Text-Fast-Food

Muße, Arbeit, Müßiggang

Denn die Muße ist der Angelpunkt, um den sich alles dreht. Wenn auch beides sein muss, so ist die Muße dem Leben der Arbeit vorzuziehen, und das ist die Hauptfrage, mit welcher Art Tätigkeit man die Muße auszufüllen hat. Die Muße scheint Lust, wahres Glück und seliges Leben in sich selbst zu tragen.

 

Aristoteles (384 – 322), Politik: S. 284f.

 

Denn Gott will keine faulen Müßiggänger haben, sondern man soll trefflich und fleißig arbeiten, ein jeglicher nach seinem Beruf und Amt, so will Er den Segen u d das Gedeihen dazu geben. Der Mensch ist zur Arbeit geboren wie der Vogel zum Fliegen. Müßiggang ist Sünde wider Gottes Gebote, der hier Arbeit befohlen hat.

 

Martin Luther (1483 – 1546), Private Mitteilung.

 

Ein Müßiggänger ist der Mensch der Zukunft. Betreibt der Müßiggänger künftig Müßiggang, so wird es zu einer Revolution kommen, die auf wunderbare Weise Errungenschaften hervorbringt, von denen heute niemand zu träumen wagt.

 

Günter Bruno Fuchs (1928 – 1977), Wanderjahre: S. 76.


Drei Epochen, drei verwandte Begriffsfelder, drei Perspektiven auf ein Thema, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Welcher dieser Geister, welche sittlichen Konvention zumal, herrscht denn in Deinem Heimatland, vermeine ich zwischen den Zeilen der drei Zitate wispern zu hören, oder träume ich das nur? Ist vielleicht einfach der moderne Plural angemessen und jeder wählt frei aus dem Fundus an Haltungen, fern von Anpassung und Ideologie? Da ich es nicht zu sagen weiß, entscheide ich mich optimistisch.

Eindeutig dem Müßiggang, der Muße und den Musen verpflichtet, gleichsam dem Schlafe nahe, Euer Satorius

Ein (Gedanken-)Terrorist, seine Wünsche und Emotionen

Art 146

Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.

 

Parlamentarischer Rat (1948-1949), Grundgesetz der BRD

 

[Ist der letzte Artikel dieser (Übergangs-)Verfassung nicht ein grandioses Finale; Logisches Ende und historisierender Sargnagel zugleich? Damit erspüre ich ein einladend geöffnetes Tor in die konstitutionelle Zukunft! Worauf warten wir noch, warum fordern wir keine derartige Offenheit für unsere Heimat? Hier bei uns wäre nämlich alles besser als der Status quo, besonders ein solch offenes, lernfähiges Provisorium wie dort. Dieser Zustand und die ihm innewohnende Diskrepanz erfüllen mich phasenweise mit Neid, Scham oder Ärger – manchmal sogar alles zeitgleich zusammen; D.Q.]

Fragwürdige Fremdverzweiflung im Fragment

In einem Komplex aus Sturm und Drang, Bipolarer Störung und romantischer Finesse finden wir uns heute mit dem neusten Text-Fast-Food. Eindringliche Worte vermitteln einen tiefen Einblick in eine gepeinigte, hin- und hergeworfene Existenz.

Auch wenn ich die Frage, wie dieses Bekenntnis eines Leidenden in den Zusammenhang der Text-Attentate passen soll, nicht zu stellen, noch gar zu beantworten wage, vermag ich doch immerhin Zweierlei:

Zum einen eine Leseempfehlung auszusprechen für das gesamte Fragment, dem eine berauschende, poetische Kraft innewohnt. Von dieser Kraft erfasst, wurde ich eines Nachts richtiggehend mitgerissen. Zum zweiten erlaube ich mir einen Verweis auf den thematisch eng verwobenen Briefroman Hyperion oder der Eremit in Griechenland aus den Jahren 1797-1799. Hier allerdings ohne eigene Lektüreerfahrung, riskiere ich einen Vorschuss an Erwartungen und hoffe dabei auf literarisch Ebenbürtiges.

