Text-Fast-Food

Unterwegs zum sprachlosen X? … oder doch nicht!

Thema des transzendentalen Ansatzes sind weder Strukturen noch Prozesse des Seins. Ihm geht es vielmehr um die Interaktion eines menschlichen Subjekts mit einem unbekannten Gegenüber aus dem Objektbereich, welche aus der Perspektive des Subjekts zu beschreiben ist. Einschlägige Analysen bringen zahlreiche Belege dafür, dass der Mensch seine im Zuge dieser Interaktion stattfindenden Erfahrungen sehr erfolgreich nach dem Vorbild von Interpretationsmustern deutet, die sich im Zuge seiner Kontakte mit menschlichen Kommunikationspartnern bewährt haben. Alle naturwissenschaftlichen Begriffe und Modellvorstellungen verweisen damit letztlich auf Vorbilder aus dem Bereich der Typisierung von sozialen Strukturen und Prozessen.

 

Karl Czasny (1949 – ), Quantenphysik als Herausforderung der Erkenntnistheorie (Direktlink zum Artikel) [Rev. 18.09.15]

Wenn daher das Selbstbewusstsein [~Subjekt, D.Q.] ein Gegenstand ist, der ausschließlich im Rahmen von symbolvermittelter sozialer Interaktion erfahrbar und nachweisbar ist, weil er ausschließlich im kollektiven Vollzug dieser Art des Handelns existiert, dann ist es prinzipiell von der auf naturwissenschaftlich restringierter Beobachtung von Reiz-Reaktions-Mustern fußenden materialistischen Ontologie weder begreifbar noch ableitbar.

 

Karl Czasny (1949 – ), Schrödingers Katze endlich zur Ruhe gebettet? (Direktlink zum Artikel) [Rev. 18.09.15]


Im Herzen der zeitgenössischen Philosophie gibt es zwei Kammern: Ontologie und Epistemologie. Um den Angriff auf das Metaphern-Verbot – von manchen Akademikern gepriesen und geheiligt – in rhetorisch-heftiger, weil doppelter Form als Personifizierung konsequent fortzusetzen: Die Ontologie aka. Metaphysik ist der Hirnstamm der Weisheitsliebe und die Erkenntnistheorie das evolutionär neuere Großhirn der (philosophischen) Wissenschaft.

Nüchtern betrachtet sind beide Disziplinen also zentrale, doch historisch und methodisch differente Bereiche der Philosophie. Ideengeschichtlich sympathisieren sie mit allerlei Ismen; je nach Zeit und Vorliebe entweder mit Nominalismus, Materialismus und Empirismus oder mit Realismus, Idealismus und Rationalismus. Sein und Denken taugen als differenzierende Bezugspunkte eben so sehr wie viele andere Polarisierungen, welche die Geistesgeschichte in ihrer produktiven Kreativität unablässig hervorgebracht hat und weiterhin hervorbringt.

Neuzeit, Moderne und insbesondere Postmoderne haben hierbei die einst noch überschaubare Lagerbildung unendlich kompliziert. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert ist es im Detail zu vielfältigen Mischformen gekommen. Besonders die (Natur-)Wissenschaften sind hierbei zum kontroversen Schlachtfeld für den uralten Titanenkampf der Philosophie geworden. Dabei lässt sich diese tiefe und breite Trennlinie im Denken besonders gut, wie oben im Text-Fast-Food zu lesen, am Begriffspaar Subjekt-Objekt verdeutlichen, wenn auch einige mir besonders lieb gewordene Positionen innerhalb dieses epochalen Diskurses jenseits dieser Dichotomie operieren oder wenigsten operieren wollen.

Nun aber zeichnet sich ein neuer, vielleicht dereinst befriedender Impuls aus Richtung der modernen Physik ab. Auch wenn berechtigte Zweifel an der verfrühten Freude über die ersehnte Harmonie angeraten sind, die sich am Horizont erhoffen lässt, so hat die Quantenphysik unbestritten das Potential, der Vielfalt an Standpunkten – seien sie mal eher ontologisch, mal eher epistemologisch – eine Vereinfachung zu verschaffen.

Fraglich bleibt gleichwohl und prinzipiell immer eines: Bin ich, bist du, sind wir als beschränkte, endliche und bedürftige Menschen überhaupt je im Stande, näher heranzukommen an Wahrheit und Gott oder besser an das sprachlose X?

Zurückgelehnt im Ohrensessel agnostischer Bequemlichkeit, begnüge ich mich heute und jedenfalls mit Fragen, Zweifeln und verhaltenen Hoffnungen und überlasse die Antworten Euch da draußen und insbesondere den Wissenschaftlern, die darin Meister sind!

Mit gebändigter Neugierde und entfesselter Gelassenheit, Euer Satorius

 

Achtung: Lyrik-Alarm!

Lyrik-Alarm!

Er schrillt unglaublich laut, durch die Gänge der Redaktionsräume von Quanzland. Die Mitglieder der Metatext-Redaktion verkriechen sich in ihren Büroboxen ganz tief unter ihrem Schreibtisch, die Hände fest auf die Ohren gepresst. Wie eine Schulglocke, wie eine Totenglocke, bedrohlich und lächerlich gleichermaßen.

Bisher war der Alarm eher selten erklungen, nun aber wird das öfter vorkommen – dafür sorge ich höchstselbst und mit diabolischem Genuss. Heute erst war ich für einen doppelten Alarm von beträchtlicher Länge verantwortlich. Die Töne hallen mir noch in den Ohren, aber das war es wirklich wert. Von der Banause zum Banausen-Sadist, ist mein derzeitige Leitmotiv im Umgang mit den Redakteuren.

