Text-Fast-Food

Er und sie schon wieder: Hiob und die Religion

Einladung und Warnung zugleich, soll dieses kleine Intro zum Roman Hiob von Joseph Roth (Direktlink) sein. Eine doppelte Warnung möchte ich vorab aussprechen, eine davon durch und eine zweite über den primären Text. Dieser warnt erstens insgesamt hochsensibel und nachfüllbar vor den Tücken einer religiöser Existenz in den Wirren von Krieg, Flucht und Verfall. Zweitens gilt zu bedenken, dass mit jedem der vier Text-Filets die Gefahr steigt, sich den Spannungsbogen der sehr lesenswerten Erzählung gründlich zu verderben. Vom Konsum weiterer Textpassagen nach dem ersten Happen Text-Slow-Food rate ich also all jenen ab, die dazu neigen ganze Bücher vollständig zu lesen; der Rest bekommt den Roman über einen einfachen Mann in vier resümierenden, äußerst dichten Passagen zum Direktverzehr dargeboten.

Tagesaktuelle, vielleicht gar zeitlose Themen umkreist die Familiengeschichte der Singers: Verlust der Heimat als äußere Migration, Verlust von Glauben und Identität als innere Migration, der Zerfall der Familie in einer komplexen Welt und nicht zuletzt eine tiefe Einsicht in die jüdische Lebenswelt durch die Facette des orthodoxen Ostjudentums. Ob Mendel Singer aus Wolhynien oder die Tausenden Hilfesuchenden vor den Toren Europas, wichtig ist das Gegenüber und dessen Gastfreundschaft.

All denen, die wie die Made im Speck sitzen und dabei um ein klein bisschen von ihren Wohlstandsspeck fürchten, während sie andererseits Geld für Diätprodukte, Wellness und sporadische Fitnessstudiobesuch verfeuern, sei klar gesagt: ihr stinkt! Ein jüdischer Existenz-, Familien,- und Migrationsroman empfiehlt sich selbstredend mit den folgenden Zeilen, besonders auch denen, die keinen Blick für gloabale wie historische Relationen ihr eigen nennen – dürfen, können, wollen, brauchen, müssen, mögen.

Schonenden bis schonungslosen Lesegenuss wünscht, Euer Satorius


 

Er glaubte seinen Kindern aufs Wort, daß Amerika das Land Gottes war, New York die Stadt der Wunder und Englisch die schönste Sprache. Die Amerikaner waren gesund, die Amerikanerinnen schön, der Sport wichtig, die Zeit kostbar, die Armut ein Laster, der Reichtum ein Verdienst, die Tugend der halbe Erfolg, der Glaube an sich selbst ein ganzer, der Tanz hygienisch, Rollschuhlaufen eine Pflicht, Wohltätigkeit eine Kapitalanlage, Anarchismus ein Verbrechen, Streikende die Feinde der Menschheit, Aufwiegler Verbündete des Teufels, moderne Maschinen Segen des Himmels, Edison das größte Genie. Bald werden die Menschen fliegen wie Vögel, schwimmen wie Fische, die Zukunft sehn wie Propheten, im ewigen Frieden leben und in vollkommener Eintracht bis zu den Sternen Wolkenkratzer bauen. Die Welt wird sehr schön sein, dachte Mendel, glücklich mein Enkel! Er wird alles erleben! Dennoch mischte sich in seine Bewunderung für die Zukunft ein Heimweh nach Rußland, und es beruhigte ihn, zu wissen, daß er noch vor den Triumphen der Lebendigen ein Toter sein würde. Er wußte nicht, warum. Es beruhigte ihn. Er war bereits zu alt für das Neue und zu schwach für Triumphe. Er hatte nur eine Hoffnung noch: Menuchim zu sehn.

S. 82

 

Sieben runde Tage saß Mendel Singer auf einem Schemel neben dem Kleiderschrank und schaute auf das Fenster, an dessen Scheibe zum Zeichen der Trauer ein weißes Stückchen Leinwand hing und in dem Tag und Nacht eine der beiden blauen Lampen brannte. Sieben runde Tage rollten nacheinander ab, wie große, schwarze, langsame Reifen, ohne Anfang und ohne Ende, rund wie die Trauer. Der Reihe nach kamen die Nachbarn: Menkes, Skowronnek, Rottenberg und Groschel, brachten harte Eier und Eierbeugel für Mendel Singer, runde Speisen, ohne Anfang und ohne Ende, rund wie die sieben Tage der Trauer. Mendel sprach wenig mit seinen Besuchern. Er bemerkte kaum, daß sie kamen und gingen. Tag und Nacht stand seine Tür offen, mit zurückgeschobenem, zwecklosem Riegel. Wer kommen wollte, kam, wer gehen wollte, ging. Der und jener versuchte, ein Gespräch anzufangen. Aber Mendel Singer wich ihm aus. Er sprach, während die andern lebendige Dinge erzählten, mit seiner toten Frau. »Du hast es gut, Deborah!« sagte er zu ihr. »Es ist nur schade, daß du keinen Sohn hinterlassen hast, ich selbst muß das Totengebet sagen, ich werde aber bald sterben, und niemand wird uns beweinen. Wie zwei kleine Stäubchen wurden wir verweht. Wie zwei kleine Fünkchen sind wir erloschen. Ich habe Kinder gezeugt, dein Schoß hat sie geboren, der Tod hat sie genommen. Voller Not und ohne Sinn war dein Leben. In jungen Jahren habe ich dein Fleisch genossen, in spätern Jahren habe ich es verschmäht. Vielleicht war das unsere Sünde. Weil nicht die Wärme der Liebe in uns war, sondern zwischen uns der Frost der Gewohnheit, starb alles rings um uns, verkümmerte alles und wurde verdorben. Du hast es gut, Deborah. Der Herr hat Mitleid mit dir gehabt. Du bist eine Tote und begraben. Mit mir hat Er kein Mitleid. Denn ich bin ein Toter und lebe. Er ist der Herr, Er weiß, was Er tut. Wenn du kannst, bete für mich, daß man mich auslösche aus dem Buch der Lebendigen. Sieh, Deborah, die Nachbarn kommen zu mir, um mich zu trösten. Aber obwohl es viele sind und sie alle ihre Köpfe anstrengen, finden sie doch keinen Trost für meine Lage. Noch schlägt mein Herz, noch schauen meine Augen, noch bewegen sich meine Glieder, noch gehen meine Füße. Ich esse und trinke, bete und atme. Aber mein Blut stockt, meine Hände sind welk, mein Herz ist leer. Ich bin nicht Mendel Singer mehr, ich bin der Rest von Mendel Singer. Amerika hat uns getötet. Amerika ist ein Vaterland, aber ein tödliches Vaterland. Was bei uns Tag war, ist hier Nacht. Was bei uns Leben war, ist hier Tod. Der Sohn, der bei uns Schemarjah hieß, hat hier Sam geheißen.In Amerika bist
du begraben, Deborah, auch mich, Mendel Singer, wird man in Amerika begraben.«

S. 91f.

 

