Das deutsche Wahlsystem, seine Tücken und die latente Lust am Politikverdruss



Mein erstes Mal quasi, mein erster bescheidener Beitrag zur politischen Bildung, ganz sachlich und nüchtern, ohne Kunst (und zunächst ohne Verben), aber mit ganz viel Information und einer ordentlichen Portion Kritik!

(@Metatext-Redaktion: FreudianFakeNews! Sachlich falsche Aussage unseres werten Autoren, da dessen verdrängter Anspruch, politisch zu sein und politisch zu bilden, vor einigen Jahren mehrfach in Beiträgen auftauchte und latent immer wieder durchscheint. Zumal die „Diskurse der Nacht“ eine eindeutige Sprache sprechen. Kurios!)

Das politische System der BRD, insbesondere dessen Wahlrecht, also steht heute zur Debatte, soweit, so (un)klar. Ob diese Themen bei Euch vitales Allgemeinwissen sind oder als angestaubter Schulstoff dahinsiecht – sei’s drum, ich erkläre es mal eben ungefragt: Verhältnis- plus Mehrheitswahlrecht, zwei Stimmen, die erste davon für die Personenwahl vor Ort im Wahlkreis, die zweite sodann für die (gefühlt je Partei ab Listenplatz zwei bis fünf abwärts effektiv „anonyme“) Listenwahl, verleihen dem Wähler Macht und Einfluss. Denn hierzulande ist das Volk der Souverän und übt diese Rolle vornehmlich aus, indem es seine Repräsentanten in allgemeiner, freier, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl in den Berliner Bundestag wählt. Dort angekommen stellen die Gewinner, nach dem mittlerweile fast postideologischen (AFD und Linke mal ausgeklammert) Koalitionsgeschacher, das mitunter 20% der Legislaturperiode verschlingen kann, die Regierung, bestehend aus vielen Ministern und einem Kanzler. Neben dieser Exekutive beherrscht die Siegerkoalition in der Regel auch die Legislative, das tut sie durch einfache Mehrheit (>50%) im Parlament mithilfe von Gesetzgebung. Damit werden zwei von drei Gewalten direkt dem Wirken von Parteien bzw. der gleichen Koalitionsparteien ausgeliefert und die effektive Regierungsarbeit im Sinne des KgV der jeweilien Wähleraufträge und Wahlprogramme kann losgehen. Das Regieren geht solcherart weiter, bis in gut drei bzw. knapp vier Jahren wieder gewählt wird oder ein außergewöhnliches Ereignis eintritt.

Beispielsweise und nicht unwahrscheinlich kann ein effektiver Ungehorsam von Parlamentariern gegen die Praxis der sog. Fraktionsdisziplin und damit eine Ausübung der verbrieften Freiheit zur Gewissensentscheidung passieren oder eine fragile Koalition zerbricht an persönlichen Streitigkeiten oder ebensolchen Verfehlungen, woraufhin die Misstrauensfrage positiv beantwortet würde; eher unwahrscheinliche Gründe für vorzeitige Neuwahlen hingegen könnten Krieg, Revolution, Attentate oder Apokalypsen sein.

Schlimmstenfalls jedoch, weil sowohl tragisch als auch komisch, herrscht irgendwann eine „Demokratie, ohne Demos“ (leider vermag ich nicht mehr zu zitieren, von wem diese griffige Parole stammt), was schlichtweg bedeuten würde, dass Wahltag ist und niemand mehr hingeht. Auch wenn es ganz so schlimm wohl absehbar nicht kommen wird, aber gefühlt greift Politikverdrossenheit tendenziell bereits dieser Tage um sich und greift nach dem Herz jeder Demokratie – der Lust der Bürger an (Selbst-)Regierung. Wie komme ich dazu? Die Wahlbeteiligung bei der letzten Bundestagswahl betrug 75% und liegt regelmäßig unter 50% bei kommunalen sowie europäischen Urnengängen; Verschwörungswahn und postmoderne Verwirrung, Individualismus und Separatismus, Neo-Biedermeier und selektiver, manipulativer Medienkonsum sägen am Vertrauen gegenüber dem Politiker für sich und dem System der Politik an sich; Finanzkapitalismus, Globalisierung, Lobbyismus, Angst um den Arbeitsplatz und vor sozialem Abstieg lassen den marxschen Primat der Ökonomie vor der Politik als nicht eben unplausibele Einsicht erscheinen; der globale Siegeszug der Demokratie ist vorbei, Autokratie, Populismus und Fanatismus trump(f)en auf; zuletzt und vor allem erlebe ich Politikunlust bis Tabuisierung in vielen sozialen Milieus meiner eigenen Lebenswelt, seit Jahrzenten, hautnah und unsympathisch – die Zahl der Menschen, mit denen ich gepfelgt über Politik sprechen kann, ist klein, die Gelegenheit rar, in meiner Herkunftsfamilie herrscht ein thematisch einschlägiges Redeverbot gar, über das ich mich selbstredend notorisch hinwegsetze.