Fröhliche Fremdverzweiflung, Euer Satorius


 

Aber die mannigfaltige Täuschung drückte mich unaussprechlich nieder. Ich glaubte wirklich unterzugehn. Es ist ein Schmerz ohne gleichen, ein fortdaurendes Gefühl der Zernichtung, wenn das Dasein so ganz seine Bedeutung verloren hat. Eine unbegreifliche Mutlosigkeit drückte mich. Ich wagte das Auge nicht aufzuschlagen vor den Menschen. Ich fürchtete das Lachen eines Kindes. Dabei war ich oft sehr still und geduldig; hatte oft auch einen recht wunderbaren Aberglauben an die Heilkraft mancher Dinge. Oft konnte ich ingeheim von einem kleinen erkauften Besitztum, von einer Kahnfahrt, von einem Tale, das mir ein Berg verbarg, erwarten, was ich suchte.

 

Mit dem Mute schwanden auch sichtbar meine Kräfte.

 

Ich hatte Mühe, die Trümmer ehemals gedachter Gedanken zusammenzulesen; der rege Geist war veraltet; ich fühlte, wie sein himmlisch Licht, das mir kaum erst aufgegangen war, sich allmählich verdunkelte. Freilich, wenn es einmal, wie mir deuchte, den letzten Rest meiner verlornen Existenz galt, wenn mein Stolz sich regte, dann war ich lauter Wirksamkeit, und die Allmacht eines Verzweifelten war in mir; oder wenn sie einen Tropfen Freuden eingesogen hatte, die welke dürftige Natur, dann drang ich mit Gewalt unter die Menschen, sprach, wie ein Begeisterter, und fühlte wohl manchmal auch die Träne der Seligen im Auge; oder wenn einmal wieder ein Gedanke, oder das Bild eines Helden in die Nacht meiner Seele strahlte, dann staunt ich, und freute mich, als kehrte ein Gott ein in dem verarmten Gebiete, dann war mir, als sollte sich eine Welt bilden in mir; aber je heftiger sich die schlummernden Kräfte aufgerafft hatten, desto müder sanken sie hin, und die unbefriedigte Natur kehrte zu verdoppeltem Schmerze zurück.

 

Wohl dem, Bellarmin! wohl dem, der sie überstanden hat, diese Feuerprobe des Herzens, der es verstehen gelernt hat, das Seufzen der Kreatur, das Gefühl des verlornen Paradieses. Je höher sich die Natur erhebt über das Tierische, desto größer die Gefahr, zu verschmachten im Lande der Vergänglichkeit!

 

Friedrich Hölderlin (1770 – 1843), Fragment von Hyperion: S. 4 (1797 – 1799)

6 subversive Glückskekse und 1 glaubhaftes Plädoyer

Der zufriedene Mensch, wenn auch arm, ist glücklich, der unzufriedene Mensch, wenn auch reich, ist traurig.

 

Gier macht den Menschen im Leben arm, denn die Fülle dieser Welt macht ihn nicht reich. Glücklich ist wer ohne Krankheit, reich wer ohne Schulden.

 

Wenn du auch zehntausend Felder hast, kannst du nur ein Maß Reis am Tag essen; wenn auch dein Haus tausend Zimmer enthält, kannst du nur acht Fuß Raum brauchen bei Nacht.

 

Fürchte dich nicht vor dem langsamen Vorwärtsgehen, fürchte dich nur vor dem Stehenbleiben.

 

Solange du dem Anderen [Funktionär, Mitglied, Rat, Minister, Meister, Abt, Lehrer, Vater, Mutter, etc., uvm.; D.Q.] sein Anderssein nicht verzeihen kannst, bist du noch weit ab vom Wege zur Weisheit.

 

Ist eine Sache am Geschehen, dann rede nicht darüber, es ist schwer verschüttetes Wasser wieder zu sammeln.

 

Chinas kollektives Bewusstsein (grob 1485 v.Chr. – ), Quellen chinesischer Weisheit (Selektiert und arrangiert; D.Q.)


Subversion aus dem Glückskeks war das Motto dieses neuen, großangelegten Gedanken-Anschlags. Mehrere tausend Flugblätter, überall angeschlagen und in alle Winde verstreut, boten oben lesend zu bestaunende Neuerung.

