Nervig-notwendiger Nietzsche

Daß die einzelnen philosophischen Begriffe nichts Beliebiges, nichts Für-sich-Wachsendes sind, sondern in Beziehung und Verwandtschaft zueinander emporwachsen, daß sie, so plötzlich und willkürlich sie auch in der Geschichte des Denkens anscheinend heraustreten, doch ebensogut einem Systeme angehören als die sämtlichen Glieder der Fauna eines Erdteils: das verrät sich zuletzt noch darin, wie sicher die verschiedensten Philosophen ein gewisses Grundschema von möglichen Philosophien immer wieder ausfüllen. Unter einem unsichtbaren Banne laufen sie immer von neuem noch einmal dieselbe Kreisbahn: sie mögen sich noch so unabhängig voneinander mit ihrem kritischen oder systematischen Willen fühlen; irgend etwas in ihnen führt sie, irgend etwas treibt sie in bestimmter Ordnung hintereinander her, eben jene eingeborne Systematik und Verwandtschaft der Begriffe. Ihr Denken ist in der Tat viel weniger ein Entdecken als ein Wiedererkennen, Wiedererinnern, eine Rück- und Heimkehr in einen fernen uralten Gesamt-Haushalt der Seele, aus dem jene Begriffe einstmals herausgewachsen sind – Philosophieren ist insofern eine Art von Atavismus höchsten Ranges. Die wunderliche Familien-Ähnlichkeit alles indischen, griechischen, deutschen Philosophierens erklärt sich einfach genug. Gerade, wo Sprach-Verwandtschaft vorliegt, ist es gar nicht zu vermeiden, daß, dank der gemeinsamen Philosophie der Grammatik – ich meine dank der unbewußten Herrschaft und Führung durch gleiche grammatische Funktionen – von vornherein alles für eine gleichartige Entwicklung und Reihenfolge der philosophischen Systeme vorbereitet liegt: ebenso wie zu gewissen andern Möglichkeiten der Welt-Ausdeutung der Weg wie abgesperrt erscheint.

Friedrich Nietzsche (1844 – 1900), Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft: S. 34f. (1886)


Wirklich mögen kann man ihn zwar schwerlich, aber in stummer Ehrfurcht sein Haupt zu einem respektvollen Kopfnicken in Richtung des fiesen Friedrichs zu bewegen, erscheint mir angemessen. Kaum ein Dichter-Philosoph hat mich länger auf meinem intellektuellen Weg begleitet als der große Spötter und fröhliche Skeptiker Friedrich Nietzsche. Eine geistige Hass-Liebe begleitet mich seither und führte zu einer On/Off-Beziehung, die bereits über ein Jahrzehnt anhält.

Ob er der (Post-)Moderne den Weg planiert, der philosophischen Tradition ins gemachte Nest spuckt oder die Abgründe und Gipfel von Kultur und Geschichte stilsicher in Worte fügt, immer tat er es auf unvergleichliche, unerträgliche und unverzichtbare Art. Ich, wie viele andere, können deshalb nicht mit ihm, aber auch nicht ohne ihn – denken, schreiben oder vielleicht gar leben.

Was er in seinen Schriften eigenhändig zertrümmert, und das ist viel mehr, als man gemeinhin großzügig erwartet, destruiert er mit großer Berechtigung und meinem kräftigen Beifall. Was er schonungslos attestiert oder hellsichtig prophezeit, ist mehr als bloße Spekulation und krude Fiktion. Was er in der Grauzone zwischen gutem Denken und gutem Darstellen gedichtet hat, verdient diese Bezeichnung gewiss – dichten-, denn er hat die (deutsche) Sprache geprägt, sie gleichzeitig bereichert und entschlackt.

Dennoch, er bleibt mit all seiner paradoxen Arroganz, seinem kruden Chauvinismus und seinem ätzenden Ethos ein neurotisch-neunmalkluger Nörgler. Manchmal möchte ich fast einen Fluch ausstoßen, indem ich laut rufe: „Nietzsche, Nietzsche…“, und nochmal: „Nietzsche“! Was dann wohl Wunderliches passieren würde?

In Anerkennung und Abneigung gleichermaßen, Euer Satorius

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