Nach der schweren und stark nach Überarbeitung lechzenden Geschichte um den Fast-Magister Xaver Satorius, gab mir der dilettierende Kollege einen weiteren Text aus seiner Feder. Er versprach mir hoch und heilig, er sei viel besser lesbar und vor allem eines: kurzweilig und spannend.
Urteilen wir selbst und zwar in einem großen Schlag, alles auf ein mal. Hoffen wir, dass sich niemand verschluckt oder gar an dem zwölfeinhalb Seiten starken Textbrocken überfrisst.
Gute Lektüre und schöne Zeit, Euer Satorius
Ein Sturm zieht auf
Seiten 1 – 13
„Wir sind zwei und zugleich eins – mein Bruderherz Yang und ich – Yin, einfach nur Yin“, begann ich das Gespräch andeutungsvoll, abgebrüht und gleichzeitig doch reichlich abgedroschen mit meiner üblichen Begrüßung für Neulinge.
Ich hatte die abgenutzten Worte über den halben Platz hinweg Richtung Südtor gebrüllt. Wie meistens, wenn einer von uns sich lautstark bemerkbar machte, interessierte das die wenigen Wächter in der Nähe überhaupt nicht. Wir waren fast unsichtbar. Auch die zwei unnötigen Wachen dort drüben auf dem Wall beachteten unseresgleichen nicht, so auch jetzt.
Mit meiner Eröffnung wollte ich zugleich cool, schlagfertig und selbstsicher wirken, war ich aber nicht. Besonders nicht so kurz nach der letzten Tagschicht, die ich vorhin erst hinter mich gebracht hatte. Ich war müde, übellaunig und fertig mit der Welt. Außerdem waren die erbärmlichen Gestalten dort drüben ganz sicher kein begeisterungsfähiges Publikum für meine Showeinlage. So erntete ich auch überhaupt keine Reaktion auf meine Ansprache, nicht Mal die kleinste Regung. Wie sie so herumstanden in ihren abgerissenen, vor Dreck stehenden Klamotten, galt es hier weder, irgendwen zu beeindrucken, noch, gab es irgendwas zu gewinnen.
Die Gruppe stand starr im Eingangsbereich unseres Lagers, nachdem sich das schwere Panzertor vor wenigen Augenblicken mit einem unheilvollen Krachen fest und unwiderruflich hinter ihnen verschlossen hatte. Während das Krachen in der Ferne leiser geworden war und nun beinahe verhallt war, kehrten die beruhigenden Geräusche des prasselnden Regens wieder in den Vordergrund meiner Wahrnehmung zurück – rhythmisch, wohltuend und angenehm einschläfernd. Jugendliche Neugier rang in mir mit der Unlust, mich ernsthaft mit der Außenwelt und diesen da drüben zu beschäftigen. Die Neugierde gewann nur sehr knapp und spülte mit ihrer Frische die abendliche Mattheit und den berechtigten Ärger über unsere gesamte Lage nur ein wenig zur Seite.
Viel konnte ich aber beim besten Willen nicht erkennen: Kleine schmutzige Flecken, etwas verschwommen, gehalten in Abstufungen von Grau und Braun, eventuell gesprenkelt mit ein paar Tupfern Rot – aber dabei war ich schon nicht mal mehr sicher. Dass es vier Menschen waren, wusste ich aus Erinnerung und Nachdenken. Vor dem dunkelbraunen Tor mit einem düstergrünen Hintergrund fielen sie kaum auf, aber sie waren eben erst angekommen und daraufhin wie versteinert stehen geblieben – mehr konnte ich echt nicht sehen. In dem abendlichen Zwielicht und bei dem typisch schlechten Wetter war einfach nichts Genauere zu sehen. Scheiß Wetter wie eh und je, Nebel und Nieselregen – zudem lag ein Sturm in der Luft.
Der Fernblick über die Gruppe und den äußersten Schutzwall hinweg, bot bei gutem Wetter einen tollen Ausblick – nur kam das fast nie vor. Das wusste ich sehr gut, denn man prägte sich die wenigen schönen Dinge, die es hier überhaupt gab, besser gut ein. Ohne solche Kraftquellen verlor man schnell den Lebenswillen. Derzeit war mal wieder fast nichts davon zu sehen, also blieb mir nur fantasievolle Erinnerung: Rundherum die Randregion einer riesigen, mit Pflanzen überwucherten Ruinenstadt; nur in einer Richtung, in meinem Rücken, jenseits der Mauern, jenseits von allem hier drinnen, weit hinter dem aufdringlichen Zentralturm, gab es eine Ausnahme. Dort erstreckte sich ein tiefer ausgedehnter Urwald. Wie ein verschlungener, bunt gescheckter Pflanzenteppich wand er sich bergauf bis ins Hügelland im Südwesten. Es gab dort Baumriesen, die wohl bis in Tausend Meter Höhe emporragten, bis hinauf in die Wolken, vielleicht sogar über die Wolken hinaus. Manchmal stellte ich mir vor, wie ich mutig dort hin floh und einfach an den Bäumen hinauf bis in die Wolken kletterte, wie ich über die Wolken hinauskam und dadurch in ein neues, besseres Leben entkommen konnte. Ganz so, wie in den Märchen, die unsere Eltern uns früher vorgelesen hatten. Das waren bessere Tage gewesen, in einem früheren Leben, in einer unwiederbringlich verlorenen Zeit.