Er saß in einem breiten, ledernen Lehnstuhl, die Mütze aus schwarzem Seidenrips hatte er über die Knie gestülpt, sein Regenschirm lehnte, ein treuer Gefährte, neben dem Sessel. Mendel blickte abwechselnd auf die Menschen, die gläserne Tür, die Zeitschriften, die Verrückten, die draußen immer noch vorbeizogen – man führte sie zum Bad –, und auf die goldenen Blumen in den Vasen. Es waren gelbe Schlüsselblumen, Mendel erinnerte sich, daß er sie daheim auf den grünen Wiesen oft gesehen hatte. Die Blumen kamen aus der Heimat. Er gedachte ihrer gern. Diese Wiesen hatte es dort gegeben und diese Blumen! Der Friede war dort heimisch gewesen, die Jugend war dort heimisch gewesen und die vertraute Armut. Im Sommer war der Himmel ganz blau gewesen, die Sonne ganz heiß, das Getreide ganz gelb, die Fliegen hatten grün geschillert und warme Liedchen gesummt, und hoch unter den blauen Himmeln hatten die Lerchen getrillert, ohne Aufhören. Mendel Singer vergaß, während er die Schlüsselblumen ansah, daß Deborah gestorben, Sam gefallen, Mirjam verrückt und Jonas verschollen war. Es war, als hätte er soeben erst die Heimat verloren und in ihr Menuchim, den treuesten aller Toten, den weitesten aller Toten, den nächsten aller Toten. Wären wir dort geblieben, dachte Mendel, gar nichts wäre geschehen! Jonas hat recht gehabt, Jonas, das dümmste meiner Kinder! Die Pferde hat er geliebt, den Schnaps hat er geliebt, die Mädchen hat er geliebt, jetzt ist er verschollen! Jonas, ich werde dich nie mehr wiedersehen, ich werde dir nicht sagen können, daß du recht hattest, ein Kosak zu werden. »Was geht ihr nur immer in der Welt herum ?« hatte Sameschkin gesagt. »Der Teufel schickt euch!« Er war ein Bauer, Sameschkin, ein kluger Bauer. Mendel hatte nicht fahren wollen. Deborah, Mirjam, Schemarjah – sie hatten fahren wollen, in der Welt herumfahren. Man hätte bleiben sollen, die Pferde lieben, Schnaps trinken, in den Wiesen schlafen, Mirjam mit Kosaken gehn lassen und Menuchim lieben.

S. 93f.

 

»Ich will mehr verbrennen als nur ein Haus und mehr als einen Menschen. Ihr werdet staunen, wenn ich euch sage, was ich wirklich zu verbrennen im Sinn hatte. Ihr werdet staunen und sagen: Auch Mendel ist verrückt, wie seine Tochter. Aber ich versichere euch: Ich bin nicht verrückt. Ich war verrückt. Mehr als sechzig Jahre war ich verrückt, heute bin ich es nicht.«
»Also sag uns, was du verbrennen willst!«
»Gott will ich verbrennen.«
Allen vier Zuhörern entrang sich gleichzeitig ein Schrei. Sie waren nicht alle fromm und gottesfürchtig, wie Mendel immer gewesen war. Alle vier lebten schon lange genug in Amerika, sie arbeiteten am Sabbat, ihr Sinn stand nach Geld, und der Staub der Welt lag schon dicht, hoch und grau auf ihrem alten Glauben. Viele Bräuche hatten sie vergessen, gegen manche Gesetze hatten sie verstoßen, mit ihren Köpfen und Gliedern hatten sie gesündigt. Aber Gott wohnte noch in ihren Herzen. Und als Mendel Gott lästerte, war es ihnen, als hätte er mit scharfen Fingern an ihre nackten Herzen gegriffen.

S. 97f.

Joseph Roth (1894 – 1939), Hiob. Roman eines einfachen Mannes (1930)

1 Text, 3 Bilder, 18. Jahrhunderte

Warum ich als Agnostiker wohl so häufig dann doch auf und an biblischen Motiven sowie Texten hängenbleibe? Manchmal glaube ich fast, von diesen verfolgt zu werden, frei nach dem Grundsatz: Wenn du nicht glaubst, dann überfallen wir dich so lange, bis du in deiner Skepsis ermüdest und uns endlich metaphysisch anerkennst.

Dann aber, nach kurzem Innehalten und sanfter Selbstkritik, komme ich zu dem einfachen Schluss, dass es wohl vor allem meine Affinität zu Kultur und Literatur ist, die mich immer wieder auf die mächtigsten Inspirationsquellen Europas zurückverweist. In leicht variierten Sentenzen ausgedrückt:  keine Progression ohne Tradition, keine Zukunft ohne Vergangenheit, keine Erwartung ohne Erinnerung. Außerdem artikulieren sich in mythischen und mystischen Texten immer auch Antworten auf grundlegende Fragen, und was, wenn nicht eine Faszination für die großen und kleinen Fragen der Existenz, ist denn eine zeitlos-allgemeine Qualität von Philosophie?

Nicht zufällig entwickelten sich zwei epochal prägende Stile des (europäischen) Philosophierens in kritischer Auseinandersetzung mit eben solchen, Text gewordenen, religiösen Ideenwelten. Zuerst emanzipierte sich die griechische Philosophie von ihrem epischen Doppel Illias/Odyssee und dem darin konservierten polytheistischen Paradigma und ebnete damit der ersten Blüte der Wissenschaften den Boden; daraufhin – so ein kleines Adverb verpackt hier mal eben fast 2000 Jahre Geschichte – stimulierte die scholastische Theologie des Hochmittelalters eine Loslösung des rationalistischen Denkens von unserer vermeintlich monotheistischen Bibel und verhalf dadurch den Wissenschaften in der Renaissance zur Wiedergeburt und ihrem zweiten, seither ungebrochenen Höhenflug. Wenn ich hierbei die spannende Dialektik innerhalb des zweifachen Weges vom Glauben zur Vernunft unterschlage, so möge man mir das nachsehen. Wollte ich die mannigfachen Oppositionen und Synthesen respektieren, wie sie sich in Denkergegensätzen von Heraklit/Parmenides über Aristoteles/Platon bis später Thomas v. A./Bonaventura zeigten, würde dieser Text hier am Ende kein spielerischer Kommentar, sondern ein ernsthaft ermüdender Traktat, wenn nicht mehr als das.

So grobschlächtig (ver-)kläre ich mir also meine anfängliche Irritation und kann nun wieder beruhigt in religiösen Texten schwelgen, zumal ich mir hier mit einer Passage der Offenbarung des Johannes einen literarisch sehr reizvollen, kryptisch-prophetischen und derzeit voll im Trend liegenden Text vorgenommen habe. Eine dekadente Lust am Weltuntergang zu unterstellen, ist vielleicht zu gewagt, aber eine zeitgenössische Tendenz zu Dystopie und Apokalypse ist spätestens seit dem Jahr 2000 nicht mehr zu leugnen. Ich verzichte hier bewusst auf einen objektiven Blickversuch hinsichtlich der tatsächlichen historischen, ökologischen und politischen Dimension des Untergangspathos und beschränke mich bewusst auf die subjektiv-ästhetische Seite dieses Phänomens. Womöglich unterliegen (nicht nur) solche Vorstellungen einer Art ideengeschichtlicher Konjunktur, womit Derpession und Boom in diesem Kontext einen wortwitzigen Doppelsinn bekommen.

Tröstlich bei all dem biblischen Katastrophismus, der bisher nur angedeutet wurde und gleich Schlag auf Schlag folgen wird, bleibt die exegetische Tatsache, dass die läppischen vier Reiterlein als bloßer Auftakt für spätere, wirklich erschütternde Stufen des Weltuntergangs dienen. Also immer die Ruhe bewahren, wenn Krieg, Hunger, Seuch und Tod umgehen, es könnte weit schlimmer werden. Bevor aber dieser mäßig gebändigte und kaum noch zu strukturierende Gedankensturm restlos chaotisch wird, empfehle ich mich und zugleich einen Blick auf einen Text und drei Bilder, die zusammen schlappe 18. Jahrhunderte überbrücken.

Mit adventlich-apokalyptischen Grüße, Euer Satorius

P.S.: Die Metatext-Redaktion wird im Laufe der nächsten Wochen hoffentlich ihren Dienst wieder aufnehmen, nachdem sich die reaktionellen Mitglieder von ihrer katastrophalen Reise erholt haben werden. Ihre physische und psychische Gesundheit ist derzeit schon nahezu wiederhergestellt und wird sich dann im saftig verspäteten Beitrag zum ersten Jahresjubiläum von Quanzland (15.10.2015) zu bewähren haben.


