Fast raus aus der Betaphase: Version 0.9 von YY1

Ich befürchtete schon, mein auf eigenen Wunsch hin weiterhin anonymer Kollege aus der Metatext-Redaktion habe seine literarischen Schreibambitionen aufgegeben. Keine Resonanz auf Quanzland, von mir nur gutgemeinte Kritik und Ermunterungen, da kann einen schon mal die Unlust packen, unterstellte ich ihm deshalb.

Seit gestern kenne ich die wahren Gründe und Zustände. Heraus aus der konstruktivistischen Interdependenzfall, weiß ich nun, dass besagter Anonymus weiterhin an seinen Erzählungen und ihren Texten werkelt. Allerdings sei er zurückhaltender geworden, da ihm seine freimütige und offensive Suche nach Probelesern zu einem viel zu frühen Zeitpunkt kaum Resonanz und nur vernichtende Kritiken eingebracht habe. Also sei es ihm nun sehr wichtig, einen Text solange zurückzuhalten, wie dieser nicht mehrfach ausgebaut, korrigiert und gegengelesen worden sei.

So weit, so gut – nach den ordentlichen Publikationen von Ein Neumensch im Ausnahmezustand (XS1 – V. 1.0), Xaver mal anders (XS2), Ein Sturm zieht auf (YY1 – V. 0.8), Ruhe und Frieden (AA1 – 1.0) in der mehr oder weniger tiefen Vergangenheit, zieht er wieder eine Konsequenz und gibt einen älteren Text neu heraus: Aus Ein Sturm zieht auf wird Etwas stinkt gewaltig in Gor Thaunus; aus dem alten, ersten Zugang zu Yin & Yang wird ein neuer, den er – Nerd, der er ist – als Version 0.9 dieses Textes beziffert. Ebenso hat er für die am Ende sieben Zugänge zum Romankosmos eine Kurzsigel mit Kapitelnummer eingeführt, was die seltsamen Angaben in (Klammern) erklärt.

Auch wenn ich wieder reichlich gutgemeinte Hinweise und Verbesserungvorschläge zur Hand hätte, erspare ich uns diese und lasse den Text selbst wirken. Er ist übrigens durch sein neustes Update – diese semantische Steilvorlage musste ich einfach mitnehmen – von 13 auf 27 Seiten (Arial; 12 Schriftgröße; 1,4mm Zeilenabstand; 2,5cm+2,5cm Rand) angeschwollen.

Er hat desweitern während des langen 5-Uhr-Tee-Gesprächs zweier schreibender Seelen Andetungen gemacht: über zukünftige Aktualisierungen, Fortsetzungen und die noch ausstehenden vier Zugänge zu seinem andeutungsfrei namenlosen Episoden-Roman. Dazu aber an anderer, zukünftiger Stelle mehr; sonst laggt die Leselust genau so schlimm wie das literarische Update, das gerade heruntergeladen wird. Denn dieser Text hier ist im Grunde die elegantere, bisweilen unterhaltsamere Version des guten alten Ladebalkens. Stellt ihn Euch an dieser Stelle als fast ganz gefüllt vor.

Orange bar

Viel Lesespaß mit den ungleichen Zwillingen aus der dystopischen Sklavenstadt Gor Thaunus, Euer Satorius


1. Zugang (YY1) – Es stinkt gewaltig in Gor Thaunus

Seiten 1 bis 27

»Hallo, ihr da drüben! Wir sind zwei und zugleich eins – mein Bruder Yang und ich – Yin, einfach nur Yin. Willkommen in Gor Thaunus, wo NÄCHSTENLIEBE noch großgeschrieben wird«, begann ich meinen gefährlichen Begrüßungsversuch der vier Fremden mit einem meiner liebsten Sprüche für die Gattung Neuankömmling.

Ich hatte meine abgegriffenen Worte über den halben Platz hinweg Richtung Südosttor gebrüllt, so sehr und so weit ich mit meinem Stimmchen eben brüllen konnte. Wie meistens, wenn einer von uns sich lautstark bemerkbar machte, interessierte das die Wächter in der Nähe überhaupt nicht. Wir waren nicht der Aufmerksamkeit wert sowie keiner Strafe würdig und wurden, wo das möglich war, komplett ignoriert. Wir waren auf einer Ebene unsichtbar, auf allen anderen jedoch nicht und deshalb unfrei. Erwartungsgemäß beachteten mich die Wächter dort drüben auf dem Wall nicht – mein Glück, das ich zuvor knallhart einkalkuliert hatte. Das war also nicht das Ungewöhnliche im Moment, sondern die Tatsache, dass ich dieses Gespräch überhaupt schon eröffnen konnte. Eigentlich sollten besagte Wachen wenigstens ihre Arbeit machen und die vier Eindringlinge spätestens beim Eintritt kontrolliert haben. Was soll’s, tröstete ich mich, das war nicht mein Problem, im Gegenteil, mir bot es vielleicht eine willkommene Abwechslung. Mit Yang war heute kaum was anzufangen, der döste schon eine Weile vor sich hin oder er tat jedenfalls erfolgreich so als ob, nur um mir im richtigen Moment dazwischenfunken und die Show stehlen zu können. Ich kannte mein Bruderherz nur zu gut, aber hier gab es bisher nichts zu stehlen. Mit meiner Eröffnung wollte ich cool, schlagfertig und selbstsicher wirken, was ich natürlich Allessamt nicht wirklich war. Erst recht nicht so kurz nach dem Ende der heutigen Tagschicht vor einer guten Stunde. Ich war offen gestanden reichlich müde, ziemlich übellaunig und fertig mit der Welt. Außerdem waren die erbärmlichen Gestalten dort drüben kein allzu begeisterungsfähiges Publikum für meine kleine Showeinlage. Wenn sie mich überhaupt verstehen konnten – nicht jeder hier sprach Deutsch. Auch wenn es die gängige Sprache in Gor Thaunus und der weiteren Umgebung war, wer wusste schon von woher die vier Typen kamen.

Woran es auch immer liegen mochte, ich erntete auch weiterhin keine Reaktion auf meine Ansprache, nicht Mal die kleinste Regung, nichts. Wie sie so herumstanden in ihren versifften, vor Dreck stehenden Klamotten, galt es hier weder irgendwen zu beeindrucken noch, gab es irgendwas zu gewinnen. Die Gruppe verharrte seit einigen Minuten unbewegt im Eingangsbereich unseres Lagers, nachdem sich das schwere Panzertor mit einem unheilvollen Krachen fest und unwiderruflich hinter ihnen verschlossen hatte. Zuvor war es klangvoll und träge zur Seite und ebenso auch wieder zugeglitten, minutenlang in gähnender Langsamkeit. Daraufhin hatte ich meinen ersten, nun offiziell gescheiterten, Kontaktversuch unternommen. Auch wenn das keiner mitbekommen haben dürfte, irgendjemand von den BeatBoyz musste wenigstens so viel Aufmerksamkeit aufgebracht haben, das Tor zu bedienen und sie damit zu uns hereinzulassen. Den Rest der üblichen Prozedur schienen derjenige und seine Kollegen, jedoch kurzerhand vergessen zu haben. Das war typisch für das verstrahlte Pack, es war ja auch nur unsere Sicherheit, die sie mal wieder aufs Spiel setzten. Myrte aus Kuppel 67 hatte mir heute Morgen erst wieder grausige Geschichten über die kürzlich gebrochene Kontaminationsgrenze am Rhein erzählt. Seitdem waren die bisher schon lebensgefährlichen Todeszonen noch schrecklicher geworden.

Während das Krachen des schweren Panzertors noch in der Ferne verhallte, waren die beruhigenden Geräusche des prasselnden Regens wieder in den Vordergrund der Wahrnehmung zurückgekehrt – rhythmisch, wohltuend, beruhigend und angenehm einschläfernd. Die düsteren Gedanken drängte ich beiseite. Schon rang in mir eine jugendliche Neugier mit der gähnenden Müdigkeit und meiner wohlverdienten Unlust, mich noch ernsthaft mit der Außenwelt beschäftigen zu wollen. Vor allem wenn sie sich so widerspenstig gab wie diese lahme Gruppe da drüben.

Nach einem knappen Sieg der Neugierde konnte ich aber trotzdem nicht viel erreichen. Ich hatte mich in meinem Sitzsack aufgesetzt und nach vorne in ihre Richtung gebeugt, angestrengt und konzentriert zu ihnen hinüber geschaut, konnte aber wenig erkennen.

Derart schlechtes Wetter war leider üblich und zudem lag die nächste Sturmnacht lauernd in der Luft. Miserable Voraussetzungen also, um von hier aus mehr mitbekommen zu können als die nötigsten Allgemeinheiten: Die vier dunkelgrauen, auffällig kleinen Gestalten standen auf dem dunkelbraunen, mit Schlamm bedeckten Boden des Torplatzes vor dem dunkelgrünen Südosttor und regten sich weiterhin nicht. Niemand kümmerte sich um sie.

Unterdessen reichte der knappe Punktsieg der Neugierde noch lange nicht, um aufzustehen. Außerdem war ich eben schon ein kleines Risiko eingegangen, als ich mit den Neuankömmlingen frei heraus ein Gespräch beginnen wollte. Bevor die Wachen nicht ihre Bühne bekommen hatten, war uns das Sprechen mit den Fremden strikt untersagt. Streng genommen durfte ich als Sklavin sowieso keine Freien ansprechen, höchstens auf sie reagieren. Warum also mehr tun als nötig und gut für mich selbst? Wenn sie irgendwann wieder richtig im Kopf waren, wussten sie ja jetzt, wo sie mich finden konnten. Da bisher keine Wachen aufkreuzten, ließ ich meinen Gedanken freien Lauf. Hier in der tristen Wirklichkeit gab’s mal wieder nicht viel zu holen.

