Gebote über Gebote, Hauptsache es sind deren zehn

Im stillen Gedenken an die heute vor 30 Jahren kollabierte DDR, zugleich in ambivalenter Haltung gegenüber dem seinerzeit verschiedenen und seither verschollenen europäischen Sozialismus sowie im Sinnieren über Gebote, Verbote und Regeln überhaupt, präsentiere ich Euch heute im Folgenden ein Kabinett an Dekalogen.

Ich hoffe, dass für jeden Geschmack und jede Ideologie etwas dabei ist, und bin ansonsten offen für weitere Alternativen. Wäre ich im Übrigen nicht redlich müde, würde ich mich womöglich selbst an einem Quanzland-Dekalog versuchen. So aber erspare ich mir das und erhole mich stattdessen.

Mit spätnächtlichem Gruß an alle orientierungswilligen Dekalogiker, Euer Satorius


Sozialistischer Dekalog

  1. Du sollst Dich stets für die internationale Solidarität der Arbeiterklasse und aller Werktätigen sowie für die unverbrüchliche Verbundenheit aller sozialistischen Länder einsetzen.
  2. Du sollst Dein Vaterland lieben und stets bereit sein, Deine ganze Kraft und Fähigkeit für die Verteidigung der Arbeiter-und-Bauern-Macht einzusetzen.
  3. Du sollst helfen, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu beseitigen.
  4. Du sollst gute Taten für den Sozialismus vollbringen, denn der Sozialismus führt zu einem besseren Leben für alle Werktätigen.
  5. Du sollst beim Aufbau des Sozialismus im Geiste der gegenseitigen Hilfe und der kameradschaftlichen Zusammenarbeit handeln, das Kollektiv achten und seine Kritik beherzigen.
  6. Du sollst das Volkseigentum schützen und mehren.
  7. Du sollst stets nach Verbesserung Deiner Leistung streben, sparsam sein und die sozialistische Arbeitsdisziplin festigen.
  8. Du sollst Deine Kinder im Geiste des Friedens und des Sozialismus zu allseitig gebildeten, charakterfesten und körperlich gestählten Menschen erziehen.
  9. Du sollst sauber und anständig leben und Deine Familie achten.
  10. Du sollst Solidarität mit den um nationale Befreiung kämpfenden und den ihre nationale Unabhängigkeit verteidigenden Völkern üben.

Walter Ulbricht (1893 – 1973), Die zehn Gebote der sozialistischen Moral (10. – 16. Juli 1958, V. Parteitag der SED)


Mysteriöser Dekalog

  1. Halte die Menschheit unter 500.000.000 in fortwährendem Gleichgewicht mit der Natur
  2. Lenke die Fortpflanzung weise – um Tauglichkeit und Vielfalt zu verbessern
  3. Vereine die Menschheit mit einer neuen, lebenden Sprache
  4. Beherrsche Leidenschaft – Glauben – Tradition und alles Sonstige mit gemäßigter Vernunft
  5. Schütze die Menschen und Nationen durch gerechte Gesetze und gerechte Gerichte
  6. Lass alle Nationen ihre eigenen Angelegenheiten selbst/intern regeln und internationale Streitfälle vor einem Weltgericht beilegen
  7. Vermeide belanglose Gesetze und unnütze Beamte
  8. Schaffe ein Gleichgewicht zwischen den persönlichen Rechten und den gesellschaftlichen/sozialen Pflichten
  9. Würdige Wahrheit – Schönheit – Liebe – im Streben nach Harmonie mit dem Unendlichen
  10. Sei kein Krebsgeschwür für diese Erde – lass der Natur Raum – lass der Natur Raum

R. C. Christian (? – ?), Inschrift der Georgia Guidestones (1980)


Liberaler Dekalog

  1. Fühle dich keiner Sache völlig gewiss!
  2. Trachte nicht danach, Fakten zu verheimlichen, denn eines Tages kommen die Fakten bestimmt ans Licht!
  3. Versuche niemals, jemanden vom selbstständigen Denken abzuhalten, denn es wird dir gelingen.
  4. Wenn dir jemand widerspricht, und sei es dein Ehepartner oder dein Kind, bemühe dich, ihm mit Argumenten zu begegnen und nicht mit der Autorität, denn ein Sieg der Autorität ist unrealistisch und illusionär.
  5. Habe keinen Respekt vor der Autorität anderer, denn es gibt in jedem Fall auch Autoritäten, die gegenteiliger Ansicht sind!
  6. Unterdrücke nie mit Gewalt Überzeugungen, die du für verderblich hältst, sonst unterdrücken diese Überzeugungen dich!
  7. Fürchte dich nicht davor, exzentrische Meinungen zu vertreten; jede heutige Meinung war einmal exzentrisch.
  8. Freue dich mehr über intelligenten Widerspruch als über passive Zustimmung; denn wenn die Intelligenz so viel wert ist, wie sie dir wert sein sollte, dann liegt im Widerspruche eine tiefere Zustimmung.
  9. Halte dich an die Wahrheit auch dann, wenn sie nicht ins Konzept passt! Denn es passt noch viel weniger ins Konzept, wenn du versuchst, sie zu verbergen.
  10. Neide nicht denjenigen das Glück, die in einem Narrenparadiese leben; denn nur ein Narr kann das für ein Glück halten!