 

Und ich sah, daß das Lamm der Siegel eines auftat; und hörte der vier Tiere eines sagen wie mit einer Donnerstimme: Komm! Und ich sah, und siehe, ein weißes Pferd. Und der daraufsaß, hatte einen Bogen; und ihm ward gegeben eine Krone, und er zog aus sieghaft, und daß er siegte.
Und da es das andere Siegel auftat, hörte ich das andere Tier sagen: Komm! Und es ging heraus ein anderes Pferd, das war rot. Und dem, der daraufsaß, ward gegeben, den Frieden zu nehmen von der Erde und daß sie sich untereinander erwürgten; und ward ihm ein großes Schwert gegeben.
Und da es das dritte Siegel auftat, hörte ich das dritte Tier sagen: Komm! Und ich sah, und siehe, ein schwarzes Pferd. Und der daraufsaß, hatte eine Waage in seiner Hand. Und ich hörte eine Stimme unter den vier Tieren sagen: Ein Maß Weizen um einen Groschen und drei Maß Gerste um einen Groschen; und dem Öl und Wein tu kein Leid!
Und da es das vierte Siegel auftat, hörte ich die Stimme des vierten Tiers sagen: Komm! Und ich sah, und siehe, ein fahles Pferd. Und der daraufsaß, des Name hieß Tod, und die Hölle folgte ihm nach. Und ihnen ward Macht gegeben, zu töten das vierte Teil auf der Erde mit dem Schwert und Hunger und mit dem Tod und durch die Tiere auf Erden.

 

Johannes von Patmos, Martin Luther (Hrsg.) et al. (Nicht zuverlässig datierbar), Die Offenbarung des Johannes. In: Die Bibel – Das Neue Testament, 6,1 – 6,8 (68 – 96 n. Chr.).


Peter von Cornelius (1783 - 1876), Die Apokalyptischen Reiter (1841 - 1867)Peter von Cornelius (1783 – 1876), Die Apokalyptischen Reiter (1841 – 1867)


Viktor Michajlovič Vasnecov (1848 - 1926), Die apokalyptischen Reiter (1887)Viktor Michajlovič Vasnecov (1848 – 1926), Die apokalyptischen Reiter (1887)


Albrecht Dürer (1471 - 1528), Die vier apokalyptischen Reiter (1498; Holzschnitt)

Albrecht Dürer (1471 – 1528), Die vier apokalyptischen Reiter (1498; Holzschnitt)

Hedonistischer Übermensch vs. weiser Gutmensch

Kallikles: O gewiß, mein Sokrates. Wie könnte denn ein Mensch glücklich werden, wenn er irgend jemandes Sklave ist? Nein, das ist das Schöne und Rechte von Natur, das ich dir jetzt frei und offen bekenne, daß derjenige, welcher richtig leben will, seine eigenen Begierden so groß als möglich werden lassen muß, ohne sie im Zaum zu halten; wenn sie aber recht groß sind, dann muß er imstande sein, ihnen zu fröhnen durch Tapferkeit und Einsicht und die Begierde zu befriedigen, worauf sie sich auch jedesmal richten mag. Aber das können, denke ich, die meisten nicht. Daher tadeln sie Männer dieser Art aus Ärger, um ihre eigene Ohnmacht zu verbergen, und bezeichnen die Zügellosigkeit als häßlich. Was ich in meiner früheren Auseinandersetzung sagte, sie knechten die von Natur besseren Menschen, und weil sie ihren Lüsten keine Befriedigung schaffen können, so loben sie die Besonnenheit und Gerechtigkeit um ihrer eigenen Feigheit willen. Denn was wäre für diejenigen, welche etwa von vornherein so glücklich sind. Königssöhne zu sein, oder die imstande sind, sich eine Herrschaft, Tyrannis oder einen Königsthron zu verschaffen, in Wahrheit häßlicher und schlimmer als deine Besonnenheit? Während sie ja alles Gute genießen könnten, ohne daß ihnen jemand in den Weg träte, würden sie sich selbst das Gesetz, Gerede und Geschimpfe der Masse zum Herrn erküren? Oder würden sie nicht unglücklich geworden sein von der Ehre der Gerechtigkeit und Besonnenheit, wenn sie ihren eigenen Freunden nicht mehr zuteilen könnten als ihren Feinden, und zwar als Herrscher im eigenen Staate? Nun, Sokrates, so steht’s in der Wahrheit, der du ja nachzutrachten behauptest. Wohlleben, Zügellosigkeit, Freiheit, wenn sie festen Rückhalt hat, das ist die Tugend und Glückseligkeit. Das andere all ist Flitterstaat, widernatürliche Satzungen, menschlicher Aberwitz und taugt nichts.

 

[…]

 

Sokrates: Indes ist das Leben auch, wie du es haben willst, mißlich. Denn es sollte mich nicht wundern, wenn Euripides recht hat, wenn er sagt: „Wer weiß, ob nicht das Leben nur ein Sterben ist, Das Sterben aber Leben?“ Und vielleicht sind wir in Wirklichkeit tot. Das habe ich auch schon von einem weisen Manne gehört, daß wir jetzt tot seien und daß der Leib unser Grab sei; der Teil unserer Seele aber, in welchem sich die Begierden befinden, sei so, daß er sich leicht bereden lasse und von der einen nach der anderen Seite umschlage. Das hat denn auch ein geistreicher Mann, vielleicht ein Sizilier oder Italer, in der Namensableitung in mythischer Bekleidung dargestellt, wenn er ihn wegen seiner leicht zu überredenden Art und Faßbarkeit ein Faß genannt hat und die Uneinsichtigen Uneingeweihte. Der Teil der Seele aber in den Uneingeweihten, dem die Begierden angehören, der so zügellos ist und bodenlos, sei einem durchlöcherten Fasse vergleichbar, indem er von der Unausfüllbarkeit das Bild hernahm. Dieser also beweist gerade das Gegenteil von deiner Meinung, lieber Kallikles, daß nämlich unter den Bewohnern der Unterwelt – dabei meinte er natürlich das Unsichtbare – diese Uneingeweihten am unglücklichsten seien, welche in das durchlöcherte Faß Wasser trügen mit einem ebenfalls durchlöcherten Siebe. Unter dem Siebe verstand er, wie mein Gewährsmann sagte, die Seele. Die Seele der Unverständigen aber verglich er mit einem gleichsam durchlöcherten Siebe, weil sie nichts festfassen kann aus Unfaßlichkeit und Vergeßlichkeit.

 

Platon (428/27 – 348/47 v.Chr.), Gorgias: ~491e – 493d (Stephanus-Paginierung)

Milde Blasphemie von, mit und über Hiob

Dass Lesen keine nüchterne, einseitige Aufnahme von Informationen vom konkreten Medium ins aktuelle Bewusstsein ist, wirkte so abstrakt wie es trivial ist. Als Zugang zu diesem Phänomen braucht es keine Literaturtheorie, keine Sprachphilosophie oder sonst einen (inter-)diziplinären Zugang aus den Gefilden der Wissenschaft. Es ist viel einschlägiger und anschaulicher ein und dasselbe Buch – ja, materielles, physisch hartes Buch; ich vermeide hier säuberlich eine Konotation von Text und selbst – in verschiedenen Lebensphasen neu zu lesen. Das Feld zwischen Text und Leser wird ein gänzlich verschiedenes sein, das Leseerlebnis dementsprechend ein neues trotz gleichem Satz auf gleicher Seite in gleicher Zeile.

Wenn dieses Buch (oder E-Book, aber dieses gedankliche Faß öffne ich jetzt nicht auch noch), wie in meinem heutigen Fall, sogar noch die Anthologie der Anthologien ist, und dessen kursorische Lektüre in nahezu jeder Alterstufe mit gleichzeiitg größtmöglichen Lücken stattgefunden hat, dann wird die Interaktivität von Text und Bewusstsein augenfällig, buchstäblich spürbar. Meine Bibelgeschichte ist schnell abgerissen: Zuerst erfahren als Kind in Gestalt meiner Oma im Alltag und besonders bei allabendlicher (Gute-)Nacht-Bibel-Lektüre, gestütz durch wöchentliche Besuche von Kindergottestdienst und Festtagpredigten, dann nörgelnd erduldet als halbstraker, geldgeiler Konfirmand, wiederentdeckt als angehender Philosoph und neugieriger Sucher sowie zuletzt gelesen als Adept in und Liebhaber von literarischer Finesse.