Der Ausblick über die Gruppe und den äußersten Schutzwall der Stadt hinweg bot bei gutem Wetter einen tolles Panorama – nur kam das fast nie vor. Das wusste ich nur zu gut, denn man prägte sich die wenigen schönen Dinge, die es hier überhaupt gab, besser gründlich ein. Ohne solche Rückzugsorte verlor man leicht den Lebenswillen. Leider war derzeit mal wieder so gut wie nichts von dem bemerkenswerten Fernblick zu sehen, also blieben mir Fantasie und Träumerei als Quellen: Rundherum bis an den Rand von Gor Thaunus erstreckten sich die zerstörten Bezirke einer riesigen und wilden, mit Pflanzen überwucherten Ruinenlandschaft, nur in einer Richtung eine Ausnahme, in meinem Rücken, jenseits aller Mauern, jenseits von all dem Mist hier drinnen, weit hinter dem Stadtzentrum oben auf dem Berggipfel mit seinem pompösen Zentralturm. Dort erstreckte sich ein ausgedehnter Urwald. Als verschlungener, bunt gefleckter Pflanzenteppich wand er sich bergauf durch das Hügelland im Nordwesten. Einige Baumriesen standen dort, die tausende Meter in die Höhe ragten, bis hinauf in die Wolken, vielleicht sogar über die Wolken hinaus. Manchmal stellte ich mir vor, wie ich mich traute und dort hin floh, um dann mutig an einem der Bäume hinauf bis in die Wolken zu klettern. Zuletzt kam ich erleichtert und voll Freude und Hoffnung oben an. Ich gelangte über die Wolkendecke hinaus und betrat eine himmlische Welt, in der ein neues, weit besseres Leben auf mich wartete, in der es friedlich zuging und wo statt Elend und Verfall, Schönheit und Glück herrschten. Die farbenfrohen Bilder begannen gerade in meiner Vorstellung zu erwachen, beinahe so, wie in den tollen Märchen, die unsere Eltern uns früher zum Einschlafen vorgelesen hatten.

Das waren harmonischere Tage gewesen, damals in unserem früheren Leben, in einer unwiederbringlich verlorenen Vergangenheit. So angenehm und tröstlich die damit verwobenen Traumbilder auch waren, so falsch und unwirklich waren sie, so dumm und naiv war ich, wenn ich sie mir ständig erlaubte. Es gab dort oben genauso wenig zu finden wie überall draußen in der Todeszone, nur tote Vergangenheit wartete. Hinter und über mir lagen also Vergessen und Tod, um mich herum nur menschenfeindliche Hölle und vor mir, in der Zukunft. Was würde da wohl alles auf mich zukommen: eine steile Karriere als Edelsklavin, vielleicht der kaum mögliche Aufstieg zur Freien, erworben durch herausragende Leistungen und Treue im Dienst für Gor Thaunus? Lächerliche und unwahrscheinliche Vorstellungen spann ich damit, nicht des Träumens wert. Hier im Dreck der Außenstadt und gefangen im Glaskäfig war Schluss, war das Ende des Lebensweges schon jetzt erreicht – einmal Sklavin, immer Sklavin.

Die Gedanken an die raue Wirklichkeit holten mich ein und damit zurück in die unwirtliche Außenwelt. Heute blieb alles hinter den Mauern dem unerfahrenen Blick verborgen. Scheiß Wetter herrschte hier fast alle Tage und gewalttätige Natur immer, rundherum soweit das Auge reichte und die Füße trugen – also im Prinzip auch hier: Hauptgewinn. Als Trostpreis gab es obendrauf den dampfenden Schlamm, der sich überall zwischen den Glaskuppeln breitmachte, abscheulich stank und durch den häufigen Regen widerwärtig vor sich hin gluckste und schmatzte. Er war ein schleichender Vorbote der aggressiven Natur da draußen, den selbst die Schutzwälle nicht aufhalten konnten, was sie hier in der Niederstadt wohl auch nicht sollten. In den weiter innen liegenden Stadtbezirken war nichts mehr davon zu sehen. Außer an mir und den anderen Sklaven, die dort ein- und ausgingen, gab es weiter im Zentrum keinen Dreck. Er war alles in allem ein militantes Dreckszeug, das mir gerne gestohlen bleiben konnte.

Davon mal abgesehen war ich sehr gerne hier auf dem Platz vor dem Südosttor, was bei unseren Wohneinheiten – den erwähnten Glaskäfigen – kein Wunder war, jedoch sah man nach einer Weile unweigerlich aus wie ein Schlammmonster. Da half am besten, den Dreck geduldig trocknen zu lassen und dann grob auszubürsten, immer wieder – Tag für Tag, ohne Unterlass.

Bevor ich jetzt noch anfing, mich über meinen ebenso unablässigen Arbeitsdienst zu beschweren, oder mich am Ende sogar noch über ihn zu freuen, sollte ich mich doch noch mal mit den Gegebenheiten beschäftigen: Die vier Wanderer hatten sich zuvor mühsam durch die hiesigen Todeszonen mit ihren Tonnen an Dreck und Horden von Ungeziefer schlagen müssen – vom tödlichen Rest ganz zu schweigen –, da war ich mir absolut sicher. Unterwegs mussten sie ständig fürchten, von irgendetwas angegriffen und verletzt, wenn nicht sogar getötet zu werden. Oder sie waren nicht auf derartige Gefahren gestoßen, die Glücklichen, und waren wenigstens in dieser Hinsicht heil bis hierhin durchgekommen. Aber was jetzt zu sehen war, wie sie aussahen, wirkten sie reichlich verstört und hätten sie sonst dem Charme meiner Begrüßung widerstehen können? Nein, keinesfalls, die mussten echt kaputt und ziemlich hinüber sein.

Ob die abgrissenen Figuren frische Jagdbeute oder verzweifelte Flüchtlinge waren, wusste ich nicht, aber am Ende war das sowieso gleich. So gut wie alle waren sie Opfer und verloren spätestens in dem Moment ihre Freiheit, in dem sie ihren Fuß in diese verfluchte Stadt setzten und nichts weiter anzubieten hatten als ihr nacktes Leben, ihre Hoffnungen und Träume.

Trotzdem gab es einen mehr als kosmetischen Unterschied zwischen den beiden Gruppen: Als Beute wussten sie von Anfang an, was hier gespielt wurde, und mussten den ersten Marsch quer durch die tödliche Wildnis schon als Sklaven zurücklegen, wurde also selbstverständlich zuvor schon vorläufig mit Implantaten versehen und waren damit seither unter Kontrolle. Mitten durch den Albtraum einer waschechten Todeszone ging es für die frischgebackenen Diener, hin zu ihren neuen Herren. Die hiesigen Traditionen waren nicht nur in dieser Sache ausgewiesen unmenschlich, aber so sah der Ritus in Gor Thaunus es eben vor. Die Anwesenheit in dieser Stadt und deren Schutz musste man sich erst symbolisch verdient haben, durch gelebte Bereitschaft zu Leid und Opfer. Auf dem ersten Weg im neuen Leben sah man die rettende Zuflucht die ganze Strecke schon in der Ferne liegen, wie sie blinkte und mit ihrem Leuchtturm lockte. Trotz allem, was zuvor eventuell passiert war, sehnte man die Ankunft dort herbei. Am Ende, ungefähr einen halben Tagesmarsch später, wenn alles gut gegangen und man es soeben noch im Hellen geschafft hatte, war man regelrecht froh, in seinem zukünftigen Gefängnis angekommen zu sein – pervers, aber wahr. Erst der barbarische Überfall, mitsamt der Gefangennahme und den schmerzhaften Eingriffen der Versklavung, dann die Drohung, einsam in der Todeszone krepieren zu müssen, zuletzt nach einer wirkungsvollen Pause das ach so großzügige Angebot: Sicherheit auf Kosten aller Freiheit. So eine Versklavung nach Art von Gor Thaunus war schon eine ziemlich bittere Angelegenheit. Nicht nur das, diese Qual war ein einschneidender erster Level eines schlimmen Spiels, war nur der Anfang eines Parcours von Gehirnwäsche, gelegentlicher Folter und alltäglicher Schinderei.

Einzig in dieser Hinsicht ging es den zunächst freiwilligen Flüchtlingen besser, gleich ob sie aus purer Hoffnung oder schierer Verzweiflung Zuflucht hinter den mächtigen Mauern dieser Stadt suchten: Für sie begann das Grauen hier drin nach dem Schrecken dort draußen zumeist und zumindest etwas später, insgesamt etwas schleichender und angeblich auch nicht immer zwangsläufig. Denn gerüchtehalber konnte man, sofern vorhanden, durch Besitz oder Talent bei der Einreise gewisse Vorteile für sich erwerben. Das klang für mich glaubhaft, denn Gleichheit war hier ein Fremdwort unter vielen anderen, die ich alle nur dank meiner elf Jahre Lebenszeit in wohlbehüteter Freiheit kennengelernt hatte. Hier in Gor Thaunus, als Sklavin, wurde mir solches Wissen zum Fluch.