Betrand Russell (1872 – 1970), Die beste Antwort auf Fanatismus: Liberalismus (1951, New York Times)


Humanistischer Dekalog

  1. Proklamiert die naturgegebene Menschenwürde und den inhärenten Wert eines jeden Menschen.
  2. Respektiert Leben und Eigentum anderer.
  3. Seid tolerant und vorurteilsfrei gegenüber der Wahlfreiheit und den Lebensstilen anderer.
  4. Teilt mit denen, die weniger Glück haben als ihr, und bietet gegenseitige Unterstützung für die, die Hilfe brauchen.
  5. Beruft euch weder auf Lügen noch auf spirituelle Lehrmeinungen noch auf weltliche Macht, die auf Dominanz und Ausbeutung anderer ausgerichtet ist.
  6. Vertraut auf eure Vernunft, auf die Logik und die Wissenschaft, um das Universum zu verstehen und zur Lösung der Probleme des Lebens.
  7. Schützt und verbessert den natürlichen Raum der Erde – Land, Boden, Wasser, Luft und All –, und zwar als das gemeinsame Erbe der Menschheit.
  8. Überwindet eure Meinungsverschiedenheiten und Konflikte, ohne Gewalt auszuüben oder Kriege zu führen.
  9. Regelt öffentliche Angelegenheiten auf der Basis von individueller Freiheit und Verantwortung, mittels einer politischen und wirtschaftlichen Demokratie.
  10. Entwickelt eure Intelligenz und eure Talente durch Bildung und Fleiß.

Rodrigue Tremblay (1939 – ), The Code for Global Ethics, S. 7 (2010)