Eine brandneue Art Text-Fast-Food wird damit also heute serviert: Der thematische Zitat-Freistil, hier als Sechsgang-Menü erlesenster Klassiker Asiens. Sechs für sich harmlose Fragmente der reichen Weisheitslehre Chinas bekommen durch Auswahl und Reihenfolge eine zusätzliche Bedeutungsebene. Unser Lieblings-Terrorist fühlt sich zudem wohl genötigt für die Bürger Quanzlands mit dem kommentierenden Zaunpfahl zu winken. Insgesamt zeigt sich der ominöse D.Q. neuerdings öfter, neinahe aufdringlich zwischen den Zeilen seiner Zitate.

So werden hier weite historische Bezüge sichtbar gemacht und zugleich illustre Schlaglichter nicht nur auf die vergangene Politik Chinas geworfen. Freilich treffen mehr Aspekte des Zaunpfahl-Subtextes, als uns liebe sein dürfte, auf Quanzland zu; und mehr oder weniger auch die meisten anderen Staatswesen, die gewesen sind und derzeit wesen – weltweit ihr Unwesen treiben.

Allerdings möchte ich trotz aller Sympathie für den Terroristen und entgegen aller gemachten Andeutung von allem Möglichen eines hier und jetzt endgültig klarstellen: Anarchie und Kommunismus, wie auch Utopien/Dystopien im Allgemeinen, sind keine ernstzunehmende Alternative, für einfach gar überhaupt nichts. Alles ist gut hier in Quanzland und sicher auch anderswo, alles ist gut genug, besser geht’s einfach nicht! Nicht, dass mich hier jemand falsch missverständlich missinterpretiert, indem er mir wenigstens Verharmlosung von intellektuellem – nein, ideologischem – Terrorismus unterstellt oder mich sogar am Ende noch dessen untergründiger Unterstützung bezichtigt.

Metatext-Redaktion: Diese Beteuerungen stimmen wirklich, sind also ganz bestimmt keine Ironie! Ebenso sicher ist das alles hier über uns ein lahmer Versuch, sich vor dem zugesagten Start der neuen Rubrik zu drücken. Nicht nur wahllos Themen sammeln, sondern auch mal darüber schreiben. Fleiß und Pünktlichkeit wären nach und neben Loyalität, Sittlichkeit und Anstand zwei weitere Tugend, die zukünftig mehr Beachtung verdient hätten!

Primaten und ihrer Abarten

Die meisten Primaten markieren ihre Territorien mit Exkrementen; domestizierte Primaten [wir, die sog. Menschen; D.Q.] markieren ihre Territorien mit Tintenexkrementen auf Papier (Verträge, Rechtstitel usw.). Aus biologischer Sicht ist jede nationale Grenze in Europa Mahnmal für ein Gebiet, auf dem zwei rivalisierende Banden von domestizierten Primaten bis zur Erschöpfung gekämpft und dann ihre territoriale Markierung hinterlassen haben.

 

Dank der einzigartigen Fähigkeit domestizierter Primaten (zu denen übrigens neueren Untersuchungen zufolge auch Schimpansen zählen), neurosemantische Systeme (Kodes, Sprachen) zu lernen, können diese unvergleichlichen Säugetiere ebenso wie natürliche Reviere auch symbo­lische Reviere beanspruchen (oder glauben, sie beanspruchen zu dür­fen). Solche symbolischen Reviere sind im allgemeinen unter dem Be­griff »Ideologien« oder »Glaubenssysteme« bekannt – wir bevorzugen hier den Terminus »Realitätstunnel«.