Auch Yang und ich hatten die Tortur der ersten Wochen hinter uns gebracht, vielmehr bringen müssen. Wir waren damals vor gut sechs Jahren nicht als Flüchtende hierher gekommen, sondern als Geraubte. Damals hatten auch wir den Ritus der vier Himmel durchgemacht. Dafür wurden wir nach der ersten Ankunft noch drei weitere Male in der Todeszone ausgesetzt und mussten daraufhin, Gor Thaunus ständig als einzig verlässliche Orientierung am Horizont zu sehen, in einem Tagesmarsch unseren Weg zurückfinden. Während dieser Tage waren wir andere Menschen geworden: Gebrochene. Beim ersten Mal war es schon schlimm genug, aber mit jedem weiteren Mal wurde es schlimmer, denn man wusste nun, was einem alles dort draußen drohte, hatte das Leid gesehen und gespürt. Kaum eine der Torturen durch die Todeszone ging ohne Tote und Verletzte unter uns Sklaven ab. Die dauernde Todesangst sorgte, zumal man ohne Nahrung und Wasser ausgesetzt worden war, für unangenehme Grenzerfahrungen. Danach wusste man kaum noch, wer man vorher gewesen war. Genau darum ging es ihnen. Aus jeder Himmelsrichtung einmal hatten sich Neulinge in ihrer ersten Woche als Sklaven zurück zum Lager ihrer Meister durchzukämpfen. Besser dachte ich nicht weiter darüber nach, es waren schreckliche Erfahrungen gewesen. Das Geschehen der letzten 15 Minuten nötigte mir jedoch die Erinnerung an meine eigene Vergangenheit, meine damalige Rolle in der gleichen grausamen Inszenierung auf. All das lag zwar lange hinter mir, aber – leider, ich konnte daran nichts ändern – noch mehrfach vor den armen Teufeln dort drüben.

Ich beschloss, noch einen zweiten Versuch zu wagen, rief noch lauter als eben: »Hey, ihr vier! Keine Angst – kommt einfach zu uns rüber, wann ihr könnt und wenn ihr wollt.«

Das war nett und gleichzeitig ehrlich, aber mehr konnte und wollte ich nicht riskieren – jedenfalls nicht in meiner heutigen Stimmung. Nach einem scheußlichen Tag voller Strapazen und Demütigungen in einer zermürbenden Arbeitsschicht von regelmäßig 12 Stunden. Mein kompletter Rücken schmerzte so sehr, dass fast jeder Muskel dort verhärtet zu sein schien. Die meisten Gelenke und besonders die beiden Knie taten mir weh. Auch Kopfschmerzen mischten sich unter die restlichen Leiden, fielen als normaler Dauerzustand aber kaum ins Gewicht. Das alles war kein Wunder, so schwer wie wir Sklaven gefordert wurden, ohne dass unsere Gesundheit eine große Rolle spielte. Dadurch wurden mir sogar die relativ leichten Aufgaben meines Arbeitsdienstes zur unmenschlichen Belastung gemacht. Wenn ich mir im Vergleich dazu vorstellte, wie es in den Minen und Manufakturen zuging, durfte ich mich wirklich nicht beklagen. Was Yang und andere Industriesklaven mir manchmal darüber berichteten, war widerlich. Das Gefährlichste, was mir passieren konnte, war ein geiler Kunde, von Muskelschmerzen mal abgesehen.

Nichts, immer noch keine Reaktion auf meine Ansprache. Wahrscheinlich waren die heftig traumatisiert und brauchten ihre Zeit, um wieder klarzukommen. Langweilig – trotz aller gebotenen Empathie.

Egal jetzt – ich sollte einfach etwas länger warten, nur Geduld. Nur noch einige Atemzüge, mein Bruder regte sich. Ich konnte mich einfach zurücklehnen, entspannen und zusehen. Mal ehrlich, ich hatte es ernsthaft versucht. Abwarten und schwesterlich auf ihn aufpassen, mehr braucht ich von hier an nicht mehr zu tun. Gleich würde es passieren, das spürte ich.

»Ey, Freaks! Hey – hier drüben, wir sprechen mit euch Freunde! Seid ihr eingefroren, angewurzelt, taub oder sonst was in der Art?«

»Mein süßes Schwesterherz und ich sind zwei verdammt unterschiedliche Marken, nicht wahr? Aber so dicke, dass wir eigentlich eins sind, da stimm ich ihr schon zu.«

Ich hatte genug gedöst und unweigerlich dabei zu gehört, wie Yin sich abmühte. Das Frischfleisch war zu nichts zu gebrauchen – voll daneben und total durch. Das war eine schöne Aufgabe für mich, diese Typen würde ich schonungslos aufklären. Scheiss drauf, ob sie unsere Sprache verstanden, hier in Gor mussten sie sich anpassen, genau wie wir.

»So wie ihr ausseht, checkt ihr gerade zwar eh nichts, aber – das kratzt mich nicht. Ich helf euch trotzdem mal ein wenig auf die Sprünge.«

»Eins ist von nun an anders und das müsst ihr euch von Anfang an tief einspeichern: Wir sind hier keine Menschen unter Menschen. Wir sind Sklaven unter Herren, unfrei und abhängig, nichts weniger als räudige Sklaven, einen Dreck mehr wert, als unsere Arbeitskraft. Also rafft das schnell und fügt euch ein.«

Härter, mehr davon – die würde ich schon weichkochen und damit vielleicht sogar wieder zum Leben erwecken. Selbst wenn sie kein Deutsch sprachen, musste mein ausdruckstarke Ansage bei ihnen ankommen.

»Jeden verdammten Tag müssen wir uns abgefuckten Gesetzen unterwerfen, deren Sinn wir nicht verstehen. Den lieben Tag lang in viel zu langen Arbeitsschichten schuften, stets buckeln, fein kuschen und immer brav parieren, sonst setzts was. Wenn wir mal nicht spuren, bekommen wir keinen Fraß mehr oder die komischen Dinger, die sie einem in den eigenen Körper gepflanzt haben, verpassen euch höllische Stromschläge, mitten hinein in die Gedärme. Ach ja, vielleicht habt ihr so was noch gar nicht, aber keine Sorge, ihr bekommt auch noch euer Geschirr, dauert gewiss nicht mehr lange.«

»Oder seid ihr zufällig reiches Pack und glaubt allen Ernstes, das zählt hier noch was und lässt euch mal so eben neu durchstarten? Nicht hier in Gor, niemals, da habt ihr euch kräftig verdrahtet!«

»Solltet ihr dann irgendwann klar im Kopf werden, hier bei mir in der Realität ankommen, könnte es sein, dass ihr schnell genug davon habt. Wollt ihr dem ganzen Elend dann ein elegantes Ende machen, können euch die Geräte unserer Herren sogar ausnahmsweise mal helfen. In einem Wimpernschlag löscht irgendeines davon euch aus, einfach mal so eben. Wenn ihr es drauf anlegt, dann passierts, garantiert: Zack und Tod! Aber genug davon, das kommt später eh unweigerlich auf euch zu. Spätestens morgen wird man euch auch so ein hübsches Halsband umlegen, wie das hier. Dann pumpt man euch mit allerlei Drogen voll und implantiert das eine oder andere lustige Maschinchen. Alle ganz toll und total nützlich, nur eben leider nicht für uns.«

Ich wies mit einer Grimasse auf meinen Hals, ohne ernsthaft zu erwarten, dass sie besonders viel davon mitbekamen. Verdammte lebende Leichen, die musste ich gründlich reanimieren.

»Klingt grausam, nicht wahr? Ist es auch! Freut euch schon mal auf eure Indoktrination in den nächsten Tagen. Ganz viele, völlig hirnverbrannte Gesetze wird man euch dann einbläuen. Gegen die ist Zwang eine harmlose Vorstufe. Aber das alles hier drin ist trotzdem besser, als wieder da raus zu müssen. Aber wem sag ich das, die Todeszone steckt euch ja sicher noch heftigst in den Knochen. Obwohl wir hier drin nichtige Würmer sind, bedeutungslos und ohne Würde, wären unsere kleinen Scheißleben dort draußen, hinter dem schützenden Wall, noch mal weniger wert. Nämlich keinen mickrigen Taugor mehr – Null, Nichts!«

Trotz meiner krassen Worte zeigte sich weiterhin kein Begreifen, erst recht kein Verstehen auf den versteinerten Fratzen der kleinen Scheißer. Die rührten sich noch immer keinen Stück und ich hatte sie eben echt nicht geschont. Dann musste ich wohl noch einen draufsetzen, wenn ich irgendwie zu ihnen durchdringen wollte. Noch blieb Yin ruhig, was mich langsam überraschte und merklich foppte.

»Mit dicken Eiern und gehörig Glück schafft ihr da draußen den ersten Tag, was aber schon eine harte Überlebensarbeit ist. Dann noch die Dämmerung abwarten, eine Pause, vor allem für düstere Gedanken, denn dann kommt die Nacht. Und nur die Allerbesten überleben von da an noch länger, aber auch sie allerhöchstens, bis es wirklich dunkel wird. Vorbei, dann sind sie dran, dann kommen sie. Dringen ein in jedes noch so gute Versteck, wittern euren Angstschweiß, euer Blut. Die ganzen verdammten Ficker da draußen rotten sich zusammen und machen Jagd, alle aufeinander und besonders natürlich auf leichte Beute wie uns. Wir Menschlein sind die Opfer der wilden Nahrungskette, merkt euch das! Eine Nacht draußen in der Todeszone bedeutet ganz einfach nur eines für euch: Tod! Nachts überlebt da draußen keiner von uns Schwächlingen. Keine Chance, nicht ohne ein paar ordentliche Waffen, gute Ausrüstung, viel Erfahrung und reichlich Killerinstinkt. Wo auch immer ihr das hier in Gor auftreiben wollt, selbst damit bräuchtet ihr noch verdammtes Glück. Wir Scheißer sind ein Snack für die blutrünstigen Jäger da draußen, schlichte Opfer. Im Dunklen habt ihr keine Chance mehr in Bewegung zu bleiben. Damit wird es beinahe unmöglich, euch weiterhin zu retten. Was am Tag funktioniert hat, klappt nachts nicht mehr: Immer weiterrennen, ständig Richtung und Stellung wechseln, sich einfach schnell umsehen und dann verstecken – nope, aus und vorbei. Die ständige Flucht nach vorne hat dann ein baldiges Ende, irgendwo kommt die Sackgasse, irgendwann klappt der Angriff aus dem Hinterhalt oder sie flashmobben euch einfach, und schon haben sie euch da, wo sie euch haben wollen! Dann wirds erst richtig dreckig, eklig und grausam, ziemlich gute Splatteraction, versprochen! Ich könnte euch Geschichten aus der Todeszone reindrücken, dass euch euer Hirn durchbrennt – apropos, besonders heftig sind die Gerüchte über die neu eingewanderten Exemplare. Habt ihr was aufgeschnappt: Monster, Tote, Verletzte, eine interessante Horrorstory für mich, frisch aus der Todeszone?«

Boah ey, noch immer – nichts, keine Regung! Was war falsch mit denen, so fertig konnten die doch nicht sein. Ich erkannte kaum was, aber die vier Fremden wirkten auf den ersten Blick lebendig und ansprechbar, einigermaßen jedenfalls.

