Milde Blasphemie von, mit und über Hiob

Dass Lesen keine nüchterne, einseitige Aufnahme von Informationen vom konkreten Medium ins aktuelle Bewusstsein ist, wirkte so abstrakt wie es trivial ist. Als Zugang zu diesem Phänomen braucht es keine Literaturtheorie, keine Sprachphilosophie oder sonst einen (inter-)diziplinären Zugang aus den Gefilden der Wissenschaft. Es ist viel einschlägiger und anschaulicher ein und dasselbe Buch – ja, materielles, physisch hartes Buch; ich vermeide hier säuberlich eine Konotation von Text und selbst – in verschiedenen Lebensphasen neu zu lesen. Das Feld zwischen Text und Leser wird ein gänzlich verschiedenes sein, das Leseerlebnis dementsprechend ein neues trotz gleichem Satz auf gleicher Seite in gleicher Zeile.

Wenn dieses Buch (oder E-Book, aber dieses gedankliche Faß öffne ich jetzt nicht auch noch), wie in meinem heutigen Fall, sogar noch die Anthologie der Anthologien ist, und dessen kursorische Lektüre in nahezu jeder Alterstufe mit gleichzeiitg größtmöglichen Lücken stattgefunden hat, dann wird die Interaktivität von Text und Bewusstsein augenfällig, buchstäblich spürbar. Meine Bibelgeschichte ist schnell abgerissen: Zuerst erfahren als Kind in Gestalt meiner Oma im Alltag und besonders bei allabendlicher (Gute-)Nacht-Bibel-Lektüre, gestütz durch wöchentliche Besuche von Kindergottestdienst und Festtagpredigten, dann nörgelnd erduldet als halbstraker, geldgeiler Konfirmand, wiederentdeckt als angehender Philosoph und neugieriger Sucher sowie zuletzt gelesen als Adept in und Liebhaber von literarischer Finesse.

Ein Filetstück der fantastischen Sprachmagie aus dem Hause des Herrn und dem Griffel eines seiner diversen Herausgeber – Martin „The Thesenklopper“ Luther – sprang mir bei meiner Relektüre von Hiob ins Bewusstsein und gereicht nur deshalb nun Euch als Text-Fast-Food bald hoffentlich zur geistigen Freude. Während das Buch Hiob insgesamt existenziell gewichtige Themen auf eine facettenreiche und komplexe Art hin- und herwälzt, und nicht zuletzt deshalb seit Generationen eine unerschöpflliche Inspirationsquelle bildet, gelingt es der zitierten Stelle im besonderen, ein detailreiches, starkes Bild von etwas zu entwerfen. Man könnte es beinahe als Gebrauchsanweisung für bildende Kunst lesen und sogleich gestaltend die Umsetzung des beschriebenen Etwas im Medium der Wahl wagen. Am Ende käme dannach wohl vor allem eines zu Tage, dämonische Bruchstücke aus dem individuellen Unterbewussten des Künstlers aka Lesers alias des Menschen für sich.

Wie meine kindlindlichen Bibelbilder sich anfühlten, vermag ich im Detail zwar nicht mehr zu sagen, aber sie waren ganz sicher anders – ehrfurchtgebietender, glaubhafter, kraftvoller; öder, uncooler und fader; faszinierder, wahrheitsfähig, und begehrlicher -, aber ein hatten sie gemeinsam, sie lasen in einer anderen Zeit, einer anderen Welt mit einem anderen Bewusstsein den gleichen Text.

Nunmehr ist wieder alles anders, frage ich mich wieder andere Fragen: Was lauert im Abgrund zwischen den Zeilen, im Schweigen zwischen den Worten, ihren Silben, im Weiß zwischen den Buchstaben, zuletzt in all dem Nichts um das Etwas herum? Pragmatischer und wieder positiv gewendet, was also kommt zur Darstellung, besser zum Ausdruck?