 

Robert Anton Wilson (1932 – 2007), Die neue Inquisition: S. 36 (1992)

Krieg den Märkten, Friede den Utopien

Es gibt heute sehr starke Vorbehalte, sich auf eine Definition der von uns erstrebten Güter festzulegen, sogar Bedenken, einen Vortrag über das gute Leben als solches zu halten. Wir leben in liberalen Gesellschaften, die ihre Vorstellung vom Guten „vor die Tür gesetzt“ haben. Warum? Zunächst weil wir den Dissens fürchten, den das Aufeinanderprallen von notwendigerweise konkurrierenden Vorstellungen hervorrufen könnte. Und schließlich weil wir Angst haben, dass die Mehrheit ihre Vorstellung vom guten Leben denen aufzwingen könnte, die sie nicht teilen. Das sind durchaus legitime Befürchtungen. Aber ich sehe keinen anderen Ausweg, als sich der Schwierigkeit zu stellen. Sonst werden wir den Angriffen des Marktes keine substanziellen Argumente [geschweige denn, Aktionen; D.Q.] entgegensetzen können.

 

[…]

 

Der Markt erschien uns als neutraler und sehr nützlicher Bewertungsmechanismus, der uns die Mühe schwieriger Kontroversen über das beste Mittel für die Bewertung eines Gutes ersparte. Gleichzeitig bemühten sich die liberalen Philosophen, die öffentliche Vernunft so stark wie möglich einzudämmen. Seitdem begannen wir zu verstehen, dass man die öffentliche Debatte nicht komplett auslagern darf. Denn das überlässt dem Markt immer mehr Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und bringt uns in einen Zustand gesellschaftlicher Abgestumpftheit. Unsere Kultur überhitzt sich, denn sie ist im Wesentlichen sinnentleert, ohne einen moralischen oder geistigen Inhalt [, frei von Utopischem; D.Q.]

 

Michael J. Sandel (1953 – ), Gespräch unter dem Titel „Wir haben Angst vor dem guten Leben“, in: Philosophie Magazin Nr. 03/2015 (April/Mai), S. 73


Nirgendwann und Nirgendwo der Marktförmigkeit vieler Lebensbereiche den Spiegel vorzuhalten, ist aus der Mode gekommen. Dazu bedarf es in Quanzland nicht einmal mehr der Aktionen unseres werten Gedankenterroristen, und trotzdem verdanken wir ihm diese Schlaglichter auf zwei aktuelle Stimmen der Kritik. Ihr Gegner ist der Zeitgeist, der durch Quanzland weht.

Der anonyme Täter, den wir seit Anbeginn unserer Reise begleitet haben, bleibt dennoch eine Ausnahmeerscheinung in der Öffentlichkeit. Er ist wahrlich nicht alleine in seiner Opposition, wohl aber durch die Wahl seiner Mittel und Methoden gefährdet. Als Terrorist geächtet, steht er mit dem Rücken zum Hintergrund einer Meinungsmaschinerie, die Kritik gut portioniert und inszeniert geschehen lässt. Dass er angesichts seiner brisanten Lage nunmehr beginnt, seltsame Signaturen in die Text-Attentate einzuschreiben, erregt mein Interesse ebenso wie die neuerliche Aktualität der verwendeten Quellen.

Hier alsonnoch ein zweites Exempel seiner subversiven Aktivitäte der letzten Wochen, konsumierbar in einer marktfreien Light-Variante.

Mit anerkennendem Gruß an alle Nichthändler, Euer Satorius


 

Da muss ich widersprechen. Hinter dieser Haltung [Wir seien alle Kinder Mammons und als solche zur Vernunft befähigt; D.Q.] steht letztlich ein Rousseau’scher Ursprungsmythos, dass wir im Kern alle gut sind und es nur die Gesellschaft – oder die Zivilisation – ist, die uns verdirbt. […] Das lässt sich philosophisch auch als Frage nach dem Humanismus formulieren:

 

[…]

 

Haben wir ein Gemeinsames – ob man es jetzt biologisch oder theologisch definieren mag? Ich würde eher fragen: Wohin wollen wir? Das ist eine sowohl politische als auch philosophische Frage, die viel zu wenig gestellt wird, weil wir in einer Gesellschaft leben, die wenig Zukunftsemphase hat, sondern allenfalls, dass alles in zehn Jahren noch nicht gänzlich katastrophal sein wird.

 

Armen Avanessian (1974 – ), Gespräch unter dem Titel „Freund oder Feind?“, in: Philosophie Magazin Nr. 03/2015 (April/Mai), S. 63f.