Ein Filetstück der fantastischen Sprachmagie aus dem Hause des Herrn und dem Griffel eines seiner diversen Herausgeber – Martin „The Thesenklopper“ Luther – sprang mir bei meiner Relektüre von Hiob ins Bewusstsein und gereicht nur deshalb nun Euch als Text-Fast-Food bald hoffentlich zur geistigen Freude. Während das Buch Hiob insgesamt existenziell gewichtige Themen auf eine facettenreiche und komplexe Art hin- und herwälzt, und nicht zuletzt deshalb seit Generationen eine unerschöpflliche Inspirationsquelle bildet, gelingt es der zitierten Stelle im besonderen, ein detailreiches, starkes Bild von etwas zu entwerfen. Man könnte es beinahe als Gebrauchsanweisung für bildende Kunst lesen und sogleich gestaltend die Umsetzung des beschriebenen Etwas im Medium der Wahl wagen. Am Ende käme dannach wohl vor allem eines zu Tage, dämonische Bruchstücke aus dem individuellen Unterbewussten des Künstlers aka Lesers alias des Menschen für sich.

Wie meine kindlindlichen Bibelbilder sich anfühlten, vermag ich im Detail zwar nicht mehr zu sagen, aber sie waren ganz sicher anders – ehrfurchtgebietender, glaubhafter, kraftvoller; öder, uncooler und fader; faszinierder, wahrheitsfähig, und begehrlicher -, aber ein hatten sie gemeinsam, sie lasen in einer anderen Zeit, einer anderen Welt mit einem anderen Bewusstsein den gleichen Text.

Nunmehr ist wieder alles anders, frage ich mich wieder andere Fragen: Was lauert im Abgrund zwischen den Zeilen, im Schweigen zwischen den Worten, ihren Silben, im Weiß zwischen den Buchstaben, zuletzt in all dem Nichts um das Etwas herum? Pragmatischer und wieder positiv gewendet, was also kommt zur Darstellung, besser zum Ausdruck?

Hier schließt sich der Kreis des Textes, denn nicht alleine der Text, sein Inhalt, seine sog. Inten(s/t)ion bestimmen des Ereignis unseres Lesens; auch nicht alleine die Person des Lesers, seine Erfahrungen, Gewohnheiten, Prägungen. Analytisch schlicht erschaffen beide Quellen von Bedeutung diese zusammen, im Wechselspiel mit ungleichen sich verschiebenden Anteilen und Aspekten; oder mit ein Prise Poesie, Subjekt und Objekt schwingen miteinander, musizieren im Duett, durchsetzt von Zufällen und durchwaltet von Willen. Was am Ende hinten rauskommt, bleibt offen, ist notwendig singulär, wie sovieles Entscheidendes im Leben. Gerechterweise erlebt also jeder Leser, geschieht in jeder Situation für sich, je nach Alterstufe, Vorliebe, Geschichte und vor allem nach kognitiv-mentaler, metaphysischer Tagesform, was beim Lesen seines Textes, wie beispielsweise eine Bibelstelle, eben so alles Wunderliches geschieht.

Zur Auswahl für die Grob-Interpretation des folgenden Exempels an Textsingularität stehen die unterschiedlichste Intentionen und Motive – mein finaler Gedankensturm brandet unwiderstehlich auf, abstrahiert zunehmend:

ein psychedelisch-fürchterlicher Löwenhybrid, Behemoth oder Leviathan, die Wildheit und das Ungezähmte, böse Natur, Offenbarung, Gottes allmächtiges Wesen, geheimes Wissen der Menschheit, der Alten, ewige Wahrheit, Kreativität und Rhetorik von Gläubigen und Heuchlern, Stille-Post-Effekt über die Grenzen von Jahrtausenden, Sprachen und Kulturkreisen, oder die heilige Lust des Menschen, sich narzissitisch an seiner eigenen Fantasie zu berauschen – und so weiter und sofort bis ans Ende allen Bewusstseins, aller Raumzeit, allen Textes…

In biblischer Umnachtung und übersatt an altbackenem Text, Euer Satorius


 

Ich will nicht schweigen von seinen Gliedern, wie groß, wie mächtig und wohlgeschaffen er ist. Wer kann ihm den Panzer ausziehen, und wer darf es wagen, ihm zwischen die Zähne zu greifen? Wer kann die Tore seines Rachens auftun? Um seine Zähne herum herrscht Schrecken. Stolz stehen sie wie Reihen von Schilden, geschlossen und eng aneinandergefügt. Einer reiht sich an den andern, daß nicht ein Lufthauch hindurchgeht. Es haftet einer am andern, sie schließen sich zusammen und lassen sich nicht trennen. Sein Niesen läßt Licht aufleuchten; seine Augen sind wie die Wimpern der Morgenröte. Aus seinem Rachen fahren Fackeln, und feurige Funken schießen heraus. Aus seinen Nüstern fährt Rauch wie von einem siedenden Kessel und Binsenfeuer. Sein Odem ist wie lichte Lohe, und aus seinem Rachen schlagen Flammen. Auf seinem Nacken wohnt die Stärke, und vor ihm her tanzt die Angst. Die Wampen seines Fleisches haften an ihm, fest angegossen, ohne sich zu bewegen. Sein Herz ist so hart wie ein Stein und so fest wie der untere Mühlstein. Wenn er sich erhebt, so entsetzen sich die Starken, und vor Schrecken wissen sie nicht aus noch ein. Trifft man ihn mit dem Schwert, so richtet es nichts aus, auch nicht Spieß, Geschoß und Speer. Er achtet Eisen wie Stroh und Erz wie faules Holz. Kein Pfeil wird ihn verjagen; die Schleudersteine sind ihm wie Spreu. Die Keule achtet er wie einen Strohhalm; er spottet der sausenden Lanze. Unter seinem Bauch sind scharfe Spitzen; er fährt wie ein Dreschschlitten über den Schlamm. Er macht, daß die Tiefe brodelt wie ein Topf, und rührt das Meer um, wie man Salbe mischt. Er läßt hinter sich eine leuchtende Bahn; man denkt, die Flut sei Silberhaar. Auf Erden ist nicht seinesgleichen; er ist ein Geschöpf ohne Furcht. Er sieht allem ins Auge, was hoch ist; er ist König über alle stolzen Tiere.

 

Moses/Salomo, Martin Luther (Hrsg.) et al. (Autorenschaft kontrovers), Das Buch Hiob. In: Die Bibel – Das Alte Testament, 41,4 – 41,26 (5. – 3. Jahrhundert v. Chr.)

Tribut und Hommage: „Akte X – die unheimlichen Fälle des FBI“!

Der Lauf der Zeit hält uns in einer Zelle gefangen, die nicht aus Ziegelstein und Mörtel gebaut ist, sondern aus zerstörten Hoffnungen und nicht abgewendeten Tragödien. Wie kostbar ist dann die Chance zurückzugehen, auch wenn man feststellt, dass man sich nicht nur mit der Vergangenheit, sondern auch mit sich selbst auseinandersetzen muss. Auch ohne die Zwänge der Zeit ist man nicht aus dem Gefängnis seines eigenen Wesens befreit, einem Gefängnis aus dem es kein Entkommen gibt.

Martin Wells (Joe Morton), in: Rückwärts – Akte X (Staffel 8, Episode 6, 41:36 – 42:00)


Kineastische Poesie in einer Science-fiction-Mysterythriller-Krimi-Serie, wer hättet das für möglich gehalten. Nun, Akte X überrascht selbst hargesottene Fans wie mich in der 8 Staffel – so sehr, dass ich keine Mühe gescheut habe, 24 Sekunden Monolog, genauer noch Epilog für Euch zu transkribieren. Könnte ich und wollte ich wirklich, gäbe es noch massenhaft geniale Dialoge, die hier ein angemessenes Refugium hätten.

