doch Buntes dort verbindet

Mir den Himmel mit der Höhe?

Morgennebelung verblindet

Mir des Blickes scharfe Sehe.

     

Sind es Zelte des Wesires, 

Die er lieben Frauen baute?

Sind es Teppiche des Festes,

Weil er sich der Liebsten traute?

     

Rot und weiß, gemischt, gesprenkelt

Wüßt ich Schönres nicht zu schauen.

Doch wie, Hafis, kommt dein Schiras

Auf des Nordens trübe Gauen?

       

Ja, es sind die bunten Mohne,                                                                                

Die sich nachbarlich erstrecken

Und dem Kriegesgott zu Hohne

Felder streifweis freundlich decken.

    

Möge stets so der Gescheute                                                                          

Nutzend Blumenzierde pflegen

Und ein Sonnenschein wie heute

Klären sie auf meinen Wegen!

     

Johann Wolfgang von Goethe (1743 – 1832), Liebliches (1819; in: West-östlicher Divan – Buch des Sängers)


SONNET 76

Why is my verse so barren of new pride?
So far from variation or quick change?
Why with the time do I not glance aside
To new-found methods and to compounds strange?
Why write I still all one, ever the same,
And keep invention in a noted weed,
That every word doth almost tell my name,
Showing their birth and where they did proceed?
O, know, sweet love, I always write of you,
And you and love are still my argument;
So all my best is dressing old words new,
Spending again what is already spent:
For as the sun is daily new and old,
So is my love still telling what is told.


Was bleiben allen neuen Reizen fern, Eintönig, ohne Wechsel meine Sänge? Und warum schiel‘ ich nicht, wie es modern, Nach neuer Form und seltnem Wortgepränge? Was Schreib‘ ich immer gleich und eines nur Und kleide meinen Sang nach alter Art, Daß jede Silbe weist auf meine Spur Und ihren Stamm und Herkunft offenbart? Muß, Liebster, ich von dir doch immer singen! Du und die Liebe bist mein ganzer Sang, Mein Bestes ist, in neue Form zu bringen Die alte Weise, die schon oft erklang. Alt ist die Sonne, und doch täglich neu, So bleibt mein Herz dem alten Liede treu.

William Shakespeare (1564 – 1616), SONNET 76 (Entstanden: 1592 – 1598; Veröffentlichung: 1609)

Weitere Übersetzungen und Lyrik bis zum Morgengrauen: http://www.deutsche-liebeslyrik.de/europaische_liebeslyrik/shakespeare/shakespeare_76.htm


SONNET 118

Like as, to make our appetites more keen,
With eager compounds we our palate urge,
As, to prevent our maladies unseen,
We sicken to shun sickness, when we purge,
Even so, being tuff of your ne’er-cloying sweetness,
To bitter sauces did I frame my feeding,
And, sick of welfare, found a kind of meetness
To be diseas’d, ere that there was true needing.
Thus policy in love, to anticipate
The ills that were not, grew to faults assured,
And brought to medicine a healthful state,
Which, rank of goodness, would by ill be cured:
   But thence I learn, and find the lesson true,
   Drugs poison him that so fell sick of you.


Wie man, um seine Essenslust zu mehren,
Den Gaumen reizt durch scharfe Arzenein
Und, sich verborgner Leiden zu erwehren,
Aus Furcht vor Krankheit impft die Krankheit ein:
So würzte ich, der ich mich übernommen
An deiner Süße, bitter meinen Trank,
Der Schmerz war als Erholung mir willkommen
Nach zu viel Lust, von Wohlergehen krank.
So dachte Liebe schlau vorauszueilen
Der künft’gen Not und kam zu sicherm Leid;
Die Krankheit sollte den Gesunden heilen,
Der, krank am Guten, suchte Bitterkeit.
Doch lernt‘ ich dies, daß Arzenei wie Gift
Für den ist, den durch dich die Krankheit trifft!

William Shakespeare (1564 – 1616), SONNET 118 (Entstanden: 1592 – 1598; Veröffentlichung: 1609)


Schrieb Shakesspear auf Dope und ergözte sich Goethe am tiefen Opiumschlummer? Zwei Titanen der Literaturgeschichte, fließige und geehrte Männer, sollen solch liederlichen Lastern gefrönt haben, wie man sie höchsten bei Hippie-Poeten, exzentrischen Rockstars und insgesamt bei  zeitgenössischen Stars erwartet und duldet: Dorgen, Rausch und womöglich sogar am Ende auch noch Sucht!

In der aktuellen, durchaus sehr sehenswerten Folge von Terra X, die unter dem Untertitel DrogenEine Weltgeschichte thematisch einschlägig firmiert, werden archäologisch bis literaturgeschichtliche These zu beiden Autoren artikuliert: Von Francis Thackeray werden drogentechnisch positiv getestete Pfeifen präsentiert, nachdem er in den zwei sicherlich gelesenen Gedichten untrügliche Hinweise auf Cannabis gefunden haben wollte – das „Weed“ und die Ode an den anonymen Appetitanreger; vager und weniger empirisch schlagend fällt die an- und die Sendung abschließende Bezichtigung unseres lieben Volksdichters aus, der West und Ost in seiner Biografie vereinend, wohl ein Freund des Mohns und seines wertvollen Saftes gewesen sein soll. Daneben findet ein farbenfroh illustrieter Roadtrip durch die Menschheitsgeschichte statt, währenddessen ein nüchtern-anerkennender Umgang mit dem sooft tabuisierten Grundmotiv des Lebens gepflegt und viel Wissenswertes erzählt wird. Soviel sei angedeutet, denn die Mediathek lockt leichterhand zum Ansehen der eigentliche Quelle: Drogen – Eine Weltgeschichte (1/2). Zwischen Rausch und Nahrung

Ich persönlich lese ja den Mond als starkes und subtiles Symbol, als poetischen Platzhalter für das Objekt der Sehnsucht; wobei ich den Romatikern trotz aller Freakigkeit eher langweilig eine Sucht nach Liebe, eine Begierde nach der sexuellen Lust mitunter, unterstelle. Wein, Weib und Gesang sind zwar die klassischen Genüsse, aber mit dem Begriff des Fetisch wird alles zum potentiellen Objekt des libidinösen Willens. Der Baum am Wegesrand, die Schuhe der galanten Nike, womöglich sogar eine Virtualität wie Warcraft oder perverserweise Tote, Kind und Kegel, alles taugt für den Exzess mit Anhaftungsabo. Ohne Ethos, sei es stoisch strikt oder epikuräisch elegant, droht immer der Wunsch nach und die Wirklichkeit der Wiederholung. Den Psychonauten locken Baudrillards künstliche Paradiese, geschockt durchlebt er Dantes Inferno und verwirrt verlässt er unterdessen Carolls Wunderland ebenso wie Baums Oz und trennt sich von Rabelais Riesen. Was ich damit abschließend und explizit behaupten möchte, wer Trip sucht, der findet ihn überall in der Literatur, denn Fantasie und Rausch, Wonne und Kreativität sind gute alte Freunde.

Euer bilderfolgender und lyrik-alarmierter Gelegenheitsblogger, Satorius