 

Ein wenig Zeit für ein Wenig Zeit

Die liebe Zeit beschäftigt uns alle: Kirchenväter, Terroristen und brave Bürger wie mich. Da ich aber derzeit zu wenig davon habe, überlasse ich das Texten anderen. Ich schreibe gleichwohl an anderen Stellen, worunter der Blog etwas leidet  – eventuell ist es andersherum und es tut ihm gut.

Auch wenn unserer subversiver Textattentäter weiterhin umtriebig ist und viel Text-Fast-Food überall in Quanzland lanciert, werde ich zunehmend zum Nadelöhr des Informationsflusses. Wollte ich alles kommunizieren was der fleißige Fiesling so verbreitet, wäre das zum allseitigen Schaden – also lass ich es direkt.

Ich verpasse also bewusst viele seiner Aktionen und wähle unter den wenigen nur die schönsten Exemplare für Euch aus. So ließ mich gestern ein heiliges Dreifach-Zitat, welches damit den anfänglichen Antiklimax vervollständigt, aufmerken. Als Text seinerzeit absolute Avantgarde und von zeitloser Brillanz, da verzeiht man gerne den religiösen Tand; zumal er bisweilen durchaus poetische Qualität besitzt:


 

Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es; wenn ich es jemandem auf seine Frage hin erklären will, weiß ich es nicht. Dennoch behaupte ich, dies mit Sicherheit zu wissen: Ginge nichts vorüber, gäbe es keine vergangene Zeit; käme nichts auf uns zu, gäbe es keine zukünftige Zeit; wäre überhaupt nichts, gäbe es keine gegenwärtige Zeit.

 

[…]

 

Es gibt drei Zeiten, die Gegenwart von Vergangenem, die Gegenwart von Gegenwärtigem und die Gegenwart von Zukünftigem.

 

[…]

 

Jetzt aber vergehen meine Jahre unter Stöhnen, doch du, Herr, bist mein Trost und mein ewiger Vater. Ich hingegen, ich bin zersplittert in die Zeiten, deren Zusammenhang ich nicht kenne. Meine Gedanken, die innersten Eingeweide meiner Seele, werden zerfetzt von den Mannigfaltigkeiten – bis ich in dir zusammenfließe, gereinigt  und flüssig geworden in deiner Liebe.

 

Aurelius Augustinus (354 – 430), Confessiones/Bekenntnisse – Elftes Buch (Kapitel 14, 20, 29; 397 – 401)

 

Melancholisch-pharmakologische Utopie

Wo der letzte Textangriff – allem medialen Trubel zum Trotz – inhaltlich eigentlich nur eine kleine Gruppe an Intellektuellen betroffen hatte, wendet dieses neuerliche Beweisstück terroristischer Subversion sich schlicht an alle Menschen von Quanzland. Wenn deshalb hierauf nicht noch heftigere Verrisse und Anfeindungen folgten, wäre ich doch sehr verwundet.

Der Text hätte eine unglaublich sozial-kulturelle Sprengkraft, würde seine Kritik ernst genommen und seine Appelle in historische Tat umgesetzt. Da es aber genug schöne, bequeme und anerkannte – kurz normale – Alternativen zu dem darin angedeuteten Lebensentwurf gibt, begnügt sich der typische Einwohner Quanzlands lieber mit allerlei Zerstreuung, anstatt zu fernen Ufern aufzubrechen.

Eine Utopie im besten Sinne des Wortes haben wir also hier vor uns: Kritik des Bestehenden und konkreter Entwurf des Besseren. Allerdings krankt sie an einem naiven und idealistischen Pathos. Geblendet von diesem unterschätzt der Entwurf die verbreitet Angst vor den Abgründen der Seele, den Tiefen des Ozeans Namens Geist. Die Wenigsten ertragen die erschreckende Stille und den schmerzlichen Verzicht; wo doch soll viele Reize locken und Bedürfnisse – künstliche wie natürliche – nach Stillung dürsten. Dennoch und gerade wegen ihrem träumerischen Idealismus sind die Worte Albert Hoffmanns getragen von nüchternem Ernst und zugleich durchdrungen von kreativer Hoffnung – eine seltene und erstrebenswerte Haltung.