Beim zweiten Schauen der neun Staffeln starken Serie im Erwachsenenalter – also jetzt, oder eher: seit einigen Jahren, denn 202 Folgen á 40-Minuten+ ziehen sich gewaltig – realisiere ich erst in tiefer Demut und Ehrfurcht, wie klug, gelehrt, witzig, tiefsinning, vielseitig, kritisch und zum Teil sogar philosophisch amerikanische Fersehunterhaltung sein kann. Deshalb von mir ein digital-leises, wahrscheinlich ungehörtes, aber nichtdestotrotz dickes Dankschön für dieses Meisterwerk der Filmkunst an David Duchovny, Gillian Anderson, Chris Carter, uvm.,usw., etc.!

Da bald, nach über 10 Jahren offiziellem Ende, eine Neuauflage als Miniserie mit alter Besetzung geplant ist, bin ich hin- und hergerissen, ambivalent durch und durch: Was wird es werden, peinlicher Veriss oder würdige Fortsetzung?

Ein vorfreudiger Ambivalenz, Euer Satorius

K.-Light trifft Hardcore-S.

Der direkte Verkehr mit den Behörden war ja nicht allzu schwer, denn die Behörden hatten, so gut sie auch organisiert sein mochten, immer nur im Namen entlegener, unsichtbarer Herren entlegene, unsichtbare Dinge zu verteidigen, während K. für etwas lebendiges Nahes kämpfte, für sich selbst; überdies, zumindest in der allerersten Zeit, aus eigenem Willen, denn er war der Angreifer; und nicht nur er kämpfte kämpfte für sich, sondern offenbar noch andere Kräfte, die er nicht kannte, aber an die er nach den Maßnahmen der Behörden glauben konnte.

S. 530f.


 

Daraus war zu schließen, daß es in ihrer Art eine ganz andere Müdigkeit was als jene K.s. Hier war es wohl die Müdigkeit inmitten glücklicher Arbeit; etwas, was nach außen hin wie Müdigkeit aussah und eigentlich unzerstörbare Ruhe, unzerstörbarer Frieden war. Wenn man mittags ein wenig müde ist, so gehört das zum glücklichen natürlichen Verlauf des Tages. Die Herren hier haben immerfort Mittag, sagte sich K.

Und es stimmte sehr damit überein, daß es jetzt um fünf Uhr schon überall zu seiten des Ganges lebendig wurde. Dieses Stimmengewirr in den Zimmern hatte etwas äußerst Fröhliches. Einmal klang es wie der Jubel von Kindern, die sich zu einem Ausflug bereitmachten, ein andermal wie der Aufbruch im Hühnerstall, wie die Freude, in völliger Übereinstimmung mit dem erwachenden Tag zu sein, irgendwo ahmte sogar ein Herr den Ruf eines Hahnes nach.

S. 724f.

 

Franz Kafka (1883 – 1924), Das Schloss (1922/1926)


S. war irritiert, eine Irritation, zu der sich, wie ein entfernter Bekannter einem auf der Straße zu begegnen pfelgt, ein mildes Amüsement gesellte. Seine unklaren Erwartungen waren klar enttäuscht worden, dachte er in einem Augenblick; im nächsten jedoch, war er wieder fasziniert, zerrissen zwischen erfürchtigem Staunen und unbegreifflichem, ihn quälenden Sinnverlust. Sollte es wahr sein und man hört nicht nur bekanntlich, sondern wirklich dann am besten auf – genau dann, einfach so, bloß aus profanen, nur wegen existenziellen Motiven, mehr nicht -, wenn die Spannungsbögen vibrieren, weil sie zuvor so minutiös und feingliedirg gewoben wurden, dass man sie nun kühn immer weiter, bis zur unvermeidlichen Zerreißprobe spannen könnte? Ein literarischer Koitus interuptus lag hinter ihm und er wusste sich nicht zu fangen, konnte nicht reflektieren, was er, S. der umherirrende Geselle ohne Meister, eigentlich von K. erwartet hatte. Er war zuvor unbelastet von dergleichen Erfahrungen und Wünschen gewesen; Klassiker, angebliche Meisterwerke, die gefeierte Weltliteratur, dieser staubige, speckige Tand alt gewordener, greiser Kultur, waren ihm zutiefst zuwider gewesen. Dann kam die Wende, woher, wusste er auch nach Jahren der peinlichen Selbstbeschau nicht bestimmen. Getrieben von einer Lust am Wort und den klugen Spielereien mit Wörtern, diesen bunten Spielzeugen für Erwachsene hatte er angefangen – wie ein Verdurstender in der Wüste, der erst gierig fremdes Wasser hinabstürzt und dann eigenes besitzen will – zu lesen, zu lesen und irgendwann sogar zu schreiben. Nach vielen anderen Begegnungen kreuzte dann K. seinen Weg, erst sehr spät, nach Jahren der Wanderschaft in Freiheit und Unabhängigkeit; nicht mehr so übervoll mit Eigensinn, nach einer sättigenden, fast ermüdenden Gewöhnung an den Geschmack der Worte, derer beinahe bereits überdrüßig, begann er zögerlich damit, den Meistern seines Werks zuzhören, ihnen zuzusehen bei ihren Kunststücken. S. kam sich dabei bisweilen vor wie ein kleiner Junge, auf der letzten Bankreihe sitzend, ganz hinten im stickigen, düsteren Zirkuszelt: Die Raubtiere, auf exotische, errengede Art mochte er sie, aber näher wollte er ihnen nicht kommen, nicht einmal, wenn sie ihrer Bewegelichkeit beraubt und sicher verwahrt, gebändigt von ihrem leibhaftigen Dresseur oder einem leblosen Stahlkäfig; die Artisten, Meister der Technik, Virtuosen ihrer Kunst, flößten ihm echten Respekt ein, dennoch drehte sich ein Leben bei einer solchen Perfektion doch wohl nur um wenig mehr, als die eine zufällige Passion, die sich trotzdem, Beruf und Berufung in einem, als graues Tagwerk für Brot und Haus publikumswirksam veräußern musste; die Clowns sorgten beim Publikum regelrecht für Heiterkeit, wollten echte Narren für moderne Menschen sein, blieben aber so oberflächlich wie ihre Schminke – schon der nächste Regen reichte, einer Träne oder einem echten Lachen hielt sie niemals stand. Wo in dieser Kette an Ereignissen, Bildern und Worten sollte er das Zusammentreffen mit K. einordnen, wie dessen viel zu schroffes Verschwinden begreifen, nach einem an Ermüdung und Ermunterung reichen, von Erkenntins und Ernüchterung geprägten Beisammensein? Der Blick, mit dem S. zu K. hineingeschaut hatte, glich dessen Blick nach draußen und auf die Agenten und Werkzeuge der Herren oben im Schloss: frech und forschend, mal klarer, mal getrübt, immer grob wissend, in welcher Richtung das Erhabene in der Höhe eigentlich zu finden sei, gleichsam unfähig, den Weg dorthin selbstbewusst und geraden Schritts zu gehen, unterworfen den schicksalshaften Launen, die durch die Welt der Worte spuken. Häuser gibt es, Orte der Ruhe und der Wärme, in die S. hoffnungsfroh einkehren möchte, nur um festzustellen, dass Gastfreundschaft ein rares Gut geworden ist, keine Selbstverständlichkeit mehr jedenfalls. Man begegnet ihm mit offenem Misstrauen, statt mit Offenheit und Wärme. Wäre hier draußen die Witterung nicht so rau, der allgegenwärtige, meterhohe Schnee so beherrschend, die Böhen so schneidend, die Kälte so durchdringend und die Tage so kurz, würde er schlicht weiterziehen, so jedoch ist er verfroren, ist er deshalb auf Unterkunft und Labsaal angewiesen. Und wenn er ganz ehrlich zu sich selbst ist, ins Schloss dort oben seinen Fuß zu setzen, einem bedeutenden Herren zu begegnen und Verbindungen dorthin zu knüpfen, all das rechtfertigte sogar weit mehr als eine Nacht hier draußen in der unwirtlichen Fremde. Der anfänglichen Irritation zum Widerspruch war S. sich ganz sicher, er durfte nicht verzagen, vielleicht würde er K. noch ein zweites Mal aufsuchen oder er stellte sein Glück mitsamt seinen Idealen an anderer Stelle auf die Probe. Das Dorf war nicht sehr groß, aber die Welt war es wohl und neben den Nachbarn hier im Ort gab es gewiss Nachbardörfer, auch dort gab es Berge, Sümpfe und Wälder und überall dort konnten Schlösser, Burgen und Festungen im Verborgenen liegen und auf unerschrockene Wanderer warten. S. musste nur bereit sein, hungrig und frierend, zerlumpt und schmutzig, weiterzugehen, immer weiter, ob geradeaus, im Zickzack oder kurvig war gleichgültig, bloß nicht im Kreis, das wäre fatal. Bald musste er auf jemanden stoßen, der ihn aufnahm und versorgte, das geboten die Gesetze der Wahrscheinlichkeit. Bei K. hatte er gehofft, hatte Anfänge von Sympathie entdeckt, zaghaft und sorgsam hinter dem harten Äußeren, den harten Äußerungen verborgen. Dennoch blieb er unsicher, wie hilfreich K. ihm bei seinen Plänen sein konnte, noch gar, ob er ein Freund werden würde. Derzeit war S. noch offenkundig verdrossen, ob des rüden Abgangs von K. und wegen des penetrant schlechten Wetters hier im Dorf. Hoffentlich beruhigte sich das Wetter, morgen oder übermorgen vielleicht, dann klarte es auf und die Sonne würde die Kälte vertreiben. Dann würde S. weitersehen, ein nächstes Gespräch, ein nächstes Reiseziel in der Ferne oder der Nähe, ein weite Welt wartete auf ihn. Alles war offen, aber eines war fest: sein Unwille seßhaft zu werden; selbst in den ersehnten Schlössern wollte er sich nur gründlich umsehen, ein paar Tage deren Luxus genießen, mehr aber nicht, dann zöge es ihn weiter, wieder hinaus. Kein Meister würde ihn binden, kein Ort sollte in fesseln und keine Macht durfte ihn verlocken. Das gelobte S., klopfte sich den zentimeterdicken Schnee von Mantel, Hut und Hose und dreht daraufhin K.s. Haustür den Rücken zu, nicht barsch, ohne Zorn, wieder frei von jedem Groll und das obwohl ihm K. genau diese Tür vor wenigen Minuten vor der halb erfrorenen Nase zugeschlagen hatte, just nachdem die beiden eine Ewigkeit zwischen Tür und Angel geredet hatten und S. schon mit einer Einladung und einem bequemen Nachtlager kalkuliert hatte. Es war spät geworden und die Nacht wurde trotzdem nicht kürzer, der Wind, der Schnee und die Kälte erfrischten ihn, luden ihren intimen Freund S. ein, zu einer weiteren langen Nacht in einem weiteren namenlosen Dorf am Fuße eines beliebigen Berges und im Dunstkreis irgendeines anderen Schlosses, mit anderen Herren, ihren Dienern und den in deren Nähe unvermeidlichen Begleiterscheinungen: Bürokratie und Beamtentum, Bigotterie und Banalität.