Das schlichte Gedicht, damit eine der kräftigsten und ältesten Quellen dessen, was wir mindestens Literatur, manch einer überzogen gar Kultur nennt: Die gut alte Lyrik. Wer hat sie in der Schule nicht hassen gelernt? Eine Frage deren Umfrage mich wahrlich reizen würde. Ich jedenfalls bin seit Langem wortaffin, musste mich aber noch länge und zwar gründlich von der Lyrikunlust erholen, die mir die Schule, der Deutschunterricht in seiner Brillanz verpasst hatte.

Nun erwacht sie wieder, zaghaft aber stetig. Wo waren und sind Worte freier und fließender: im Roman, dem Internetvideo, dem Hörspiel oder dem Gedicht? In Allem potentiell und in der Gewichtung wohl immer individuell. Meine Gewichtung jedenfalls verschiebt sich ständig.

Diese Dynamik ist hart erarbeitet und erscheint aus anderem Blickwinkle womöglich als Rastlosigkeit, Sprunghaftigkeit oder sogar als Oberflächlichkeit. Vielleicht ist beides wahr, unwahrscheinlich nur eines von beiden oder vermutlich keines. Allerdings gibt es so viel zu entdecken, warum also: rasten, stillstehen oder versinken?

Die doppelte Dosis Dichtung,

derentwegen die demütigen Diener daniederknien,

darf durch die Düsternis der dunklen Dame dein Denken dekontaminieren.

Ein Lyrikalarm setzt an, droht aufzubranden, bricht aber sofort wieder ab: Fehlalarm – Puh, Glück gehabt!

Nun aber endlich zu den zwei Anlässen des nächtlichen Textes, den Dichtern Heine und Hoffmann von Hoffmannswaldau. Beiden gingen wohl offenen Ohres und Herzens durch ihre Welt. Deren Tendenzen in ihrer Vergangenheit und Zukunft aufzuspüren, den Zeitgeist einzufangen und allesamt sorgsam zu verdichten, gelang ihnen meisterlich: „Eins Plus“ – Aufgabe voll erfüllt und mit herausragendem Talent aufgefallen.

Die beiden dazugehörigen Alarme liegen bereits hinter den armen Teufeln, die unter mir und meinen Allüren leiden müssen, seit ich hier und jetzt tippe. Während meine Meta-Texter deshalb nunmehr zögerlich und verschüchtert, manche sogar sichtlich verstört, unter ihren Tischen hervorkriechen, schreite ich stumm tippend zur Text-Tat. Zwei erlesen Exempel deutscher Literatur, Text-Fast-Food möchte ich fast sagen, wären sie nicht so unglaublich nahrhaft und sättigend, wird pünktlich zum Frühaufsteher-Frühstück serviert.

In freudig-fieser Erwartung kommender Lyrik-Alarme, Euer Satorius

P.S. der geschundenen Metatext-Redaktion: Von nun an ist es gegen unsere ausdrückliche Bitte und zu unserem Leidwesen möglich, die lyrischen Exempel an Text-Fast-Food in der Unterkategorie Lyrik-Alarm (Direktlink) zu finden.


Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,

Ich kenn auch die Herren Verfasser;

Ich weiß, sie tranken heimlich Wein

Und predigten öffentlich Wasser.

Ein neues Lied, ein besseres Lied,

O Freunde, will ich euch dichten!

Wir wollen hier auf Erden schon

Das Himmelreich errichten.

Wir wollen auf Erden glücklich sein,

Und wollen nicht mehr darben;

Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,

Was fleißige Hände erwarben.

Es wächst hienieden Brot genug

Für alle Menschenkinder,

Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,

Und Zuckererbsen nicht minder.

Ja, Zuckererbsen für jedermann,

Sobald die Schoten platzen!

Den Himmel überlassen wir

Den Engeln und den Spatzen.

Und wachsen uns Flügel nach dem Tod,

So wollen wir euch besuchen

Dort oben, und wir, wir essen mit euch

Die seligsten Torten und Kuchen.

Heinrich Heine (1797 – 1856), Deutschland. Ein Wintermärchen: S. 6f (Caput 1; 1844)


Was ist die Welt und ihr berühmtes Glänzen?
Was ist die Welt und ihre ganze Pracht?
Ein schnöder Schein in kurzgefaßten Grenzen,
Ein schneller Blitz bei schwarzgewölkter Nacht,
Ein buntes Feld, da Kummerdisteln grünen,
Ein schön Spital, so voller Krankheit steckt,
Ein Sklavenhaus, da alle Menschen dienen,
Ein faules Grab, so Alabaster deckt.
Das ist der Grund, darauf wir Menschen bauen
Und was das Fleisch für einen Abgott hält.
Komm, Seele, komm und lerne weiter schauen,
Als sich erstreckt der Zirkel dieser Welt!
Streich ab von dir derselben kurzes Prangen,
Halt ihre Lust für eine schwere Last:
So wirst du leicht in diesen Port gelangen,
Da Ewigkeit und Schönheit sich umfaßt.

Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616 – 1679), Die Welt (1647 – 1648)

Nervig-notwendiger Nietzsche

Daß die einzelnen philosophischen Begriffe nichts Beliebiges, nichts Für-sich-Wachsendes sind, sondern in Beziehung und Verwandtschaft zueinander emporwachsen, daß sie, so plötzlich und willkürlich sie auch in der Geschichte des Denkens anscheinend heraustreten, doch ebensogut einem Systeme angehören als die sämtlichen Glieder der Fauna eines Erdteils: das verrät sich zuletzt noch darin, wie sicher die verschiedensten Philosophen ein gewisses Grundschema von möglichen Philosophien immer wieder ausfüllen. Unter einem unsichtbaren Banne laufen sie immer von neuem noch einmal dieselbe Kreisbahn: sie mögen sich noch so unabhängig voneinander mit ihrem kritischen oder systematischen Willen fühlen; irgend etwas in ihnen führt sie, irgend etwas treibt sie in bestimmter Ordnung hintereinander her, eben jene eingeborne Systematik und Verwandtschaft der Begriffe. Ihr Denken ist in der Tat viel weniger ein Entdecken als ein Wiedererkennen, Wiedererinnern, eine Rück- und Heimkehr in einen fernen uralten Gesamt-Haushalt der Seele, aus dem jene Begriffe einstmals herausgewachsen sind – Philosophieren ist insofern eine Art von Atavismus höchsten Ranges. Die wunderliche Familien-Ähnlichkeit alles indischen, griechischen, deutschen Philosophierens erklärt sich einfach genug. Gerade, wo Sprach-Verwandtschaft vorliegt, ist es gar nicht zu vermeiden, daß, dank der gemeinsamen Philosophie der Grammatik – ich meine dank der unbewußten Herrschaft und Führung durch gleiche grammatische Funktionen – von vornherein alles für eine gleichartige Entwicklung und Reihenfolge der philosophischen Systeme vorbereitet liegt: ebenso wie zu gewissen andern Möglichkeiten der Welt-Ausdeutung der Weg wie abgesperrt erscheint.

Friedrich Nietzsche (1844 – 1900), Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft: S. 34f. (1886)


Wirklich mögen kann man ihn zwar schwerlich, aber in stummer Ehrfurcht sein Haupt zu einem respektvollen Kopfnicken in Richtung des fiesen Friedrichs zu bewegen, erscheint mir angemessen. Kaum ein Dichter-Philosoph hat mich länger auf meinem intellektuellen Weg begleitet als der große Spötter und fröhliche Skeptiker Friedrich Nietzsche. Eine geistige Hass-Liebe begleitet mich seither und führte zu einer On/Off-Beziehung, die bereits über ein Jahrzehnt anhält.

Ob er der (Post-)Moderne den Weg planiert, der philosophischen Tradition ins gemachte Nest spuckt oder die Abgründe und Gipfel von Kultur und Geschichte stilsicher in Worte fügt, immer tat er es auf unvergleichliche, unerträgliche und unverzichtbare Art. Ich, wie viele andere, können deshalb nicht mit ihm, aber auch nicht ohne ihn – denken, schreiben oder vielleicht gar leben.

Was er in seinen Schriften eigenhändig zertrümmert, und das ist viel mehr, als man gemeinhin großzügig erwartet, destruiert er mit großer Berechtigung und meinem kräftigen Beifall. Was er schonungslos attestiert oder hellsichtig prophezeit, ist mehr als bloße Spekulation und krude Fiktion. Was er in der Grauzone zwischen gutem Denken und gutem Darstellen gedichtet hat, verdient diese Bezeichnung gewiss – dichten-, denn er hat die (deutsche) Sprache geprägt, sie gleichzeitig bereichert und entschlackt.

Dennoch, er bleibt mit all seiner paradoxen Arroganz, seinem kruden Chauvinismus und seinem ätzenden Ethos ein neurotisch-neunmalkluger Nörgler. Manchmal möchte ich fast einen Fluch ausstoßen, indem ich laut rufe: „Nietzsche, Nietzsche…“, und nochmal: „Nietzsche“! Was dann wohl Wunderliches passieren würde?

In Anerkennung und Abneigung gleichermaßen, Euer Satorius

Praktische Metaphysik – Oxymoron oder zukünftige Disziplin?

Wenn aber der Ausgang von Experimenten zu grundlegenden Fragen der Quantenmechanik Aussagen über Realismus, Positivismus, Subjektivismus, Determinismus, Lokalität zuläßt, ist es durchaus berechtigt, in diesem Zusammenhang von ›praktischer Metaphysik‹ zu sprechen.

 

Peter O. Roll (Unbekannt), Quantenmechanik und ihre Interpretationen: Spektrum.de – Lexikon der Wissenschaft (Direktlink zum Artiekl) [Rev. 30.07.15]


Oder man müsste umgekehrt denken und diesen Begriffen sowie den Fragen, auf die sie antworten, ihren metaphysischen Rang rückwirkend aberkennen. Was sogar anekdotisch – genauer und unklarer sogar etymologisch – begründbar ist, wenn man es darauf anlegt.

