Text-Fast-Food

Politische Wahrheit zwischen, über, unter Himmel und Erde

Dabei konnte uns das, was das politische Leben eigentlich ausmacht, garnicht in den Blick kommen: Nicht die große Freude, die dem schieren Zusammensein mit seinesgleichen innewohnt; nicht die Befriedigung des Zusammen-Handelns und die Genugtuung öffentlich in Erscheinung zu treten; nicht die für alle menschliche Existenz so entscheidende Möglichkeit, sich sprechend und handelnd in die Welt einzuischalten und einen neuen Anfang zu stiften.

Denn worum es mir in diesen Betrachtungen ging, war zu zeigen, dass dieser politische Raum trotz seiner Größe begrenzt ist; dass er nicht die Gesamtheit der menschlichen Existenz und auch nicht die Gesamtheit dessen umfasst, was in der Welt vorkommt. Was ihn begrenzt sind die Dinge, die Menschen nicht ändern können, die ihrer Macht entzogen sind und die nur durch Lügen und Selbstbetrug zum zeitweiligen Verschwinden gebracht werden können.

Die Politik kann die ihr eigene Integrität nur wahren und das ihr innewohnde Versprechen an die Menschheit, dass sie die Welt ändern können, nur einlösen, wenn sie die Grenzen, die diesem Vermögen gezogen sind, respektiert.

Wahrheit könnte man begrifflich definieren als das, was der Mensch nicht ändern kann. Metaphorisch gesprochen ist sie der Grund auf dem wir stehen und der Himmel, der sich über uns erstreckt.

Hannah Arendt (1906 – 1975), Wahrheit und Politik – Eine philosophische Studie, 1:17:38 – 1:19:13 (1969, Rundfunkbeitrag – Direktlink)


Zwischen Himmel und Erde, in der Mitte der Dinge, motivisch sogar zwischen Text und Welt, lebt der Mensch. Ich, du, er, wir, ihr, sie und es, das gnadenlose Geschehen und das unermessliche Universum, das unheimliche Unbewusste und der geniale Gedanke. Alles tendiert zur Tat, vita passiva unterliegt vita activa.

Diese treffsicheren Schluss-Betrachtungen zur metaphysischen Grenze und Verortung ihrer politischen Philosophie sind ein solcher Geniestreich des tätigen Geistes, der dem genius loci gleichermaßen Tribut zollt, wie er seine Wurzeln tief in den Boden unserer nacherzählten Lebenswelt treibt. Vom Himmel herab in die Herzen der Menschen holt Hannah Arendt die Sterne der Politik, gibt sie in die Hand von Gutmenschen; integer und engagiert, kompetent und interessiert sowie vor allem sozial sollen sie sein, sollen wir Bürger einer guten Demokratie bestenfalls sein.

Wer sich hier ein klein wenig überfordert fühlt, der hebe die Hand und werfe mit ihr den ersten Wattbausch kräftig in die einschlägige Richtung: Moralmonster. Der kleine Mann soll große Geschichte schreiben, soll Gratwanderer und Silver-Surfer eines irgendwie gearteten sozial-strukturalistischen Idealismus werden. Rebell trifft Reformer, Vater und Mutter kondolieren dem General und der Nihilist gratuliert dem Fundamentalist zur soliden Basis. Die wenig verdeckte Forderung zum Guten, Schönen und Wahren wirkt trotz aller Sympahtie wie ein allzu große Synthese nach dem historischen Tiefpunkt, wie die große Äquivalenz nach absoluten Differenzerfahrung. Schnell und salopp wird eine gigantische Brückenkonstruktion zwischen Leben, Politik und Denken geschlagen, quasi die eierlegende Wollmilchsau der praktischen Philosophie (nach Auschwitz) ersonnen. Der implizite Imperativ gipfelt in aktuelle individuelle Überforderung, statt und nach historischer kollektiver Überforderung: Gleichzeitg mit beiden Beinen fest auf dem Boden der politischen Tatsächlichkeit stehen, sich bewährend, die Bedinungen des politische Möglichen kennend und weise erwägend, zugleich aber ebenso mit dem Kopf hoch in den Wolken wahrer Tugend schwelgen und empathisch mitfühlen, mitleiden, miteinander leben – puh! Viel zu versöhnen für eine jede Epoche und jedes Menschenleben erst recht. Einfach mal vom Narren zum Magier werden, als Gruppe gar Menschehit den Kursus der Alchemie durchlaufen – Schwarz, Weiß, Rot, fertig ist der Tod!

Warum dabei naturalistisch fehlschließen, wenn man kurzerhand narrativ-normativ hochstapeln kann? Ausgehend von einer gesunden Basis aus Humanismus und positiver Psychologie landet Arendt letztlich dann doch bei der guten alten Wahrheit, um die es fast allen Philosophen (leider) am Ende ihrer Argumentation und ihres Lebens bestellt ist. Wahrheit findet sich auch bei ihr, ganz klassisch, außerhalb, vor und also jenseits des Menschen wieder, draußen in der weiten Welt, tranzendent entrückt. Aber eben nicht entrückt, denn ein Zipfel Wahres ragt hinein in die Immanenz, wird zum griffbereiten ethischen Strohhalm für die gute Form politischer Praxis und die eigene Parteinahme. Der Genuss der gemeinsamen Aktion lockt den politischen Aktionisten zum Handeln in der Gruppe, lässt ihn aber im Ideal nicht blind werden für die Widerstände seiner Um- und Mitwelt, fern von Herde und Heimat, und schult Geduld und Gelassenheit, Passion und Eifer gleichmaßen. Demütig zieht der politische Ideal-Soldat aus, die Wahrheit zu suchen, vor der er seine politische Aktion heiligen lassen kann. Und Gott segnete den Menschen und gab ihm die Erde mit all ihren Tieren und Pflanzen, Bergen und Flüßen, Wäldern, Wiesen und alle dem Leben darinnen zur Pflege und Obhut, überließ sein Schöpfung der Führung seiner geliebten Kinder, auf das sie sich seiner Aufgabe als würdig erweisen. Amen!

Wie sähe wohl die aktuelle Zwischenbilanz inpuncto Weltpolitik und bzgl. des erreichten Niveaus an Zivilisation und Fortschritt aus, das uns von Seiten welcher Wahrheitsintanz und ihrer Jünger auch immer ausgestellt werden würde? Oder was würde Frau Arendt zu Trump, Netanjahu, Putin, Erdogan und der arabischen Rasselbande sagen, wie fände sie wohl Frontex, Orban, AFD und Co. KG? Ich überlasse die Antwort großzügig Äther und Archiv, überlasse ihre Beantwortung der Globalgeschichte, aber vor allem der persönlichen, politischen Aktion wie nicht zuletzt sondern zuerst der öffentlichen philosophischen Reflexion – auf die Plätze fertig, Schluss aus!

Euer gottesunfürchtiger Kurz-Diskurser (mitten in) der Nacht, Satorius

Die erste Bilderfolge Quanzlands: K(l)eine Utopien in „Bone“ oder Neo-Bied feat. NRx


Nein, wie schön, alles so grün und vital – von wegen!

Dieses prächtige und authentisch-verwackelte Amateur-Video, vermutlich aufgenommen in der Heimstatt besagten Amateurs, wurde mir über die Metatext-Redaktion anonym zugespielt. Es ist daraufhin Anlass geworden, für diesen allusionsreichen, aber letztlich argumentativ viel zu anfänglichen Artikel über eine politisch-pikante Polarität. Dieses Spannungsfeld versteckt sich als reflexiver Abgrund unter und hinter der zunächst beschaulichen bis erbaulichen Fassade eines Terraristik-Heim-Videos; es verbirgt sich eine politisch-brisante Problematik hinter der konkreten Oberfläche. Eine vemeintlich zyklisch wiederkehrende Systematik historischen Ausmaßes kündigt sich schlussendlich an: Rückzug trifft Reaktion!

Beginnen wir am Anfang am Ende, zunächst also auf der schönen Oberfläche: Mit der allzu positiven und allzu unvermittelten Einladung einer hörbar wohlbehaltenen Stimme, die für ein unbestimmtes „Uns“ spricht und den Zuschauer einlädt, einen vermeintlichen realexistierenden Ort namens „Bone“ zu besuchen, was nuschelinduziert an „Bonn“ oder auch „Baun“ erinnern könnte, aber tatsächlich ungewiss bleibt, endet das ansonsten vermeintlich selbstevidente Video.

Das Ganze hier ist, nebenbei und metatextuell bemerkt, der erste Auftritt bewegter Bilder innerhalb der neuerlich auch katergoriell wieder sanft expandierenden Grenzen Quanzlands. Ein neues Medium manifestiert sich damit in unserer bunten und vielfältigen Zwischenwelt und bildet damit den Ursprung für eine neue Unterform des Formats Lichtrausch: die Bilderfolgen. Nicht einzelne, fokussierte Motive, sondern großzahlige Folgen von ca. dreißig, nicht bewusst wahrgenommenen Bildern pro wahrgenommener Sekunde Lebenszeit malgenommen mit der Länge der jeweiligen Folge laden ziemlich hochzahlig zu einer rasanten Serien-Variante des bisher so kontemplativen Lichtrausches ein.

Von diesem singulären, finalen Satz aus also, vielmehr von seinem einzigen semantisch-markanten Wort aus, von diesem Leuchtturm des Sinns her, lässt sich das komplette und inhaltlich sonst unterkomplex scheinende Stück erhellen, durchleuchten und damit in seinen letztlich zutiefst politischen Konsequenzen überhaupt erst verstehen: „Bone“ (Man beachte: kursiv & „Ausrufung“) bezeichnet hierbei in meiner Lesart gewissermaßen nur grammatikalisch-lexikalisch einen echten Ort. Denn dieser profunde Nicht-Ort existiert exakterweise in Form einer virtuellen Utopie und ist damit ontologisch-redaktionell gesehen bloß ein fiktionales Fragment von Quanzland; ein gebrochener Splitter reinster Hyperrealität herausgesprungen aus einer spährischen Blase von Lebenswelt; in der nunmehr ein obskures Cyberkonstrukt seine kristallinen Strukturen chronologisch in die Höhe zu schrauben, zu stapeln beginnt.

Vor allem aber bietet dieses ominöse bis mysteriöse „Bone“ ziemlich viel Leben einiges an Raum, schafft Lebensräume, so viel steht neben aller unötiger Posie ganz faktisch fest und ist für alles Weitere der leitende Impuls. Natur wird dort in diversen Lebensräumen kultiviert, gleichsam geschützt und gehegt, augenscheinlich umfassend umsorgt. Vermutlich von einem gütigen Hausherren, man könnte ihn einen Mäzen des Lebens nennen. Er herrscht, regiert und reguliert das pflanzliche und tierische Leben dort gemäß seiner Gesetze, zugleich stehend unter den komplementären Kategorien, den Idealen von Ökologie wie Ökonomie, wohl immerdar versuchend, eine optimale Synthese aus beidem zu erreichen. Dort in „Bone“ hat er ein echtes Idyll, ein Kleinod von Heimlichkeit und Heiterkeit geschaffen und dafür schlussendlich nüchtern-rhetorisch betrachtet schlicht einen echten Neologismus geprägt. Soweit meine erst aufwärmende An-Interpretation des Videos.

[Kommentar @ Metatext-Redaktion: Vorsicht und Verzeihung lieber Leser! – fortgesetzte Lesegefährdung durch den folgenden Nerd-Absatz nach bereits wiederholt erfolgter Prosa-Poesie-Attacke, die wir schon beinahe als „Lyrik-Alarm!“ klassifiziert hätten]

Für Freunde der lateinischen Sprache und neugierig Etymologen sei nebenbei hinzugefügt, dass es sich prinzipiell um den semantisch unmöglichen Lokativ des substantivierten Adjektivs „bonus“=“gut“ handelt. Soweit der Latein-Bedeutungs-Noob, der aber immerhin ein respektabler Kenner der grammatischen Strukturen ist; der vokablegestählte Bedeutungsforscher hingegen differenziert tiefergehend und entdeckt dabei erstaunt, dass „bouns“ nicht bloß adjektivsch schlicht „gut“ sondern vielmehr auch „brav, gütig, tauglich, tüchtig, nützlich, ehrenhaft etc. pp.“ bedeutet und überdies substantivisch noch soviel meint wie „Ehrenmann, Herr, Kavalier, reichere Leute“, also im Prinzip die Pratrizier im alten Rom bezeichnet haben dürfte.