Heute Abend blieb all das unter einer tief hängenden, grau-dunklen Wolkendecke verborgen. Scheiß Wetter und wilde Natur soweit das Auge reichte und die Füße trugen, da machte die Nachbarschaft von Ruine und Wald kaum einen Unterschied. So schön die damit verbundenen Vorstellungen auch waren, so falsch waren sie; so dumm war ich, wenn ich sie mir machte: Menschenfeindliche Wildnis umgab uns rundherum, rücksichtslos, wüst und tödlich.
Der dampfenden Schlamm, der sich überall breitmachte, widerwärtig stank und hier draußen unter dem Dauerregen munter vor sich hingluckste und dabei widerwärtig schmatzte, war ein Vorbote dieser aggressiven Umgebung – militantes Dreckszeug, das mir gern gestohlen bleiben konnte. Ich war sehr gerne hier draußen, aber man sah danach immer aus wie ein schlammiges Monster. Da half am besten, den Dreck trocknen zu lassen und dann grob auszubürsten und das immer wieder: Tag für Tag, immer wieder, ohne Unterlass.
Durch Unmengen von dem unnützen Dreck hatten sich die Neuankömmlinge zuvor mühsam – da war ich mir sicher – ihren Weg hierher erst bahnen müssen. Währenddessen mussten sie ständig fürchten, von irgendetwas angegriffen und verletzt, wenn nicht sogar getötet zu werden. Oder sie wussten noch nichts von diesen Gefahren, die Glücklichen, und waren wenigstens in dieser Hinsicht Heil hier angekommen.
Sie mussten den weiten Weg durch den Matsch und die gefährliche Wildnis zu Fuß zurücklegen. Mitten hindurch durch einen Albtraum ging es der Tradition gemäß, ungefähr einen halben Tagesmarsch lang, so sah es das Ritual vor. Dabei sah man die rettende Zuflucht in der Ferne liegen, mitten im Talkessel mit dem markanten Pyramidenturm in ihrem Zentrum. Trotz allem, was zuvor passiert war, sehnte man die Ankunft dort herbei; um am Ende, wenn alles gut ging, Gor-Taunus soeben noch im Hellen zu erreichen. Erst die brutale Gefangennahme, dann noch der anstrengende Weg, zu Fuß durch die Wildnis, nur um dann letztlich in einem Gefängnis zu landen. Das war schon eine ziemlich grausame Art der Folter. Nicht nur das, diese Qual war ein entscheidender Teil ihres Plans, war der Anfang eines Versuchs von Gehirnwäsche, wie ich mittlerweile glaubte.
Wir hatten diese Tortur auch hinter uns gebracht. Damals vor langer Zeit hatten auch wir da durch gemusst, sogar vier Mal hintereinander. Beim ersten Mal war es schon schlimm, aber mit jedem weiteren Mal wurde es schlimmer, denn man wusste nun, was einem alles drohte. Die dauernde Angst sorgte, zumal ohne Nahrung und Wasser, dort draußen für unangenehme Grenzerfahrungen. Danach wusste man kaum noch, wer man vorher gewesen war. Genau darum ging es ihnen. Einmal aus jeder Himmelsrichtung mussten sich Neulinge in ihrer ersten Woche hier zum Lager durchkämpfen. Ich dachte aber besser nicht wieder darüber nach, das lag lange hinter mir und noch mehrfach vor den armen Teufeln dort drüben.
Also weiter im Gespräch, beschloss ich und rief noch lauter als eben: „Hey, Hallo! Keine Angst – kommt einfach zu uns rüber, wenn ihr könnt.“ Das war ehrlich und nett, mehr konnte und wollte ich nicht versuchen – jedenfalls nicht an einem so scheußlichen Tag, nach einem so zermürbenden Arbeitseinsatz.
Wie nach dem ersten Marsch und seinen Strapazen zu erwarten, reagierten die Neulinge nicht, auch nicht auf meine freundlichere, zweite Ansprache. Wahrscheinlich waren sie heftig traumatisiert und brauchten eine Weile, um wieder klarzukommen. Egal jetzt, ich sollte einfach noch ein paar Atemzüge lang schweigen, dann würde sich alles Weitere schon von selbst ergeben. Ich konnte einfach weitermachen wie zuvor, entspannen und zusehen. Mal ehrlich, ich hatte es ernsthaft versucht. Einfach nur abwarten und auf ihn aufpassen, mehr musste ich von hier an nicht mehr tun. Gleich würde es losgehen – ja, jetzt gleich musste es passieren, das spürte ich.
„Mein süßes Schwesterherz und ich sind verdammt unterschiedliche Marken, nicht wahr? Aber so dicke miteinander, dass wir eigentlich eins sind“, riss ich – Yang – impulsiv, wie ich halt bin, die Initiative nun an mich und setzte schnell nach:
„So richtig verstehen wir das verdammte Mysterium unserer Existenz ja auch nicht. Ihr versteht sicher gerade auch nicht viel, deswegen helfe ich euch ein bisschen auf die Sprünge.“
„Eins ist von nun an ganz klar und das müsst ihr euch von Anfang an wirklich gut merken: Wir sind hier keine Menschen unter Menschen mehr. Wir sind nicht mehr als räudige Sklaven. Also verhaltet euch von nun an wie solche!“
„Von nun an seid ihr, genau wie ich und Yin, ganz offiziell: Gefangene Seelen …“, ich ließ das letzte Wort in der Luft stehend wirken.
