Jenseits von Gut und Böse, diesseits von Hunger und Ausscheidung

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Vielleicht versteht man nicht ohne weiteres, was ich hier von einem »Grundwillen des Geistes« gesagt habe: man gestatte mir eine Erläuterung. – Das befehlerische Etwas, das vom Volke der »Geist« genannt wird, will in sich und um sich herum Herr sein und sich als Herrn fühlen: es hat den Willen aus der Vielheit zur Einfachheit, einen zusammenschnürenden, bändigenden, herrschsüchtigen und wirklich herrschaftlichen Willen. Seine Bedürfnisse und Vermögen sind hierin dieselben, wie sie die Physiologen für alles, was lebt, wächst und sich vermehrt, aufstellen. Die Kraft des Geistes, Fremdes sich anzueignen, offenbart sich in einem starken Hange, das Neue dem Alten anzuähnlichen, das Mannigfaltige zu vereinfachen, das gänzlich Widersprechende zu übersehen oder wegzustoßen: ebenso wie er bestimmte Züge und Linien am Fremden, an jedem Stück »Außenwelt« willkürlich stärker unterstreicht, heraushebt, sich zurechtfälscht. Seine Absicht geht dabei auf Einverleibung neuer »Erfahrungen«, auf Einreihung neuer Dinge unter alte Reihen – auf Wachstum also; bestimmter noch, auf das Gefühl des Wachstums, auf das Gefühl der vermehrten Kraft. Diesem selben Willen dient ein scheinbar entgegengesetzter Trieb des Geistes, ein plötzlich herausbrechender Entschluß zur Unwissenheit, zur willkürlichen Abschließung, ein Zumachen seiner Fenster, ein inneres Neinsagen zu diesem oder jenem Dinge, ein Nicht-herankommen-lassen, eine Art Verteidigungs-Zustand gegen vieles Wißbare, eine Zufriedenheit mit dem Dunkel, mit dem abschließenden Horizonte, ein Ja-sagen und Gut-heißen der Unwissenheit: wie dies alles nötig ist je nach dem Grade seiner aneignenden Kraft, seiner »Verdauungskraft«, im Bilde geredet – und wirklich gleicht »der Geist« am meisten noch einem Magen. Insgleichen gehört hierher der gelegentliche Wille des Geistes, sich täuschen zu lassen, vielleicht mit einer mutwilligen Ahnung davon, daß es so und so nicht steht, daß man es so und so eben nur gelten läßt, eine Lust an aller Unsicherheit und Mehrdeutigkeit, ein frohlockender Selbstgenuß an der willkürlichen Enge und Heimlichkeit eines Winkels, am Allzunahen, am Vordergrunde, am Vergrößerten, Verkleinerten, Verschobenen, Verschönerten, ein Selbstgenuß an der Willkürlichkeit aller dieser Machtäußerungen. […]

 

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Die Dummheit in der Küche; das Weib als Köchin; die schauerliche Gedankenlosigkeit, mit der die Ernährung der Familie und des Hausherrn besorgt wird! Das Weib versteht nicht, was die Speise bedeutet: und will Köchin sein! Wenn das Weib ein denkendes Geschöpf wäre, so hätte es ja, als Köchin seit Jahrtausenden, die größten physiologischen Tatsachen finden, insgleichen die Heilkunst in seinen Besitz bringen müssen! Durch schlechte Köchinnen – durch den vollkommnen Mangel an Vernunft in der Küche ist die Entwicklung des Menschen am längsten aufgehalten, am schlimmsten beeinträchtigt worden: es steht heute selbst noch wenig besser. Eine Rede an höhere Töchter.

 

Friedrich Nietzsche (1844 – 1900), Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft: S. 167f. & 172f. (1886)


Ein gedanklicher Gang weg von philosophisch-psychologischer Tiefe, die mit subtiler Selbstbeschau und inspirativer Weltbesichtigung glänzt, dann aber schnell weitereilt, sich selbst gar verleugnet und hin zu persönlichem wie historischem Chauvinismus strebt. Direkt hintereinander gestellt wirken diese beiden Stücke aus der radikalen, trotzdem lesenswerten Schrift, wie eine performative Selbstparadoxie: Geist ja, Gerechtigkeit nein – jenseits von Gut und Böse eben.

Erst erkennt sich der Geist in einigen seiner versteckten Bahnen, dann verkennt er sich und andere Geister in Bausch und Bogen. Von A zu Nicht-A (oder doch B?) in so kurzer Erzählzeit, wodurch das Weib den Linien des aggressiven Denkens unterworfen, sogleich den geistigen Gepflogenheiten Nietzsches zum Opfer fällt. Zurechtgefälscht und angeähnlicht wird so ein ganzes Geschlecht, die grobe Hälfte der Menschheit, zum Ventil für Friedrichs Willen zum Wettern und Wüten. Denn ebenso wie der Geist einem Magen gleich Aufgenommenes verdaut, so scheißt er im Verbund mit dem Darm Ausgezehrtes wie Unverdauliches aus und kotzt sogar bisweilen Unverträgliches und Unausstehliches im hohen Bogen. Gerade diese letzten, abstoßenden Körperfunktionen sind es, die Nietzsche zeitlebens kultiviert hat.

Solange man weder Weib ist, noch Wagner heißt oder gar zum Philister erklärt wurde, kann man leichter, emotional unbelasteter zwischen all dem bitteren Spott viele wertvolle Gedanken entdecken: Licht im Schatten der verborgenen Tiefen, Atemluft in schwindelnden Höhen und Klarheit im Nebelmeer der Existenz.

In ambivalenter Rezeptionsstimmung und mit hungrigem Magen, Euer Satorius

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