Es geht also, etymologisch hinter den Neologismus geschaut, um einen kosmopolitisch organisierten Ort, der von guten Gesetzen, geschaffen von einem unsichtbaren Philosophen-König, weise und klug, regiert wird; überdies um eine Welt der natürlichen Tüchtigkeit und der Lebensleistung, wo Taugliche und Untaugliche in kleinen Habitaten artgerecht eingepfercht, wettkämpfend dort gehalten und gezüchtet werden. Einen Förderer des Lebens scheinen wir vor uns zu haben, stillt er doch jedenfalls die Grundbedürfnisse seiner Schutzbefohlenen und lässt überdies der Natur nur wo nötig und dann nur technisch, nach Gusto und Gutdünken ihren sonst so freien Lauf. Mal wird er wohl in seinem Handeln liberal sein, mal paternalistisch, immer irgendwie idealistisch und am Überleben des Habitats und seiner (Primär-)Bewohner interessiert. Gott gewordenen Gutmensch oder terraristschen Spießer könnte man ihn somit auch nennen. Genaueres wissen wir ja derzeit nicht über den Urheber des Videos, die unsichtbaren Hand, die an die Glasgefäße und die Play-Taste gelegt wurde. Wir kennen ja nur ihr Werk und können dabei ihre Präsenz bloß durch Schatten und Schöpfung hindurch, also höchst indirekt erahnen; müssen somit notwendig spekulieren, zum wem die Hand wohl gehört und welche Attribute dem Besitzer der Hand wohl zukommen, welche Ideale womöglich in seinem Kopf herumspucken und wodurch sein Handeln letztlich also beeinflusst wird. Viel Raum trifft auf wenig Substanz.

Theologisch gesprochen suchen wir die Eigenschaften Gottes; hoffen wir, dass wir beim Finden keinem Terrarien-Teufel auf dem Leim gegangen sein werden. Die Klassiker von Allmacht und Allwissen jedenfalls können wir schon mal demütig von der Liste der Attribute streichen. Dennoch kommt dem Halter von Heimtieren, insbesondere bezogen auf die Bewohnern solcher Habitate, eine derart große Macht zu, dass er praktisch relativ nah an Allmacht herankommt. Für die Geschöpfe, die arglos in ihren gläsernen Gefängnissen sitzen, spielt der Protagonist der Bilderfolge eine herausragende, lebensbestimmende Rolle. Er ist gewiss kein Gott, aber etwas konkret sehr Ähnliches ist er schon, eine Art transzendentes Wesen, das jenseits der Lebenswelt der Heimtiere wohnt, Wunder wirkt und seinen Schützlingen willkürlich gewährt und wieder entzieht.

Sollen wir hier netterweise, weil seine Schöpfung ja so hübsch anzuschauen ist, von einem kompetenten Herrscher, einem „tüchtigen Ehrenmann“ der Terraristik ausgehen? Ja das könnten wir, oder nein, das lassen wir, hinterfragen lieber kurz den thematischen Zusammenhang des Videos: Die Haltung (exotischer) Tiere und Pflanzen zu Hause. Denn wie kann sich ein tieferes, gar analytisches Verständnis unseres bewegten, bebilderten „Textes“ entfalten, ohne dass zuvor seine Inhalte thematisch erhellt wurden. Ohne ein wenigstens grundlegendes Vorwissen über die zu beurteilende Materie, das was der Fall ist also, kein legitimes Urteil. Ohne Verfahren und Beweise erscheinen weder Richter noch Angeklagter, noch Zeugen und Anwälte oder gar Polizisten und Henker auf unserer Bühne. Ohne einen vernünftigen Maßstab gibt es hier wie überall keinerlei Gut – ein fataler Eindruck, der tunlichst vermieden werden soll; weil banalerweise das Gute nur dann logisch überhaupt möglich ist, solange Hoffnung und Handlung auf Verbesserung zielen könnten.

Ist unser Halb-Gott mit Kamera nun „gut“ oder „böse“, ein Förderer des Lebens oder bloß ein machtbessener Teufel? Was verbirgt sicht unter der kitschig dekorativen Oberfläche dieser hübschen Heimtier-Oase; was also sind nun eigentlich Ideale und Werte einer „guten“ Terraristik; was also ist nötig, um solche schönen und sogenannten „Becken“ am Leben zu erhalten? Fragen, von deren Beantwortung her erst das nächste im Text verständlich werden wird. Denn die Sprungstelle zur hintergründigen, noch herbeizuführenden Politikdimension des zunächst harmlosen Hobbys erhellt sich argumentative erst ganz allmählich. Der Name des neuen Seiten-Themas deutet die dabei Problematik auch bestenfalls vage an: Lebensräume.

Glücklicherweise, und im Angesicht der Situation ein geradezu kosmisch-komischer Zufall, bin ich selbst Heimtierhalter von allerfrühesten Kindesbeinen an bis heute. Als langjähriger Pfleger von Säugetieren, Reptilien, Amphibien, Insekten und als Züchter diverser Algen, Bakterien, Pilzen und Pflanzen, vermag ich einiges zur Thematik beizusteuern, halte mich aber gerade deshalb maßvoll zurück – versprochen!

Meine Tiere und Pflanzen (dem Stil zuliebe diskriminiere ich den Rest der biologischen Systematik im Folgenden – Tschüss: Algen, Bakterien und insbesondere ihr armen Pilze!) ihrer nirgendwo verbrieften Persönlichkeitsrechte zu berauben, fiele mir persönlich zwar trotzdem nicht ein; ich danke dem Regisseur jedoch dafür, dass er sich für uns seine ethischen Fingerchen schmutzig gemacht hat. Dank ihm bekam ich den Anstoß zu diesem Artikel und beiläufig die Gelegenheit mich zu outen: Ja ich halte Heimtiere, betreibe und beherrsche selbst Lebensräume!

Das Prinzip eines Lebensraumes ist hierbei denkbar simple, wenn auch die Praxis schwierig; für jede Gattung, jede Art und Weise der Haltung beginnt sie mit einer z.T. sehr steilen Lernkurve (Aquaristik war zunächst z.B. meine Nemesis). Es geht also um viel Lebenszeit und Arbeitkraft in Form von Lektüre, Planung, handwerklicher Umsetzung, Wartung und Optimierung. Letztlich zählt dabei immer die einfache Formel: Kenne die Bedürfnisse deiner Pfleglinge, die primären wie Raum, Licht, Wärme, Luft, Nahrung, Wasserqualität ebenso wie die sekundären Bedürfnisse, die sehr teilweise sehr divers sein können, und erfülle sie immerdar bestmöglich. Das klar formulierte Ideal hierbei lautet: Immer mindestens so artgerecht wie nötig und maximal so wie ökonomisch und ökologisch möglich; denn jedes Haus hat begrenzten Raum und jeder Mensch ein limitiertes Budget. Daraus folgt für die Praxis, dass der Schwierigkeitsgrad eines jeden spezifischen Lebensraumes von den technischen und methodischen Anforderungen abhängt, die nötig sind, um seine Bewohner bedürfnis-zu-befriedigen. Der Schimmelpilz (Ha, getrickst!) unter’m Klo beispielsweise lebt Leichterhand, fast wie von selbst; das Multi-Habitat-Gesellschaftsbecken mit 10 Primärbewohnern, die von circa 20 weiteren Tierarten und ebensovielen Pflanzenarten begleitet werden, hingegen erfordert ein hohes Maß an Wissen und Wartung, einen ganzen Technikpark und jahrelange Erfahrung, zudem viel Baumaterial und im Betrieb Unmengen Subsistenzmittel und einiges an Energie. Vor allem aber wird es immer wieder vorkommen, dass harte Entscheidungen über Leben und Tod rational erwogen und emotional vor dem eigenen Gewissen verantwortet werden müssen. Es geht um Leben und Tod.

So weit, so klar, aber was tun, wenn die Komplexität der Lebensraum-Parameter zunimmt, die potentiellen Lösungsstrategien für immer wieder auftauchende Herausforderungen kontrovers sind oder es schlicht keine greifbare Evidenz oder profunde Vorerfahrung gibt – die prognostische Qualität bröckelt manchmal einfach dahin. Gute Entscheidungen jedoch berücksichtigen nicht nur alle relevanten Fakten und die Interessen der betroffenen Lebensform, vor allem müssen sie die Zukunft in den Blick nehmen und kalkulierbar, kontrollierbar machen. Dabei hilft und orientiert ein wenig die Vergangenheit, hilft ein wenig die Erfahrung, aber ein lebensbedrohliches Risiko bleibt notwendig ständig bestehen. Leben ist also bedroht.

Das Offene und Unbestimmte des Werdens lässt sich also weder beim Betreiben häuslicher Lebensräume aufheben, tendenzielle Laborbedingung hin oder her; noch vermag selbst ein idealer Betrieb des großen, menschlichen Lebensraumes, einer ganzen Gesellschaft gar oder sogar das globale Treiben der Menschheit dieses konstitutive Merkmal von Herrschaft und Politik aufzuheben. Ob eine dbzgl. Entscheidung also „gut“ oder nur „richtig“ ist, kann bisweilen bloß retrospektiv und somit selten eindeutig aus der Gegenwart heraus entscheiden werden. Zumal sich Werte und Emotionen, ideologische Blockaden und partielle Interessen als weitere Zumutungen in die sprachliche Gleichung einschreiben. Im Übergang vom Kleinen zum Großen, vom Hobby zur Politik, potenzieren sich die Widerstände und Komplexitäten. Denn wo sich die Heimtiere und Pflanzen in relativ geschlossenen Räumen effizient und diktatorisch regulieren lassen, da ist der mündige Mensch und ist die weite Welt eine unvergleichlich andere Herausforderung an Lebensraum-Politik, an Biomacht, um mit Foucault zu sprechen. Beiden Formen der Herrschaft geht es zuallererst um eine günstige und bestenfalls gütige Regulation von Lebensräumen und ihren Lebewesen, um das Über-Leben beider zu sichern. Hier wie dort ist Präzedenz in der Entscheidung eine seltene Angelegenheit, sind Fakten häufig nicht zweifelsfrei objektiv und Fiktionen nicht einheitlich intersubjektiv vermittelbar. Deshalb, trotz aller konkreten Differenz in Qualität und vor allem Quantität, taugen Terrarium, Aquarium, Paludarium und dergleichen mehr als Miniatur-Modelle für  bio-politische Dynamiken und deren Konzeption. Fortpflanzung, Nahrungsaufnahme, Gesundheit sind in beiden Kontexten bedeutsame (Be-)Handlungsfelder, die es zu kontrollieren und zu prognostizieren gilt, will man hierbei erfolgreich sein. Jedoch reicht die Analogiebildung nicht allzu weit, sprengen also bereits nur wenig höhere und zivilisatorisch feinere Domänen von Politik wie z.B. Wirtschaft, Wissenschaft und Diplomatie den Vergleich der beiden Welten.

Dennoch: Wer als terraristischer Autokrat auf der einen oder als wenig bis stark demokratisch legitimierter Souverän (Führer, König, Kanzler, Parteivorsitzender, Minister, Präsident oder wie auch immer betitelt) auf der anderen Seite die Leitung eines Lebensraumes übernimmt, muss Macht auf Lebewesen ausüben. Schlimmstenfalls bedeutet dies, in die Rolle eines hoffentlich immerhin utilitaristisch motivierten Massenmörders zu schlüpfen. Dann werden Leichterhand der Stabilität oder schlimmer noch der Bequemlichkeit wegen invasive Lebensformen dezimiert oder ganz eliminiert, werden schweren Herzens sekundäre Bewohner zugunsten von primären geopfert und letztlich wird als Ultima Ratio sogar die gutwillige Zerstörung und freiwillige Neuerschaffung eines Lebensraumes, die Apokalypse einer ganzen Welt billigend in Kauf genommen. Frei nach dem kalten reuelosen Optimierungscredo: Schluss jetzt damit; und nochmal von vorne – jetzt aber bitte richtig!