„Jeden verdammten Tag müssen wir uns den Gesetzen unterordnen und mehr als den halben Tag lang in Arbeitsschichten buckeln, sonst geht’s uns dreckig. Wenn wir mal nicht spuren, bekommen wir mindestens kein Essen und schlimmstenfalls versetzt einem das Ding hier schmerzhafte Stromschläge – aber keine Sorge, ihr bekommt auch noch euer Geschirr, dauert gewiss nicht mehr lange.“ Ich wies mit einer Grimasse auf meinen Disziplinator, der wie ein Käfig um meinen Kopf herum befestigt war.
„Solltet ihr Mal wirklich lebensmüde sein, könnte dieses technische Machwerk euch helfen. In einem Wimpernschlag kann es euch auslöschen, euch einfach so mal eben töten, wenn ihr es darauf anlegt. Aber genug davon, das kommt später. Spätestens Morgen wird man euch zusätzlich zu der Peilvorrichtung, die sie euch während der Inbesitznahme schon eingepflanzt haben, euren technischen Maulkorb verpassen.“
„Klingt grausam, nicht wahr? Ist es auch! Aber das alles ist wohl trotzdem besser, als hier wieder rausgeschmissen zu werden. Davon brauch ich euch eher nicht viel erzählen, das werdet ihr schon noch mitkriegen, wenn ihr es nicht jetzt schon geschnallt habt. Denn obwohl wir hier drinnen nichtige Würmer sind, unbedeutend und unwürdig, wären unsere kleinen Scheißleben dort draußen, hinter dem schützenden Wall, noch weniger wert. Keinen mickrigen Taugor, um genau zu sein, wären euer Leben dann noch wert!“ Trotz meiner eindrücklichen Worte zeigten sich weder Begreifen noch Verstehen in den wächsernen Mienen der kleinen Scheißer. Sie stand einfach so da, wie angewurzelt.
Ich musste wohl noch eine Schippe draufsetzen, wenn ich irgendwie zu ihnen durchdringen wollte. Also entschloss ich mich, noch lauter mit fast theatralischer Stimme fortzufahren:
„Nein ehrlich, glaubt mir! Mit Glück und Schnelligkeit schafft ihr den Tag über, vielleicht auch noch eine Stunde in der Dämmerung. Die Besten machen es eventuell ein klein bisschen länger, aber allerhöchstens überleben auch sie nur bis zum Beginn der Nacht. Dann sind auch sie dran. Eine Nacht in der Todeszone bedeutet ganz einfach nur eines: euren Tod. Nachts überlebt da draußen keiner von uns halbwüchsigen Schwächlingen. Keine Chance, nicht ohne ein paar ordentliche Waffen, gute Ausrüstung, viel Erfahrung und Killerinstinkte. Wo auch immer das hier herkommen soll, selbst damit bräuchtet ihr verdammtes Glück. Wir Scheißer sind wie ein Snack für die Jäger da draußen.“
„Träumt also gar nicht erst von Flucht! Freiheit bedeutet von nun an für Euch nur noch eines: den Tod!“, das letzte Wort hatte ich nun gellend laut geschrien, nachdem ich weiterhin nicht zu ihnen durchgedrungen war.
Harte Worte, aber wahre Worte hatte ich ihnen damit soeben als Begrüßung über den schlammigen Platz hinweg an ihre kleinen Köpfe geschmissen; aber ich hätte mir so offene Wahrheiten damals bei unserer eigenen Ankunft hier in der Siedlung echt gewünscht. Je eher sie ihre Lage verstanden, sich also ganz unten in die hiesige Hackordnung einfügten, gehorsam und konform wurden, desto kürzer war ihr Leidensweg. Ich wollte ihnen damit im Grunde nur helfen, genau so wie meine gutherzige, viel zu weiche und Schwester es eben auf ihre unsichere Art versucht hatte. Trotzdem, auch ich war damit nicht weiter gekommen als sie – guter Sklave, böser Sklave, auf die unvergleichliche, ungleiche Yin-Yang-Art eben.
Bei ihrer und erst recht meiner Laune und den dazu passenden, brutalen Worten, wunderte mich ihre gut gespielte Ruhe: Respekt Kleine! Lange lies ihre Reaktion nicht mehr auf sich warten, das ahnte ich – so leicht lies sie sich nicht den Chip von der Platine rippen. Meine Redezeit war fast vorüber, das wusste ich nun und sah ich es auch kommen. Ich hatte sie zuviel gereizt, das arme, gutherzige Ding.
„Mensch Yang, es reicht – du bist ein fieses Ekelpaket; lass sie doch jetzt damit in Ruhe!“, fuhr ich meinem Bruder nun endlich dazwischen, bevor er sich weiter in seinen unnötigen Gemeinheiten ergehen konnte. Er geriert schon wieder in verbale Rage und verlor sich in seiner Angriffslust. Von wegen: nur dasitzen und abwarten, so leicht machte es mir mein Bruder doch nicht.