Bis hierhin durchgehalten? Meinen Respekt dafür und wärmste Grüße nach da draußen, Euer Satorius

Poesie wider Ernst und Sinn

Dunkel war’s, der Mond schien helle,
Schneebedeckt die grüne Flur,
Als ein Auto blitzesschnelle
Langsam um die Ecke fuhr.

 

Drinnen saßen stehend Leute
Schweigend ins Gespräch vertieft,
Als ein totgeschossner Hase
Auf der Sandbank Schlittschuh lief.

 

Und der Wagen fuhr im Trabe
Rückwärts einen Berg hinauf.
Droben zog ein alter Rabe
Grade eine Turmuhr auf.

 

Ringsumher herrscht tiefes Schweigen
Und mit fürchterlichem Krach
Spielen in des Grases Zweigen
Zwei Kamele lautlos Schach.

 

Und auf einer roten Bank,
Die blau angestrichen war
Saß ein blondgelockter Jüngling
Mit kohlrabenschwarzem Haar.

 

Neben ihm ’ne alte Schachtel,
Zählte kaum erst sechzehn Jahr,
Und sie aß ein Butterbrot,
Das mit Schmalz bestrichen war.

 

Oben auf dem Apfelbaume,
Der sehr süße Birnen trug,
Hing des Frühlings letzte Pflaume
Und an Nüssen noch genug.

 

Von der regennassen Straße
Wirbelte der Staub empor.
Und ein Junge bei der Hitze
Mächtig an den Ohren fror.

 

Beide Hände in den Taschen
Hielt er sich die Augen zu.
Denn er konnte nicht ertragen,
Wie nach Veilchen roch die Kuh.

 

Und zwei Fische liefen munter
Durch das blaue Kornfeld hin.
Endlich ging die Sonne unter
Und der graue Tag erschien.

 

Dies Gedicht schrieb Wolfgang Goethe
Abends in der Morgenröte,
Als er auf dem Nachttopf saß
Und seine Morgenzeitung las.

 

AnonymusDunkel war’s, der Mond schien helle (1898)

Quanzland + Terror-TFF & ein (fast viel) zu langes P.S.

Was ist eigentlich aus dem nicht ganz namenlosen [D.Q.] Gedanken-Terrorist geworden, der zu Beginn unserer Reise so präsent war: mundtot, verbittert, geschnappt, gar tot oder sogar zur Staatstreue bekehrt?

Seine Aktionen jedenfalls haben im letzten Jahr für ernstliche Aufregung in Quanzlands Öffentlichkeit gesorgt, soviel ist gewiss; jedoch ist er in den letzten Monaten zurückhaltender geworden, soviel steht ebenso sicher fest. Vielleicht nutzt sich sein Medium ab, werden die Menschen in ihrem Trott durch Textbomben nicht mehr aufgerüttelt, weder irritiert, noch inspiriert, eventuell haben sich die Bürger sattgegessen am kritisch zu verdauenden Text-Fast-Food oder sie wurden zuerst nur von dessen Neuheit wie modisch angezogen, letztlich dann aber von der politisch-existenziellen Note der Textauswahl abgeschreckt – man und besonders ich weiß es nicht.  

Mit seinen subversiven Zitaten hatte D.Q. fast im Alleingang die anfänglich boomende Kategorie des Text-Fast-Foods gefüllt. Ich wurde beinahe täglich von Texten angesprungen, die überall im Alltag auf willige und unwillige Passanten lauerten: in den Straßen, den Orten des öffentlichen Lebens, in Dokumenten und Sendungen, auf Bildern und Plakaten, besonders aber im digitalen Dschungel des Internets. Überall traff man auf Gedankenbomben, unweigerlich fast; aber dann, nach der ersten Furore legte sich Schritt für Schritt das Interesse und die Aufmerksamkeit, jeweils einen Schritt dannach fuhr der Terrorist – so die offizielle Sprachregelung – sein Engagement zurück. Zunächst subtil und qualitativ, dann merklich und quantitativ. Schwacher, schlechter und weniger – in dieser Reihenfolge geschah der Rückzug der Textfragmente und ihres Urhebers aus dem öffentlichen Raum.

Die staatlichen Organe gehen derzeit mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon aus, dass es sich um einen Einzeltäter handelt; oder, um es mit einem Zitat von einem Regierungssprecher zu sagen, das zweifach eindrücklich ist, sowohl für die öffentliche Atmosspähre in meiner neuen, alten Heimat als auch für die weitere Geschichte unseres inoffiziellen Mitarbeiters, der soviel Text zu dieser Seite beigetragen hat, dass ich ihn mit aller staatsbürgerlich-ironischen Distanz so betiteln möchte. : 

Sehr geehrte Mitbürger von Quanzland,

 

Unsere gründlichen und großangelegten Ermittlungen weisen zweifelsfrei auf eine Einzeltäterschaft des Terroristen hin. Eine rasch eingesetzte Terror-Sondereinheit aus den fähigsten Mitarbeitern von Wächterpolizei und Administration hat unermüdlich im Geheimen für unsere Sicherheit gearbeitet und erst kürzlich ihren neuesten Ermittlungsbericht in Auszügen vorgelegt. Neben den Fakten, die eine Einzeltäterschaft beweisen, finden sich darin beruhigende Terror-Zahlen und ein erfreulicher Terror-Trend: weniger Anschläge durch den Täter und weniger Akzeptanz seiner verqueren Meinungen durch die Bürger. Dafür liefern die letzten Ausgaben des Faktenbuchs zur Lage der öffentlichen Meinung, welches vom Statistikkonzil in Zusammenarbeit mit dem Bereirat zur Pfelge der Meinungslandschaft vierteljährlich herausgegeben wird, weitere eindrucksvolle Belege

.