Biopolitik also, das weiß ich als leidgeprüfter Patron von Heimtieren und -pflanzen, ist ein schmutziges Geschäft, wobei Ethik und Edelmut gleichzeitig von Effektivität und Effizienz sowie von Eitelkeit und Eigensinn eingeschränkt werden. In jedem Fall findet eine Form der bewussten oder natürlich-blinden Selektion statt, werden die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen geworfen. Denn auch im gutbürgerlichen Glasskasten tobt, aller Rundumversorgung zum Hohn, eine selektive Schlacht ums Überleben.

Inwieweit nun die Lebensräume im einschlägigen Bewegtbild diesen Idealen genügen oder nicht, kann ich zwar so besehen nur erahnen, glaube aber, den Anspruch der Artgerechtheit erblickt zu haben. Ob und wie weit dieser Anspruch tagtäglich erfüllt und somit geheiligt wird, weiß nur der biopolitische Lebensraum-Halbgott selbst zu sagen; wenn das überhaupt jemand exakt zu sagen vermag. Denn nur wenn Natur und ihre Systematik vollständig verstanden und modellierte worden sind, werden die Kriterien und Bedingungen einer total artgerechten Natursimulation zweifelsfrei ermessen worden sein. So lange das aussteht, bleibt dem ambitionierten Biopolitiker dreierlei zu tun übrig: stete Wachsamkeit, kompetente Pflichterfüllung und besonnenes Eingreifen.

Lebensräume bedürfen, wie jedes andere Hobby, wie jede Form existenzieller Praxis überhaupt, vor allem auch dreierlei: Investition, Aufmerksamkeit und insbesondere Zeit. Womit wir uns nach dem ersten politisch-finsteren Tal der Biopolitik einem zweiten Polit-Abgrund nähern: dem Rückzug ins private Idyll oder der sog. Politikverdrossenheit.

Frustriert von der Komplexität des Systems, der empfundenen Ineffektivität politischer Teilhabe und dem Mär vom alternativlosen Automatismus der Tagespolitk zieht man sich sich sukzessive aus der politischen Öffentlichkeit zurück, man diskutiert und demonstriert nicht mehr, deliberiert und  debattiert nicht mehr und überlässt das tunlichst und gefälligst den Anderen, schlimmestenfalls den bösen Politikern. Wenn sich solcherart die Bürger in ihrem alltäglichen Leben nicht mehr für ihre politischen Belange, die gesamte Gesellschaft und die sie formierenden Regeln und Prozesse interessieren, wird aus vermittelter Selbstherrrschaft zunehmend Fremdherrschaft; aus einer ursprünglichen Demokratie ein andere „…-kratie“.

Ein vermeintlich ewig wiederkehrender Kreislauf vollzieht sich, das Rad der politischen Zeit beginnt sich von neuem zu drehen und historische Veränderungen liegen in der Luft. Klassischerweise dargestellt bei Aristoteles, dem Urvater der politischen Philosophie (erweitert um sein modernes Google/Wiki-Simulakrum), klingt die Reflexion auf dieses Phänomen dergestalt an:

Anzahl der Herrscher Gemeinwohl Eigennutz
Einer(-Wenige) Monarchie Tyrannis
Einige(-Viele) Aristokratie Oligarchie
Alle Politie Demokratie

Derzeit herrscht wohl lokal irgendwas in Richtung von Oligarichie/Demokratie bzw. Aristokratie/Politie, je nach dem, ob Optimismus oder Pessimismus beim einem vorherrschen; oder in ein paar anderen, moderner klingenden Worten: Technokratie, Infokratie und Bürokratie, alles gründlich ökonomisch („kapitalistisch“) eingefärbt. Ganz offiziell besteht eine freiheitlich-demokratische und soziale, rechtsstaatliche und föderale „Bundesrepublik“. Viele Worte, aber wer kennt sie alle schon ganz und gar, weiß exakt, was sie bedeuten sollen; selbst nach Schule und Studium der Materie bleibt ein großer Gedankenraum für Subjektivität übrig. Zumal global gesehen  sowieso die absonderlichsten Permutationen regieren. Es herrschen „X-Kratien“. 

Hinzu kommt, dass laut Aristoteles und vieler seiner namenhaften Fans in der historischen Rezeption, also quer und längs durch in Epochen und Traditoinen der Geistesgeschichte Geschichte an sich als zyklisch gedacht wurde und wird. Es dreht sich also das Rad der Regierungsformen munter und unablässig weiter, ohne dabei je etwas wirklich anderes, so etwas wie echten historischen Fortschritt hervorzubringen – so die Denkart. Eine erzkonservative Vorstellung, die der Pendellogik der meisten modernen Demokratien mit ihrem effektiven Zweiersystem (Links gegen Rechts, bürgerliches Lager vs. sozial(istisch)e Partei, konservative contra progressive Politik) auf fatale Art zu ähneln scheint. Hier ändert die Regierungspartei/-koalititon binär ihren Namen, dort gibt es echte, aber systematische enge Abwechslung; hier scheinbar nur den Wechsel zwischen 0 oder 1 – böse Zugen sprechen sogar aus diversen Gründen (ewige Mitte, politische Ökonomie, wahlfixierter Aktionismus etc.) von dauerhaftem 0,5 -, dort klar klassifizierte Wertebereiche zwischen 0 und 1. Genug der metaphorischen Zahlenanalogie, denn wie dem im analytischen Detail auch immer sei, auch Geschichte lebt: Überall enstehen neue Formen und Varianten des Neuen aus dem Alten, passen sich Mensch und System jeweils veränderten Bedingungen an.

Klar ist: Geschichte permutiert ständig und eventuell gibt es dabei gewisse Grundtypen oder Muster, eine Art politischer Attraktor. Die Zeit jedenfalls ist im Fluß; und wir schwimmen darin oder sitzen bestenfalls mit anderen zusammen in einem kleineren oder größeren Boot; suchen Halt und gründen Familien, Dörfer, Länder bilden Rudel, Herden, Nationen und erfinden Religionen, Ideologien, Strukturen; letztlich vermischt sich sowies wieder alles und mündet in das harmlose Abstraktum: Gesellschaft. Die meisten von uns sitzen also durch Geburt zufällig in dem einen oder anderen der Boote, sind Teil der einen ode anderen Gesellschaft, je nach Charakter und Situation um die Strömungen und Turbulenzen der Historie wissend oder sie geflissentliche ignorierend. Aber jedes Boot, externe Strömungsdynamik hin oder her, wird gesteuert. Es bewegt willentlich, ändert seine Position in einem schwierigen Terrain; weiß nicht, was kommt, was hinter der nächsten Biegung, des Flußes seiner nächsten Eng-, Sprung- und/oder Flachstelle auf ihn zukommt. Fluß oder Ozean, Werden oder Sein, in jedem Fall wird navigiert und das tun immer: Der Menschen.

Denn die tolldreiste, simple-reduzierende Metaphern-Genealogie der sozial-historischen Wirklichkeit führt uns zum Wesenskern der Bildfolgen-Analyse zuück; zur politischen Praxis und der ganz konkreten Frage: Reagieren oder relaxen, ein unklares Verhältnis, ein bisschen von beidem, oder keines – wie die Logik uns gnadenlos und klar gebietet. Oder nicht?!

Bevor ich hier am Ende der Analyse eines schönden Heimvideos, des davon ausgelösten, assoziativ-argumentativen Roadtrips unter die Oberfläche des Phänomens, hin zur Oberfläche der (Bio-)Politik, nun auch noch anfange spekulativ frei zu drehen, zu sinnieren, zu fabulieren, zu explodieren, beende ich die Gedankenkette lieber abrupt mit einem doppelten Text-Fast-Food hinter dessen wiederum eigener Oberfläche sich ganz eigene Abgründe auftun würden.

Das Lager des Reagierens vertritt hierbei historisch konkret eine obskure Ideologie, die sog. Neoreaction oder NRx. Primär im Angelsächsischen verwurzelt ähnelt dieses Amalgam aus Monarchie, Markt und Science-Fiction der Art der Regierungsführung bei unseren lieben Lebensräumen. Mit Hilfe von Technik reguliert ein guter Vater, KI und/oder CEO, den Lebensraum optimal und effizient – Qualityland!

Die Adepten des Relaxens enden schließlich exemplarisch im Neo-Biedermeier, betrieben die extravagantesten Freizeitkativitäten, zerstreuen und optimieren sich unsterschiedlichst: bloggen, bauen Lebensräume, erlernen alte und erfinden neue Handwerke, betreiben krasse Sportarten und reisen pauschal bis abenteuerlich individuell, ernähren sich bewusst vegan bis ohnmächtig industriell. Neo-Bied ist überall und droht, in der wirklichen Lebenswelt noch weniger, wie es in der digitalen Technik-Blase mit ihren autistischen Tendenzen lockt – Stichwort: MEINE Virtualität. Umgeben sind wir von einem Wirr-Warr an Produkten und Dienstleistungen, Netzwerken und Plattformen, Freunden und Folllowern. Wir leben dort, wo sich permanent alles Mögliche ereignet, und existieren dann, wann sich mit nur einem Klick respektive Tap alles permanent warenförmig verwirklichen lässt – hierbei rhetorisch-polemisch mal eine perverse bis paradoxe Ressourcenvielfalt angenommen: Viel hart erarbeitetes Gehalt ausgeben in einer zugleich und zeitgleich stattfindenden, üppigen wie erholsamen Freizeit. Ein klassisches Dilemma wiederholt sich: Leben um zu arbeiten und arbeiten um zu leben.

Fatal wäre es definitiv, nicht das dies auf breiter Front drohte, würden politikverdrossener Freizeitjünger und (progressiv-)reaktionärer Technonerd politisch zusammenkommen. Den einen interessiert die Politik nicht, der andere sieht die Geschicke der Gesellschaft gern in den Händen einer guten Hierarchie, den Fängen eines weisen Oberhauptes demütig übereignet. Viel Spaß also mit: Neo-Bied feat. NRx!

Your high-quantity, divers-quality Content-Blogger, Satorius


Neo-Bied (Neo-Biedermeier)

Gerne bezeichnet man das aktuelle Zeitalter als Neo-Biedermeier, was auch zutrifft, beschränkt man den Begriff auf einen Rückzug ins Private. Doch die Zeitgenossen des historischen Biedermeier waren immerhin nur Untertanen, die sich ins erzwungene Schweigen schickten und Blumenbilder malten, statt Bajonette gegen die Paläste zu richten. Die jetzigen Biedermeier dagegen sitzen mit in den Palastkanzleien, verwalten die Unterdrückung und spekulieren darauf, ihren Clan dort zu halten, wenn sie Blumenbilder ins iPad malen. Die historischen Biedermeier versuchten auch nicht, sich durch Charity-Spenden und organische Produktion von ihrer Mitschuld freizukaufen. Sie hatten ihre irren Despoten wenigstens nicht gewählt, sondern waren ihnen ausgeliefert.

Leo Fischer (1981 – ), Neo-Biedermeier (https://www.neues-deutschland.de/artikel/1050869.neo-biedermeier.html, zuletzt: 18.06.18)


NRx (Neo-Reaction)

Reading Moldbug is like listening to somebody who informs you of his plan to take care of the termites by burning his mansion down and then starts romanticizing life in a log cabin despite never having lived in one.

But then Moldbug, unlike a lot of his followers, doesn’t want to move into the log cabin, even if he’d take it over his current digs. So what’s the actual prescription?

It’s this: Democratic governments will be replaced with sovereign joint-stock corporations, their shares to be owned perhaps but not necessarily by property holders or residents of the realm. The shareholders will elect an executive, who will have plenary authority to rule as he wishes, kill as he wishes, enslave as he wishes, etc. But he won’t do such nasty things, because it would be simply incompetent. The corporation gets its income from property taxes; subjects of the realm may leave whenever they wish; and so genocide will be terrible for business. Should the executive prove to be incompetent, the shareholders may string him up at will and replace him with someone abler.