„Sie sollen erst mal richtig hier in Gor-Taunus ankommen und sich ein wenig beruhigen können. Denk doch mal nach, die sind sicher total fertig, und verstört obendrauf durch das, was sie den Tag über durchmachen mussten“, redete ich auf Yang ein und fügte dann, versöhnlicher nun, noch etwas hinzu:
„Erinnere dich doch bitte einfach an unsere eigene Ankunft in diesem Drecksloch! Wir waren damals beide vier mal da draußen. Wie viele Tage lang wir danach total neben dem Datenkabel waren, ich weiß es nicht mehr, aber es waren einige. Es waren grauenvolle Tage, mit Schmerzen und Albträumen. Wir hatten sogar noch unsere alten Namen, erinnerst du dich denn nicht mehr?“ Bei den eignen Gefühlen und seinen schlimmen Erinnerungen konnte ich ihn packen, nicht sehr einfühlsam, aber nötig.
„Draußen hatten wir gerade so eben überlebt. Wir mussten von Anfang an nur auf uns gestellt klarkommen, ganz alleine. Dann die Spinner mit ihren dreiundzwanzig Sklavengesetze; das menschenunwürdige Geschirr, die ganze Scheiße damals!“
„Lass es uns ihnen bitte so einfach wie irgendwie möglich machen“, sagte ich versöhnlicher und fügte nun flüsternd hinzu, „denk daran, was ihnen noch bevorsteht. Das wird so schon schwer genug, das alles hintereinander und auf einmal zu verpacken, ohne daran zu zerbrechen. Das wissen du und ich ganz genau – zu genau. Bitte Yang!“
Damit versuchte ich, meinen Bruder in seinem überzogenen Gehabe zu bremsen und frühzeitig emotional zu entschärfen. Sein ätzender Drang, Schwächeren die Angst einzujagen, die er selbst nicht zulassen konnte, nervte mich aller Verbundenheit zum Trotz. Er tat das, um sich selbst besser zu fühlen. Ja, vielleicht hatte er im Grunde sogar Recht mit seiner Warnung, aber so durfte er die Sache nun wirklich nicht angehen. Dabei war er nicht immer so gewesen: gemein, bissig, teilweise verletzend. Das Lagerleben hatte ihn sehr verändert, er war härter und kälter geworden. Wenigstens sprach er noch immer die Wahrheit aus, das war ein kleiner Trost für mich.
Während mir dies durch den Kopf ging, wusste ich, es war im Grunde total gleichgültig; denn ich liebte meinen Bruder Yang über alles, innig und unbedingt. Er war systemweit der einzige Mensch, der mir in dieser grausamen Zeit von meinem alten Leben und meiner Familie geblieben war und dem ich lebenslang blind vertrauen würde. Wir waren entgegen dem äußeren Anschein vermutlich Zwillinge. Dadurch waren wir viel enger verbunden, als sich das die meisten einsamen Menschen vorstellen konnten. Auch wenn wir äußerlich und charakterlich alles andere als ähnlich waren, spürten wir und glaubten wir – nein, wussten wir sicher –, dass wir mehr waren als bloße Geschwister. So erspürte ich nun im geistigen Hintergrund seinen Wunsch, im Grunde auch nur beschützen und damit zu helfen zu wollen – leider auf seine aggressive, forsche Art. Daneben empfand ich jedoch auch die Erleichterung und die Genugtuung, die er spürte, während er auf den noch Schwächeren herumhackte; dumpfe Angst und ohnmächtiger Zorn eines selbst gequälten Opfers. Ich hatte die gleichen, kaum verheilten Wunden aus der gemeinsamen Vergangenheit zu tragen, einem Leben von Sklaven in einem Lager von Sklavenreibern. Natürlich lag ihm das alles ebenso, wenn nicht schwerer auf der Seele. Nur ging er schlechter damit um, wie ich entgegen aller Liebe zu urteilen wagte. Egal, die Schuldigen waren andere; sie waren verantwortlich, die ihn überhaupt erst in seine Offensive getrieben hatten.
Wegen unserer engen Bindung hatte ich ein Gespür dafür, was ihn ritt, und konnte meistens rechtzeitig eingreifen und ihn an den richtigen Stellen unterbrechen. Damit half ich ihm, ohne dass er das nach außen hin würdigen würde, und ähnlich, wie er dies auch bei anderer Gelegenheit auf seine Art für mich getan hatte und sicher wieder tun würde – ohne, dass ich es meinerseits großartig zum Thema machen musste. Jeder kannten wir die Schwächen des anderen genauso gut und besser noch, wie unsere eigenen und unterstützten einander dementsprechend. Wie in jedem guten Team ergänzten wir uns in unseren Eigenschaften und Fähigkeiten, im Guten wie im Schlechten.
„Okay! Bleib bitte Mal locker und werde wieder geschmeidig. Ist ja schon gut – dann also auf die nette Tour; aber nur für dich, Schwesterchen. Ich geh mal rüber und schau mir das aus der Nähe an, bleib du einfach auf deiner faulen Haut liegen“, lenkte ich milde und mürrisch ein, zu meiner eignen Überraschung.
Ja, sie kannte mich. Ich hatte ihre Einladung zu mehr Selbstbeherrschung gerne angenommen. Also zog ich brav meinen Schwanz ein und war schön artig, für die Harmonie. Ich hätte mich eigentlich bei ihr dafür bedanken können, aber warum Worte verschwenden. Wie fast immer war ich zu stolz, aber das war ok; eigentlich war das überhaupt nicht nötig, wir verstanden uns ohne Worte. Wir kannten keine gegenseitigen Schulden.
Noch immer hatte sich nicht viel verändert an der Situation: Die vier Grünschnäbel verharrten weiter wortlos und noch immer wie gelähmt; ja, sie schauten nicht Mal zu uns herüber. Also entschloss ich mich spontan, meiner Ansage die nötige Aktion folgen zu lassen, stand auf und begann ganz ruhig auf die Gruppe zuzugehen, mit meinem freundlichsten Lächeln auf den Lippen.