»Träumt also gar nicht erst von so was Bescheuertem wie Flucht! Eure Zukunft ist geritzt, Zwang wartet überall, an jeder verdammten Ecke. Leben heißt von nun an Leiden und meint, jeden Tag Scheiße fressen und dabei die Klappe halten. Und Freiheit bedeutet von nun an für Euch nur noch eins: Tod!«, dieses letzte Wort schrie ich jetzt bereits, nachdem ich mich zuvor aufgerafft und einige Schritte in ihre Richtung gegangen war, um mein Finale zu geben.

Harte Worte, aber ebenso wahre Worte hatte ich ihnen als Begrüßung über den schlammigen Platz hinweg an ihre kleinen Köpfe geknallt. Ich hätte mir solche offenen Wahrheiten damals bei unserer eigenen Ankunft hier in der Siedlung auch gewünscht. Je eher sie ihre Lage begriffen, desto kürzer war ihr Leidensweg. Wenn hart loszulegen, ebenso viel Sinn wie Spaß machte, dann war ich gerne dabei: Ganz nach unten in der Hackordnung, gehorsam und kleinlaut werden, Widerspruch und Eigensinn ausmerzen, sich selbst aufgeben. Nichts weniger, mussten sie sich in Kürze reinziehen. Das, was man in unserer Welt noch frei durfte, war fast nichts. Ich wollte ihnen also damit im Grunde nur helfen, genau so wie meine gutherzige, viel zu weiche Schwester es eben auf ihre zimperliche Art versucht hatte. Trotzdem, auch ich war damit nicht weiter gekommen als sie – guter Sklave, böser Sklave, auf die unvergleichliche, aber erfolglose Yin-Yang-Art eben.

Bei Yins Charakter und der allgemeinen Tageslaune, die ich eben geschmeidig in brutalen Worten rausgelassen hatte, wunderte mich ihre Ruhe: Respekt Kleine, gut gespielt! Lange würde ihre Reaktion aber nicht mehr auf sich warten lassen, das ahnte ich – so leicht ließ sie sich nicht den Chip von der Platine rippen. Meine Redezeit war gezählt, das wusste ich und nun sah ich es auch kommen. Ich hatte sie zu krass gereizt, das arme, gutherzige Ding kochte fast. Wenn blicke töten könnten.

»Mensch Yang, es reicht! Du bist echt ein Ekel, voll fies und total peinlich. Lass sie doch jetzt mit deinen Horrorgeschichten in Ruhe!«, fuhr ich meinem Bruder endlich dazwischen, bevor er sich weiter in seinen unnötigen Gemeinheiten ergehen konnte.

Ich hatte mich lange zurückgehalten, aber jetzt reichte es wirklich. Er geriet in Rage und verlor sich in seiner Aggression. Von wegen, nur dasitzen und abwarten, so leicht machte es mir mein Bruder doch nicht. Das passierte in letzter Zeit öfter, bedenklich oft. Ihm setzte unsere Situation ziemlich zu – kein Wunder bei seinem Arbeitsdienst in den Minen.

»Komm runter Brüderchen, mach ganz ruhig und setz dich wieder hin! Sie sollen erst mal richtig hier in Gor Thaunus ankommen. Denk doch mal nach, die sind sicher total durch und verstört obendrein. Was werden sie wohl den ganzen Tag über durchgemacht haben? Scheiße und Schrecken in bis zum Abwinken.«

»Erinnere dich doch bitte einfach mal an unsere eigene Ankunft in diesem Drecksloch! Wir mussten damals insgesamt beide ganze vier Mal da draußen überleben. Wie viele Tage wir danach total neben dem Datenkabel waren, ich weiß es nicht mehr, aber es waren einige. Es waren grauenvolle Tage, mit Schmerzen und Panik am Tag gefolgt von Albträumen und Krämpfen in der Nacht. Wir hatten sogar noch unsere alten Namen, erinnerst du dich denn nicht mehr?«

Bei seinen eigenen Gefühlen und den schlimmen Erinnerungen anzusetzen, war nicht sehr einfühlsam, aber leider derzeit öfter nötig. Nur so konnte ich ihn packen und wieder runterbringen. Lange ging das aber nicht mehr gut mit ihm, er tickte langsam immer mehr aus. Wenn ich mir nur vorstelle, dass er sich gegenüber einem Freien oder gar einem der Herren so gab, wurde mir kotzübel. Er war nicht dumm, das nicht, aber er hatte sich kaum noch im Griff. Zumal wir gerade weiterhin bestimmt zwei oder drei Gesetzesverstöße riskierten, indem wir unseren Aufenthaltsbereich verließen und unaufgefordert, zumal mit Fremden, ein Gespräch beginnen wollten.

»Draußen hatten wir gerade so eben überlebt an diesem verfluchten Dreckstag, damals. Dann mussten wir hier im Lager von Anfang an nur auf uns gestellt klarkommen, ganz alleine, keine Freunde, nur Feinde. Überall kaputte Menschen um uns herum und dann diese perversen Spinner mit ihren Apparaten und Gesetzen hier und Regeln da, die ganze Scheiße damals halt!«

Zuerst beeindruckten ihn meine Worte nicht. Doch dann kehrte er, während ich munter weiter auf ihn einredete, beinahe robotisch zu seinem Platz zurück und setzte sich wieder. Dabei schaute er mir zuletzt direkt in die Augen, stechend und bitter. Ein starrer, wuterfüllter Blick durchbohrte mich kurz und schmerzhaft, bevor es plötzlich vorbei war und er sich wieder gefasst hatte. Sofort klärte sich Yangs Miene auf, seine Züge entspannten sich, wurden Satz für Satz weicher und freundlicher.

»Lass es uns ihnen bitte so einfach wie irgendwie möglich machen«, sagte ich deshalb schon versöhnlicher und fügte nun flüsternd für ihn hinzu, »denk daran, was ihnen noch bevorsteht: ein zweites, drittes und viertes Mal durch die Todeszone, wieder und wieder der gleiche kranke Mist. Das wird so schon heftig genug für sie. Das alles irgendwie hintereinander und auf einmal zu verpacken, ohne daran zu zerbrechen, wird Hardcore. Ein paar echt heftige Herausforderungen warten auf die vier Typen da drüben. Das wissen du und ich ganz genau – viel zu genau, also bitte Yang, lass sie einfach in Frieden!«

»Meine Güte Yin, lass mich doch meinen … ach, verdammt noch mal! Soll ich dir jetzt etwa auch noch sagen, dass es mir leidtut, wo du genau weißt, dass es eine Lüge wäre?«

Mit aufgesetzt, düsterem Blick gab er sich trotzig, aber das kümmerte mich nicht. Mir  war es damit abermals gelungen, meinen Bruder in seinem Gehabe zu bremsen und ihn vorläufig emotional zu entschärfen. Sein ätzender Drang, Schwächeren die Angst einzujagen, die er selbst nicht zulassen konnte, nervte mich, aller Verbundenheit zum Trotz, total. Er tat das, um sich selbst besser zu fühlen, zulasten seiner Umgebung. Vielleicht hatte er im Grunde sogar inhaltlich Recht mit seinem Gerede, aber so überzogen durfte er die Sache nun wirklich nicht angehen. Er war nicht immer so drauf gewesen: gemein, bissig, teilweise verletzend und immer vorlaut. Das Lagerleben hatte ihn in den letzten Jahren sehr verändert; er war härter und kälter geworden, aber auch stärker. Wenigstens erzählte er noch immer eine Version Wahrheit, wenn seine auch ziemlich Hardcore war.

Während mir diese Gedankenkette durch den Kopf ging, wusste und fühlte ich sogleich, mein Ärger war im Grunde egal, denn ich liebte meinen Bruder Yang trotzdem, über alles, innig und unbedingt. Er war systemweit der einzige Mensch, der mir in dieser grausamen Zeit von meinem alten Leben und meiner Familie geblieben war und dem ich lebenslang blind vertrauen würde. Wir waren entgegen dem äußeren Anschein vermutlich Zwillinge. Dadurch waren wir viel enger verbunden, als sich das die meisten normalen und einsamen Menschen je vorstellen könnten. Auch wenn wir äußerlich und charakterlich alles andere als ähnlich waren, spürten wir und glaubten wir – nein, wussten wir sicher –, dass wir mehr waren als bloße Geschwister. So fühlte ich nun im geistigen Hintergrundrauschen seinen Wunsch mitschwingen, im Grunde auch beschützen und auf seine komische Art zu helfen zu wollen – leider auf eine aggressive und viel zu plumpe Art. Dadurch empfand ich auch die ekelhafte Erleichterung und die Genugtuung, die er verspürte, während er auf noch Schwächeren herumhacken konnte. Daneben schwang all die latente Angst mit, der ohnmächtige Zorn eines selbst so gequälten Opfers.