Jason Lee Steorts, Politics & Policy: Against Mencius Moldbug’s ‘Neoreaction’ (June 5, 2017; https://www.nationalreview.com/2017/06/problems-mencius-moldbug-neoreaction/, zuletzt: 18.06.18)


Link-Sammlung zu Neo-Bied:

  1. https://de.wikipedia.org/wiki/Biedermeier (Übersicht zur namensgebenden, historischen Epoche)
  2. http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesellschaft-rueckkehr-des-biedermeier-138495.html (Zeitdiagnostisches Exempel, zufällig dem sog. Qualitätsjournalismus entnommen)
  3. https://www.pinterest.de/pin/362539838727116043/ (Bunte Vielfalt eines biederen bis paternalistischen Hobbys)

Link-Sammlung zu NRx:

  1. http://neoreaction.net/ (Primäre Plattform der brisanten Bewegung)
  2. http://unqualified-reservations.blogspot.com/ (Kontext des TFF und somit programmatischer Primärtext)
  3. http://slatestarcodex.com/2013/10/20/the-anti-reactionary-faq/ (Sekundärer Überblick, der beginnende Viralität belegt)

Von Zauberbergen, Sitzenbleiben und der Borderline zwischen Olymp und Hades

Es ist wie auf dem Gymnasium, wenn es entschieden war, daß man sitzen blieb und nicht mehr gefragt wurde und nichts mehr zu tun brauchte. Zu diesem glücklichen Zustand bin ich nun endgültig wieder gediehen. Ich brauche nichts mehr zu tun, ich komme nicht mehr in Betracht, ich lache über das Ganze. Wollen Sie Schokolade? Bedienen Sie sich! Nein, Sie berauben mich nicht, ich habe massenweise Schokolade auf meinem Zimmer. Acht Bonbonnieren, fünf Tafeln Gala-Peter und vier Pfund Lindtschokolade habe ich da oben, – das alles haben die Damen des Sanatoriums mir während meiner Lungenentzündung zustellen lassen . . .« Irgendwoher gebot eine Baßstimme Ruhe. Herr Albin lachte kurz auf, – es war ein flatternd-abgerissenes Lachen. Dann ward es still in der Liegehalle, so still, als sei ein Traum oder Spuk zerstoben; und sonderbar klangen die gesprochenen Worte im Schweigen nach. Hans Castorp lauschte ihnen, bis sie völlig erstorben waren, und obwohl ihm unbestimmt schien, als ob Herr Albin ein Laffe sei, so konnte er sich doch nicht eines gewissen Neides auf ihn erwehren. Namentlich jenes dem Schulleben entnommene Gleichnis hatte ihm Eindruck gemacht, denn er selbst war ja in Untersekunda sitzengeblieben, und er erinnerte sich wohl des etwas schimpflichen, aber humoristischen, angenehm verwahrlosten Zustandes, dessen er genossen hatte, als er im vierten Quartal das Rennen aufgegeben und »über das Ganze« hatte lachen können. Da seine Betrachtungen dumpf und verworren waren, so ist es schwer, sie zu präzisieren. Hauptsäch- lich schien ihm, daß die Ehre bedeutende Vorteile für sich habe, aber die Schande nicht minder, ja, daß die Vorteile der letzteren geradezu grenzenloser Art seien. Und indem er sich probeweise in Herrn Albins Zustand versetzte und sich vergegenwärtigte, wie es sein müsse, wenn man endgültig des Druckes der Ehre ledig war und auf immer die bodenlosen Vorteile der Schande genoß, erschreckte den jungen Mann ein Gefühl von wüster Süßigkeit, das sein Herz vorübergehend zu noch hastigerem Schlage erregte.

 

Thomas Mann (1875 – 1955), Der Zauberberg, S.116f. (1924)


Während unterdessen ein zweiter größerer Artikel rund um die „Diskurse der Nacht“ und das noch inhaltslos neue Thema „Lebensräume“ in der Mache ist, habe ich das Bedürfnis nach Zerstreuung in einem fiktionalen Kleinod. Namentlich habe ich mich seit ein paar Wochen in ein skurriles Sanatorium in den Davoser Alpen verirrt. Bisweilen geht es dort langatmig, anspruchsvoll und spannungsarm zu, dann aber faszinieren mich illustere Persönlichkeiten und philosophische Anwandlungen doch wieder so sehr, dass ich mich weiter des Weges bis zur beinahe 1000. Seite des monumentalen Romans von Thomas Mann mache.

In obigem Auszug geht ein lebensüberdrüssiger Dandy (sog. „Laffe“) auf seiner ganz persönlichen Borderline zwischen Leben und Ableben, regt damit die Sanatoriumsgesellschaft insgesamt und den bisher recht voyeuristisch gehaltenen Protagonisten Hans Castorp zu Refelxionen über Ehre und Schande an, denen ich nur zustimmen kann. Ich bin zwar selbst nie sitzengeblieben, konnte mich aber auf meine Weise frühzeitig vom Joch der Ehre befreien und genieße seither die eine oder andere „wüste Süßigkeit“.

Ob dieser Lebensstil, wie oben zu lesen, notwendig zu einem „Russischen Roulette“ mit dem Tod als Spielleiter bzw. Mitspieler werden muss, wage ich zwar zu bezweifeln; dennoch glaube auch ich, dass ein sanftes Abstand nehmen vom Selbst den Menschen entlastet; eine milde Distanzierung vom Guten wie vom Bösen wenigstens das Denken befreit; ein tendenzielles Aufgeben von Kontrolle und Herrschaft über Geist und Körper das Bewusstsein transzendiert. Ich stimme also in Anbetracht aller Konsequenzen und in Manns/Castorps Worten der These vom Verzicht auf Ehre zugunsten von schandvollem Genuss grundsätzlich zu.

Denn schon die alten Griechen wussten um die Nützlichkeit und Bedeutsamkeit von Fest, Rausch und Exzess als einer sehr simplen, individuell unanstrengenden Sozialtechnik. Die jährlichen Dionysien waren sicher auch nicht zufällig die Geburtsstunde des klassischen Theaters, denn wer Ehre fahren lässt, wird nicht nur verzückt, sondern zumeist auch fantasievoller als seine nüchternen Mitbürger. Ohne Aristoteles‘ „Goldene Mitte“ oder Epikurs „kluges Maß“ jedoch, soviel gestehe auch ich zu, endet schandvoller Hedonismus früher oder später vor den Toren des Hades, also nicht am Fuße des Olymps oder in den Armen der Musen.

Euer musisch-maßvoller Hedonist und Freund der Schande, Satorius

Russels Gute-Nacht-Geschichte: Mit vier Stunden ins Glück

Wenn auf Erden niemand mehr gezwungen wäre, mehr als vier Stunden täglich zu arbeiten, würde jeder Wissbegierige seinen wissenschaftlichen Neigungen nachgehen können und jeder Maler könnte malen, ohne dabei zu verhungern, und wenn seine Bilder noch so gut wären. Junge Schriftsteller brauchten nicht durch sensationelle Reißer auf sich aufmerksam zu machen, um wirtschaftlich so unabhängig zu werden, dass sie die monumentalen Werke schaffen können, für die sie heute, wenn sie so weit gekommen sind, gar keinen Sinn und keine Kraft mehr haben. Menschen, die sich als Fachleute für eine besondere wirtschafts- oder staatspolitische Phase interessieren, werden ihre Ideen entwickeln können, ohne dabei im luftleeren akademischen Raum zu schweben, was der Arbeit der Volkswirtschaftler an den Universitäten so häufig einen wirklichkeitsfremden Anstrich gibt. Die Ärzte werden Zeit haben, sich mit den Fortschritten auf medizinischem Gebiet vertraut zu machen, die Lehrer werden sich nicht mehr erbittert bemühen müssen, mit routinemäßigen Methoden Dinge zu lehren, die sie in ihrer Jugend gelernt und die sich in der Zwischenzeit vielleicht als falsch erwiesen haben.

 

Vor allem aber wird es wieder Glück und Lebensfreude geben, statt der nervösen Gereiztheit, Übermüdung und schlechten Verdauung. Man wird genug arbeiten, um die Muse genießen zu können, und doch nicht bis zur Erschöpfung arbeiten müssen. Wenn die Menschen nicht mehr müde in ihre Freizeit hineingehen, dann wird es sie auch bald nicht mehr nach passiver und geistloser Unterhaltung verlangen.

 

Bertrand Russell (1872 – 1970), Lob des Müßiggangs, S.30f (1957)


All human activity is prompted by desire.

[…]

The desires that are politically important may be divided into a primary and a secondary group. In the primary group come the necessities of life: food and shelter and clothing.

[…]

But other desires kept them [@Satorius: „the humans“ as a spices are driven by those „infinite“, secondary desires, and are moreover led by passions like excitement, hate and fear] active: four in particular, which we can label acquisitiveness, rivalry, vanity, and love of power.

[…]

I think every big town should contain artificial waterfalls that people could descend in very fragile canoes, and they should contain bathing pools full of mechanical sharks. Any person found advocating a preventive war should be condemned to two hours a day with these ingenious monsters. More seriously, pains should be taken to provide constructive outlets for the love of excitement. Nothing in the world is more exciting than a moment of sudden discovery or invention, and many more people are capable of experiencing such moments than is sometimes thought.

 

Interwoven with many other political motives are two closely related passions to which human beings are regrettably prone: I mean fear and hate.

[…]

You might regard Mother Nature in general as your enemy, and envisage human life as a struggle to get the better of Mother Nature. If men viewed life in this way, cooperation of the whole human race would become easy. But schools are out to teach patriotism; newspapers are out to stir up excitement; and politicians are out to get re-elected. None of the three, therefore, can do anything towards saving the human race from reciprocal suicide.

[…]

You may have been feeling that I have allowed only for bad motives, or, at best, such as are ethically neutral. I am afraid they are, as a rule, more powerful than more altruistic motives, but I do not deny that altruistic motives exist, and may, on occasion, be effective.

[…]

I would say, in conclusion, that if what I have said is right, the main thing needed to make the world happy is intelligence. And this, after all, is an optimistic conclusion, because intelligence is a thing that can be fostered by known methods of education.

 

Bertrand Russell (1872 – 1970), Nobel Lecture – What Desires Are Politically Important? (Stockholm: 11.12.1950; Link zum Volltext)



Hört, hört – gut gebrüllt Herr Philosoph!

Diesen beiden klaren wie bissigen Analysen eines weisen wie spöttischen Mannes möchte ich sofort schlicht und unkritisch zustimmen. Das aber scheitert ebenso rasch und so frage ich mich unweigerlich, beinahe noch reflexartig: Ja, aber…?! Warum kann etwas so Offensichtliches so offen und unverblümt ignoriert werden? Wie kann man, können wir als arbeitende Bürger, also zugleich als potentielles Opfer und potentieller Überwinder, derart demütig einen zivilisatorischen Zustand erdulden oder zumindest versiert verdrängen, vielleicht sogar selbstverleugnend gutheißen? Ist nicht die Wirklichkeit unserer (wirtschaftlichen) Welt weit komplexer, nicht so simpel zu abstrahieren und zu kritisieren, die Lösung damit doch nicht so trivial – 4 Stunden? Oder vielleicht – flüstert ungefragt die zischende Stimme des fatalistischen Verschwörungstheoretikers suggestiv fragend aus den dunklen Regionen des Großhirns – sind SIE so mächtig, kompetent und effizient, dass diese zählbaren Wenigen leichterhand die unzähligen Vielen manipulieren und letztlich kontrollieren können?