Die erste Metaphysik mit ihrem klassische gewordenen Fragenkatalog befand sich als Band in einer posthumen Edition der gesammelten Werke des hochverehrten Aristoteles (Direktlink) an einer ganz bestimmten Stelle und verdankt eben dieser Stellung im Textkorpus ihren Namen. Das was heutzutage und damit seit der griechischen Antike Grunddisziplin der Philosophie gewesen ist, war zunächst einmal einfach nur ein Text in einer systematischen Werksammlung. Sie stand buchstäblich μετά metá ‚danach‘, ‚hinter‘, ‚jenseits‘ von φύσις phýsis ‚Natur‘, ‚natürliche Beschaffenheit‘, also den umfangreichen Hinterlassenschaften des alten Herren zur frühen Naturwissenschaft aka Naturphilosophie. Dort lagen die Abhandlungen zur Metaphysik räumliche wie thematisch jenseits der Schriften zur Natur(-wissenschaft): ta meta ta physikaDas hinter, neben der Physik. Ohne noch über das Verhältnis zur Ontologie nachzudenken, habe ich es damit wohl mal wieder genug darauf angelegt.

Nun soll dem  Herausgeber der Aristoteles-Werke – ebenso posthum – der Nachweis seiner Schlampigkeit drohen? Hätte der gute alte Andronikos von Rhodos (Direktlink) die Seiten mit den besagten Themen doch etwas weiter vorne platziert – aber er war ja kein Prophet, noch gar Physiker! Eben diese Physik schickt sich im Lichte der modernen Quantentheorie nun mutmaßlich und hoffnungsfroh dazu an, die Grenzen ihres Begriffsumfangs – immerhin noch praktisch – aufzusprengen. Nur um damit ihrer verwelkten Stiefmutter Philosophie noch ein paar mehr ihrer Themen abspenstig zu machen; oder sollte ich gar sagen: Ihr noch ein paar Objekte zu entreißen?

Ich bin hochgespannt auf die erhofften experimentellen Fortschritte grob 100 Jahre nach Aufkommen der paradigmatischen Totengräberin namens Quantenmechink. Eines kann ich mir zu Abschluss einfach nicht verkneifen: Und Gott würfelt doch – Bäh, Albert E.!

Fröhliche Wissenschaft, ahoi! Euer Satorius

Jenseits von Gut und Böse, diesseits von Hunger und Ausscheidung

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Vielleicht versteht man nicht ohne weiteres, was ich hier von einem »Grundwillen des Geistes« gesagt habe: man gestatte mir eine Erläuterung. – Das befehlerische Etwas, das vom Volke der »Geist« genannt wird, will in sich und um sich herum Herr sein und sich als Herrn fühlen: es hat den Willen aus der Vielheit zur Einfachheit, einen zusammenschnürenden, bändigenden, herrschsüchtigen und wirklich herrschaftlichen Willen. Seine Bedürfnisse und Vermögen sind hierin dieselben, wie sie die Physiologen für alles, was lebt, wächst und sich vermehrt, aufstellen. Die Kraft des Geistes, Fremdes sich anzueignen, offenbart sich in einem starken Hange, das Neue dem Alten anzuähnlichen, das Mannigfaltige zu vereinfachen, das gänzlich Widersprechende zu übersehen oder wegzustoßen: ebenso wie er bestimmte Züge und Linien am Fremden, an jedem Stück »Außenwelt« willkürlich stärker unterstreicht, heraushebt, sich zurechtfälscht. Seine Absicht geht dabei auf Einverleibung neuer »Erfahrungen«, auf Einreihung neuer Dinge unter alte Reihen – auf Wachstum also; bestimmter noch, auf das Gefühl des Wachstums, auf das Gefühl der vermehrten Kraft. Diesem selben Willen dient ein scheinbar entgegengesetzter Trieb des Geistes, ein plötzlich herausbrechender Entschluß zur Unwissenheit, zur willkürlichen Abschließung, ein Zumachen seiner Fenster, ein inneres Neinsagen zu diesem oder jenem Dinge, ein Nicht-herankommen-lassen, eine Art Verteidigungs-Zustand gegen vieles Wißbare, eine Zufriedenheit mit dem Dunkel, mit dem abschließenden Horizonte, ein Ja-sagen und Gut-heißen der Unwissenheit: wie dies alles nötig ist je nach dem Grade seiner aneignenden Kraft, seiner »Verdauungskraft«, im Bilde geredet – und wirklich gleicht »der Geist« am meisten noch einem Magen. Insgleichen gehört hierher der gelegentliche Wille des Geistes, sich täuschen zu lassen, vielleicht mit einer mutwilligen Ahnung davon, daß es so und so nicht steht, daß man es so und so eben nur gelten läßt, eine Lust an aller Unsicherheit und Mehrdeutigkeit, ein frohlockender Selbstgenuß an der willkürlichen Enge und Heimlichkeit eines Winkels, am Allzunahen, am Vordergrunde, am Vergrößerten, Verkleinerten, Verschobenen, Verschönerten, ein Selbstgenuß an der Willkürlichkeit aller dieser Machtäußerungen. […]

 

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Die Dummheit in der Küche; das Weib als Köchin; die schauerliche Gedankenlosigkeit, mit der die Ernährung der Familie und des Hausherrn besorgt wird! Das Weib versteht nicht, was die Speise bedeutet: und will Köchin sein! Wenn das Weib ein denkendes Geschöpf wäre, so hätte es ja, als Köchin seit Jahrtausenden, die größten physiologischen Tatsachen finden, insgleichen die Heilkunst in seinen Besitz bringen müssen! Durch schlechte Köchinnen – durch den vollkommnen Mangel an Vernunft in der Küche ist die Entwicklung des Menschen am längsten aufgehalten, am schlimmsten beeinträchtigt worden: es steht heute selbst noch wenig besser. Eine Rede an höhere Töchter.