In mild-utopischer Stimmung wünscht Euch nur das Beste, Euer Satorius


 

Dieses Bedürfnis steht im Zusammenhang mit der geistigen und materiellen Notlage unserer Zeit. Es erübrigt sich, im einzelnen aufzuzählen, wo es nicht mehr stimmt in unserer Welt. Gemeint sind auf geistigem Gebiet Materialismus, Egoismus, Vereinsamung, Fehlen einer religiösen Lebensgrundlage; auf der materiellen Ebene Umweltzerstörung infolge Technisierung und Überindustrialisierung, drohende Erschöpfung der natürlichen Reserven, Anhäufung von ungeheuren Vermögen bei einzelnen bei gleichzeitiger zunehmender Verarmung einer Großzahl der Bevölkerung. Diese bedrohliche Entwicklung hat ihre geistige Ursache in einer dualistischen Weltanschauung, in einer bewusstseinsmassigen Aufspaltung des Welterlebens in Subjekt und Objekt.

[…]

Alle Mittel, alle Wege, die zu einer neuen, universalen Geistigkeit führen, verdienen, gefördert zu werden. Zu diesen gehört vor allem die Meditation, die durch verschiedene Methoden unterstützt und vertieft werden kann; durch Yoga-Praktiken, Atemübungen, Fasten usw. und durch sinnvollen Einsatz von gewissen Drogen als pharmakologische Hilfsmittel. Die Drogen, die hier gemeint sind, gehören zu einer besonderen, als Psychedelika und neuerdings auch als Entheogene bezeichneten Gruppe von psychoaktiven Substanzen. Ihre Wirkung besteht in einer enormen Stimulierung der Sinneswahrnehmungen, einer Verminderung oder gar Aufhebung der Ich-Du-Schranke und einer Bewusstseinsveränderung im Sinne einer Sensibilisierung und Erweiterung.

 

Albert Hofmann (1906 – 2008), Vorwort zur Enzyklopädie der psychoaktiven Pflanzen von Christian Rätsch (1957 – ): S.2 (1988)

Eine Zuflucht vor den Diskursen der Nacht

Es ist endlich soweit: Zu Hause!

Ich habe mich nun tatsächlich in der provinziellen Peripherie von Quanzland häuslich niedergelassen. Allen politisch-kulturellen Bedenken zum Trotz, es bleibt meine Heimat. Die Verschiebungen in Politik und Öffentlichkeit, die sich, zunächst befürchtet, zwischenzeitlich leider als weitgehend zutreffend herausgestellte haben, setzen mir zwar ein wenig zu; dennoch, die Vorteile und Annehmlichkeiten im Privaten überwiegen in der Abwägung klar. Hier bleibe ich erstmal, schaue mich um und lebe mich ein.

Denn ein sehr Gutes haben die rapiden und radikalen Veränderungen der politischen Hierarchie und institutionellen Struktur von Quanzland: Meine Anklage, meine Akte und die persönlich von mir oder durch mich betroffenen Akteure sind allesamt spurlos verschwunden. Vermutlich irgendwo in den düsteren Tiefen dessen, was man abstrakt und harmlos Geschichte nennt.

Wie revolutionär diese von Statten ging, muss ich gelegentlich noch in Erfahrung bringen – mit den erschreckend selten gewordenen, klaren und reinen Quellen. Positive und hoffnungsvoll-naive Gemüter sprechen dieser Tage von Fortschritt und preisen das, was aller Wahrscheinlichkeit nach eine irgendwie gewaltsame Revolution war und eventuell noch ist, fast unisono als notwendige Reform. Wenn diese Frohnaturen Redakteure und Herausgeber renommierter Medien sind, schleicht sich der Begriff Propaganda als Verdachtsmoment in meine Hirnwindungen. Aktuell noch subtil und hintergründig, nur sporadisch und leise wispernd, gilt es dieses Hirngespenst entweder zu bannen oder herzlich willkommen zu heißen. In meinem neuen Domizil wäre jedenfalls noch genug Platz für Neuanschaffungen und Zuwachs.