Stop! – genug wild und gefährlich gefragt und überhaupt: SIE?! Zudem kann jede echte Antwort, insbesondere eine, die als gelebte Konsequenz nicht weniger als echten Mut darstellt, mit spitzfindigen bis stumpfen Fragenkaskaden aus dem existenziellen Off heraus besudelt werden. Dabei steckt in Russells zwei ausdrücklichen Antworten politisches Potential für unsere (zukünftige) Zeit, zeugen seine beiden betrachteten Texte zudem zugleich von Klar-, Weit- und Hellsicht. Er beschreibt geradezu prophetisch die Tendenzen, die den persönlichen Alltag vermutlich vieler und die politische Praxis sicherlich fast aller Bürger in (kapitalistischen Post-)Demokratien auch im 21. Jahrhundert noch immer prägen: Multiple Vertrauenskrise, insbesondere gegenüber Politiker, Journalist, Lehrer und Wissenschaftler (Priester sind immerhin raus; Bänker/Manager bisweilen drin; aber man ist ja so vergesslich dieser Tage), die Liebe zur Macht, heftige Ökonomisierung, Rivalität, (Selbst-)Ausbeutung, Entfremdung, Habgier, Zerstreuung(s-Sucht), Furcht (nunmehr vor Terrorismus und etwas weniger vor verfeindeten Ideologien) sowie Hass und Eitelkeit. Diesem durchaus biblisch klingenden Heer aus Dämonen gesellen sich einige für Russell notwendig unbekannte Bonus-Monster (bspw. Populismus und Renationalisierung, Klimawandel und Ressourcenpeaks, Globalisierung und Konsumismus) hinzu und gemeinsam trotzt das Pack den bereits erkämpften zivilisatorischen Errungenschaften; vereint attackieren diese Teufel all die unschätzbar wertvollen Annehmlichkeiten unserer Lebenswelt, von denen regulierte Arbeit, politische Teilhabe, Kultur und Kommunikation sowie weitreichende Selbstbestimmung und (innere wie äußere) Sicherheit nur die im Zitat thematischen Güter einer langen Liste an historischen Errungenschaft sind.

Aber vor allem untersucht Bertrand Russell in seiner Rede und in seinem Werk auf einer breiten Basis von (Geistes-)Wissenschaften (Psychologie, Soziologie, Politik und Pädagogik, meine ich gewittert zu haben, wobei Mathematik, Philosophie und Logik sicher unterstützen) die positiven Möglichkeiten, der dunklen Seite der Geschichte entgegenzuwirken, ist also tatsächlich mutig und wagt den politischen Entwurf: In der Tradition von Humanismus und Aufklärung stehend und vom Sozialismus verführt, psychologisiert Russell zunächst wie gelesen und kommt dabei letztlich zu dem Schluss, dass Erziehung und Bildung sowie eine daraufhin ausgerichtete Neuorientierung von Schule, (medialer) Öffentlichkeit und Politik den weiteren Weg der (Post-)Moderne anleiten sollen.

Dass dabei die Ökonomie bestenfalls zweitrangig ist und somit im Bruch mit Marx eine ökonomische Politik angenommen wird, werte ich mal als inhaltlichen Kompromiss zwischen Idealismus und Pragmatismus; zumal die Folgerungen ähnlich, wenn auch gewaltloser ausfallen als noch bei Marx: Reform vs. Revolution – der ewige Zwist. Wie dem auch sei, auch in einer Welt des Diktats durch Kapitalien bleibt Bezugspunkt jeder konkreten Utopie notwendig der Mensch, mithin also das Dilemma von Menschheit und Mensch, Kollektiv und Individuum, Phylogenese und Ontogenese. In diesem Hinblick sieht Russell den Fortgang der Menschheit dann gewährleistet, wenn die Entwicklung des Menschen durch Erziehung und Sozialisation über (Schul-)Bildung hin zu adulter Autonomie führt und schließlich im (utopischen) Ziel der Russellschen Argumentation kulminiert: Intelligenz!

Ergo setzt er mit seiner Strategie dort an, wo ernstliche Widerstände der hurtigen Herausbildung von Intelligenz im Wege stehen und fordert deshalb, den (beruflichen) Alltag so umzugestalten, dass wir allesamt wieder Lust an intrinsisch motivierter Selbstvervollkommnung bekommen, überhaupt nur wieder bekommen können. Denn nur wer lustvoll lernt statt kunstvoll zu konsumieren oder angestrengend zu arbeiten, schult seine Intelligenz – kontinuierliches Denken macht halt (leider) einzig klug. Indem wir höchst hypothetisch mit nur noch vier Stunden entschieden weniger arbeiten und damit mehr Freizeit haben, kann ein jeder diesseits und jenseits von Schulen und Universitäten seine Talente entdecken und entwickeln – spielerisch, ohne Hast, Druck und Stress. In Teilzeit, satt und zufrieden wird der befreite Mensch auch nicht mehr so sehr vom Bedürfnis nach Rausch und Zerstreuung geplagt – so zumindest Russell, wohingegen ich da anderer Ansicht bin.

Eingerahmt und bewirkt wird die simple Maßnahme, die Arbeitszeit generell auf vier (oder weniger) Stunden zu begrenzen, was wohl nicht nur zufällig mit den von Marx seinerzeit errechneten vier Stunden an notwendiger Arbeit gepaart wurde, von einer ganz besonderen Politik. Denn die von Russell präferierten Maßnahmen und Konzepte erzeugen bei mir eine recht kunterbunte Liste an Attributen: Humanistisch, aufklärerischen, sozialistischen, liberal, demokratisch, Politik und einem sicherheitspolitischen Geflecht aus Institutionen, deren Wirken den analysierten (Grund-)Bedürfnissen, Motiven und Leidenschaften des Mängel- und Gängelwesens Mensch Rechnung trägt. Heißt so viel wie: Wir verkappten Jäger können uns austoben, Sex haben, kämpfen, tanzen und was wir sonst so wollen, wobei uns gemäß Russell Wissenschaft und Technik schon effektiv weiterhelfen und gewähren dem Naturwesen qua sozial reibungsfreiem Triebleben sozialen und globalen Frieden.

All diese Schritte führen laut Russell letztlich beim befriedigten sowie hochgebildeten Individuum zu einer erwarteten Einsicht, die übrigens seinerzeit zu seinem Leidwesen von den sog. Moralisten als eigennützig („selfish“) gebrandmarkt wurde, dass es rational betrachtet am vernünftigsten ist, jenseits von partiellen Gruppendynamiken immer auf die größtmögliche Gruppe und sein Handeln auf ihre Interessen auszurichten. Denke also nicht an deinen kleinen Klan, sondern an die ganze Gattung und ihre Probleme, was konkret bedeutet: die Menschheit und insbesondere ihren globalen Kampf mit der Natur. Dieser gemeinsame Kampf, Kooperation insgesamt speist sich ihrerseits aus positiven, im Text nur relativ kurz angesprochenen Aspekten psychologischer Anthropologie: Altruismus, Mitleid und die zentrale Intelligenz. Wenn die Menschen also nur glücklich sind, alle Bedürfnisse von Staat und Wirtschaft befriedigt werden und ihrem naturgegeben Schatten politisch Rechnung getragen wird, dann herrschen Solidarität, Kooperation, Frieden und bringen Arbeit, Kultur, Wissenschaft zum erblühen. Am Ende der hier höchstens angedeuteten Utopielogik steht dann ein ideales „Parlament der gebildeten Egoisten“, das die Welt der Menschheit im allgemeinen und den Menschen, also sich selbst, im besonderen verwaltet und regiert. Diese demokratische bis republikanische Herrschaftsform steht unter einer angenommen, aber unangenehm unklaren, irgendwie monistisch imaginierten Perspektive von Gemeinwohl und vervollkommnet die Geschichte auf europäische Art – well done, Bingo, et voilà!

Utilitarismus und Liberalismus, Demokratie und Sozialismus mal eben szientifisch grundiert und flux vereint, schön harmonisch konvergiert, fast ohne alle die Dialektiken und Widersprüche. Das funktioniert so leicht, weil nämlich das Naturwesen Mensch technologisch und bildnerisch absolut in sich versöhnt wird und sich selbstbestimmt wie sozialverträglich perfektioniert. Der Rest ist unsere Geschichte geworden und von heutiger Warte hat sich einiges positiv in Richtung der Russellschen Ideale entwickelt; ebenso sind aber einige seiner dystopischen Negationen weiterhin wahr und überdies selbstverständlich auch vieles Singuläres, Unerwartetes passiert. Netterweise will ich hiermit nur grob zusammenfassend und vage angedeutet Kritik an der Russellschen Position üben, die in Hinblick auf ihren naiven Positivismus, ihre Vagheit (ist womöglich dem Medium geschuldet), die massiver Unterschätzung von Ökonomie und der (für ihn unvorhersehbar sogar digital und viral gewordenen) Kapital-Globalisierung einige offene Flanken böte.

Zurück also zum Positiven, nunmehr zu den Gelegenheiten der Gegenwart, denn wie eingangs betont, stimme ich der Tendenz nach Russells zu: Bestmögliche Bildung macht notwendig den Anfang und der Rest kommt dann später schon ganz von selbst. Wohlwissen um die chronologische Paradoxie von Henne und Ei und eingedenk der idealistischen General-Abstraktion finde ich hierbei insbesondere eine Idee persönlich sehr reizvoll, nämlich Alltag und Beruf so auszurichten, dass diese den eigenen Bedürfnissen und Fähigkeiten sowie deren steter Befriedigung und Entwicklung dienen. Einen solchen zivilisatorischen Luxus können sich heutzutage viele von uns durchaus eher gönnen als zu Russells Lebzeit.

Dennoch, selbst ein verhaltenes Dankeschön in Richtung unserer global betrachtet recht eigennützigen Version von liberalem Kapitalismus kommt mir im Angesicht der globalen Zustände nicht so recht über die Finger in die Tasten auf den Schirm. So stehen wir mit unserer post-industriell avancierten Digitalwirtschaft wohl, wenn zugegeben weltweit auch nur punktuell, national bis regional, historisch an dem bedeutsamen Punkt, an dem vielleicht erstmals in der Weltgeschichte ein unfassbares Ausmaß menschlichen Potentials fern von reproduktiven und damit repetitiven Tätigkeiten freigesetzt worden ist und (~exponentiell) zunehmend noch freigesetzte werden wird. Automatisierung und Produktivitätssteigerung machen die Menschen frei zu gehobener Arbeit, befähigen ihn zu allerlei kulturellen und intellektuellen Aktivitäten. Diese Transformation spüren wir heute umso stärker, was wohl auch keiner der viele Verwalter, Künstler, Forscher, Lehrer, und Coaches anzweifeln; all die geistig dienstleistenden Arbeitnehmer, lange geschult und breit gebildet, bringen täglich ihre Intelligenz auf Touren und damit in die Gesellschaft. Die Tertiarisierung der Wirtschaft sollte ein unbestreitbarer Beleg für die Existenz einer avancierten (Wissens-)Wirtschaft und damit das Vorliegen einer wichtigen Prämisse von Russells utopischer Argumentation sein, wie eine Vollendung von Industrie und Technologie auch bei Marx‘ und vielen anderen zur utopischen Pforte stilisiert wird.

Diesem Trend entspricht im Bereich der (Aus-)Bildung, eine immer höhere weltweite Alphabetisierung und sukzessive Akademisierung der Bevölkerung. Wissenschaft und Forschung, inklusive der angeschlossenen angewandten Technologie (Heckler & Koch, Google, JPMorgen Chase und kapitalistische Konsorten), erzielen in jeder Hinsicht heftigste Wachstumsraten und repräsentieren damit gegenüber klassischeren Wertquellen wie Kraft, Geschicklichkeit und Rhetorik einen überproportional großen Anteil der globalen Wertschöpfung. Exponentiell gedacht, wird es zukünftig zunehmend rascher vorangehen in dieser Richtung. Roboter und künstliche Intelligenzen entfesseln und potenzieren nunmehr nicht mehr nur in der Fantasie die menschliche Arbeitskraft; wovon Generationen in ihren Büchern und später Filmen träumten, umgibt uns wie selbstverständlich im Alltag und gibt uns historisch gesehen an Magie grenzende Fähigkeiten. Aber nicht nur das, auch die Basis stimmt, denn dank Arbeitsteilung und Produktivitätssteigerung werden potentiell genug Lebensmittel hergestellt, dass niemand mehr Hunger leiden müsste. Aktuell kann ich den nötigen altruistischen Willen und alles zu dessen Verwirklichung nötige, wie eine ideale Logistik, den notwendigen radikalen Technologie- und Kapitaltransfer, die Befriedung sozialer wie militärischer Konflikte sowie eine Heilung psychischer wie physischer Krankheiten, nur hier in meinem Text und auch nur für wenige Zeilen voraussetzten. Deswegen begnüge ich mich mit dem faktischen und verlasse das fiktionale: Subsistenz-Arbeit bindet nur noch einen Bruchteil der Arbeitleistung und in unseren Breiten ist die Versorgung mit Lebensmittel so gut, wie es sich Russell nur hätte wünschen können.