 

Friedrich Nietzsche (1844 – 1900), Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft: S. 167f. & 172f. (1886)


Ein gedanklicher Gang weg von philosophisch-psychologischer Tiefe, die mit subtiler Selbstbeschau und inspirativer Weltbesichtigung glänzt, dann aber schnell weitereilt, sich selbst gar verleugnet und hin zu persönlichem wie historischem Chauvinismus strebt. Direkt hintereinander gestellt wirken diese beiden Stücke aus der radikalen, trotzdem lesenswerten Schrift, wie eine performative Selbstparadoxie: Geist ja, Gerechtigkeit nein – jenseits von Gut und Böse eben.

Erst erkennt sich der Geist in einigen seiner versteckten Bahnen, dann verkennt er sich und andere Geister in Bausch und Bogen. Von A zu Nicht-A (oder doch B?) in so kurzer Erzählzeit, wodurch das Weib den Linien des aggressiven Denkens unterworfen, sogleich den geistigen Gepflogenheiten Nietzsches zum Opfer fällt. Zurechtgefälscht und angeähnlicht wird so ein ganzes Geschlecht, die grobe Hälfte der Menschheit, zum Ventil für Friedrichs Willen zum Wettern und Wüten. Denn ebenso wie der Geist einem Magen gleich Aufgenommenes verdaut, so scheißt er im Verbund mit dem Darm Ausgezehrtes wie Unverdauliches aus und kotzt sogar bisweilen Unverträgliches und Unausstehliches im hohen Bogen. Gerade diese letzten, abstoßenden Körperfunktionen sind es, die Nietzsche zeitlebens kultiviert hat.

Solange man weder Weib ist, noch Wagner heißt oder gar zum Philister erklärt wurde, kann man leichter, emotional unbelasteter zwischen all dem bitteren Spott viele wertvolle Gedanken entdecken: Licht im Schatten der verborgenen Tiefen, Atemluft in schwindelnden Höhen und Klarheit im Nebelmeer der Existenz.

In ambivalenter Rezeptionsstimmung und mit hungrigem Magen, Euer Satorius

Politische Plaudereien am revolutionären Frühstückstisch

„Hier du, früher, das mit dem Feudalismus und der Ständehierarchie, das war echt ne klasse Sache! Zurück zur Monarchie!“, sage ich, mitten ins Blaue hinein.

„Nein, du Dummerchen“, unterbricht mich Plutokrach mit mildem Spott, „das ist keinesfalls denkbar: klingt scheiße, ist auch wirklich scheiße und nicht mal annähernd diskussionswürdig!“

„Die Attische Demokratie und die Römische Republik, so stelle ich mir das vor. Das waren zwei erstklassige Epochen, ganz gewiss gute Vorbilder. Die Namen gehen nicht nur leichter von den Lippen, die klingen sogar richtig gut!“, wirft Pita kross ein.

„Da hat er Recht, wobei die moderneren Formen eine gute Weiterentwicklung der antiken Vorläufer waren: England, Amerika, Frankreich, EU und Co. Kg., Inc., Copyright, TM waren echt optimal“, schließt sich Plutokrach mit einem verschwörerischen Lächen auf den Lippen an.

„Das nehme ich doch auch. Nicht lang zögern, zugreifen und reinbeißen. Herr Ober, ein Mal Demokratie & Republik, aber zackig bitte. Gut durchgebraten, also well done meine ich. Ja, so mag ich die beiden am liebsten – Hauptsache nicht mehr blutig!“, lallt Highmitch im Vollrausch vor sich hin.

„Ey, Highmitch, du bist ein Hohlkopf! Aber für euch anderen, habe ich ein paar Einwände und Erwägungen: Das alles hat damals nur funktioniert, weil der üppige Wohlstand, der diese Staatsformen mitunter überhaupt erst ermöglicht hat, von Zwang, Raub und Krieg getragen wurde. Ohne Sklaven für die harte Arbeit, Frauen für Heim und Herd und Barbaren zum Plündern wäre in der Antike nicht viel gelaufen. Und in der Neuzeit – tja – da waren es die indoktrinierten Arbeiter und kompetenten Karrieristen, Massen an bequemen und unmündigen Wähler. Eigentlich herrschte weltweit ein politisch ungezügelter, höchst asymmetrisch angelegter Konsumkapitalismus, der in Kombination mit einer weltweiten Finanzmafia, den sog. Banken und ihren Anlegern, die Mitmenschen an der Nase herumführten. Zahlen und Wachstum waren mehr Wert als die Menschenkinder und ihre Mutter Erde. Glaubt mir einfach, das war echt nicht ohne damals. Wenn man genauer hinschaut war die Angelegenheit höchst doppelbödig und dubios; destruktiv und desaströs ja allemal, wie wir alle wissen sollten. Wir müssen uns endlich mal was wirklich Neues ausdenken. Die Vergangenheit und ihrer politischen Ideale sind aber definitiv eine gute Inspirationsquelle, dagegen habe ich nichts einzuwenden – aber eben nicht mehr als das“, wendet Galle in einem bitter-utopischen Monolog ein.

