Der direkte Verkehr mit den Behörden war ja nicht allzu schwer, denn die Behörden hatten, so gut sie auch organisiert sein mochten, immer nur im Namen entlegener, unsichtbarer Herren entlegene, unsichtbare Dinge zu verteidigen, während K. für etwas lebendiges Nahes kämpfte, für sich selbst; überdies, zumindest in der allerersten Zeit, aus eigenem Willen, denn er war der Angreifer; und nicht nur er kämpfte kämpfte für sich, sondern offenbar noch andere Kräfte, die er nicht kannte, aber an die er nach den Maßnahmen der Behörden glauben konnte.
S. 530f.
Daraus war zu schließen, daß es in ihrer Art eine ganz andere Müdigkeit was als jene K.s. Hier war es wohl die Müdigkeit inmitten glücklicher Arbeit; etwas, was nach außen hin wie Müdigkeit aussah und eigentlich unzerstörbare Ruhe, unzerstörbarer Frieden war. Wenn man mittags ein wenig müde ist, so gehört das zum glücklichen natürlichen Verlauf des Tages. Die Herren hier haben immerfort Mittag, sagte sich K.
Und es stimmte sehr damit überein, daß es jetzt um fünf Uhr schon überall zu seiten des Ganges lebendig wurde. Dieses Stimmengewirr in den Zimmern hatte etwas äußerst Fröhliches. Einmal klang es wie der Jubel von Kindern, die sich zu einem Ausflug bereitmachten, ein andermal wie der Aufbruch im Hühnerstall, wie die Freude, in völliger Übereinstimmung mit dem erwachenden Tag zu sein, irgendwo ahmte sogar ein Herr den Ruf eines Hahnes nach.
S. 724f.
Franz Kafka (1883 – 1924), Das Schloss (1922/1926)
S. war irritiert, eine Irritation, zu der sich, wie ein entfernter Bekannter einem auf der Straße zu begegnen pfelgt, ein mildes Amüsement gesellte. Seine unklaren Erwartungen waren klar enttäuscht worden, dachte er in einem Augenblick; im nächsten jedoch, war er wieder fasziniert, zerrissen zwischen erfürchtigem Staunen und unbegreifflichem, ihn quälenden Sinnverlust. Sollte es wahr sein und man hört nicht nur bekanntlich, sondern wirklich dann am besten auf – genau dann, einfach so, bloß aus profanen, nur wegen existenziellen Motiven, mehr nicht -, wenn die Spannungsbögen vibrieren, weil sie zuvor so minutiös und feingliedirg gewoben wurden, dass man sie nun kühn immer weiter, bis zur unvermeidlichen Zerreißprobe spannen könnte? Ein literarischer Koitus interuptus lag hinter ihm und er wusste sich nicht zu fangen, konnte nicht reflektieren, was er, S. der umherirrende Geselle ohne Meister, eigentlich von K. erwartet hatte. Er war zuvor unbelastet von dergleichen Erfahrungen und Wünschen gewesen; Klassiker, angebliche Meisterwerke, die gefeierte Weltliteratur, dieser staubige, speckige Tand alt gewordener, greiser Kultur, waren ihm zutiefst zuwider gewesen. Dann kam die Wende, woher, wusste er auch nach Jahren der peinlichen Selbstbeschau nicht bestimmen. Getrieben von einer Lust am Wort und den klugen Spielereien mit Wörtern, diesen bunten Spielzeugen für Erwachsene hatte er angefangen – wie ein Verdurstender in der Wüste, der erst gierig fremdes Wasser hinabstürzt und dann eigenes besitzen will – zu lesen, zu lesen und irgendwann sogar zu schreiben. Nach vielen anderen Begegnungen kreuzte dann K. seinen Weg, erst sehr spät, nach Jahren der Wanderschaft in Freiheit und Unabhängigkeit; nicht mehr so übervoll mit Eigensinn, nach einer sättigenden, fast ermüdenden Gewöhnung an den Geschmack der Worte, derer beinahe bereits überdrüßig, begann er zögerlich damit, den Meistern seines Werks zuzhören, ihnen zuzusehen bei ihren Kunststücken. S. kam sich dabei bisweilen vor wie ein kleiner Junge, auf der letzten Bankreihe sitzend, ganz hinten im stickigen, düsteren Zirkuszelt: Die Raubtiere, auf exotische, errengede Art mochte er sie, aber näher wollte er ihnen nicht kommen, nicht einmal, wenn sie ihrer Bewegelichkeit beraubt und sicher verwahrt, gebändigt von ihrem leibhaftigen Dresseur oder einem leblosen Stahlkäfig; die Artisten, Meister der Technik, Virtuosen ihrer Kunst, flößten ihm echten Respekt ein, dennoch drehte sich ein Leben bei einer solchen Perfektion doch wohl nur um wenig mehr, als die eine zufällige Passion, die sich trotzdem, Beruf und Berufung in einem, als graues Tagwerk für Brot und Haus publikumswirksam veräußern musste; die Clowns sorgten beim Publikum regelrecht für Heiterkeit, wollten echte Narren für moderne Menschen sein, blieben aber so oberflächlich wie ihre Schminke – schon der nächste Regen reichte, einer Träne oder