Wobei ich den moralischen Gedankenabschluss nicht unterdrücken kann, dass Marketing und weitere professionelle Verwerflichkeiten die Menschen zur guten alten Völlerei verleiten: Erst der Flatrate-Fressflash bei McDonalds oder beim x-ten all-you-can-eat/all-inclusive Ereignis, dann die Gegenmaßnahmen wie Magenschlingen, Diätpillen, dazu passende Diät-Programme, Light-Produkte (man beachte die womöglich systematisch bedingte hohe Anglizismen-Quote) und einige der neusten Ess-Ideologien. Solcherart pervertiert könnte das Subsistenz-Ideal kippen und in ein Dekadenz-Real stürzen. Dennoch will ich meine Russellsche Utopielaune nicht trüben und positiv mit seiner liebenswerten Position umgehen.

Kulturbudgets und die Quantität an kreativen Erzeugnissen, um noch eine weiter erfreuliche Facette kurz und zuletzt zu schneiden, erzielen seit Jahrzehnten riesige absolute wie relative Zuwächse und haben dabei hohe Wachstumsraten, wenn sie auch nicht vergleichbar zu den hartexponentiellen Raten von (Digital-)Wirtschaft und Wissenschaft sein dürften. Die Qualität der Produkte in Kunst und Kultur bleibt, grobschlächtig und unparteiisch gedacht, ebenso außen vor wie die schlechterdings freche und damit unzulässige Frage, ob das bisher entwickelte objektive Fakten oder subjektive Fiktionen sind.

„Eigentlich würde ich ja gerne mal A (Yoga machen) oder B (Arabisch & Französisch lernen), aber mit meinem (Vollzeit-)Job, der Familie und meinen Steckenpferden: X (Vivarium),Y (Fahrrad) und Z (Lesen/Schreiben) bin ich voll ausgelastet. Das kostet mir leider zuviel, vor allem zuviel von meiner Lebenszeit!“, ist ein sicherlich nicht ganz und gar ungewohnter Gedanken. Für alle, die mit ihm sympathisieren, klingt der Slogan Russels (und meine notwendige Ergänzung) sicher gut an: „Nur 4 Stunden Arbeit (und das bei vollem Lohnausgleich)!“ Voller Nutzen, wenig Kosten bringen den homo oeconomicus in uns zum Jubeln. Denn der Mangel sitzt ihm immer im Nacken, treibt ihn vor sich hin und kerkert ihn ein. Da sitzt er nun in seinem dunklen kleinen Kabinett und zählt und kalkuliert und eruiert. Dabei scheut er je nach Temperament mehr oder weniger die Investition von Energie, Geld und Zeit. Solcherart limitiert erwirbt sich der gediegene Haushälter des Lebens kaum neues Inventar für sein Oberstübchen, zumal er ohne ein ordentliches extrinsisches Motiv in einer grauen und leidenschaftslosen Welt schon mal garnicht darüber nachdenkt loszulegen. Da zerstreut er sich doch lieber wie gewöhnlich und konsumiert unterdessen brav allerlei Produkte; dafür hat er ja immerhin 8+ geschuftet, damit er es sich so richtig gut gehen lassen kann!

Polemisch bis in die Satzzeichen, zugegeben, aber der argumentative Kern bleibt klar und plausibel: Solange die öffentlich-private Doublette aus Konsumismus und Erwerbsarbeit, katalysiert durch Unmengen an freiem Kapital und ausgestattet mit den nötigen Produktionsmitteln, einen Gutteil der Bevölkerung in Schach halten darf, herrscht gemäß Russell politischer Handlungsbedarf. Das ist definitiv der Fall, in welchem Maße mag ich nicht quantifizieren, qualifizieren kann ich es hingegen ausreichend. Der Lohndruck lockt und lethargiert zugleich. Was also tun?

Aller Voraussicht zum Trotz bleibt ein wichtiger Faktor in Russells Gleichung außerhalb seines Definitionsbereichs und der Wert der Gleichung stimmt deshalb vielleicht derzeit in seinem prognostizierten Betrag, von Intelligenz, Arbeitskraft, Kreativität und dergleichen mehr, nicht jedoch im erwarteten Vorzeichen; obwohl er doch durch Marx sensibilisiert gewesen sein dürfe, unterschätzen die Texte (Ironie mal ignoriert) die strukturelle und damit überindividuelle Kraft des Kapitals. Zumal es im digitalen Zeitalter mächtige Alliierte, eine zusätzlich künstliche Dimension und Repräsentanz in Hard-, Soft- und Wetware erhalten hat. Die Myriaden an Maschinen und Millionen von Programme dienen dabei deterministisch, einflussreiche bis gewöhnliche Mensch aus fraglicheren Gründen. Hier jedenfalls verfängt das Bildungsideal als Lösungsstrategie nicht, denn das Kapital absorbiert alles hocheffizient, setzt dabei aus Widerständen und Spannungen sogar Energie frei, die es kurzerhand kommerzialisiert. Bedenkt man zudem noch das institutionelle Gerippe, das sich der Kapitalismus gleich einem schützenden Exoskelett zu- und angelegt hat und attestiert überdies, dass Bildung zunehmend warenförmiger und berufsbezogener wird, könnte man rebellisch werden. Vollbeschäftigungsdogmatik, Wettbewerbsideologie, Wachstumslogik, Leistungslust und Exportüberschüsse tun ihr übriges und schon war Russells Traum eine Geschichte unter vielen und alles andere als Geschichte, vergangen, verflogen, dahin.

Eine entscheidende Frage ist und bleibt schlussendlich unbeantwortet: Wie beginnen und sodann den Übergang gestalten? Solange Bildung nicht notwendig und hinreichend zu multipler, insbesondere emotionaler Intelligenz einer kritischen Masse an poltischen Akteuren führt, heilt und versöhnt sie gleichsam keineswegs. Bei seinem idealistischen Wahlprogramm, angenommen es würde denn überhaupt ernstgenommen und glaubhaft gegenfinanziert, würden wohl viele Menschen Russels Partei für neue, gerechtere Lebenspraxis in das UN-Parlament entsenden, wenn es sie denn beide eines Tages gäbe und man dann nicht gerade besseres, spannenderes und schöneres zu tun hätte. Bevor ich jetzt also der Verführung erliege, zu resignieren oder zu theoretisieren, also nicht mehr nur einem verblichenen Utopiker möglichst nett zu huldigen und seine Aktualität abzuklopfen, sondern womöglich noch missmutig oder übermütig beginne, zu verunglimpfen und zu schimpfen, gar eigene Utopien zu entwickeln, mich somit zwischen Reform und Revolution entscheiden müsste – lass ich es lieber und überlasse die Geschichte(n) sich selbst!

In neuer, ungeahnter Schreibwut, Euer Satorius

 

Zwei Seelen und viele Laster

Nach einem geschenkten Touri-Urlaub in einer künstlichen, eigentlich menschenfeindlichen Umwelt und einer anschließenden Mangen-Darm-Grippe, die definitiv auch als menschenfeindlich einzustufen ist, bin ich wieder online, wieder schreibwillig.

Zwischenzeitlich habe ich viel gelesen, soviel wie seit langem nicht mehr. Darunter war sogar mal wieder ein Klassiker der Weltliteratur: Robert Louis Balfour Stevensons Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Und Dank der Gemeinfreiheit gibt es diese beiden hier: Literatur-Link deutsch & englisch.

Ein Buch, in dessen Zentrum ein Phänomen und ein Motiv stehen, welche die Literatur nicht nur der Moderne umtreiben. Diese atmosphärisch dichte Erzählung beschreibt im Kern nicht einzig den (psychopathologischen) Doppelgänger, sondern vielmehr die Vorstellung einer fragmentierten Persönlichkeit und eines Charakters, der sprunghaft, dynamisch, mit sich selbst uneins ist; zudem stellt sie einfühlsam die Erkenntnis dar, dass Rausch und Hedonismus ohne ein wie auch immer geartetes Korrektiv auf ein schiefe Ebene führen, die heraus aus der bürglichen Mitte hinein in einen Sumpf von Verbrechen und Selbstzerstörung führen. Im Untergrund und der Nebensache werden diese beiden Komplexe noch mit einer technik- bzw. wissenschafteskritischen Haltung verbunden und heraus kommt eine kriminalgeschichtlich angehauchte Novelle von verdientem Weltruhm.

Deshalb lasse ich nun lieber den gelobten Autoren und eine größere Passage aus besagtem Werk für sich sprechen und lese, und lebe weiter meines Offline-Weges, Euer Satorius


Ich wurde im Jahre 18** geboren, von der Natur mit ausgezeichneten Anlagen beschenkt; ich war fleißig und legte Wert auf die Achtung der Klugen und Guten unter meinen Mitmenschen. All das hätte, wie man wohl annehmen konnte, eine Bürgschaft für eine ehrenvolle und glänzende Zukunft geboten. Tatsächlich bestand der schlimmste meiner Fehler in einer gewissen unbezähmbaren Neigung zur Fröhlichkeit, eine Veranlagung, die für viele das Glück bedeutet hätte. Ich aber fand es schwer, diese Neigung mit meinen hochfliegenden Wünschen, mein Haupt stolz zu tragen und in der Öffentlichkeit eine mehr als gewöhnliche feierliche Miene zu zeigen, in Einklang zu bringen. So kam es, daß ich meine Vergnügungen verheimlichte, und als ich die Jahre der Selbstbesinnung erreichte, anfing, mich umzuschauen und mir Rechenschaft über meinen Fortschritt und meine Stellung in der Welt abzulegen, stand ich bereits einer tiefen Zwiespältigkeit in meinem Dasein gegenüber. Manch einer hätte sich wohl sogar noch solcher Regelwidrigkeiten, wie ich sie mir zuschulden kommen ließ, gerühmt, doch bei den hohen Zielen, die ich mir gesteckt hatte, betrachtete und verbarg ich sie mit einem fast krankhaften Gefühl der Scham. Es waren also eher die hohen Forderungen meines Strebens als eine besondere als Erbe eines großen Vermögens Untiefe meiner Fehler, die mich zu dem machten, was ich war; und die Trennungslinie, die in meinem Innern jene Sphären von Gut und Böse schied, die des Menschen Doppelnatur trennen und verbinden, war bei mir sogar noch tiefer gezogen als bei der Mehrzahl der Menschen. Angesichts dieser Lage wurde ich dazu gedrängt, tief und unerbittlich über jenes harte Lebensgesetz nachzudenken, das einerseits die Wurzel der Religion ist, andererseits eine der stärksten Quellen des Elends bildet. Obwohl so im Grunde ein Doppelwesen, war ich doch in keiner Hinsicht ein Heuchler. Beide Seiten meines Wesens waren mir tödlich ernst. Es entsprach nicht weniger meinem wahren Ich, wenn ich alle Hemmungen beiseite warf und mich in Schande tauchte, als wenn ich in der Helle des Tages mich um den Fortschritt der Wissenschaft oder um Milderung von Sorgen und Leiden mühte. Es traf sich, daß die Richtung meiner wissenschaftlichen Forschungen, die ganz auf Mystik und Übersinnliches zielten, diese Erkenntnis des ewigen Kampfes in meinem Innern stärkten und erleuchteten. Mit jedem Tage und von beiden Seiten meiner Geistigkeit, der moralischen und der intellektuellen, näherte ich mich so ständig jener Wahrheit, durch deren teilweise Entdeckung ich zu einem so fürchterlichen Schiffbruch verdammt worden bin: daß der Mensch in Wahrheit nicht eins, sondern wahrlich zwei ist. Ich sage zwei, weil der Status meiner eigenen Erkenntnis nicht über diesen Punkt hinausgeht. Andere werden folgen, andere werden mich auf dieser gleichen Linie überflügeln. Ja, ich wage anzunehmen, daß die Menschheit sich schließlich bewußt werden wird eines ganzen Gemeinwesens vielfältiger, inkongruenter und unabhängiger Existenzen.

 

Robert Louis (Balfour) Stevenson (1850 – 1894), Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde, Kapitel 10 (1886)

Duett und Duell in Dithyramben: Goethe & Nietzsche

Wen du nicht verlässest, Genius,
Nicht der Regen, nicht der Sturm
Haucht ihm Schauer übers Herz.
Wen du nicht verlässest, Genius,
Wird dem Regengewölk,
Wird dem Schloßensturm
Entgegensingen,
Wie die Lerche,
Du da droben.