Da ich aus Gründen der Wahrheitsfindung also darauf angewiesen bin, meine Nase in allerlei aktuelle und historische Texte zu stecken, bin ich kürzlich auf ein neues, terroristisches Fragment gestoßen. Dass dieses englische Text-Fast-Food für einigen Wirbel sorgt, dürfte unseren altbekannten Gedankenterroristen beglücken.

Er hatte mit dieser vor vier Tagen aufgetauchten, intellektuellen Provokation die Gemüter der Staatsgeistlichkeit von Quanzland spürbar erhitzt. So hatten ein großer Anteil der Professorenschaft auf die philosophische Anfeindung, wenigstens mit verärgerten, teilweise gar mit unflätigen bis obszönen Stellungnahmen reagiert. Bei der Publikation halfen dann mediale Multiplikatoren derart eifrig mit, sodass aus einer akademischen Mücke ein innenpolitischer Elefant geworden ist: Etwa konzertierte Stimmungsmache?

Einer der vielen, verdächtigen Text war mir – wie anfangs gesagt – in die Hände gefallen und hatte sofort mein Interesse geweckt. Einfach erstaunlich, wie viel öffentliche Aufmerksamkeit unser altbewährter Aktivist damit bekommt: Ich möchte ihn nur noch ungern einen Terroristen nennen. Ich hege ja seit Längerem eine wachsende, intellektuellen Sympathie diese(n) Menschen gegenüber. Seitdem ich auf meiner Reise zurück in meine alte Heimat unterwegs war – treue Mitreisende erinnern sich eventuell – und vor allem seit ich hier angekommen bin und lebe, hat sich das Dunkel des Falls Terrorexzess mit Text-Fast-Food schrittweise ein klein wenig erhellt. Soweit zumindest, um sagen zu müssen: Ich bin ich in meinen Zweifeln milde bestärkt; verliere dadurch die Hoffnung auf Heimat aber nicht.

Integrität und Authentizität von Medien und Institutionen hier in Quanzland, stehen für mich nun also insgesamt auf dem Prüfstand. Wobei ich dem staatlichen Informationsmoloch und der Handvoll, noch verbliebenen, privat-wirtschaftlichen Medienkonzerne mit der gleichen, methodisch-kalten Skepsis begegnen möchte. Der Umgang mit Mr. X, wird dabei einer meiner journalistischen Lackmustest sein. Man bräuchte im Ideal eine profundes Insider-Wissen und könnte dann abwarten, um ganz sachlich zu beobachten wer, was, wie verdreht. Da dies wohl so schnell nicht passieren wird, finden sich vielleicht noch andere tagesaktuelle, möglichst politische Themen, deren Hintergründe direkter, unvermittelter erfahren werden können. Es gibt derzeit viele Kontroversen die in Frage kämen: Krieg vor der Haustür, Elend an den Grenzen, Zwietracht und Diskriminierung im Inneren und Äußeren.

Schon der hochverehrte Epikur riet zu einem Leben im Verborgenen, fern von großer Politik, Geschichte und Geschäft. So lag sein Schule – passend und konsequent zugleich: Ein Garten – abseits des Zentrums vor den Toren Athens. In seiner 58. Weisung formuliert kurz und knapp, dabei ermutigend imperativ: Befreien muss man sich aus dem Gefängnis der Alltagsgeschäfte und der Politik.

Wie immer viel geschrieben, wenig erklärt, fast nichts gewusst und so komme ich schließlich mit dem eigentlichen Aufhänger des Textes, nun als Absacker, zu einem Ende; sonst verirre ich mich noch in den Diskursen der Nacht und finde am Ende womöglich nicht mehr heraus und zurück in mein Haus – die ultimative Zuflucht.

Hin- und hergerissen zwischen heimatlicher Geborgenheit und nächtlich-diskursiver Skepsis, Euer Satorius


Without consciousness the mind-body problem would be much less interesting. With consciousness it seems hopeless. The most important and characteristic feature of conscious mental phenomena is very poorly understood. Most reductionist theories do not even try to explain it. And careful examination will show that no currently available concept of reduction is applicable to it. Perhaps a new theoretical form can be devised for the purpose, but such a solution, if it exists, lies in the distant intellectual future.