Hier schließt sich der Kreis des Textes, denn nicht alleine der Text, sein Inhalt, seine sog. Inten(s/t)ion bestimmen des Ereignis unseres Lesens; auch nicht alleine die Person des Lesers, seine Erfahrungen, Gewohnheiten, Prägungen. Analytisch schlicht erschaffen beide Quellen von Bedeutung diese zusammen, im Wechselspiel mit ungleichen sich verschiebenden Anteilen und Aspekten; oder mit ein Prise Poesie, Subjekt und Objekt schwingen miteinander, musizieren im Duett, durchsetzt von Zufällen und durchwaltet von Willen. Was am Ende hinten rauskommt, bleibt offen, ist notwendig singulär, wie sovieles Entscheidendes im Leben. Gerechterweise erlebt also jeder Leser, geschieht in jeder Situation für sich, je nach Alterstufe, Vorliebe, Geschichte und vor allem nach kognitiv-mentaler, metaphysischer Tagesform, was beim Lesen seines Textes, wie beispielsweise eine Bibelstelle, eben so alles Wunderliches geschieht.

Zur Auswahl für die Grob-Interpretation des folgenden Exempels an Textsingularität stehen die unterschiedlichste Intentionen und Motive – mein finaler Gedankensturm brandet unwiderstehlich auf, abstrahiert zunehmend:

ein psychedelisch-fürchterlicher Löwenhybrid, Behemoth oder Leviathan, die Wildheit und das Ungezähmte, böse Natur, Offenbarung, Gottes allmächtiges Wesen, geheimes Wissen der Menschheit, der Alten, ewige Wahrheit, Kreativität und Rhetorik von Gläubigen und Heuchlern, Stille-Post-Effekt über die Grenzen von Jahrtausenden, Sprachen und Kulturkreisen, oder die heilige Lust des Menschen, sich narzissitisch an seiner eigenen Fantasie zu berauschen – und so weiter und sofort bis ans Ende allen Bewusstseins, aller Raumzeit, allen Textes…

In biblischer Umnachtung und übersatt an altbackenem Text, Euer Satorius


 

Ich will nicht schweigen von seinen Gliedern, wie groß, wie mächtig und wohlgeschaffen er ist. Wer kann ihm den Panzer ausziehen, und wer darf es wagen, ihm zwischen die Zähne zu greifen? Wer kann die Tore seines Rachens auftun? Um seine Zähne herum herrscht Schrecken. Stolz stehen sie wie Reihen von Schilden, geschlossen und eng aneinandergefügt. Einer reiht sich an den andern, daß nicht ein Lufthauch hindurchgeht. Es haftet einer am andern, sie schließen sich zusammen und lassen sich nicht trennen. Sein Niesen läßt Licht aufleuchten; seine Augen sind wie die Wimpern der Morgenröte. Aus seinem Rachen fahren Fackeln, und feurige Funken schießen heraus. Aus seinen Nüstern fährt Rauch wie von einem siedenden Kessel und Binsenfeuer. Sein Odem ist wie lichte Lohe, und aus seinem Rachen schlagen Flammen. Auf seinem Nacken wohnt die Stärke, und vor ihm her tanzt die Angst. Die Wampen seines Fleisches haften an ihm, fest angegossen, ohne sich zu bewegen. Sein Herz ist so hart wie ein Stein und so fest wie der untere Mühlstein. Wenn er sich erhebt, so entsetzen sich die Starken, und vor Schrecken wissen sie nicht aus noch ein. Trifft man ihn mit dem Schwert, so richtet es nichts aus, auch nicht Spieß, Geschoß und Speer. Er achtet Eisen wie Stroh und Erz wie faules Holz. Kein Pfeil wird ihn verjagen; die Schleudersteine sind ihm wie Spreu. Die Keule achtet er wie einen Strohhalm; er spottet der sausenden Lanze. Unter seinem Bauch sind scharfe Spitzen; er fährt wie ein Dreschschlitten über den Schlamm. Er macht, daß die Tiefe brodelt wie ein Topf, und rührt das Meer um, wie man Salbe mischt. Er läßt hinter sich eine leuchtende Bahn; man denkt, die Flut sei Silberhaar. Auf Erden ist nicht seinesgleichen; er ist ein Geschöpf ohne Furcht. Er sieht allem ins Auge, was hoch ist; er ist König über alle stolzen Tiere.

 

Moses/Salomo, Martin Luther (Hrsg.) et al. (Autorenschaft kontrovers), Das Buch Hiob. In: Die Bibel – Das Alte Testament, 41,4 – 41,26 (5. – 3. Jahrhundert v. Chr.)

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