Glücklicherweise, kann man allen- und jedenfalls hoffen, gibt es gegenläufige Tendenzen und ambivalente Zukunftstrends, die ich hier aber aus rhetorischen Gründen unterschlage und performativ nur der Fairness halber pauschalisiert erwähne. Ach und ja, immerhin der drohende globale Umweltkollaps schafft es zunehmend und nachhaltig, die Menschheit zu aktivieren. Es geht hierbei aber ausdrücklich nicht um hehre politische Ideale, sondern um Sicherheit, ums Überleben und die schönde Stillung der eigenen, zukünftigen Grundbedürfnisse und Lebensgrundlagen.

Kommen wir von den spekulativen Höhenflügen über die politische Weltgeschichte hinweg zurück, wieder herauf aus den analytischen Niederungen der lebensweltlichen Demokratiekritik und insgesamt zurück zum Artikelanlass, dem politischen (Wahl-)System, das unser verfassungsmäßig garantiertes Mittel und generelles Medium der Politik ist: Dabei ist – zu allem Überfluss beim politischen Verdruss – die Sache mit dem Wählen im Detail dann doch nicht so einfach, so unschuldig; denn die Logik des Wahlsystems kann bisweilen sogar paradoxe Resultate zeitigen und auf den Schwachsinn mit den Überhangmandate will selbst ich bei aller Politik- und Schreiblust nicht mehr erklärend eingehen.

Es grüßt, diskursiv umnachtet und politisch erhellend, Euer Satorius


Die Verteilung der Mandate auf die Parteien entsprechend dem Verhältnis der Summen der Wählerstimmen darf im Grundsatz nicht dazu führen, dass die Sitzzahl einer Partei erwartungswidrig mit der auf diese oder eine konkurrierende Partei entfallenden Stimmenzahl korreliert (Effekt des negativen Stimmgewichts). Es ist zwar ohne Weiteres einsichtig, dass als mathematisch unausweichliche Folge eines jeglichen Verteilungsverfahrens (vgl. dazu BVerfGE 95, 335 <372>) einzelne Stimmen sich nicht zugunsten einer Partei auswirken können. Ein Sitzzuteilungsverfahren, das ermöglicht, dass ein Zuwachs an Stimmen zu Mandatsverlusten führt, oder dass für den Wahlvorschlag einer Partei insgesamt mehr Mandate erzielt werden, wenn auf ihn selbst weniger oder auf einen konkurrierenden Vorschlag mehr Stimmen entfallen, widerspricht aber Sinn und Zweck einer demokratischen Wahl (vgl. BVerfGE 121, 266 <299 f.>). Solche widersinnigen Wirkungszusammenhänge zwischen Stimmabgabe und Stimmerfolg beeinträchtigen nicht nur die Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der Parteien, sondern verstoßen auch gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl, da es für den Wähler nicht mehr erkennbar ist, wie sich seine Stimmabgabe auf den Erfolg oder Misserfolg der Wahlbewerber auswirken kann (BVerfGE 121, 266 <307>).