 

[…]

 

Strangely enough, we may have evidence for the truth of something we cannot really understand. Suppose a caterpillar is locked in a sterile safe by someone unfamiliar with insect metamorphosis, and weeks later the safe is reopened, revealing a butterfly. If the person knows that the safe has been shut the whole time, he has reason to believe that the butterfly is or was once the caterpillar, without having any idea in what sense this might be so. (One possibility is that the caterpillar contained a tiny winged parasite that devoured it and grew into the Butterfly.)

 

Thomas Nagel (1937 – ), What is it like to be a bat?, in: The Philosophical Review LXXXIII – 4, S. 435 & 450 (October 1974).

Ein Heiternis gegen die öffentliche Moral

Heute biete ich zur Abwechslung einen Text anderer Qualität; mal wieder in einer anderen Rubrik erscheinend. Der Ausschnitt stammt aus meinem persönlichen Lieblingsbuch – ja, ich getraue mich diesen Superlativ zu gebrauchen. Denn diese Trilogie mit dem klangvollen Obertitel Illuminatus! hat meinen Lebensweg entscheidend geprägt. Nur soviel sei gesagt an dieser Stelle, zu dieser Zeit.

Gespenstisch und sympathisch zugleich, wie häufig der Terrorist auch mit diesem neuerlichen Text-Fast-Food wieder meinen Geschmack getroffen hat. Es war ruhig geworden in der Anschlagsserie gegen die „Stabilität der öffentlichen Moral“ (Wächterrat von Quanzland – Zensor Silvan Teebau, Monatliches Schwarzbuch subversiver Tendenzen – Januar 2015: S. 1;S. 3; S. 6; Passim und ff.); doch jetzt fand ich auf meinen Wegen wieder einmal ein neues Exemplar – dieses mal aus der Gruppe der ausgewiesen kurzweiligen Heiternisse.

Der hochverehrte Autor hatte bereits einen Auftritt mit einer anderen Trilogie, weswegen ich Euch und mir erneute Huldigungen und Lobpreisung erspare. Dieses Meisterwerk – soviel sei mir erlaubt – entstammt einer Kooperation von Robert Anton Wilson und Robert Shea. Seine drei Bände warten mit den Untertiteln Das Auge in der Pyramide, Der goldene Apfel und Leviathan auf. Sehr skurrile Episoden mit noch skurrileren Charakteren parodieren die Weltgeschichte und spinnen nebenbei wilde Fiktionen, die ihrerseits untergründig miteinander verschränkt sind. Ein wenig Liebe zu einer teilweise manierierten Diktion, ziemlich derbem Humor und satirisch-schonungsloser Offenheit vorausgesetzt, steht dem heiteren Leseereignis nichts im Wege. Nun aber genug angedeutet und kurz an-rezensiert, hier der kürzlich gefundene Texthappen.

Gute Nacht und liebe Grüße, Euer Satorius


Er liebte es, stundenlang damit zuzubringen, über das wilde, mit Kakteen bestandene Ödland zu starren, obgleich er nicht wusste, warum. Hätte man ihm erzählt, dass er der Menschheit symbolisch den Rücken zukehrte, würde er es nicht verstehen, noch würde er sich beleidigt fühlen; die Bemerkung wäre für ihn vollkommen irrelevant. Hätte man hinzugefügt, er sei selbst eine Kreatur der Wüste, wie etwa das Gilamonster oder die Klapperschlange, würde es ihn höchstens langweilen, und er würde einen als Narren bezeichnen. Für Carmel waren die meisten Menschen auf der Welt Narren, die ständig bedeutungslose Fragen stellten und sich bei Nebensächlichkeiten aufhielten; nur ein paar wenige, und er war einer von ihnen, hatten entdeckt, was wirklich wichtig war – Geld – und dem jagte er unbeirrt und skrupellos nach. 

Robert Anton Wilson (1932 – 2007) & Robert Shea (1933 – 1994), Illuminatus! – Das Auge in der Pyramide (Band 1): S. 23 (Der erste Trip, oder Kether; 1977)