Da ich zuvor etliche Meter vom Tor entfernt mit Yin rumgesessen und relaxt hatte, erkannte ich das schräge Quartett erst jetzt beim langsamen Näherkommen in seiner vollen Pracht. Bei der Witterung und dem miserablen Licht, am frühen Abend, war die Sichtweite mehr als bescheiden. Eine komische Truppe war das, wie ich nun schrittweise klare erkennen konnte:
Der blasse, rothaarige Junge – Marke Streber – wirkte verängstigt und blickte bisher nur starr und zitternd auf den schlammigen Boden. Er wirkte unscheinbar und sogar noch eine Nummer schwächer, noch harmloser als der Rest der Truppe.
In der Mitte, rechts neben dem Rothaarigen standen zwei etwas zu dick geratene, dadurch aber kräftiger und fitter wirkende Mädchen. Mit ihren blonden, strähnig-fetten Haaren, die sie unvorteilhaft zu dicken Zöpfen gebunden hatten, sahen sie sich verdammt ähnlich. Nein, mehr als das, sie sahen, soweit ich das jetzt erkennen konnte, allen Ernstes wie waschechte Zwillinge aus. Die Linke der beiden hatte draußen wohl was abkommen, hielt sich bloß noch irgendwie auf den Beinen. Ihre unverletzte Schwester stand rechts neben ihr, blickte panisch umher, schielte scheinbar in mehrere Richtungen gleichzeitig. Wie ihre Leute schien auch sie am Ende ihrer Kräfte angekommen zu sein. Im Gegensatz zu ihrer Schwester wirkte sie aufmerksam und fast hektisch, wie sie dennoch gebannt dastand. Sie half der verletzten Zwillingsschwester nach Kräften, hatte sie im Arm und unterstützte sie. Die regte sich gerade erstmals, ihr Gesicht wurde kurz lebendig; von Schmerz leicht verzehrte, blutunterlaufene Augen schauten mich scheu an. Bis dahin hätte man die Kleine für bewusstlos oder halb tot halten können, so schlaff hing sie an ihrer Schwester. In den Knien eingeknickt hielt sich gerade so aufrecht. Nun war ihr Kopf wieder vorüber gefallen. Reglos dennoch und still ging das vor sich. Aber was war das?
Mein Blick wanderte weiter zum letzten Mitglied der Gruppe, sie stand etwas abseits und weiter hinten. Auch sie verharrte dort wie gebannt. Die Letzte der Vier war, so etwas gabe es hier eigentlich nie, sie war – schön. Eine angenehme Ausnahme und weit mehr als das, sie sah trotz der ungünstigen Umstände verdammt gut aus. Nein, sei ehrlich, sie sah verdammt heiß aus. Wohl die Älteste der Gruppe war sie wohl nur wenig jünger als ich selbst. Schwarze, lange Haare umrahmten ein dreckiges und blutverschmiertes Gesicht, das einer selbstbewussten Schönheit gehörte.
Während ich, meinen Blick auf die Schönheit geheftet, die letzten Meter zurücklegte, drängte sich plötzlich das Prasseln des Regens, die erfrischende Kühle auf der Haut und der widerwärtige Gestank der Wildnis unwiderstehlich in den Vordergrund. Die Umgebung wurde mir schlagartig mit allen anderen Sinnen bewusst. Da lag ein fauliger Geruch in der Luft, unnachahmlich und zugleich unbekannt.
Wenige Sekunden waren so vergangen, bis ich wieder in die Welt zurückkehrte und in dieser gerade bei unseren Neulingen angekommen war. Also setzte ich direkt zu meiner offiziellen Begrüßung an:
„Wie vorhin gesagt, seid ihr von nun an Sklaven. Wie ich, meine Schwester und die meisten hier im äußeren Ring welche sind! Nicht böse gemeint, aber das sind die Fakten.“
„An sich erst mal scheiße; das stimmt! Aber erstens, ihr lebt und zweitens, ihr habt hier einen zivilisierten Ort betreten. Der hiesige Stil ist zwar ziemlich altmodisch und etwas derb, aber allemal besser als die tödliche Wildnis, aus der ihr gerade kommt.“
Damit hatte ich erste kleine Bewegungen erreicht. Die Blicke des lebhafteren Zwillings und der Schönheit waren nun schon mal auf mich gerichtet. Auch der Junge hob nun wenigstens einmal kurz seinen Kopf und schaute auf. Ich blickte in Augen voll unterdrückter Panik. Er blickte verstohlen zur Verletzten und wandte sich sofort wieder ab; ganz so, als wäre er bei etwas ertappt worden. So schlimm war sie nicht verletzt, äußerlich hatte sie nur ein paar blutige Schrammen an ihrem rechten Oberarm. Es blutete nicht mal mehr. Halb so wild also, befand ich stillschweigend.
„Kommt einfach erst mal mit rüber. Vom Tor weg, raus aus dem kalten Regen und dem Schlamm. Ich zeig euch anschließend schnell eure vier Suiten dort drüben im Penthouse. Selbstverständlich serviere ich einen Aperitif und dann geht’s sofort zum Hausarzt. Naja, so oder so ähnlich wird‘s zumindest laufen.“ Mit dieser humorigen Einlage hatte ich sogar den Jungen etwas aufgemuntert. Er beruhigte sich ein wenig. Dem Gesicht der Schönheit hatte ich dabei mit all meinem Charme sogar ein erstes, kleines Schmunzeln entlocken können.