Evolutionär-humanistischer Dekalog

  1. Diene weder fremden noch heimischen „Göttern“ (die bei genauerer Betrachtung nichts weiter als naive Primatenhirn-Konstruktionen sind), sondern dem großen Ideal der Ethik, das Leid in der Welt zu mindern! Diejenigen, die behaupteten, besonders nah ihrem „Gott“ zu sein, waren meist jene, die dem Wohl und Wehe der realen Menschen besonders fernstanden. Beteilige dich nicht an diesem Trauerspiel! Wer Wissenschaft, Philosophie und Kunst besitzt, braucht keine Religion!
  2. Verhalte dich fair gegenüber deinem Nächsten und deinem Fernsten! Du wirst nicht alle Menschen lieben können, aber du solltest respektieren, dass jeder Mensch – auch der von dir ungeliebte! – das Recht hat, seine individuellen Vorstellungen von „gutem Leben (und Sterben) im Diesseits“ zu verwirklichen, sofern er dadurch nicht gegen die gleichberechtigten Interessen Anderer verstößt.
  3. Habe keine Angst vor Autoritäten, sondern den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Bedenke, dass die Stärke eines Arguments völlig unabhängig davon ist, wer es äußert. Entscheidend für den Wahrheitswert einer Aussage ist allein, ob sie logisch widerspruchsfrei ist und unseren realen Erfahrungen in der Welt entspricht. Wenn heute noch jemand mit „Gott an seiner Seite“ argumentiert, sollte das keine Ehrfurcht, sondern Lachsalven auslösen.
  4. Du sollst nicht lügen, betrügen, stehlen, töten – es sei denn, es gibt im Notfall keine anderen Möglichkeiten, die Ideale der Humanität durchzusetzen! Wer in der Nazidiktatur nicht log, sondern der Gestapo treuherzig den Aufenthaltsort jüdischer Familien verriet, verhielt sich im höchsten Maße unethisch – im Gegensatz zu jenen, die Hitler durch Attentate beseitigen wollten, um Millionen von Menschenleben zu retten. Ethisches Handeln bedeutet keineswegs, blind irgendwelchen moralischen Geboten oder Verboten zu folgen, sondern in der jeweiligen Situation abzuwägen, mit welchen positiven und negativen Konsequenzen eine Entscheidung verbunden wäre.
  5. Befreie dich von der Unart des Moralisierens! Es gibt in der Welt nicht „das Gute“ und „das Böse“, sondern bloß Menschen mit unterschiedlichen Interessen, Bedürfnissen und Lernerfahrungen. Trage dazu bei, dass die katastrophalen Bedingungen aufgehoben werden, unter denen Menschen heute verkümmern, und du wirst erstaunt sein, von welch freundlicher, kreativer und liebenswerter Seite sich die vermeintliche „Bestie“ Homo sapiens zeigen kann.
  6. Immunisiere dich nicht gegen Kritik! Ehrliche Kritik ist ein Geschenk, das du nicht abweisen solltest. Durch solche Kritik hast du nicht mehr zu verlieren als deine Irrtümer, von denen du dich besser heute als morgen verabschiedest. Habe Mitleid mit jenen Kritikunfähigen, die sich aus tiefer Angst heraus als „unfehlbar“ und ihre Dogmen als „heilig“ (unantastbar) darstellen müssen. Sie sollten in einer modernen Gesellschaft nicht mehr ernstgenommen werden.
  7. Sei dir deiner Sache nicht allzu sicher! Was uns heute als richtig erscheint, kann schon morgen überholt sein! Zweifle aber auch am Zweifel! Selbst wenn unser Wissen stets begrenzt und vorläufig ist, solltest du entschieden für das eintreten, von dem du überzeugt bist. Sei dabei aber jederzeit offen für bessere Argumente, denn nur so wird es dir gelingen, den schmalen Grat jenseits von Dogmatismus und Beliebigkeit zu meistern.
  8. Überwinde die Neigung zur Traditionsblindheit, indem du dich gründlich nach allen Seiten hin informierst, bevor du eine Entscheidung triffst! Du verfügst als Mensch über ein außerordentlich lernfähiges Gehirn, lass es nicht verkümmern! Achte darauf, dass du in Fragen der Ethik und der Weltanschauung die gleichen rationalen Prinzipien anwendest, die du beherrschen musst, um ein Handy oder einen Computer bedienen zu können. Eine Menschheit, die das Atom spaltet und über Satelliten kommuniziert, muss die dafür notwendige Reife besitzen.
  9. Genieße dein Leben, denn dir ist höchstwahrscheinlich nur dieses eine gegeben! Sei dir deiner und unser aller Endlichkeit bewusst, verdränge sie nicht, sondern „nutze den Tag“ (Carpe diem)! Gerade die Endlichkeit des individuellen Lebens macht es so ungeheuer kostbar! Lass dir von niemandem einreden, es sei eine Schande, glücklich zu sein! Im Gegenteil: Indem du die Freiheiten genießt, die du heute besitzt, ehrst du jene, die in der Vergangenheit im Kampf für diese Freiheiten ihr Leben gelassen haben!
  10. Stelle dein Leben in den Dienst einer „größeren Sache“, werde Teil der Tradition derer, die die Welt zu einem besseren, lebenswerteren Ort machen woll(t)en! Eine solche Haltung ist nicht nur ethisch vernünftig, sondern auch das beste Rezept für eine sinnerfüllte Existenz. Es scheint so, dass Altruisten die cleveren Egoisten sind, da die größte Erfüllung unseres Eigennutzes in seiner Ausdehnung auf Andere liegt. Wenn du dich selber als Kraft im „Wärmestrom der menschlichen Geschichte“ verorten kannst, wird dich das glücklicher machen, als es jeder erdenkliche Besitz könnte. Du wirst intuitiv spüren, dass du nicht umsonst lebst und auch nicht umsonst gelebt haben wirst!

Michael Schmidt-Salomon (1967 – ), Manifest des Evolutionären Humanismus, S. 156-159 (2005)


Christlicher Dekalog

  1. Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.
  2. Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes,
    nicht missbrauchen.
  3. Du sollst den Feiertag heiligen.
  4. Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.
  5. Du sollst nicht töten.
  6. Du sollst nicht ehebrechen.
  7. Du sollst nicht stehlen.
  8. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
  9. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus.
  10. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was dein Nächster hat.

GOTT, Martin Luther (Hrsg.) et al. (Nicht zuverlässig datierbar), Die Zehn Gebote. In: Die Bibel – Das Alte Testament, 2. Mose, 20 & 5. Mose, 5 (68 – 96 n. Chr.)

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