Ich hatte die gleichen, täglich zugefügten und deshalb nie verheilten Wunden aus der gemeinsamen Vergangenheit zu tragen, aus der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eines räudigen Sklavenlebens in einem Lager am Rand einer Stadt voller gnadenloser Sklaventreiber. Natürlich lag ihm das alles schwer auf der Seele, ebenso wie mir. Nur ging er schlechter damit um, wie ich entgegen aller Bruderliebe hart urteilen musste. Aber die wahren Schuldigen waren sowieso andere und letztlich waren nur sie dafür verantwortlich. Sie waren es überhaupt erst, die ihn, mich, uns alle hier in diese menschliche Sackgasse getrieben hatten. Einzig die sogenannten Herren und ihre Handlanger, die Freien, hatten an dem Mist in Gor Thaunus Schuld.

Yang schwieg nun. Wegen unserer engen Bindung hatte ich ein Gespür dafür, was ihn ritt, und konnte meistens rechtzeitig eingreifen und ihn an den richtigen Stellen unterbrechen – solange ich halt bei ihm war, was selten mehr als ein Drittel des Tages war. Dann half ich ihm, ohne dass er das nach außen hin würdigen würde, und ähnlich, wie er das auch bei anderer Gelegenheit auf seine Art, mit seinen Stärken für mich getan hatte und weiter tun würde – ohne, dass ich es meinerseits großartig zum Thema machen musste. Jeder kannten wir die Schwächen des anderen genauso gut, wie unsere eigenen und unterstützten einander dementsprechend. Wie in jedem guten Team ergänzten wir uns in unseren Eigenschaften und Fähigkeiten, im Guten wie im Schlechten.

»Okay, du hast ja recht! Bleib bitte locker oder werde wieder geschmeidig, was auch immer mehr bringt. Ist doch alles gut jetzt – dann eben noch mal, aber nun auf die nette Tour. Nur für dich, Schwesterchen!«

»So wird das ja eh nichts. Ich geh mal rüber und schau mir das Schauspiel aus der Nähe an, bleib du einfach auf der faulen Haut liegen und lass mich mal machen. Und ja, ich weiß, was du jetzt sagen willst. Ich nehme das Risiko auf mich und werde mich besser beherrschen – wird schon schief gehen!«

Jaja, sie kannte mich bestens und meinte, auf mich aufpassen zu müssen. Trotzdem nahm ich ihre Einladung zum Runterkommen dankbar an. Also zog ich brav meinen Schwanz ein und war schön artig, für die Harmonie und den Seelenfrieden aller. Ich hätte mich eigentlich bei ihr dafür bedanken können, aber warum Worte verschwenden. Wir verstanden uns ohne Worte, waren voll auf einer Welle und brauchten solchen Kram wie Höfflichkeit und Anstand eigentlich nicht.

Es hatte sich überhaupt nichts getan, alles beim Alten: Die vier Grünschnäbel verharrten wortlos und wie gelähmt. Die Umstandsopfer schauten nicht mal rüber. Ich musste meiner Ansage wohl die nötige Aktion folgen lassen. Ich stand also auf und begann ganz ruhig auf die Gruppe zuzugehen, mit meinem freundlichsten Lächeln im Gesicht. Da ich zuvor etliche Meter vom Tor entfernt mit Yin rumgehockt und mich in der Horizontalen von der Plackerei erholt hatte, hatte ich kaum was mitbekommen. Innerlich gespannt sah ich das schräge Quartett erst jetzt in seiner vollen Pracht. Bei dem Scheißwetter und auch noch am frühen Abend war die Sichtweite mehr als mau. Jetzt erkannte ich den Trauerverein erst richtig:

Der blasse, rothaarige Junge – Marke Streber – wirkte voll daneben und glotzte noch starrer als der Rest, dabei heftig schlotternd, auf den schlammigen Boden vor sich. Er schien weich, schüchtern und labil zu sein, wie er so dastand und nichts auf die Reihe brachte. Nach diesem Todestrip sollte ich ihm das aber nicht vorwerfen dem armen Knirps.

In der Mitte, rechts neben ihm standen zwei etwas zu dick geratene, dadurch aber robustere Gören. Mit ihren blonden, strähnig-fettigen Haaren und den albernen Zöpfen sahen sie sich verdammt ähnlich. Nein, is nich – sie wirkten, soweit ich das bisher erkennen konnte, allen Ernstes wie waschechte Zwillinge. Die Linke der beiden hatte draußen wohl was abkommen, hielt sich bloß noch irgendwie auf den Beinen. Ihre Schwester stand rechts neben ihr, blickte panisch um sich, wobei sie in mehrere Richtungen gleichzeitig schielte. Im Gegensatz zum Rest der Gruppe war sie voll da und irgendwie hektisch, obwohl sie still dastand. Sie half der verletzten Zwillingsschwester, soweit sie das halt hinbekam, hatte sie im Arm und stützte sie.

Die Kaputte gab gerade erste Lebenszeichen von sich: Sie zitterte, grunzte und hob anschließend ihren Kopf. Ihr Gesicht war erst starr, wurde dann aber kurz lebendig. Von Schmerz verzerrte, blutunterlaufene Augen schauten mich verwirrt an. Bis dahin hätte man die Kleine für halb hinüber, ja ohnmächtig, halten können, so schlaff, wie sie an ihrer Schwester hing. In den Knien leicht eingeknickt konnte sie sich gerade so eben ob halten.

Und Tschüss – ihr Kopf fiel vorn über, sie stöhnte kurz auf und sackte schlagartig in sich zusammen. Die Schwester griff schneller nach und wollte sie halten, als ich das je geglaubt hätte, war aber zu fertig, um das alleine hinzukriegen. Ich war noch zu weit weg und ehrlicherweise bekam ich ein wenig Schiss – was, wenn die Gerüchte stimmten? Dann konnte das hier böser enden, als mit der Strafe, die ich hierfür sowieso schon kassieren konnte. Spaß kostete, aber welchen Preis, wusste ich nicht.

Jemand anderes übernahm den Job des Heiligen. Dadurch wanderte mein Blick direkt weiter zum letzten Mitglied der Gruppe. Zuvor hatte sie etwas abseits gestanden, rechts hinten ein Stück näher zum Tor. Auch sie war wie tot gewesen, bis eben. Da war sie auf einmal aufgewacht, war nach vorne gesprungen und hatte zugepackt. Und sie war, so etwas gab es hier eigentlich nie, sie war – schön. Etwas älter als die anderen, in meinem Alter schätzungsweise. Eine angenehme Ausnahme, sieh an, ach weit mehr als das, die sah trotz der ungünstigen Umstände ziemlich gut aus. Nein, sei ehrlich, sie sah verdammt heiß aus: Schwarze, lange Haare umrahmten ein dreckiges und blutverschmiertes Gesicht, das einer selbstbewussten Schönheit gehörte. Kurven, da wo sie sein sollten, brachten mich auf Touren. Während ich sie vor meinem inneren Auge auszog, half sie weiterhin wortlos den vermeintlichen Zwillingen. Sie stützte die Verwundete nun zusammen mit deren Schwester und stand damit nun direkt neben dem rothaarigen Schisser. Die Einlage schockte mich zwar ein wenig, aber ich legte ganz cool die letzten Meter zurück. Gleich würde ich meine Chance bekommen, das schöne Ding im Nahkampf zu erobern.

Mir drängte sich plötzlich das Prasseln des Regens, die unangenehme Kühle auf der Haut, ein widerwärtiger Gestank derart heftig auf und in den Vordergrund, dass mir sofort wieder flau in der Hose wurde. Fuck verdammt – da lag auch irgendein extrem fauliger, aber unbekannter Geruch in der Luft. Was zur Hölle war das für ein widerwärtiger Gestank? Das war ja kaum zum Aushalten: Eine kräftige Portion Erbrochenes, ein Spritzer Blut, ein Schwall Eiter und zwei unerwartete Aromen, Zimt und Vanille. Diese Aromen hatte ich das letzte Mal vor vielen Jahren gerochen, Papa hatte häufig damit gekocht – damals. Aber so was absolut Ekelhaftes wie jetzt hatte ich mir noch nie zuvor reingezogen und wollte es auch nie wieder riechen müssen.

Die Umgebung wurde mir auf allen Kanälen versaut und das turnte gewaltig ab. Nase zu und durch, sagte ich mir und der leichten Übelkeit auf dem letzten Meter, bevor ich das Quartett offiziell begrüßen wollte – auf die freundliche Tour:

»Hey! Wie vorhin schon gesagt, seid ihr von nun an Sklaven. Wie ich, meine Schwester und die anderen Bewohner hier im äußeren Ring von Gor Thaunus, den manche Niederstadt, andere Glashütten nennen. Meine Direktheit ist nicht böse gemeint, sondern so sind die Fakten und die solltet ihr kennen. Das spart euch viel Ärger und Schmerzen, glaubt mir.«

»An sich erst mal scheiße, stimmt – aber so is es halt! Es gibt auch was Gutes daran, denn erstens, ihr lebt und zweitens, ihr habt hier einen zivilisierten Ort betreten. Der hiesige Stil ist zwar ziemlich altmodisch und krass, aber allemal besser als die tödliche Wildnis, aus der ihr gerade kommt.«

Mit dieser direkten Ansprache hatte ich tatsächlich etwas erreicht. Während ich krampfhaft durch den Mund atmete, zeigten mein Worte Wirkung. Der Blick des lebhafteren Zwillings und die Aufmerksamkeit der Schönheit hatte ich gewonnen. Auch der Junge hob wenigstens kurz den Kopf. Ich blickte in scheue, verweinte Augen voll unterdrückter Panik. Sein Blick sprang erst zu mir, glitt dann verstohlen zum verletzten Zwilling, um nach einigen Augenblicken wieder autistisch hängenzubleiben. Er schien sich vor dem kaputten Mädel zu fürchten und glaubte wohl, er könnte sich unsichtbar machen. So schlimm war sie doch auch nicht verletzt, äußerlich hatte sie nur ein paar blutige Schrammen an ihrem rechten Oberarm. Es blutete nicht mal mehr, wie ich nun sehen konnte. Halb so wild, sagte ich mir ich stillschweigend, während ich aus nächster Nähe glotzte. Das würde schon klargehen.