Alle starren wir ihn an, sagen aber unsererseits Nichts. Damit bringt er unsere ansonsten so illustre Runde abrupt zum Schweigen. So sitzen wir minutenlang am verschwenderisch gedeckten Frühstückstisch und grübeln, jeder für sich, stumm und nachdenklich vor uns hin. Jeder spekuliert, analysiert, differenziert und entwirft letztlich mehr oder weniger plausible politische Systeme für die eigene und vor allem für unsere gemeinsame Zukunft. Nach der Revolution ist vor der Revolution, das wäre doch sicher ein tolles Motto. Das denke ich mir gerade noch als plötzlich Geschichte, Mensch und Zufall in einem Affenzahn auf uns zugerast kommen und uns alle zusammen …

So stelle ich mir gute Science-Fiction-Dramatik vor, nicht so seicht und implizit, wie hier nun als Text-Fast-Food folgt. Die dreibändige Buchreihe von Frau Collins ist trotzdem und allem anderen, was man einwenden mag und könnte, irgendwie dennoch lesens- bzw. in meinem Fall genauer hörenswert gewesen. Und schön anzusehen ist ihre zügig zurechtgeschnittene Hollywood-Verwurstung allemal: Popcorn in the hands, it’s Mainstream-Time!

Mit parodistischen wie frühmorgendlichen Grüßen, Euer Satorius


 

»Und wenn wir gewinnen, wer würde dann die Regierung bilden?«, fragt Gale.

 

»Alle«, antwortet Plutarch. »Wir werden eine Republik gründen, in der die Einwohner jedes Distrikts einschließlich des Kapitals ihre eigenen Vertreter wählen können, damit diese in der Zentralregierung für sie sprechen. Schau nicht so skeptisch! Das hat früher auch schon mal funktioniert.«

 

»In Büchern«, brummt Haymitch.

 

»In Geschichtsbüchern«, sagt Plutarch. »Und wenn unsere Vorfahren das konnten, dann können wir das auch.«

 

Mit unseren Vorfahren sollten wir eigentlich nicht so angeben, finde ich. Wenn man sieht, was sie uns hinterlassen haben, die Kriege, den zerstörten Planeten. Offensichtlich haben sie sich keine Gedanken über die Leute gemacht, die nach ihnen kamen. Trotzdem, die Idee mit der Republik klingt verlockend im Vergleich zu unserer jetzigen Regierung.

 

Suzanne Collins (1962 – ), Die Tribute von Panem – Flammender Zorn: S.106f. (Band 3; 2011)

Legendäre Gelassenheit

Lass den Zorn,

die stürmische Erregung,

Alles Ungestüm,

hat keine Dauer:

Keine Stunde währt

ein Hagelschauer,

Keinen Tag des

des Wirbelwinds Bewegung!

Rasch verglüht des

Blitzes Feuerklinge –

Und dies sind des

Himmels große Mächte.

Stille ziemt dem

kleineren Geschlecht,

Und von selber,

ordnen sich die Dinge.


Genug zu haben, ist Glück,

mehr als genug zu haben, ist unheilvoll.

Das gilt von allen Dingen,

aber besonders vom Geld.


Übe die Regungslosigkeit,

beschäftige dich mit Untätigkeit,

finde im Verzicht Genuss,

und du siehst das Große im Kleinen,

das Viele im Wenigen.

 

Laozi bzw. Lao-Tse (um 600 v.Chr.), zufällige Weisheiten.

Hin und Her – wo ist denn bitte, hier verdammt nochmal die goldene Mitte?!

Du weißt nicht mehr, wie Blumen duften,

Kennst nur die Arbeit und das Schuften –

… so gehen sie hin, die schönsten Jahre,

am Ende liegst du auf der Bahre

und hinter dir, da grinst der Tod:

Kaputtgerackert – Vollidiot!

 

Joachim Ringelnatz (1883 – 1934), ihm zugeschrieben, gleichwohl sind Autorenschaft und Titel unklar.

Im nächsten Leben, soviel ist dir nun klar,

scheißt du auf Blaumann, Anzug und Talar!

… sagst „Ja!“ zur Muße, frönst voll dem Müßiggang,

bist für Ehre, Macht und Geld kein guter Fang;

aber dann – beim nächsten Urnengang – fragt dich der Schnitter:

War das nun reines Glück, das Paradies gar, oder doch nur schal und bitter?

 

Daniel Heinz Quanz (1983 – ), Geht schon – oder wie oder was? (2015) 

Über die Toleranz und Energieprobleme

Es gibt einige von ihnen: Kraftquellen der menschlichen Existenz. Religiosität oder allgemeiner das Bedürfnis nach Metaphysik besitzen definitiv einen solchen Stellenwert. So allgegenwärtig, umfassend im Raum und unablässig in der Zeit, dass ich wenigstens eine kulturelle Affinität, höchstens eine anthropologische Konstante wittere.

Speisen sich Werte und Tugenden aus einer solchen Kraftquelle, gedeihen sie prächtig. Versiegen wichtige Quellen oder kommt deren Zufluss ins Stocken, dann haben es die Werte schwerer als zuvor, deren Blüte und Wachstum sowieso, aber auch der bloße Bestand. Die Metapher ist ebenso unerschöpflich wie intellektuell unanständig und definitiv überstrapaziert. 