Plötzlich gab der verletzte Zwilling ein seltsames, undefinierbares Geräusch von sich: ein tiefes, kehliges Gurgeln, irgendwie alt, jedenfalls überraschend. Nur kurz und bellend, nun herrschte wieder Stille. Der Junge verlor seine Ruhe sofort wieder und ging ein wenig zur Seite. Auch die Schöne machte einen kleinen Bogen. Meine Güte, die Kleine musste verdammt schnell zu einem Arzt oder ihr war nicht mehr zu helfen. Dass der andere Zwilling nun in noch tieferer Sorge war und vermutlich Seelenqualen litt, konnte wohl gerade ich sehr gut nachempfinden. Die zuvor gewonnene Aufmerksamkeit hatte ich fast wieder verloren. Das Eis war also am Antauen, vielleicht konnte ich es ja direkt brechen, wenn ich mit meinem stupiden, aber herzlichen Humor einfach unbeirrt weitermachte:
„Ich bin Yang“, gefolgt von einer tiefen Verbeugung, „euer persönlicher Ansprechpartner hier vor Ort. Meines Zeichens das Willkommenskomitee von Gor-Taunus. Vielleicht werden Freund, später irgendwann, wenn ihr dann noch Bock auf so was Kitschiges wie Freundschaft haben solltet. Kommt einfach mit rüber oder lasst es.“
„Auf dem Weg dürft ihr euch im Übrigen gerne auch eine Runde zu Wort melden. Wenn ihr euch vorstellen könntet, wäre das ein guter Anfang. Ihr müsst das aber natürlich nicht – alles kann, nichts muss. Denn wie jede gute Servicekraft, lese ich euch alle Wünsche auch von den stummen Lippen ab. Kommt aber bitte wirklich mit rüber zu Yin und dann schauen wir gemeinsam weiter. Sieht übel für die Kleine aus, was hat sie abbekommen?
„Nein, immer noch kein Kommentar? Ok, also gut – dann sollten wir keine wertvolle Zeit verschenken.“
Zuletzt fügte ich noch zur Schönheit gewandt hinzu: „Auch du könntest auch ein kleines rosa Pflaster vertragen – schmutzige Schönheit!“
Ohne lange auf eine Reaktion zu warten, drehte ich mich kurz entschlossen um, vielleicht ein bisschen zu barsch, und ging schnurstracks los. Zurück in Richtung des Überdachs aus durchsichtigem Kunststoff. Dort wartete Yin, saß gemütlich und ziemlich passiv in ihren Formschaumsack gefläzt: Der Lilafarbene war ihrer und ich benutzte üblicherweise den Dunkelgrünen. Durch eine dicke Schicht aus Dreck entstellt, erkannte vermutlich nur noch ich die ursprüngliche Farbe, weil ich sie aus Gewohnheit zuordnen konnte. Die Sitzsäcke lagen vor unserer kreisrunden Glashütte mit ihren knapp vier Metern Durchmesser und einer mittleren Höhe von 2 Metern. Sie lag inmitten eines chaotischen Wirrwarrs aus den unwahrscheinlichsten Gegenständen. In ihrer Gesamtheit waren die runtergekommene Umgebung und der Vorplatz unserer gläsernen Behausung das, was wir zwei in liebevoller Übertreibung unsere Veranda nannten.
Alles war unglaublich dreckig, klebte und triefte. Es stank widerwärtig; überall lagen Unrat und Schrott herum. Einzig die kugelrunden Gebäude unterschieden sich, makellos, im krassen Kontrast zu allem anderen – ekelhaft in ihrer technischen Perfektheit. Durch die Schmutzresistenz des Werkstoffs waren die Wände immer sauber und fast durchsichtig. Ohne den Regen, der in dicken Perlen hinunterlief, konnte man sie glatt übersehen, was erfahrungsgemäß schmerzhafte Folgen haben konnte. In ihrer Durchsichtigkeit glichen sie Fenstern, durch die hindurch man abermals noch mehr Dreck und lebendiges Elend beobachten konnte: unsere schmutzigen kleinen Existenzen in ihren intimen Einzelheiten. Wir Sklaven aus der Außenstadt waren Menschen der untersten Ebene und mussten allen Ernstes in Glashütten hausen – immer unter Beobachtung stehend, stets unter Kontrolle und damit den verdammten Gesetzen ausgeliefert. Die Überwachung wurde nicht verheimlicht, wieso auch: Optiktürme, mobile Überwachungseinheiten und unser Geschirr waren allgegenwärtige Begleiter und erinnerten uns ständig daran, wer wir waren: menschliches Vieh.
Die wenige Freizeit, die uns neben der harten Arbeit vergönnt war, verbrachten wir am liebsten hier draußen knapp hinter dem äußersten Wall und unweit des nordöstlichen Zugangs zur Stadt. Wir mieden die hübscheren, zentraler gelegenen Bereiche der mit drei Schutzwällen stark befestigten Anlage. Von den Gebäuden und Möglichkeit dort hätten uns sowieso nur die wenigstens offengestanden. Es stank hier definitiv mehr, war gewiss kälter, windiger und unwirtlicher; im Ernstfall sogar der unsicherer; dafür kamen unsere hohen Herren selten persönlich hierher an den Rand ihres kleinen Reichs. Konnte sich ein Sklave ohne anwesende Herren nicht wenigstens eine bisschen freier fühlen? Wir blieben weiterhin absolut überwacht und kontrolliert: mechanisch, elektronisch und existenziell. Egal, ich konnte hier einfach freier Atmen. Noch wusste ich nicht, ob sie mir folgten. Ich würde mich auf dem restlichen Weg nicht rumdrehen.