»Kein Stress, ihr dürft schweigen – Todeszonenbonus. Kommt einfach erst mal mit rüber. Vom Tor weg, raus aus dem kalten Regen und dem Schlamm. Ich zeig euch anschließend schnell eure vier Suiten dort drüben im Penthouse. Selbstverständlich serviere ich dann den Willkommens-Aperitif und dann gehts sofort zum Hausarzt. Naja, so oder so ähnlich wirds zumindest laufen.«

Mit dieser witzigen Einlage war ich weiter auf Erfolgskurs. Ich hatte sogar den Jungen etwas aufgemuntert, wie ein zweiter, längerer Blickkontakt zeigte. Er beruhigte sich ein wenig. Der Schönheit hatte ich mit meinem Charme sogar ein erstes, kleines Schmunzeln abgerungen, dennoch schwieg sie weiterhin. Der fitte Zwilling schien gerade was sagen zu wollen.

Plötzlich gab der verletzte Zwilling ein zweites Mal einen Laut von sich: ein tiefes, kehliges Gurgeln, irgendwie alt, überraschend bis verstörend jedenfalls. Sekundenschnell und bellend schon herrschte Stille. Der Junge war sofort wieder panisch und ging rasch ein paar Schritte zur Seite. Auch die Schöne wirkte so, als bereue sie ihre Hilfsbereitschaft mittlerweile. Nur die Schwester hielt unbeirrt ihre Stellung, verbiss sich aber ihre Erwiderung und flüsterte  ihrem unheimlichen Doppel etwas ins Ohr, mehrfach, irgendwie beschwörend, aber ohne, dass ich den Sinn verstehen konnte. Die anderen sahen mich mit flehenden Augen, weiterhin aber stumm an.

Meine Güte, da hatte ich mich wohl verschätzt. Die Kleine musste wohl doch zu einem Arzt. Was der andere Zwilling jetzt wohl durchmachte, konnte gerade ich sehr gut nachempfinden. Meine Bühne musste ich mir nun zwar teilen, aber das Eis war wenigstens am Antauen. Vielleicht konnte ich es direkt brechen, wenn ich mit meiner witzigen Tour einfach noch ein bisschen weitermachte:

»Ich bin Yang – hocherfreut!«, gefolgt von einer tiefen Verbeugung, „meines Zeichens euer persönlicher Ansprechpartner hier vor Ort. Das Willkommenskomitee von Gor Thaunus sozusagen, einzig da, um euch jeden Wunsch von den Lippen abzulesen und eure Sorgen zu lindern.«

Sie lachend, er immerhin lächelnd wandten sich mir der Junge und die Schöne jetzt offen zu, sodass ich schnell nachsetzte:

»Kommt einfach mit rüber vor unsere Kuppel oder lasst es und kommt nach. Auf dem Weg dürft ihr euch gerne auch eine Runde zu Wort melden, wenns denn geht. Wenn ihr euch namentlich vorstellen könntet, wäre das ein perfekter Anfang. Ihr müsst das aber natürlich nicht – alles kann, nichts muss, ist mein Motto des Tages. Denn wie jede gute Servicekraft würde ich euch nie bedrängen.«

Die beiden schienen angebissen zu haben, die hatte ich, nur die andere Hälfte der Gruppe, die ungleichen Zwillinge sträubten sich noch. Mittlerweile hatte ich den absonderlichen Geruch zu ignorieren gelernt. Deswegen sprach ich die beiden direkt an, weniger aus Angst, sondern vielmehr aus Sorge:

»Mein voller Ernst: Euch, besonders deiner Schwester kann wenigstes medizinisch geholfen werden. Kommt bitte mit rüber zu Yin und dann schauen wir gemeinsam weiter. Sieht echt übel für die Kleine aus, was hat sie denn abbekommen und was sind das für schräge Töne?«

»Nein, nichts? Noch immer kein Kommentar? Ok, also gut – dann sollten wir trotzdem nicht rumtrödeln, Zeit ist Geld hier in Gor.«

Nachdem die unverletzte der beiden Schwestern mit einem schwachen Kopfnicken zugestimmt hatte, beugte ich mich zur Schönheit und hauchte ihr in Ohr: »Auch du könntest auch ein Bad und ein kleines rosa Pflaster vertragen – schmutzige Prinzessin!«

Ohne lange auf eine Reaktion zu warten, drehte ich mich kurz entschlossen um, vielleicht ein bisschen zu barsch, und ging schnurstracks los. Zurück in Richtung des Runddachs aus durchsichtigem Kunststoff. Dort wartete Yin, gammelte gemütlich und ziemlich träge in ihren Sitzsack gefläzt. Durch eine dicke Schicht aus Dreck entstellt, erkannte ich seine ursprüngliche Farbe – Lila – vermutlich nur, weil wir einmal bei dem Versuch gescheitert waren, sie zu reinigen. Immerhin an wenigen Stellen konnten wir damals erahnen, welche Farbe eigentlich gedacht gewesen war. Die zwei Sitzsäcke waren ein Großteil von dem, was wir frei benutzen durften und lagen deshalb häufig einfach vor unserer gemeinsamen Glashütte, die mit ihren knapp vier Metern Durchmesser und einer mittleren Höhe von zwei Metern wenig Lebensraum für zwei Personen bot. Sie lag zusammen mit hunderten anderen, identischen Wohneinheiten inmitten eines chaotischen Wirrwarrs aus den unwahrscheinlichsten Gegenständen, hauptsächlich Müll.

Die meisten Bewohner des ringförmigen Stadtteils waren Abschaum und blieben unter sich, vereinzelt und verzweifelt saßen sie unter ihren Glasdeckeln und brüteten vor sich hin. Ich musste nur ein bisschen rumkucken und sah das miserable Leben von gleich mehreren Nachbarn hautnah, wenn ich das denn gewollt hätte. Durch die transparenten Wände hindurch war alles sichtbar, so etwas wie Rückzug gab es nicht. Die Umgebung verkam, alles ging den Bach runter und keinen störts. Warum auch, wir waren Sklaven! Hier war einfach alles unglaublich dreckig, es klebte, triefte und stank überall, wenn auch nicht so krass wie die Kaputte hinter mir.

Sie gab nicht nur weiterhin unschöne Geräusche von sich, wenn auch leiser als zuvor, sondern meiner Meinung nach auch diesen scheußlichen Gestank. Ich konnte nur ahnen, wer von ihnen mir wirklich gefolgt war; aber es roch noch immer so durchdringend widerwärtig, dass ich weiter durch den Mund atmen musste, wenn ich nicht kotzen wollte. Ich hörte Schritte, konnte aber nicht zuordnen, von wie vielen, und umdrehen wollte ich mich nicht.

Ich wurde unruhig, obwohl doch mal wieder alles gut gegangen war und ich mich richtig nett verhalten hatte. Dennoch riskierte ich gerade sogar für meine Verhältnisse echt viel, vielleicht zuviel. Noch interessierte sich niemand für uns, auch darin lag das Problem. Eigentlich sollten die Wachen meinen Job machen und die Neuankömmlinge in Empfang nehmen. Ach, das passte schon – die technischen Augen nahmen mich die ganze Zeit über auf, also wurde mein Verhalten bisher wohl geduldet.

Seit jeher gabs hier in Gor einen nervigen Zwiespalt: Einerseits klare Regeln, die unmenschlich hart waren, andererseits aber die häufig gemachte Erfahrung, dass deren Bruch folgenlos geblieben war. Wir wurden von vorne bis hinten überwacht, von oben bis unten kontrolliert, aber nur dann konsequent bestraft, wenn es um unseren Arbeitsdienst ging oder Menschen direkt mit im Spiel waren. Im letzten Jahr hatte ich auf die tausend Tage so ungefähr fünfzig Strafen außerhalb der Minen kassiert, meistens Essenskürzungen und Zusatzarbeit, nur selten Härteres wie Schmerzstimuli oder Intoxikationen. Das war typisch für die Herren und ihre Arschkriecher, die Freien, man benutzte pompöse Phrasen und wollte damit Scheiße zu Gold machen. Wie oft ich hingegen davongekommen war, hatte ich aufgehört zu zählen. Auf Jeden hatte sich das Risiko gelohnt: Ein Fünkchen mehr Freiheit, durch Widerstand verdient. Die Angst vorm Schmerzreiz blieb aber immer im Hinterkopf, sorgte für Nervenkitzel vom Feinsten. Auch wenn die Wachen in der Niederstadt sich kaum um uns scherten und die allgegenwärtige Spionagetechnik wohl nicht so ganz funzte, war und blieb es ein blindes Risiko, unbekannten Launen unterworfen. Nur dank meiner Eier und deren Verrafftheit war ich aus dem dumpfen Gehorsam der ersten Jahre rausgewachsen. Leider war ich einer der wenigen, die hier überhaupt mal was losmachten. Die meisten der Sklaven waren verdammte Schisser und erbärmliche Kriecher. Ja, aber echt, sogar Yin, das scheue Lämmchen, spielte mittlerweile gelegentlich mit, wie vorhin, und wagte den einen oder anderen Regelbruch nach dem Motto Freiheit in der Freizeit. Mit dem Rest der Sklaven war nicht viel los. Bis auf ein paar meiner Kumpel war das Sklavenvolk der pure Jammerlappenverein. Ein Meisterstück des Gehirnficks, mit dem die Herren saubere Arbeit geleistet hatten. Im Denken der meisten Sklaven waren Sachen wie Widerstand, Protest, Rebellion und so was hart ausradiert worden – gnadenlos wegtrainiert. Mich hatten die perversen Schweine mit ihren Psychotricks auch beinahe gebrochen. Ein paar Mal, aber durch jeden Erfolg war ich innerlich stärker geworden und war so klug gewesen, es sie nicht merken zu lassen. Ich hatte ganz simpel gelernt, mich an die Regeln dieses beschissenen Sklavenlebens nur genau soweit anzupassen wie unbedingt nötig.