 

Den du nicht verlässest, Genius,
Wirst ihn heben übern Schlammpfad
Mit den Feuerflügeln.
Wandeln wird er
Wie mit Blumenfüßen
Über Deukalions Flutschlamm,
Python tötend, leicht, groß,
Pythius Apollo.

 

Den du nicht verlässest, Genius,
Wirst die wollnen Flügel unterspreiten,
Wenn er auf dem Felsen schläft,
Wirst mit Hüterfittichen ihn decken
In des Haines Mitternacht.

 

Wen du nicht verlässest, Genius,
Wirst im Schneegestöber
Wärmumhüllen;
Nach der Wärme ziehn sich Musen,
Nach der Wärme Charitinnen.

 

Umschwebt mich, ihr Musen, ihr Charitinnen!
Das ist Wasser, das ist Erde,
Und der Sohn des Wassers und der Erde,
Über den ich wandle
Göttergleich.

 

Ihr seid rein, wie das Herz der Wasser,
Ihr seid rein, wie das Mark der Erde,
Ihr umschwebt mich, und ich schwebe
Über Wasser, über Erde,
Göttergleich.

 

Soll der zurückkehren,
Der kleine, schwarze, feurige Bauer?
Soll der zurückkehren, erwartend
Nur deine Gaben, Vater Bromius,
Und helleuchtend umwärmend Feuer?
Der kehren mutig?

 

Und ich, den ihr begleitet,
Musen und Charitinnen alle,
Den alles erwartet, was ihr,
Musen und Charitinnen,
Umkränzende Seligkeit,
Rings ums Leben verherrlicht habt,
Soll mutlos kehren?

 

Vater Bromius!
Du bist Genius,
Jahrhunderts Genius,
Bist, was innre Glut
Pindarn war,
Was der Welt
Phöbus Apoll ist.

 

Weh! Weh! Innre Wärme,
Seelenwärme,
Mittelpunkt!
Glüh entgegen
Phöb Apollen;
Kalt wird sonst
Sein Fürstenblick
Über dich vorübergleiten,
Neidgetroffen
Auf der Zeder Kraft verweilen,
Die zu grünen
Sein nicht harrt.

 

Warum nennt mein Lied dich zuletzt?
Dich, von dem es begann,
Dich, in dem es endet,
Dich, aus dem es quillt,
Jupiter Pluvius!
Dich, dich strömt mein Lied,
Und kastalischer Quell
Rinnt ein Nebenbach,

 

Rinnet Müßigen,
Sterblich Glücklichen
Abseits von dir,
Der du mich fassend deckst,
Jupiter Pluvius!

 

Nicht am Ulmenbaum
Hast du ihn besucht,
Mit dem Taubenpaar
In dem zärtlichen Arm,
Mit der freundlichen Ros umkränzt,
Tändelnden ihn, blumenglücklichen
Anakreon,
Sturmatmende Gottheit!

 

Nicht im Pappelwald
An des Sybaris Strand,
An des Gebirgs
Sonnebeglänzter Stirn nicht
Faßtest du ihn,
Den Blumen-singenden,
Honig-lallenden,
Freundlich winkenden
Theokrit.

 

Wenn die Räder rasselten,
Rad an Rad rasch ums Ziel weg,
Hoch flog
Siegdurchglühter
Jünglinge Peitschenknall,
Und sich Staub wälzt‘,
Wir vom Gebirg herab
Kieselwetter ins Tal,
Glühte deine Seel Gefahren, Pindar,
Mut. – Glühte? –
Armes Herz!
Dort auf dem Hügel,
Himmlische Macht!
Nur so viel Glut,
Dort meine Hütte,
Dorthin zu waten!

 

Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832), Wanderers Sturmlied. Gedichte und Epen I, Goethes Werke, S. 33-36 (1996; Hamburger Ausgabe – Band I)


Bei abgehellter Luft,
wenn schon des Taus Tröstung
zur Erde niederquillt,
unsichtbar, auch ungehört
– denn zartes Schuhwerk trägt
der Tröster Tau gleich allen Trostmilden –
gedenkst du da, gedenkst du, heißes Herz,
wie einst du durstetest,
nach himmlischen Tränen und Taugeträufel
versengt und müde durstetest,
dieweil auf gelben Graspfaden
boshaft abendliche Sonnenblicke
durch schwarze Bäume um dich liefen,
blendende Sonnen-Glutblicke, schadenfrohe.

 

»Der Wahrheit Freier – du?« so höhnten sie –
»Nein! nur ein Dichter!
ein Tier, ein listiges, raubendes, schleichendes,
das lügen muß,
das wissentlich, willentlich lügen muß,
nach Beute lüstern,
bunt verlarvt,
sich selbst zur Larve,
sich selbst zur Beute,
das – der Wahrheit Freier?…

 

Nur Narr! nur Dichter!
Nur Buntes redend,
aus Narrenlarven bunt herausredend,
herumsteigend auf lügnerischen Wortbrücken,
auf Lügen-Regenbogen
zwischen falschen Himmeln
herumschweifend, herumschleichend –
nur Narr! nur Dichter!…

 

Das – der Wahrheit Freier?…
Nicht still, starr, glatt, kalt,
zum Bilde worden,
zur Gottes-Säule,
nicht aufgestellt vor Tempeln,
eines Gottes Türwart:
nein! feindselig solchen Tugend-Standbildern,
in jeder Wildnis heimischer als in Tempeln,
voll Katzen-Mutwillens
durch jedes Fenster springend
husch! in jeden Zufall,
jedem Urwalde zuschnüffelnd,
daß du in Urwäldern
unter buntzottigen Raubtieren
sündlich gesund und schön und bunt liefest,
mit lüsternen Lefzen,
selig-höhnisch, selig-höllisch, selig-blutgierig,
raubend, schleichend, lügend liefest…

 

Oder dem Adler gleich, der lange,
lange starr in Abgründe blickt,
in seine Abgründe…
– o wie sie sich hier hinab,
hinunter, hinein,
in immer tiefere Tiefen ringeln! –

 

Dann,
plötzlich,
geraden Flugs,
gezückten Zugs
auf Lämmer stoßen,
jach hinab, heißhungrig,
nach Lämmern lüstern,
gram allen Lamms-Seelen,
grimmig gram allem, was blickt
tugendhaft, schafmäßig, krauswollig,
dumm, mit Lammsmilch-Wohlwollen…

 

Also
adlerhaft, pantherhaft
sind des Dichters Sehnsüchte,
sind deine Sehnsüchte unter tausend Larven,
du Narr! du Dichter!…

 

Der du den Menschen schautest
so Gott als Schaf –,
den Gott zerreißen im Menschen
wie das Schaf im Menschen
und zerreißend lachen –

 

das, das ist deine Seligkeit,
eines Panthers und Adlers Seligkeit,
eines Dichters und Narren Seligkeit!«…

 

Bei abgehellter Luft,
wenn schon des Monds Sichel
grün zwischen Purpurröten
und neidisch hinschleicht,
– dem Tage feind,
mit jedem Schritte heimlich
an Rosen-Hängematten
hinsichelnd, bis sie sinken,
nachtabwärts blaß hinabsinken:

 

so sank ich selber einstmals
aus meinem Wahrheits-Wahnsinne,
aus meinen Tages-Sehnsüchten,
des Tages müde, krank vom Lichte,
– sank abwärts, abendwärts, schattenwärts,
von einer Wahrheit
verbrannt und durstig
– gedenkst du noch, gedenkst du, heißes Herz,
wie da du durstetest? –
daß ich verbannt sei
von aller Wahrheit!
Nur Narr! Nur Dichter!…

 

Friedrich Nietzsche (1844 – 1900), Dionysos-Dithyramben: Nur Narr! Nur Dichter!, S. 1239-1243 (1954; Werke in drei Bänden, Band 2)

Ambivalenzen von Wort und Mensch

Es gibt zwei Arten von Propaganda – vernünftige Propaganda für Handlungen, welche mit dem aufgeklärten Eigennutz derjenigen, die sie machen, und derjenigen, an die sie gerichtet ist, übereinstimmen, und unvernünftige Propaganda, welche mit niemands aufgeklärtem Eigennutz übereinstimmt, sondern von Leidenschaften, blinden Regungen, unbewussten Begierden oder Befürchtungen diktiert wird und sich an alle diese wendet. Wo es sich um die Handlungen von Individuen dreht, gibt es höhere Beweggründe als aufgeklärten Eigennutz. Wo aber auf den Gebieten der Politik und Wirtschaft kollektiv gehandelt werden muss, ist aufgeklärtes Selbstinteresse wahrscheinlich der höchste aller wirksamen Beweggründe. Wenn Politiker und ihre Wähler immer so handelten, dass sie auf lange Sicht ihr oder ihres Landes Interesse förderten, wäre unsre Welt das Paradies auf Erden. Tatsächlich aber handeln sie oft gegen ihr eigenes Interesse, bloß um ihren am wenigsten rühmlichen Leidenschaften zu frönen; folglich ist die Welt eine Stätte des Elends. Propaganda für solche Handlungen, die sich mit aufgeklärtem Eigennutz vertragen, wendet sich an die Vernunft mittels logischer Argumente, welche auf das beste verfügbare, voll und ehrlich dargelegte Beweismaterial gegründet sind. Propaganda für solche Handlungen, die von niedrigeren Impulsen als aufgeklärtem Eigennutz diktiert sind, bietet falsches, verfälschtes oder unvollständiges Beweismaterial, meidet logische Argumente und sucht ihre Opfer durch bloße Wiederholung von Schlagworten zu beeinflussen, durch wütende Anprangerung fremder oder heimischer Sündenböcke und durch listige Verquickung der niedrigsten Leidenschaften mit den höchsten Idealen, so dass Gräuel im Namen Gottes verübt werden und die zynischste Art von Realpolitik zu einer Sache religiöser Grundsätze und patriotischer Pflicht wird.

 

Mit John Deweys Worten: »Eine Erneuerung des Glaubens an die gemeinsame menschliche Natur und ihre Möglichkeiten im allgemeinen und an ihre Fähigkeit, auf Vernunft und Wahrheit anzusprechen im besonderen, ist ein sichereres Bollwerk gegen Totalitarismus, als eine Schaustellung materiellen Erfolgs oder eine devote Verehrung besonderer rechtlicher und politischer Formen.« Die Fähigkeit, auf Vernunft und Wahrheit anzusprechen, ist in uns allen vorhanden. Vorhanden ist aber leider auch der Hang, auf Unvernunft und Unwahrheit anzusprechen – besonders in denjenigen Fällen, in denen die Unwahrheit ein Lustgefühl hervorruft oder der Appell an die Unvernunft eine antwortende Saite in den primitiven, untermenschlichen Tiefen unsres Wesens zum Erklingen bringt.

 

Aldous Huxley (1894 – 1963), Dreißig Jahre danach oder Wiedersehen mit der „Wackeren neuen Welt“, S. 21f. (1960)

16 Jahre danach oder Rückkehr zur verehrtesten Schullektüre

Des Witzes Seele kann zur leibhaftigen Unwahrheit werden. So elegant und einprägsam
Kürze auch sein mag, kann sie naturgemäß nie allen Tatsachen eines vielfältigen
Sachverhalts gerecht werden. Über einen solchen vermag man sich nur mittels Weglassens
und Vereinfachens kurz zu fassen. Weglassungen und Vereinfachungen helfen uns,
zu verstehen – aber in vielen Fällen das Falsche; denn was wir erfassen, sind vielleicht
nur die säuberlich formulierten Vorstellungen des Vereinfachers, nicht die ungeheure,
vielverzweigte Wirklichkeit, von der diese Vorstellungen ein so willkürlicher Auszug
sind.

 

Aldous Huxley (1894 – 1963), Dreißig Jahre danach oder Wiedersehen mit der „Wackeren neuen Welt“, S. 3 (Vorwort; 1960)

Gedankenpotpourri: Links und rechts

(1) Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.

 

(2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.

 

(3) Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Sie darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen. Wegen der Höhe der Entschädigung steht im Streitfalle der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten offen.