Da kam er schon wieder zurück, zurück von seiner netten Tour; scheinbar ohne Erfolg. Die Gruppe stand nämlich noch im unbewegt und so weit ich das gegen den Regen hören konnte, weiterhin schweigsam vor dem Ausgang in den Kreis zur äußeren Hölle. Ihnen selbst war das Tor wohl davor wie eine Verheißung auf zu Zuflucht und Rettung erschienen. In Wirklichkeit war es das Portal in den inneren Kreis der Hölle.
Ich fühlte aber, dass er irgendetwas erreicht hatte. Wenn er wenigstens mit ein paar Details und ohne große Neuigkeit zurückkam – auch gut. Falls sie nicht kamen, sollten sie halt weiter im Regen stehen und frieren: ihr Pech!
Doch dann, ohne Anzeichen, wie auf einen geheimen Befehl hin, kam Bewegung in die Szenerie. Als ich schon fast nicht mehr damit gerechnet hatte, schloss sich zuerst die größte der vier Gestalten an – zögerlich zunächst, doch dann, Schritt für Schritt, mit wachsender Entschlossenheit, folgte sie meinem Bruder über den schlammigen Vorplatz. Kurz darauf gab sich auch ein zweiter der Neuankömmlinge einen Ruck. Als Yang an der Spitze beinahe hier angekommen war, setzten sich auch noch die letzten beiden Figuren, die eine schleppend, die andere humpelnd in Bewegung. Mit der linken Person war irgendwas schwerwiegend im Argen, jedoch nicht schlimm genug, um dafür extra aufzustehen. Sollten sie ruhig zu mir kommen, denn wir würden ihnen heute sicher noch genug helfen, da war ein klein bisschen Bequemlichkeit im Vorfeld vollkommen in Ordnung.
Außerdem hatte ich seit wenigen Sekunden ein ziemlich ungutes Gefühl im Magen. Dazu noch ein Sausen in den Ohren und ein Kribbeln in der Nase, damit waren die Anzeichen komplett. Ich war weder weich, noch erkältet, sondern feinfühlig. Abergläubisch bin ich nicht, ich glaube nicht an Magie. Dennoch folgte auf dieses Gefühl und seine typischen Begleiterscheinungen meist etwas Bedeutsames. Meiner Intuition konnte ich vertrauen, denn sie hatte mir oft genug einen hilfreichen Wink gegeben. Leider wusste ich wie immer nicht, ob eine Gefahr drohte, eine Gelegenheit auftauchte oder ein unglaublicher Zufall ins Haus stand. Erst ganz kurz vor dem Ereignis kam die passende Emotion hinzu. Erst dann wurde aus ungewisser Erwartung, eine als gut oder schlecht beurteilbare Zukunft.
Eine der Wachen hatte soeben zum ersten Mal flüchtig zu meinem Bruder und den Neuankömmlingen herüber geschaut. Daraufhin hatte sie in ihrem Nichtstun innegehalten und ihrem Begleiter rasch etwas zugerufen, woraufhin dieser nun aktiv wurde. Er holte etwas aus dem Tornister seiner Panzerung hervor: Keine Waffe, dafür war das Gerät zu klobig, irgendwas anderes.
Die Zeit schien auf einmal träger dahinzufließen als zuvor. Langsamer, immer langsamer; wie Honig floss sie nun zähflüssig dahin. Ich spürte sie, hörte sie Tropfen für Tropfen tausendfach um mich herum aufschlagen, leise, laut, platschend auf Schlamm, klackend auf dem Metall und prasselnd auf dem transparenten Kunststoffdach über mir, dumpf pochend drüben auf dem Wall und noch dumpfer schmatzend auf den Polstern der Sitzsäcke, um mich herum.
Die Wachen wurden hektisch. Die Zeit blieb träge und das Gefühl weiterhin unbestimmt.
Yang war mittlerweile schon fast heran und setzte mental wahrscheinlich gerade zu einem seiner blöden Kommentare an, als es passierte:
Erst ein seltsames Knurren,
tierisch und unbändig, urgewaltig und brutal.
Dann ein widerwärtiges Krachen,
gefolgt von einem schrillen, markerschütternden Schrei!
Stille, unendlich lang …
Angst flutete mein Bewusstsein, schlagartig und heftig zugleich!
Lähmende Panik nahte heran …
Fast gleichzeitig brauste nun eine heftige Sturmböe auf, wirbelte mein blondes Haar empor und peitschte direkt schmerzhaft in Gesicht und Augen. Ganz so, als habe plötzlich jemand einen Regler in dramatischer Geste bedeutungsvoll in die Höhe gerissen, drehte das Unwetter schlagartig richtig auf und bot damit dem Geschehen eine Kulisse: gespenstisch-grauenvolles Aufheulen des Windes; zornig umherfliegendes Laub in einer feuchten, geradezu modrigen Luft. Vom einen Augenblick zum anderen rutschte die komplette Atmosphäre auf der Wohlfühlskala schlagartig in den negativen Bereich.