Bundesverfassungsgericht, Urteil des Zweiten Senats vom 25. Juli 2012 – 2 BvE 9/11 – Rn. (1-164), S. 86 (Direktlink)


Das Wahlsystem, in dem Elemente der Verhältnis- und der Mehrheitswahl über drei Ebenen (Wahlkreis, Land, Bund) kombiniert werden, ist insbesondere durch die anfallenden Überhangmandate wenig durchsichtig. Zudem motiviert es wegen der starren Kandidatenlisten Kandidierende sowie Wählerinnen und Wähler weit weniger zur Beteiligung, als dies in einer vitalen Demokratie wünschenswert wäre. Angesichts dieser fundamentalen Mängel des geltenden Wahlsystems und der gewachsenen Distanz zwischen Bevölkerung und Staat erscheint eine demokratische Wahlreform überfällig. Diese könnte ein erster Schritt dazu sein, verlorengegangenes Vertrauen in die repräsentative Demokratie wiederzugewinnen. Eine Chance hierzu bietet sich dadurch, dass das Bundesverfassungsgericht den Deutschen Bundestag aufgefordert hat, das Bundeswahlgesetz bis zum 30. Juni 2011 so zu ändern, dass keine negativen Stimmgewichte mehr entstehen können. [6] Voraussetzung einer solchen Reform wäre allerdings eine öffentliche Wahlsystemdiskussion. Die Bundestagsparteien behandeln die Problematik aber offensichtlich bisher so geheim wie möglich, mit dem Ziel, mit minimalen wahlrechtlichen Reparaturen über die Runden zu kommen; ja, allem Anschein nach fürchten sie eine öffentliche Diskussion über Wahlrechtsfragen. Die Sensibilität der Bevölkerung und der Medien für das problematische Verhältnis zwischen Bürgerinnen und Bürgern und dem Parteienstaat ist allerdings gewachsen. Zudem besteht ein Interessenkonflikt zwischen den Parteien darüber, wie negative Stimmgewichte beseitigt werden sollen: Während insbesondere CDU und CSU von der Erhaltung von Überhangmandaten profitieren, werden die anderen Parteien durch Überhangmandate benachteiligt. An diesem Interessenkonflikt scheiterte im Frühjahr 2009 der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, das Problem durch die bundesweite Verrechnung von Überhangmandaten mit Listenmandaten derselben Partei zu lösen. [7] Umgekehrt treffen unionsnahe Optionen auf breiten Widerspruch, unverbundene Landeslisten einführen zu wollen, so dass keine negativen Stimmgewichte mehr anfallen, aber alle Überhangmandate erhalten bleiben. Hiermit wären nämlich nicht nur alle kleineren und mittleren Parteien benachteiligt; auch das auf die Annahme eines Staatsvolks gegründete Staatsverständnis der Bundesrepublik würde in Frage gestellt. Zudem ergäben sich andere normative und organisatorische Probleme, etwa mit Bezug auf die Handhabung der Fünfprozenthürde der Stimmenverrechnung. Ähnliche Probleme stellen sich Kompromissentwürfen einer schonenden Problemlösung. [8] Diese schließen negative Stimmgewichte nicht völlig aus, erfüllen insofern also nicht die Auflage des Bundesverfassungsgerichts, produzieren aber neue normative Komplikationen: So würde etwa nicht mehr jeder Wahlkreis durch den jeweiligen Wahlsieger im Parlament repräsentiert. Das Bundeswahlgesetz sollte daher nicht nur reformiert werden, um neues Vertrauen in den demokratischen Staat zu gewinnen; es geht auch darum, ein normatives und wahlrechtspolitisches Chaos zu vermeiden.
6. Vgl. www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/cs20080703_2bvc000107.html (2.12.2010).
7. Bundestagsdrucksache 16/885, online: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/16/118/1611885.pdf (2.12. 2010).
8. Vgl. Kai-Friederike Oelbermann/Friedrich Pukelsheim/Matthias Rossi/Olga Ruff, Eine schonende Verbindung von Personen- und Verhältniswahl zum Abbau negativer Stimmgewichte bei Bundestagswahlen. Institut für Mathematik, Universität Augsburg 2010, online: http://opus.bibliothek.uni-augsburg.de/volltexte/2010/1636/pdf/mpreprint_10_011.pdf (2.12.2010).

Volker von Prittwitz (1950 – ), Hat Deutschland ein demokratisches Wahlsystem? (Direktlink; vom 18.01.2011)

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