Aus meiner unbestimmbaren Unruhe war über die Grübelei hinweg offener Ärger geworden. Wenn ich mich allen Ernstes schon über die Waschlappen um mich herum abzufucken begann, suchte ich wohl händeringend nach Zoff. Vielleicht sollte ich irgendwas von dem Zeugs ausprobieren, mit dem mir Schwesterchen ständig in den Ohren liegt. Sehemeditation oder wie das auch immer heißen mag.

Aber was sollte das bringen? Hier sah es einfach beschissen aus und das fuckte mich ab: Schlamm, Müll und Abschaum. Die einzige Ausnahme in Sachen Siff und Ekel waren die kugelrunden Wohngebäude, deren Material immer schon sauber und glänzend war. Seit Jahren war das Zeug unverändert, nicht ein bisschen Dreck, keine Kruste oder auch nur Fleck, überhaupt gar nichts. Damit standen diese Gebäude im so krassen Gegensatz zu allem anderen hier im gläsernen Ghetto, dass mich ihre technische Perfektion so richtig derb ankotzte. Die Schmutzresistenz des Werkstoffs war atemberaubend, die Wände blieben rein und waren fast durchsichtig, schön und toll, aber das Ganze verhöhnte uns dreckigen Wilden nur noch mehr. Ha, ein Gutes hatte die Sache: Ohne den Regen, der wie heute in dicken Perlen daran hinunterlief, konnte man die Wände glatt übersehen und das führte öfter zu schmerzhaften, allzu genial anzusehenden Unfällen. Bei gutem Wetter liebten Yin und ich es, einfach nur gediegen abzuhängen und den blöderen Sklaven beim Tollpatschen zuzusehen – was hatten wir dabei schon gelacht und gejubelt. Klar, nicht nett, aber solche fiesen Freuden braucht man hier, wollte man mental einigermaßen über die Runden kommen.

Menschenzirkus, das traf es, und wir waren die Clowns. Der Grund für den Menschenzirkus mit den Glaskäfigen war so stumpf, wie er logisch war: Macht, genauer Information. Die dazugehörige Überwachung wurde nicht die Bohne verheimlicht, wieso auch: Optiktürme, Drohnen und unsere implantierten Maschinchen rieben uns ständig unter die Nase, was wir waren: menschliches Vieh. Gut zum Arbeiten, gut fürs Geschäft, waren wir, aber immerhin nicht direkt so was wie Schlachtvieh, soweit ich jedenfalls den Durchblick hatte. Und das war nicht eben gerade weit, also kein Licht am Ende des Tunnels in Sicht.

Nachdem der Psychotrick ziemlich grandios versagt hatte, war ich immerhin fast am Ziel angekommen. Yin saß dort und grinste hämisch, dabei schaute sie direkt in meine Richtung. War das Neugier oder Hohn oder vielleicht beides, was mich aus ihrem Blick ansprang?

Da kam er schon wieder zurück, zurück von seiner netten Tour, scheinbar ohne Erfolg. Schade eigentlich, denn es sah eben noch so gut aus. Nun stand die Gruppe nämlich wieder unbewegt beim Stadttor rum und, so weit ich das gegen den Regen hören konnte, war weiterhin schweigsam. Anfangs hatte es so ausgesehen, als hätte Yang sie belabern können, aber dann hatten die Typen plötzlich wieder angehalten. Wenn sie Yang auch nur ein bisschen zugehört hatten, müsste ihnen die Zukunft genauso zusetzen wie die die Vergangenheit, die Todeszone. Toller Plan, Brüderchen – ein Trauma mit Frust und Verzweiflung anzugehen, klang als Ansatz doch reichlich gewagt.

Ich fühlte aber irgendwie, dass er irgendetwas erreicht hatte. Wenn er wenigstens mit ein paar näheren Details aufwarten konnte, war ich voll dabei. Hier passiert nie was Spannendes. Es gab so viele Geschichten und ich hatte auch so meine eigenen Erfahrungen mit Schockerniveau, aber nach Gor verirrte sich so gut wie nichts Heftiges. Diese Ruhe hatten wir bisher mehr den Patrouillen von KK und Europax zu verdanken, als den unfähigen, sogenannten Wächtern und schon gar nicht den Jägertrupps. Beide schikanierten Menschen, wobei die einen raubten, die anderen vor sich hin gammelten. Dass hier Fremde standen, die soeben ohne jede Kontrolle hierein gekommen waren, juckte die Sicherheitstrottel scheinbar kein Stück. Bisher blieb unsere Aktion folgenlos, denn niemand kam zu uns. Dann sollten sie halt allesamt weiter im Regen stehen und erfrieren – ihr persönliches Pech!

Doch plötzlich, ohne Anzeichen oder Absprache, wie auf einen geheimen Befehl hin, kam Bewegung in die Ruhe. Als ich schon fast nicht mehr damit gerechnet hatte, schloss sich zuerst die Größte der vier Gestalten an – zögerlich zunächst, doch dann, Schritt für Schritt, mit wachsender Entschlossenheit, folgte sie meinem Bruder über den schlammigen Vorplatz. Kurz darauf gab sich auch ein Zweiter der Neuankömmlinge einen Ruck. Yang, an der Spitze, war schon beinahe hier angekommen, als sich auch noch die letzten beiden Figuren in Bewegung setzten, die eine schleppend, die andere humpelnd. Mit der einen war nicht mehr viel anzufangen, jedoch nicht so wenig, um dafür extra aufzustehen und zu helfen – das lohnte nicht und war nicht meine Aufgabe. Sollten sie ruhig zu mir kommen, denn wir würden ihnen heute sicher noch genug helfen, da war ein klein bisschen Bequemlichkeit am Anfang vollkommen ok.

Außerdem hatte ich seit wenigen Sekunden ein ziemlich ungutes Gefühl im Magen. So fühlte es sich meistens an, wenn etwas Schlechtes passierte. Vielleicht würden sich die Wächter genau dann für uns interessieren, wenn Yang mit seinen wandelden Sicherheitsrisiken angekommen war. Dazu kam jetzt noch das Sausen in den Ohren und das Kribbeln in der Nase, damit waren die Anzeichen komplett. Ich war nicht krank, sondern hellhörig. Abergläubisch bin ich nicht, ich glaube nicht an Magie. Dennoch folgte auf dieses Gefühl und seine typischen Begleiterscheinungen meist etwas Bedeutsames. Meiner Intuition konnte ich vertrauen, denn sie hatte mir oft genug den hilfreichen Wink gegeben, der mich wachsam gemacht hatte – häufig zurecht und gerade rechtzeitig. Leider wusste ich wie immer nicht, ob eine Gefahr drohte, eine Gelegenheit auftauchte oder ein unglaublicher Zufall ins Haus stand. Erst ganz kurz vor dem Ereignis kam die passende Feinemotion hinzu. Erst dann wurde aus ungewisser Erwartung, eine als gut oder schlecht einschätzbare Zukunft.

Meine Ahnung wurde unangenehm schnell zur Gewissheit: Eine der Wachen hatte soeben zum ersten Mal zu meinem Bruder und den vier Neuankömmlingen in seinem Schlepptau gekuckt. Daraufhin hatte sie erst nichts gemacht, um nach wenigen Atemzügen ihren Kopf herumzureißen. Sie hatte konsequent in ihrem plappernden Nichtstun innegehalten und ihrem Begleiter einen Stoß gegeben, woraufhin dieser nun aktiv wurde. Er holte etwas aus dem Tornister seiner Panzerung hervor: Keine Waffe, dafür war das Gerät zu klobig, irgendwas anderes hielt er nun in den Händen und nahm damit uns alle in Visier.

… Plop, Tok, Tick, Tack …

Die Zeit schien mit einem Mal träger dahinzufließen als noch zuvor. Langsamer, immer langsamer; wie Honig floss sie zähflüssig dahin. Ich spürte sie, hörte sie Tropfen für Tropfen tausendfach um mich herum aufschlagen, leise, laut, platschend auf Schlamm, klackend auf dem Metall und prasselnd auf dem transparenten Kunststoffdach über mir, dumpf pochend drüben auf dem Wall und noch dumpfer schmatzend auf den Polstern der Sitzsäcke, um mich herum.

Die Wachen handelten, ein höchst seltener Anblick. Der Späher ließ sein Gerät einfach fallen und zückte etwas anderes. Dieses Mal war es eindeutig eine Waffe. Die Zeit blieb träge, das Gefühl war nun eindeutig schlecht – beschissen, um genau zu sein.

Yang war mittlerweile praktisch hier und setzte mental wahrscheinlich gerade zu einem seiner blöden Kommentare an, als es passierte – das bange Warten hatte ein Ende:

Erst ein seltsames Knurren, tierisch und wild, alt und brutal.

Dann ein widerwärtiges Krachen, gefolgt von einem schrillen, markerschütternden Schrei!