Glich die Zeit eben noch einem trägen, süßen Honig, so schien dieser Zustand auf einmal umgedreht worden zu sein. Ein Damm war gebrochen und die zuvor angestaute Zeit wollte wohl ihren Rückstand wieder gut machen. Wie ein Schwall salziges Wasser ergoss sie sich auf meinen Geist. Ich war herausgefallen aus der gemütlichen Langsamkeit von Erinnerung und Denken – mitten hinein in einen unnachgiebigen Strom der Ereignisse; einen Sturm des Geschehens.
Ich hatte es vorher nur unbestimmt gespürt; ich hatte es aber wieder einmal geahnt. Mein Bauchgefühl trog mich selten, aber was hier nun genau losgebrochen war, wusste ich nicht – warum eigentlich nicht? Was hatte da so entsetzlich geklungen, wer hatte eben so jämmerlich geschrien und warum überhaupt?
Panik und Stress fluteten mein Bewusstsein nun vollends und zwangen es gnadenlos und unwiderstehlich in den Moment, heraus aus der Nachträglichkeit der erinnerten Vergangenheit hinein in die lebendige Zudringlichkeit der Gegenwart: Eben war und musste ich, jetzt bin ich am Leben und muss überleben. Also wische ich mir Haare und Tränen aus den Augen und blinzle nur kurz, damit ich ein wenig mehr sehen kann. Mein Bruder steht nun knapp vor mir; dreht mir kurz den Rücken zu. Er hat sich schneller als ich zur Quelle des Schreis herumgedreht und hat scheinbar schon Klarheit erlangt. Soeben stößt er einen Seufzer des Entsetzens aus. Er scheint eine bittere Erkenntnis gewonnen zu haben.
„Argh! Nein, nicht doch – scheiße Yin. Wie konnten wir nur so dumm und naiv sein, das war doch nur eine Frage der Zeit! Sie war offensichtlich verletzt und wir haben den Braten trotzdem nicht gerochen. Ich stand vor ihr, habe sie gehört und etwas gerochen,“ fluchte ich lauthals, taumelte kurz und hielt mich daraufhin an meiner Schwester fest; sie gab mir die nötige Kraft. Wir umarmten uns.
Mein Bruder ist mittlerweile bei mir angekommen und hat mich kurz umarmt. Er wirkt verstört und hat irgendwas gesagt, aber ich verstehe nicht, was, noch gar warum hier alles auf einmal verrückt spielen muss. Abscheuliches, Widernatürliches bahnt sich seinen Weg in mein Bewusstsein, vorbei an allen schützenden Schranken. Hinter Yang sehe ich etwas, beginne ich die Ursache für das Chaos zu realisieren. Ungläubig und widerwillig sträubt sich mein Kopf jedoch, das hinzunehmen.
„Was zur Hölle ist denn das dahinten?“, bringe ich endlich erstickt japsend hervor und bin dabei wie angewurzelt. Ich schaue an ihm vorbei und traue meinen Augen kaum, dabei vertieft sich die Lähmung in meinen Gliedern weiter. Eine ekelhafte Kälte wandert meine Wirbelsäule hinauf; greift jetzt nach meinem Gehirn, droht es erbarmungslos auf Eis zu legen. Ich weiß weder warum noch woher, aber ich spüre, wenn ich hier nicht schleunigst wegkomme, wird die Sache hier richtig übel ausgehen.
„Komm schnell Schwester, weg hier – und ihr auch: Macht hin und rennt um eure verdammten Leben!“
Gerade als ich mich zurückdrehte, beginnen wollte loszurennen, spürte und sah ich gerade noch rechtzeitig, dass Yin wie vom Blitz getroffen stehen geblieben war und sich nicht vom Fleck rührte. Deshalb griff ich nach ihr und wollte sie mit mir wegziehen, was mir nach wertvollen Sekunden nur mühevoll gelungen war. Sie vor sich selbst zu bewahren, war meine Aufgabe. Sie hatte das Ereignis wohl ein paar Sekunden vorher bereits geahnt, womit bei ihrem Temperament aus einem Segen ein Fluch geworden war. Anstatt sich dankbar vorzubereiten, nutzte ihr Geist die kostbare Zeit, um aus Angst lähmende Furcht werden zu lassen.
Unsere einziges Ziel lautete: Hinter den zweiten Wall gelangen und dabei bloß nicht zurückblicken.
Zwei kurze, unerwiderte Sätze haben Yang und ich uns wie im Stakkato zugeschossen. Nun packt er mich an der Schulter und will mich herumwirbeln, um mich mit sich fortzureisen. Es gelingt ihm stockend und er befreit mich damit aus meiner Versteinerung. Ich erwache zu neuem Leben, kann die Lähmung abschütteln und schleiße mich ihm an. Da kommen auch schon die anderen, die Wachen rennen.
Nun gibt es nur eine Richtung: Weg von dem Unfassbaren, dem Schrecklichen, dem, was meine Sinne zwar in all seiner brutalen Hässlichkeit aufgenommen haben, dessen Ungeheuerlichkeit anzunehmen sich mein Bewusstsein aber weiterhin konsequent weigert.
Jetzt, da meine Gliedmaßen mir wieder gehorchen, habe ich nur einen knappen Befehl an meine beiden Beine: Flucht! Lauft richtig schnell fort von hier, rennt einfach nur ganz weit weg.