Theismus oder Deismus, Atheismus oder Agnostizismus und ihr Verhältnis zur demokratischen Generaltugend Toleranz stehen zur Debatte. Tagesaktuell wird die Frage nach deren Bedingungen und Grenzen dringlich, besonders im Angesicht von Zuwanderung und Flucht, Ideologisierung und Radikalisierung sowie dem gefühlten Verlust von Solidarität und Vertrauen werden Fragen rund um die Toleranz für immer mehr Menschen ein konkretes Thema. Historisch spielt für Genese und Differenzierung des betrachteten Begriffs vor allem die Epoche der Aufklärung und deren produktiven Geister eine eminente Rolle. Ihr Beitrag zum ideengeschichtlichen Fundament unserer heutigen politischen Realität, jedenfalls in Europa und an wenigen weiteren Oasen der Freiheit auf diesem, kann nicht unterschätzt werden. Ein Allgemeinplatz, zugegeben, aber Kant, Hegel, Voltaire und Co. genießen nicht zu Unrecht Weltruhm. Zudem erquickt Philosophiegeschichte nicht jeden so sehr wie mich – also schnell weiter mit den argumentativen Siebenmeilenstiefeln. 

Quanzland im Übrigen gehört nicht zu den politisch privilegierten (Post-)Demokratien, noch nicht, denn es herrscht verhaltene Unruhe. Kognitive Dissonanzen machen die Runde, sorgen für allerlei Kontroverse und beleben die Kommunikation. Wenn der Gedankenterrorist weiter so konsequent und wortbewaffnet in idealistisch-kritischen Töpfen rührt, erwärmt sich die bereits zaghafte, öffentliche Diskussion über das allpräsente Text-Fast-Food noch weiter. Ob sie jedoch jemals zum Kochen gebracht werden kann, bleibt bis auf Weiteres der konservativ-trägen Stimmung der kaltblütigen Quanzländer ausgeliefert. Nicht umsonst herrschen hier alle alten System auf einmal ohne etwas Neues hervorzubringen und das seit sehr langer Zeit, womit ein politikwissenschaftliches Mysterium ersten Rangs gleich einem Dorn ins Auge dieser Disziplin sticht.

Aber sogar hier scheint dieser stürmischen Tage kein Wert mehr selbstverständlich, erst recht nicht die höchst unbequeme und bisweilen kostspielige Toleranz. Aus dieser Notdurft kann eine Rückbesinnung auf das zeitlos Allgemeine der guten alten Aufklärung nicht schaden. Viel kritisiert, historisch ausgehöhlt und nur wechselhaft verwirklicht blieb diese Tradition alle Widerständen zum Trotz untergründig vital. Dabei wirkt der angedrohte Blick fast zweieinhalb Jahrhunderte zurück in die Zeit Voltaires, wie ein Beleg für die zeitlose Aktualität der Toleranz-Problematik und zugleich als Apell, wirklich tolerant zu leben, nicht bloß zu denken – Heute, Gestern und Morgen.

Die bedeutsam angedeuteten Fragen bleiben allerdings metaphorisch und bewusst offen: Welcher Kraftquellen bedarf Toleranz notwendig? Welche Quellen stehen dem üblichen Europäer, dem durchschnittlichen Quanzländer, dem spekulativen Weltbürger überhaupt zur Verfügung? Welche dieser Ströme lassen sich mit welchen Turbulenzen oder überhaupt vereinigen? Was tun gegen Dürre und Überschwemmung?

Voltaire, als einen zufällig ausgewürfelten Vertreter der Aufklärung zu lesen und aktiv zu befragen löst diese großen Fragezeichen nicht, ist aber keineswegs, zu keiner Zeit schädlich, im Gegenteil sogar in jedem Fall empfehlenswert. Der gute Mann ist anschlussfähig an fast jedes große Thema unserer komplexen Gegenwart: Voltaire und Grexit, Voltaire und IS/Charlie Hebdo, Voltaire und Pegida, Voltaire und Vertrauen gegenüber Verbündeten, etc. pp.

Hier gilt der Grundsatz jeder praktischen Philosophie und Lebenskunst, in all seiner Marxschen Ernüchterung, dass nämlich Theorie und ihre Antworten, wenn überhaupt gegeben, vor allem einen Arbeitsaufträge für die eigene Existenz beinhalten. Arbeit statt Denken macht die Ethik, laute demgemäß die Devise. Voltaire lesen ist schon mal nicht schlecht, Toleranz im Alltag üben aber letztlich viel besser, dementsprechend auch unendlich viel anspruchsvoller. Wenn man doch nur unerschöpfliche Kraftquellen hätte, aber immer und überall gibt es dieses lästigen Energieprobleme!

In froher Erwartung meiner nächsten beiden Kraftquellen: Genuss und Nahrung; Euer Satorius


Und dies geschah in unseren Tagen; geschah zu einer Zeit, wo die Philosophie solche Fortschritte gemacht; zu einer Zeit, wo hundert Akademien schreiben, um sanfte Sitten einzuflößen! Es scheint, als ob der Fanatismus, aufgebracht über die kleinen Fortschritte der Vernunft, sich mit desto größerer Wut gegen sie auflehnte.

 

Kapitel I

 

Das Recht der Intoleranz ist also ebenso unvernünftig als barbarisch. Es ist das Recht der Tiger; ja noch schrecklicher als dies. Die Tiger zerreißen nur, um ihren Hunger zu stillen; wir vertilgen einander um Paragraphen.