Eingeschüchtert durch die Brillianz unseres Ermittlungs- und Regierungsapparates und vor allem frustriert durch die Zuversicht und Loyalität der Bevölkerung unseres starken Landes, zieht sich der rücksichtslose Terrorist feige und verschlagen wieder in die dunklen Winkel zurück, aus denen er vor gut neun Monaten gekrochen kam. Ohne die unzählbar vielen und unschätzbar wertvollen Hinweise, die Beweismittel und Aktionen besogter Quanzländer wäre diese Bedrohung der staatlichen Sicherheit nicht so beherzt abgewendet worden. Deswegen möchten sich die gesamte Administration und alle Mitarbeiter der Wächterpolizei ausdrücklich bei den Unmengen ziviler Helfern bedanken.

 

Der einzige Wermutstropfen in dieser Hinsicht bleibt trotz aller Erfolge der letzten Monate weiterhin die ungeklärte Täterschaft. Zöge sich der Terrorist sich nicht zurück, wäre zwar auch das sicher nur noch eine Frage von Wochen, aber er droht allen Ernstes ungestraft davonzukommen. Leider konnte daher bisher auch Niemand in den Genuss der großzügigen Belohnung kommen. In weiser Voraussicht hatte unsere großartige Administration, geheim beraten durch die Terror-Sonderkommision, zackig ausgeführt durch die Wächterpolizei, einen Bonus auf das individuelle Jahresgrundeinkommen als Terror-Kopfgeld ausgesetzt.

 

Nun, da trotz einer dankenswerten Flut an Meldungen und Anzeigen von Ihnen allen da draußen, ein leidlich geschickter Einzeltäter uns alle weiterhin narrt, hat sich die Administration heute überraschend dazu entschlossen, ihren Dank gegenüber den wachsamen Mitbürgern auch finanziell auszudrücken. Im Rahmen ein staatlichen Lotterie können Drei der 50 hilfreichsten Beiträge einen 20%-Bonus für ihr nächstes Jahrsgrundeinkommen erwarten. Aber nicht nur das, allen 50 wird ein sicherer Bonus von 5,23% zugebilligt. Denn Sie, geliebte Mitbürger sind das Volk, das mit seiner Treue und seinem Engagement Quanzland zu einem so guten und schönen Ort machen.

 

Ein Hoch auf uns, ein Hoch auf Quanzland!

 

Regierungsproklamator Klaus-Eduard von Doberstädten (1968 – ), Transskript der Regierungserklärung vom 19.09.2015 [Die ähm, wie sie wissen, sozusagen, quasi, etc.-Schleifen wurden gegenüber dem tatsäclichen Vortrag im Transskript gutmütig zugunsten von Leserschaft und Lesbarkeit entfernt – es war wirklich grausam, ehrlich!]

Das, lasse ich – zunächst sprachlich nichtsagend innehaltend – kurz ausklingen – und kommentiere es dann auch nicht weiter, denn es spricht für sich selbst, klar und deutlich. Zudem verlöre der Kontrast zum Folgenden noch weiter an rhetorischem Glanz, zögerte ich ihn noch länger heraus.

In sproadisch wiedererwachter Quanzland-Perspektive präsentiere ich eine der rar gewordenen Gelegenheiten. Sie läuft dem sogenannten erfeulichen Terror-Trend zuwider. Sie ist ein prächtiges Exemplar von terroristischem Text-Fast-Food alá Anonymus – endlich wieder bissig wie früher, klar im Ausdruck und in der Form, ein ungleicher, aber gleichsam kritischen Dialog zwischen utopischen Weitdenkern:


 

Unsere Postulate waren also falsch, man müsste alles ganz von vorne beginnen. Doch wir leiden an einem schrecklichen Mangel an Vorstellungskraft. Es fällt uns immer schwerer, für uns andere Lebensmöglichkeiten in Betracht zu ziehen. Wir sind gleichsam geistig paralysiert. […] Wir lassen unsere kostbarste Ressource verkümmern: nämlich die Fähigkeit der Seele, von einer Idee verwandelt und vervollkommnet zu werden.

 

[…]

 

Die Perspektive einer Welt ohne Politik ist Träumerei. Es ist für uns eine Notwendigkeit, uns in politischen Gemeinwesen zu organisieren. Meine Sorge ist es nicht, der Politik zu entkommen, sondern zu ihr zurückzukommen, in einem Moment, in dem Europa dazu tendiert, sie aufzugeben.

 

Pierre Manent (1949 – ), Gespräch unter dem Titel „Wer hat Angst vorm Fortschritt?“ In: Philosophie Magazin Nr. 01/2015 (Dezember/Januar), S. 36f.


Ich bin sehr skeptisch hinsichtlich der Idee der Bildung neuer politischer Gemeinwesen als Ausweg für die Globalisierung. Zunächst, weil ich nicht glaube, dass man der Globalisierung entkommen kann. Dann, weil mir Politik nicht als ein Ausweg erscheint.

 

[…]

 

Wenn der Staat verschwindet, kommt möglicherweise der Kannibalismus wieder in Mode. Ich bin mir nicht sicher, aber möglich wäre es. Um den Kannibalismus zu verhüten, reicht allerdings ein minimaler Staat. Ich billige ihnen zu, dass nicht alle staatlichen Organe Unheil bringen, doch die Gefahr ist größer, wenn sie einen gigantischen Staat haben. Wenn sie in Frankreich den Staat von 55 Prozent des Bruttoinlandsproduktes auf 15 Prozent reduzieren würden wie in Singapur, wäre das bereits ein großer Fortschritt. Von 15 auf 0 Prozent zu gehen wie in Somalia, wäre ein Fehler. Es ist alleine eine Frage des Maßes!

 

[…]

 

Es kommt mir so vor, als gab es zumindest am Ursprung des Projekts der Moderne eine sehr klare Vision von der Zweckbestimmtheit des Fortschritts. […] Im Vergleich dazu würde unser derzeitiger Geisteszustand eher in den Bereich „epikureischen Hedonismus“ fallen: Wir glauben, dass alles untergehen wird, und wir wollen bloß essen, trinken und fröhlich sein vor dem Ende der Welt. 

 

Peter Thiel (1967 – ), Gespräch unter dem Titel „Wer hat Angst vorm Fortschritt?“, in: Philosophie Magazin Nr. 01/2015 (Dezember/Januar), S. 37ff.

P.S.: Falls sich jemand darüber wundert, hier keine Erwähnung des einjährigen Jubiläums [Impressum vom 15.10.14 & erster Beitrag am 16.10.14] zu finden, das überlasse ich der derzeit ungewiss verschollenen Metatext-Redaktion. Diese seltenen Feierlichkeiten sind üblicherweise ihre Plattform und der unglückliche Unfall war sicher nicht ihre Schuld. Ja, richtig gehört, ein Unfall – die armen Teufel waren auf ihrem Betriebsausflug mit einem Kreuzfahrschiff unterwegs und havarierten während sie in Bermuda-Shorts und Hawaiihemd ihren Urlaub genossen. Von der Karibik, durch den Panamakanal, hinein in den Pazifik sollte die Reise gehen; sie endete tatsächlich bereits vorher. Bevor ich das PS endgültig entehre, der langen Geschichte zu kurzes Ende: Die Rettung ist so gut wie gewiss, die Rückkehr ebenso, aber ungewiss.