einem echten Lachen hielt sie niemals stand. Wo in dieser Kette an Ereignissen, Bildern und Worten sollte er das Zusammentreffen mit K. einordnen, wie dessen viel zu schroffes Verschwinden begreifen, nach einem an Ermüdung und Ermunterung reichen, von Erkenntins und Ernüchterung geprägten Beisammensein? Der Blick, mit dem S. zu K. hineingeschaut hatte, glich dessen Blick nach draußen und auf die Agenten und Werkzeuge der Herren oben im Schloss: frech und forschend, mal klarer, mal getrübt, immer grob wissend, in welcher Richtung das Erhabene in der Höhe eigentlich zu finden sei, gleichsam unfähig, den Weg dorthin selbstbewusst und geraden Schritts zu gehen, unterworfen den schicksalshaften Launen, die durch die Welt der Worte spuken. Häuser gibt es, Orte der Ruhe und der Wärme, in die S. hoffnungsfroh einkehren möchte, nur um festzustellen, dass Gastfreundschaft ein rares Gut geworden ist, keine Selbstverständlichkeit mehr jedenfalls. Man begegnet ihm mit offenem Misstrauen, statt mit Offenheit und Wärme. Wäre hier draußen die Witterung nicht so rau, der allgegenwärtige, meterhohe Schnee so beherrschend, die Böhen so schneidend, die Kälte so durchdringend und die Tage so kurz, würde er schlicht weiterziehen, so jedoch ist er verfroren, ist er deshalb auf Unterkunft und Labsaal angewiesen. Und wenn er ganz ehrlich zu sich selbst ist, ins Schloss dort oben seinen Fuß zu setzen, einem bedeutenden Herren zu begegnen und Verbindungen dorthin zu knüpfen, all das rechtfertigte sogar weit mehr als eine Nacht hier draußen in der unwirtlichen Fremde. Der anfänglichen Irritation zum Widerspruch war S. sich ganz sicher, er durfte nicht verzagen, vielleicht würde er K. noch ein zweites Mal aufsuchen oder er stellte sein Glück mitsamt seinen Idealen an anderer Stelle auf die Probe. Das Dorf war nicht sehr groß, aber die Welt war es wohl und neben den Nachbarn hier im Ort gab es gewiss Nachbardörfer, auch dort gab es Berge, Sümpfe und Wälder und überall dort konnten Schlösser, Burgen und Festungen im Verborgenen liegen und auf unerschrockene Wanderer warten. S. musste nur bereit sein, hungrig und frierend, zerlumpt und schmutzig, weiterzugehen, immer weiter, ob geradeaus, im Zickzack oder kurvig war gleichgültig, bloß nicht im Kreis, das wäre fatal. Bald musste er auf jemanden stoßen, der ihn aufnahm und versorgte, das geboten die Gesetze der Wahrscheinlichkeit. Bei K. hatte er gehofft, hatte Anfänge von Sympathie entdeckt, zaghaft und sorgsam hinter dem harten Äußeren, den harten Äußerungen verborgen. Dennoch blieb er unsicher, wie hilfreich K. ihm bei seinen Plänen sein konnte, noch gar, ob er ein Freund werden würde. Derzeit war S. noch offenkundig verdrossen, ob des rüden Abgangs von K. und wegen des penetrant schlechten Wetters hier im Dorf. Hoffentlich beruhigte sich das Wetter, morgen oder übermorgen vielleicht, dann klarte es auf und die Sonne würde die Kälte vertreiben. Dann würde S. weitersehen, ein nächstes Gespräch, ein nächstes Reiseziel in der Ferne oder der Nähe, ein weite Welt wartete auf ihn. Alles war offen, aber eines war fest: sein Unwille seßhaft zu werden; selbst in den ersehnten Schlössern wollte er sich nur gründlich umsehen, ein paar Tage deren Luxus genießen, mehr aber nicht, dann zöge es ihn weiter, wieder hinaus. Kein Meister würde ihn binden, kein Ort sollte in fesseln und keine Macht durfte ihn verlocken. Das gelobte S., klopfte sich den zentimeterdicken Schnee von Mantel, Hut und Hose und dreht daraufhin K.s. Haustür den Rücken zu, nicht barsch, ohne Zorn, wieder frei von jedem Groll und das obwohl ihm K. genau diese Tür vor wenigen Minuten vor der halb erfrorenen Nase zugeschlagen hatte, just nachdem die beiden eine Ewigkeit zwischen Tür und Angel geredet hatten und S. schon mit einer Einladung und einem bequemen Nachtlager kalkuliert hatte. Es war spät geworden und die Nacht wurde trotzdem nicht kürzer, der Wind, der Schnee und die Kälte erfrischten ihn, luden ihren intimen Freund S. ein, zu einer weiteren langen Nacht in einem weiteren namenlosen Dorf am Fuße eines beliebigen Berges und im Dunstkreis irgendeines anderen Schlosses, mit anderen Herren, ihren Dienern und den in deren Nähe unvermeidlichen Begleiterscheinungen: Bürokratie und Beamtentum, Bigotterie und Banalität.
Bis hierhin durchgehalten? Meinen Respekt dafür und wärmste Grüße nach da draußen, Euer Satorius