 

Kapitel VI

 

„Dieser kleine Erdball, der nicht mehr als ein kleiner Punkt ist, dreht sich im Raume so gut als andere Weltkugeln. wir verlieren uns in dieser Unermesslichkeit. Der etwa fünf Schuh hohe Mensch ist gewiss eine Kleinigkeit in der Schöpfung. Eines dieser kleinen unmerklichen Wesen redete einmal einige seiner Nachbarn in Arabien oder auf der Küste der Kaffern [Alle Fremden, der Andere an sich; D.Q.] folgendergestalt an: ‚Hört mir zu, denn der Schöpfer aller dieser Welten hat mich erleuchtet. Es gibt Neunhundertmillionen kleiner Ameisen wie wir auf der Erde; aber Gott liebt nur meinen Ameisenhaufen; alle anderen sind ihm von Ewigkeit her ein Greuel. Mein Ameisenhaufen alleine wird glücklich und alle übrigen werden ewig unglücklich sein.“

Hier wird man mich sogleich unterbrechen und fragen, wer der Narr gewesen ist, der so unvernünftig Zeug geredet hat. Und ich werde mich genötigt sehen, ihnen zu antworten: „Ihr selbst.“

 

Kapitel XXII

 Gebet

Nicht mehr zu den Menschen, zu Dir wende ich mich, Gott aller Wesen und aller Zeiten! Wenn es schwachen Geschöpfen, die sich im Unermesslichen verlieren und von dem übrigen Teile des Weltalls nicht einmal bemerkt werden, erlaubt ist, Dich um etwas zu bitten, Dich, der Du alles gegeben hast, Dich, dessen Gesetze unwandelbar sind und ewig: siehe mitleidsvoll herab auf die Irrtümer unsrer Natur! Laß diese Irrtümer nicht unser Elend werden! Du gabst uns nicht ein Herz, daß wir einander hassen, nicht Hände, daß wir einander erwürgen sollten. Gib, daß wir einander helfen, die Last des kurzen, flüchtigen Lebens zu tragen; daß kleine Verschiedenheiten unter den Bedeckungen unsrer schwachen Körper, unter unsern unvollständigen Sprachen, unter unsern lächerlichen Gebräuchen, unsern mangelhaften Gesetzen, unsern törichten Meinungen, unter allen in unsern Augen so getrennten und vor Dir so gleichen Ständen, daß alle diese kleinen Abweichungen der Atome, die sich Menschen nennen, nicht Losungszeichen des Hasses und der Verfolgung werden! Gib, daß diejenigen, die am hellen Mittage Wachslichter anzünden, um Dich zu ehren, diejenigen ertragen, die mit dem Licht Deiner Sonne zufrieden sind; daß diejenigen, die ihr Kleid mit einer weißen Leinwand bedecken, um zu sagen, daß man Dich lieben muß, diejenigen nicht verabscheuen, die eben dasselbe unter einem Mantel von schwarzer Wolle sagen; daß es einerlei sei, ob man in einer nach einer alten Sprache gebildeten oder in einer neuern Reihe von Worten zu Dir betet! Gib, dass die, deren Kleid rot oder violett gefärbt ist und die über ein kleines Teilchen eines kleinen Haufens dieses Staubkorns herrschen, und die einige abgerundete Stückchen von einem gewissen Metall besitzen, ohne Stolz dessen, was sie Größe und Reichtum nennen, genießen und daß die andern sie nicht beneiden! Denn Du weißt, daß es unter den Eitelkeiten dieses Lebens nichts gibt, was verdiente, einander darum zu beneiden und stolz darauf zu sein.

Möchten doch alle Menschen sich erinnern, daß sie Brüder sind! Möchten sie doch alle Tyrannei über die Seele ebenso wie den Straßenraub verabscheuen, der ihnen die Früchte ihrer Arbeit und ihres ruhigen Fleißes nimmt! Wenn die Plagen des Krieges unvermeidlich sind, so laß uns doch im Schoße des Friedens einander nicht hassen und zerreißen! Laß uns den Augenblick unsers Daseins anwenden auf gleiche Weise, in tausend andern, verschiednen Sprachen, von Siam bis Kalifornien Deine Güte zu preisen, die uns diesen Augenblick gegeben hat!

Kapitel XXIII

François Marie Arouet de Voltaire (1694 – 1778), Über die Toleranz: veranlaßt durch die Hinrichtung des Johann Calas, im Jahre 1762 (Direktlink zur Digitalisierung): Passim (1763)

Paradoxes spricht: Frau Spicht!

Lyrisch womöglich noch wenig faszinierend, stellt diese kleine Strophe ein bisher erfrischend unbewältigtes Gedankenspiel und seine Folgen zur Schau, das Einstein seiner Disziplin und unserem Weltverständnis gleich einem mentalen Kuckucksei ins kollektive Gedächtnis gelegt hat. An den vielfältigen Verwicklungen (Schrödingers Katze, Multiwelten, etc.), die sich aus der Vertiefung und Interpretation dieser Thematik als Problematik im Rahmen der Quantenmechanik ergeben, lässt uns Frau Spicht noch nicht einmal teilhaben, deutet sie höchstens an.

Da behaupte noch mal jemand, Paradoxie und Paradoxes sei der Wissenschaft fremd oder solle es jedenfalls bleiben, und wäre, wenn überhaupt, dann doch bitte ein Thema für die Philosophie und nicht die harten Wissenschaften. Die Geschichte der Physik in der guten ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und die sich daran anschließende tendenzielle Stille, sprechen eine andere Sprache.

In nostalgischer Rückbesinnung auf einen meiner ersten Zugänge zur Philosophie, Euer Satorius


Es war eine Dame, die hieß Frau Spicht

Und bewegte sich tatsächlich schneller als Licht.

Sie verschwand eines Tages

Relativ ungefraget

Und kam nachts zuvor schon zurück.

 

Robert Anton Wilson (1932 – 2007), Die neue Inquisition: S. 165 (1992)