Chaos, Ordnung oder keines von beidem

The laws of God, the laws of man,
He may keep that will and can;
Not I: let God and man decree
Laws for themselves and not for me;
And if my ways are not as theirs
Let them mind their own affairs.
Their deeds I judge and much condemn,
Yet when did I make laws for them?
Please yourselves, say I, and they
Need only look the other way.
But no, they will not; they must still
Wrest their neighbor to their will,
And make me dance as they desire
With jail and gallows and hell-fire.
And how am I to face the odds
Of man’s bedevilment and God’s?
I, a stranger and afraid
In a world I never made.
They will be master, right or wrong;
Though both are foolish, both are strong.
And since, my soul, we cannot fly
To Saturn nor to Mercury,
Keep we must, if keep we can,
These foreign laws of God and man.

 

Alfred Edward Housman (1859 – 1936), The Laws of God, The Laws of Man (1922)

Die unheimliche Dritte im Bunde: Die Sprachphilosophie

Spätestens seit Hegels „Phänomenologie des Geistes“ ist klar, dass das Problem des Geistes ein Problem der Sprache ist. Folgerichtig entwickelte sich die Kritik der Hegelschen Philosophie etwa bei Schopenhauer und Nietzsche auch als Sprachphilosophie. Spätestens seit Nietzsche wird Metaphysik als in die Sprache eingeschrieben gedacht. Und das bedeutet die Erkenntnis, dass die Sprache selbst das Hindernis für die sprachliche Überwindung der Metaphysik ist. Nietzsche sowie die metaphysikkritischen Philosophen nach ihm versuchen deshalb, mit unterschiedlichen Strategien, dem Zirkel der Metaphysikkritik zu entkommen. Die Hinwendung zu poetischer Diskursivität findet hier ihre rationale Erklärung. Sie ist nicht nur poetischen Neigungen zu verdanken, sondern ist eine philosophisch motivierte Strategie, den Zirkel der Metaphysikkritik zu durchbrechen.

 

Peter Engelmann (1947 – ), Jacques Derrida. Die différance: S. 23f. (Einleitung – Semiotik und Metaphysikkritik; 2004)


Kürzlich (Direktlink) sprach ich von Seinslehre (Ontologie) und Erkenntnistheorie (Epistemologie), wies ihnen eine herausragende Stellung im Korpus der philosophischen Disziplinen zu und nun das: Metaphysik und Sprachphilosophie seien die neuralgischen Punkte des verehrten Fachs?

Ja und Nein, äh Jain – möchte ich fast sagen, denn zwischen Metaphysik und Ontologie gibt es keine strikte, und wenn überhaupt dann eine fließende Grenze. Was allerdings die Sprachphilosophie betrifft, da lenke ich gerne reumütig ein und gestehe zu: Sie ist allerdings zentral und hochrelevant, mehr noch, ohne sie ist keine zeitgenössische Philosophie denkbar und damit verständlich. 

Neben den erwähnten zweieindrittel Begriffen – Ontologie/Metaphysik und Epistemologie – darf sie im historischen Inventar der modernen philosophischen Trickkiste keinesfalls unterschlagen werden. Ohne einen Sprung auf die Metaebene der Sprache, sei sie Medium oder gar umfassende Grenze von Denken und damit Philosophieren, bliebe ein allzu großer blinder Fleck in der Reflexionslandschaft bestehen. 

Dabei sind es typischerweise auch die im vorausgehenden Artikel bedachten (neo-)transzendentalen Ansätze, die seit Kant so ihre liebe Last mit der Sprachlichkeit des Denkens haben. Während die diversen Neukantianer in der Folge des Königsberger Klopses für eine Vermittlung von Geist und Materie eintraten, blieben bei ihnen eben die sprachlichen Strukturen bisweilen noch unterbelichtet. Damit standen sie zwar weiterhin und immerhin zwischen den Fronten eines den Geist überbelichtenden Idealismus und eines diesen sträflich verdunkelnden Materialismus, dennoch war noch ein Stück Denkweg zu gehen bis zum sog. lingustic turn zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Erwähnens- und anerkennenswerte Trittsteine auf diesem ideengeschichtlichen Weg waren für die philosophische Seite des Diskurses vor allem Ernst Cassirers Philosophie der Symbolischen Formen und Wittgensteins Philosophische Untersuchungen. Dessen vielbeachtetem Frühwerk Tractatus logico-philosophicus verweigere ich hier mal bewusst die Ehrerbietung, auch wenn es sich dem Problem der Sprache für das Denken explizit annimmt – zu explizit und logisch, um noch einer lebendigen Welt angemessen zu sein. Erst recht war noch ein weite Reise zu machen, bis man bei der analytischen Philosophie auf Basis des Pragmatismus und den vielen, mir hochsympathischen Formen von Differenzphilosophie und kritischer Theorie landen würde. Insbesondere Jacques Derridas Dekonstruktion möchte ich hier andeutungsweise hinsichtlich des Text-Fast-Foods erwähnen. Das 21. Jahrhundert also, war noch fern und einige ausgewiesen hässliche Perioden der Menschheitsgeschichte mussten erst noch durchschritten werden, aus denen dann auch die (Sprach-)Philosophie ihre bitteren Lehren zu ziehen hatte. 

Hier kommen wir nach dem womöglich etwas ermüdenden, philosophiegeschichtlichen Umweg von einer Ergänzungen zum letzten Denkwelt-Artikel endlich zum eigentlichen Anlass dieses Textes. Bevor hier jedoch der falsche Eindruck von Wissenschaftlichkeit aufkommt, bei all den Anflügen von Struktur, Argument und Chronologie, lasse ich nun Poesie über Sprache sprechen. Damit gewähre ich dem Nachdenken über Sprache seinen ihm gebührenden Platz neben den bereits besagten zwei Teildisziplinen der nicht nur akademischen Philosophie. Dass ich sie zunächst vergessen habe, mag mit der Unheimlichkeit zusammenhängen, die sie und den Sprung auf die Metaebene begleiten, oder einfach mit der Kürze von Zugang und Anspruch. Das zuvor besagte sprachlose X dankt mir die Wiedergutmachen sicherlich ebenso, wie mein schließlich damit wieder zu beschwörender Agnostizismus.

Aus dem Landschaftspark zwischen Philosophie, Poesie und Linguistik grüßt zweifelnd, Euer Satorius


Für Nelly Sachs, die Freundin, die Dichterin, in Verehrung

 

Ihr Worte, auf, mir nach!,
und sind wir auch schon weiter,
zu weit gegangen, geht’s noch einmal
weiter, zu keinem Ende geht’s.

 

Es hellt nicht auf.

 

Das Wort
wird doch nur
andre Worte nach sich ziehn,
Satz den Satz.
So möchte Welt,
endgültig,
sich aufdrängen,
schon gesagt sein.
Sagt sie nicht.

 

Worte, mir nach,
dass nicht endgültig wird
– nicht diese Wortbegier
und Spruch auf Widerspruch!

 

Lasst eine Weile jetzt
keins der Gefühle sprechen,
den Muskel Herz sich anders üben.

 

Lasst, sag ich, lasst.

 

Ins höchste Ohr nicht,
nichts, sag ich, geflüstert,
zum Tod fall Dir nichts ein,
lass, und mir nach, nicht mild
noch bitterlich,
nicht trostreich,
ohne Trost,
bezeichnend nicht,
so auch nicht zeichenlos –

 

Und nur nicht dies: das Bild
im Staubgespinst, leeres Geroll
von Silben, Sterbenswörter.

 

Kein Sterbenswort,
Ihr Worte!

 

Ingeborg Bachmann (1926 – 1973), Ihr Worte (1961)


Halte mich in deinem Dienst
lebenslang
in dir will ich atmen

 

Ich dürste nach dir
trinke dich Wort für Wort
mein Quell

 

Dein zorniges Funkeln
Winterwort

 

Fliederfein
blühst du in mir
Frühlingswort

 

Ich folge dir
bis in den Schlaf
buchstabiere deine Träume

 

Wir verstehen uns aufs Wort
Wir lieben einander

 

Rose Ausländer (1901 – 1988), Sprache (1976)