Ein preiswerter „Schrank“

Preisträger und Preisgekröntes zu empfehlen, ist leicht, müßig und trozdem nicht ganz überflüssig. Ich jedenfalls mache mich leichten Herzen dieses Vergehens schuldig und empfehle mit Birgit Birnbachers Der Schrank einen frisch mit dem Bachmann-Preis gekürten Text. Dankenswerterweise ist die komplette Kurzgeschichte auf der Seite der 43. Tage der deutschsprachigen Literatur publiziert worden und kann hier (Quellen-Link) gefunden und gerne gelesen werden.

Dem trotz Kürze hermetisch-sperrigen, mittelgradig-skurrilen Titel folgte eine für mich bezaubernde Kurzgeschichte, die mich in einem Rausch mitriss und nach gut zwanzig Minuten minimalistisch-realer Wirklichkeit wieder in die maximal-wirkliche Realität entließ. Thematisch lässt darin eines meiner inhaltlichen Steckpferde, „Neo-Biedermeier“, herzlichst grüßen und eine Ich-Erzählerin mit auktorialen Allüren berichtet von ihrem Lebenslauf hinein in die sog. Neue Arbeit, ihren Erfahrungen als Probandin im Blick des Beobachters und den interpretationswürdigen Erlebnissen rund um den öminösen, titelgebenenden Schrank.

Zum Inhalt viel mehr oder auch nur etwas weniger zu sagen, äfft nicht nur die Eröffnung schönde nach, sondern würde diesem dichten Gewebe von plausiblen Impressionen, atmosphärischen Assoziationen und gelegentlicher Inspiration an Kraft und Wirkung rauben, weswegen ich einzig den Eröffnungsparagraphen als TFF serviere – ein Amuse-Gueule aus der österreichischen Küche, das zum gratis Hauptgang verführen mag.

(Text-)Hungrigen Geistes grüßt Euch, Euer Satorius


Das ist nicht viel, aber es könnte weniger sein. Was der Beobachter sieht, als er auf die Haustür zugeht: Dieser Rasen ist keine Wiese, aber dort und da fliegt ein Tier. Das Waschbetonquadrat, auf das der Typ vom Haus gegenüber manchmal seine Lebensmittel kippt, ist sauber vom kürzlichen Gewitter. Mit diesem Hof hat es einmal jemand gut gemeint, auch die Aufschrift auf der Fassade bezeugt es: Die Reitkunst war hier einst eine sehr beliebte Sportart. Der Beobachter steht allein da, er weiß nicht, dass ich ihm von oben zuschaue. Viele der kleinen Küchen- und Flurfenster sind wegen der Hitze geöffnet, manche sind mit ausgebleichten Tüchern abgehängt, einige mit Folie blindgeklebt. Von irgendwo ist ein Fernseher zu hören, es ist windstill, kurz nach Mittag, Hochsommer. Jahrhundertsommer, schreiben die Zeitungen, und in der Blumenkiste, außen an der straßenseitigen Loggia der Beckmann, verdorren gelbe und violette Stiefmütterchen zu Stängeln. Unten vorm Supermarkt verfangen sich hellrote Fetzchen von Gratisplastiksäcken in der staubigen Linde. Eines wird dem Beobachter in der Sohle seines Schuhs hängen geblieben sein, im Stiegenhaus liegt es später auf den Stufen zwischen zweitem und drittem Stock. In den Tagen nach seinem Erstbesuch gehe ich ein, zwei, schließlich drei Mal daran vorbei. Beim vierten Mal ist es fort.

Birgit Birnbacher (1985 – ), Der Schrank, S. 1 (2019)

Schreibe einen Kommentar