 

Parlamentarischer Rat (1948-1949), Grundgesetz der BRD – Artikel 14


„Links denken, rechts sein; rechts wirken, links sein“ – logisch diagonstiziere ich diesem Satz einen sanften Widerspruch, ideologisch brandmarke ich ihn spontan als Bigotterie und empfinde ihn seelisch bis sozial als eine ziemliche Zerreißprobe; Dynamik ist also garantiert.

Was denkt ihr, was seid ihr? Da hat wohl wie bei allem und wie immer jeder seine eigenen Sofort-Assoziationen und Identifikationen. Je nach Vorliebe und Standpunkt reichen diese ersten Ideen zu unseren beiden Wortungetümen weit und liegen interpersonal womöglich sogar quer: Sie beginnen vielleicht lebenweltlich bei Nazi vs. Punk oder tagespolitisch bei Petry vs. Gysi, historisch-härter womöglich mit Orban/Franco//Hitler vs. Stalin/Mao/Castro; vielleicht sind sie aber auch abstrakter, sei es öknomisch Markt vs. Plan, Eigentum vs. Arbeit, Wettbewerb vs. Regulation und Konkurrenz vs. Kooperation, sind damit grenzwertig politisch wie stärker noch Nationale vs. Internationale und Freiheit vs. Ordnung; womöglich geraten die ersten Eindrücke mit Individum vs. Kollektiv aber noch etwas geisteswissenschaftlicher, oder auch als Selbstverantwortung vs. Solidarität und Egoismus vs. Altruismus praktisch philosophisch; eventuell denkt einer eher an Daumen, die links rechts und rechts links sind, also an Richtungen im Raum, somit leibliche bis topografische Kategorien. Bevor es nun aber zu wild wird, terminiere ich den Wortwuch und konstatiere damit feierlich, dass die Weite, Breite und Quere so einfach scheinender Worte wie „links“ und „rechts“ ausreichend illustriert wurde.

Aber was bedeutet das denn eigentlich und warum ist überhaupt von Belang, was ich anfangs so lappidar, selbstverständlich und unvermittelt in einem schrägen Satzfragment dahergesagt und insgesamt in einen doppelten, nicht minder seltsamen TFF-Kontext gestellt habe? Was also haben ein politisches Buch und eine reale Verfassung, der inflationär genutzte Wortgegensatz „links/rechts“ miteinander zu tun; warum überhaupt aus heiterem Himmel dieser komische Aphorismus und die dadurch provozierte Frage nach den beiden, so simplen, deshalb so gefährlichen Attributen, die wir vermutlich alle häufig gebrauchen und nicht ganz so häufig begriffskritisch reflektieren?

Viele berechtige Fragen, deren Antwort höchstens angedeutet werden wird, werden soll. Denn genau darin liegt die Pointe: Es handelt sich um keine rationalen, keine klaren, keine sauberen Begriffe, sondern um ideologische, historische und rhetorische Bastardworte und dafür legen unter anderem die beiden Quellen ein Zeugnis ab. Darin vermischen sich die Sphären des Linken und Rechten subtil bis explizit, so dass Reinheit und Konsequenz in weite Ferne rücken; sie leben also, sind dynamisch und bedürfen deshalb eines refelxionswilligen Subjekts: Erbschaft und Enteignung; Eigennutz und Engagement; Verstand und Liebe; Tugend und Sünde, um nur ein paar Alliierte von „links/rechts“ zu nennen.

Alles fließt somit und sogar ich vermeintlich Linker entdecke bisweilen ein wenig Rechtes an mir, Euer Satorius


„Seit zwölf Jahren stellen Sie sich die Frage: Wer ist John Galt? Hier spricht John Galt. Ich bin der Mensch, der sein Leben liebt. Ich bin der Mensch, der weder seine Liebe noch seine Werte opfert. Ich bin der Mensch, der euch eurer Opfer beraubt und dadurch eure Welt zerstört hat, und falls ihr wissen wollt, weshalb ihr zugrunde geht – ihr, die ihr euch vor Erkenntnis fürchtet –, ich bin der Mensch, der es euch jetzt sagen wird.“    

 

Der Chefingenieur war der Einzige, der noch in der Lage war, sich zu rühren. Er eilte an einen Fernsehapparat und hantierte aufgeregt an den Schaltern herum. Doch der Bildschirm blieb dunkel; der Sprecher war nicht gewillt, sich zu zeigen. Nur seine Stimme flutete die Ätherwellen im ganzen Land – und auf der ganzen Welt, dachte der Chefingenieur. Sie klang, als spräche er hier, in diesem Raum, nicht zu einer Gruppe, sondern zu einem Einzelnen. Es war nicht der Tonfall, in dem man eine Versammlung anspricht, sondern der Tonfall, in dem man einen Verstand anspricht.    

 

„Ihr habt davon reden hören, dies sei ein Zeitalter der moralischen Krise. Ihr habt es selbst gesagt, teils ängstlich, teils in der Hoffnung, die Worte hätten keine Bedeutung. Ihr habt gejammert, die Sünden der Menschheit zerstörten die Welt, und ihr habt die menschliche Natur für ihren Widerstand gegen die von euch eingeforderten Tugenden verflucht. Da für euch Tugendhaftigkeit gleichbedeutend ist mit Opferbereitschaft, habt ihr nach jeder neuen Katastrophe noch größere Opfer verlangt. Im Namen einer Rückkehr zur Moral habt ihr all die Übel geopfert, die ihr für die Wurzel eurer Misere hieltet. Ihr habt die Gerechtigkeit der Barmherzigkeit geopfert. Ihr habt die Unabhängigkeit der Einigkeit geopfert. Ihr habt die Vernunft dem Glauben geopfert. Ihr habt den Wohlstand dem Mangel geopfert. Ihr habt die Selbstachtung der Selbstverleugnung geopfert. Ihr habt das Glück der Pflicht geopfert.    

 

Ihr habt alles zerstört, was ihr für böse, und alles erreicht, was ihr für gut hieltet. Weshalb schreckt ihr also voll Grauen vor dem Anblick der Welt, die euch umgibt, zurück? Diese Welt ist nicht etwa das Produkt eurer Sünden, sondern das Produkt und Spiegelbild eurer Tugenden. Sie ist die Verwirklichung und Vollendung eures moralischen Ideals. Ihr habt dafür gekämpft, davon geträumt, sie herbeigesehnt, und ich – ich bin der Mensch, der euch euren Wunsch erfüllt hat.    

 

Es gab einen unversöhnlichen Gegner eures Ideals, den zu vernichten euer Moralkodex ersonnen wurde. Ich habe diesen Gegner aus dem Verkehr gezogen. Ich habe ihn euch aus dem Weg geräumt und eurem Zugriff entzogen. Ich habe die Quelle all jener Übel, die ihr nach und nach geopfert habt, entfernt. Ich habe euren Kampf zu Ende geführt. Ich habe euren Motor zum Stillstand gebracht. Ich habe eurer Welt den menschlichen Verstand entzogen.    

 

Die Menschen leben nicht nach dem Verstand, meint ihr? Ich habe diejenigen aus dem Verkehr gezogen, die es doch tun. Der Verstand ist ohnmächtig, meint ihr? Ich habe diejenigen aus dem Verkehr gezogen, deren Verstand es nicht ist. Es gibt höhere Werte als den des Verstandes, meint ihr? Ich habe diejenigen aus dem Verkehr gezogen, für die es sie nicht gibt.    

 

Während ihr dabei wart, alle Gerechten, Unabhängigen, Vernünftigen, Wohlhabenden und Selbstbewussten auf eurem Altar zu opfern, bin ich euch zuvorgekommen; ich habe sie als Erster erreicht. Ich habe sie über euer Spiel und euren Moralkodex aufgeklärt, dessen Wesen zu begreifen sie zu unschuldig und großzügig waren. Ich habe ihnen gezeigt, wie sie nach einer anderen Moral leben können: meiner. Und sie haben sich für meine entschieden.   

 

All jene, die verschwunden sind, jene, die ihr zwar gehasst, die zu verlieren ihr aber gefürchtet habt – ich war es, der sie euch entzogen hat. Versucht nicht, uns zu finden. Wir sind nicht gewillt, uns finden zu lassen. Klagt nicht, es sei unsere Pflicht, euch zu dienen. Wir erkennen eine solche Pflicht nicht an. Klagt nicht, ihr bräuchtet uns. Uns gilt ein Bedürfnis nicht als Anspruch. Klagt nicht, wir gehörten euch. Wir gehören euch nicht. Bittet uns nicht zurückzukehren. Wir sind im Streik, wir, die Verstandesmenschen.    

 

Wir streiken gegen Selbstaufopferung. Wir streiken gegen den Glauben an unverdiente Belohnungen und unbelohnte Pflichten. Wir streiken gegen das Dogma, das Streben nach eigenem Glück sei böse. Wir streiken gegen die Doktrin, das Leben sei schuldhaft.    

 

Unser Streik unterscheidet sich von dem, den ihr seit Jahrhunderten praktiziert: Wir streiken nicht, um Forderungen durchzusetzen, sondern um sie zu erfüllen. Eure Moral erklärt uns für böse. Wir haben beschlossen, euch nicht mehr zu schaden. Eure Wirtschaftslehre erklärt uns für nutzlos. Wir haben beschlossen, euch nicht mehr auszunutzen. Eure Politik erklärt uns für gefährlich und verlangt, dass man uns Fesseln anlege. Wir haben beschlossen, euch nicht mehr zu gefährden, aber auch die Fesseln nicht mehr zu dulden. Eure Philosophie erklärt uns zu einem bloßen Trugbild. Wir haben beschlossen, euch nicht mehr zu täuschen, sondern euch der Wirklichkeit ins Angesicht sehen zu lassen – der Wirklichkeit, die ihr wolltet, der Welt in ihrem jetzigen Zustand, einer Welt ohne Verstand.

 

Wir haben euch alles gewährt, was ihr von uns verlangt habt, wir, die wir seit jeher die Gebenden waren, uns aber erst jetzt dessen bewusst geworden sind. Wir haben keine Forderungen, die wir an euch richten, keine Bedingungen, über die wir mit euch verhandeln, keinen Kompromiss, den wir mit euch schließen könnten. Ihr habt uns nichts zu bieten. Wir brauchen euch nicht.

 

Werdet ihr jetzt klagen: Nein, das wolltet ihr nicht? Eine Welt in Schutt und Asche, ohne Verstand, sei nicht euer Ziel gewesen? Ihr hättet nicht gewollt, dass wir euch verlassen? Ich weiß, dass ihr schon immer wusstet, was ihr wolltet, ihr moralischen Kannibalen. Aber euer Spiel ist aus, denn nun wissen auch wir es.

 

Durch Jahrhunderte der von eurem Moralkodex hervorgerufenen Plagen und Katastrophen hindurch habt ihr gejammert, euer Kodex sei nicht befolgt worden und die Plagen seien die Strafe dafür, die Menschen seien zu schwach und selbstsüchtig, um all das Blut zu vergießen, das dafür zu vergießen nötig sei. Ihr habt den Menschen verdammt, ihr habt die Existenz verdammt, ihr habt diese Erde verdammt, aber nie habt ihr es gewagt, euren Kodex in Frage zu stellen. Eure Opfer haben die Schuld auf sich genommen und weitergekämpft; eure Flüche waren ihr Lohn für ihr Martyrium, während ihr fortfuhrt zu klagen, euer Kodex sei edel, aber die menschliche Natur sei nicht gut genug, ihn zu befolgen. Und niemand erhob sich, um die Frage zu stellen: Gut? – Nach welchem Maßstab?

 

Ihr wolltet wissen, wer John Galt ist. Ich bin der Mensch, der diese Frage gestellt hat.

 

[…]

 

Ihr werdet gewinnen, wenn ihr bereit seid, den Eid abzulegen, den ich zu Beginn meines Kampfes abgelegt habe – und für diejenigen, die wissen wollen, an welchem Tag ich zurückkehren werde, wiederhole ich ihn nun vor aller Welt: ‚Bei meinem Leben und meiner Liebe zum Leben schwöre ich, dass ich niemals um eines anderen Menschen willen leben werde, noch von einem anderen verlangen werde, um meinetwillen zu leben.'“

 

Ayn Rand (1905 – 1982), Der StreikTeil Drei, A ist gleich A, VII. „Hier spricht John Galt“: passim