Stille, unendlich lang …

Angst flutete mein Bewusstsein, schlagartig und heftig zugleich!

Lähmende Panik schlich sich heran, meine Muskeln krampften auf einmal wie irre.

Fast gleichzeitig brauste eine heftige Sturmböe auf, peitschte mir mein blondes Haar ins Gesicht. Ganz so, als hätte plötzlich jemand in einem geheimen Regieraum einen Regler für dramatische Effekte in die Höhe gerissen, drehte das Unwetter schlagartig richtig auf und bot damit dem grauenhaften Geschehen eine grandiose Kulisse: Aufheulender Wind, zornig und wild umherfliegendes Laub in einer feuchten, geradezu modrigen Luft, Platzregen, der den Schlamm spritzen ließ. Vom einen Augenblick zum anderen rutschte die komplette Atmosphäre auf der Wohlfühlskala schlagartig in den roten Bereich.

Glich die Zeit eben noch einem trägen, süßen Honig, so schien dieser Zustand auf einmal umgedreht worden zu sein. Ein Damm war gebrochen und die zuvor angestaute Zeit wollte wohl ihren Rückstand wieder gut machen. Wie eine Welle salziges Wasser schwappte sie durch mein Denken. Plötzlich bedroht war ich einfach so herausgefallen aus der gemütlichen Langsamkeit der Erinnerung – mitten hinein in einen Sturm an furchtbaren Ereignisse.

Ich hatte es vorher nur unbestimmt gespürt; ich hatte es aber wieder einmal geahnt. Mein Bauchgefühl täuschte mich selten, aber was hier nun genau losgebrochen war, wusste ich nicht – warum eigentlich nicht? Was hatte da so entsetzlich geklungen, wer hatte eben so jämmerlich geschrien und wieso überhaupt?

Stress und Verwirrung überfluteten mein Bewusstsein und zwangen es gnadenlos und unwiderstehlich in den Moment, heraus aus der vergangenen Nachträglichkeit hinein in die aufdringliche Gegenwart: Eben war und musste ich, jetzt bin ich am Leben und muss überleben. Also wische ich mir Haare und Tränen aus den Augen und blinzle nur kurz, damit ich ein wenig mehr sehen kann. Mein Bruder steht nun knapp vor mir; dreht mir kurz den Rücken zu. Er hat sich schneller als ich zur Quelle des bestialischen Schreis herumgedreht und hat scheinbar bereits die Lage gecheckt.

Ich habe überall Krämpfe und kann kaum gehen. Das Atmen fällt mir schwer.

Soeben stößt Yang einen Seufzer aus. Er klingt erschüttert, Entsetzen klingt aus seiner gebrochenen Stimme. Er scheint eine bittere Erkenntnis gewonnen zu haben, die sogar ihm, dem schlagfertigen Schwätzer, die Stimme raubt. Mir schwindet die Kraft, ich kann kaum noch was gegen die lähmenden Krämpfe tun. Das Atmen wird zur Quall, die Welt beginnt zu zittern und sich unrund zu drehen. Ich habe Glühwürmchen vor den Augen und einen summenden Insektenschwarm im Kopf.

»Argh! Nein, scheiße … verdammt … nicht doch – Fuck, Yin!«

»Wie konnte ich nur so dumm und naiv sein; das war doch nur eine Frage der Zeit! Wir kannten die Gerüchte. Sie kam frisch aus der Todeszone und war offensichtlich verletzt. Aber ich Depp rieche den Braten trotzdem nicht. Ich stand vor ihr, habe sie voll schräg grunzen gehört und etwas Scheußliches aus ihrer Richtung gerochen. Aber nein, ich schalte nicht und denke mir, dass alles easy ist und ich endlich mal wieder eine heiße Braut angraben kann.«

Während er das sagt, ist mein Bruder bei mir angekommen und hat mich kurz umarmt. Er wirkt wirklich alarmiert und hat wohl irgendwas Wichtiges gesagt. Bei mir kommt aber nur noch wenig davon im Denken an. Abscheuliches, Widernatürliches bahnt sich seinen Weg in mein Bewusstsein, vorbei an allen Filtern. Den hinter Yang sehe ich etwas, beginne ich die Ursache für das plötzliche Chaos zu realisieren. Ungläubig und widerwillig sträubt sich mein Kopf zum Glück, das anzunehmen, was meine Augen nur kurz sehen, bevor ich mich angeekelt wegdrehe.

»Was zur Hölle …«, ich würge, bekomme kaum noch einen Ton raus, »… ist …«, jede Silbe bereitet mir bestialische Schmerzen, »… das Ding da?«, bringe ich endlich doch heraus und bin dabei mittlerweile so steif wie ein Brett. Ich sollte einfach die Augen zumachen, die Scheiße schön da draußen lassen, wo sie hingehört, und auf meinen Bruder vertrauen.

Aber ich kann nicht, schaffe es nicht lange, will trotz allem Bescheid wissen und drehe meinen Kopf gegen den schmerzhaften Widerstand langsam nach links. Yang hat mich nunmehr auf den Arm genommen und ich schaue an ihm vorbei nach hinten zum Tor: Ein rothaariger Junge, total verdreckt und erbärmlich, und eine genauso heruntergekommene Schickse rennen auf uns zu, Panik und Schrecken im verzerrten Gesicht. Und dahinter erwacht ein Ding. Ich traue meinen Augen kaum, bereue meine Neugierde ein zweites Mal. Die Lähmung in meinen Gliedern vertieft sich weiter, wird jetzt schmerzhaft. Eine ekelhafte Kälte wandert meine Wirbelsäule hinauf, greift nach meinem Gehirn, droht es erbarmungslos schockzufrosten.

Gerade erklingt der schrille Lageralarm über unseren Köpfen und wummert auf mein Hirn ein. Das bringt mich etwas runter und holt mich in die Welt zurück. Da ich nach zwei kurzen Blicken, die ich offen bereue, keine Worte für das Etwas finde, wovor wir wegrennen, bleibe ich wenigstens im Denken und Erinnern von dem Grauen verschont, das eben hinter uns auf dem Platz ausgebrochen ist und nun dort wütet. Die grässlichen Bilder, nur Blitzlichter, verblassen glücklicherweise schnell. Meine Augen habe ich nun fest verschlossen. Die größte Angst macht mir deshalb, dass ich mich nicht mehr bewegen kann, und nicht verstehe warum. Das macht mich vollkommen fertig. Ich bin nicht so hart drauf wie mein Bruder, aber irgendwas passt nicht. Ich denke fast klar und habe trotzdem keine Kontrolle über meine nutzlosen Füße und Arme.

Fühlt sich so echte Panik an oder was wird hier gespielt, frage ich mich in dem Moment, in dem einer der zwei Wächter den ersten Schuss über den Platz abfeuert. Die andere der beiden Wachen fingert im Hintergrund an irgendeiner Konsole herum.

Mach schneller Yang, ich habe Angst.

Gerade als ich mich umdrehte und dazu ansetzte, loszurennen, wurde mir klar, was ich eben verrafft hatte: Yin rührte sich nicht mehr. Solchen Bockmist roch ich meistens gerade noch rechtzeitig und drehte deshalb schon den Kopf: Sie stand wie vom Blitz getroffen da und sah dabei nicht aus, als könnte sie einen Teufel dagegen tun.

»Verdammt schlechter Zeitpunkt für ne Pause, aber wofür hast du mich? Genau: um dir deinen kleinen Arsch zu retten!«

Ich drehte mich sofort um, griff nach Yin und wollte sie mit mir wegziehen. Aber sie war total steif, starr wie ne Leiche. Nur in ihren Augen sah ich noch Bewegung, ein hektischer Blick gezeichnet von Verzweiflung. Ja, ich würde sie raushauen, auf jeden. Was die anderen Leute machten, war mir schießegal. Die vier oder vielleicht derzeit nur noch drei Neuankömmlinge waren mir genauso schnurz wie die anderen Sklaven und die unfähigen Wächter. Yin brauchte mich, nur das zählte jetzt.

Sie zu packen und mitzuschleifen, hatte ich erst nach wertvollen Sekunden hinbekommen. Dabei vermied ich es gekonnt, unnötige Zeit zu verplempern, indem ich mir die Horrorshow hinter uns direkt reinzog. Dafür war Zeit, wenn wir einen Vorsprung hatten und Yin wieder sie selbst war. Jetzt mussten wir uns schnell von hier verpissen! Wir hatten eine klare Rückzugsrichtung: Westen. Unser einziges Ziel musste es sein, zum Bauerntor und damit hinter den zweiten Wall zu kommen. Natürlich sollten wir uns auf dem Weg dorthin beeilen und bloß nicht töten lassen – geschenkt.
Der Schwierigkeitsgrad dabei war hoch. Denn mit meiner 50-Kilo-Schwester im Arm konnte ich aber nun nicht gerade schnell rennen. Doch nach den ersten drei Metern, weg vom Platz um die Nachbarhütte herum, schaffte ich das Kunststück, sie soweit aufzulockern, dass ich sie mir über die Schulter werfen konnte. Erst begann der Alarm zu dröhnen, dann fielen hinter uns die ersten Schüsse. Auf den weiteren Metern um die nächste Glashütte herum wurde Yin noch lockerer, begann bald zu zappeln und dann gings los: Sie schrie, wie ich sie nie zuvor schreien gehört hatte. Der Klang ihrer Stimme erschütterte mich, durchlöcherte mir Trommelfell und Herz. Sie war wohl mal wieder zu neugierig gewesen und hatte nach hinten geschaut, während sie über meiner Schulter hing. Was dort wartete, war zuviel für die Kleine gewesen und würde mir wohl bald auch noch den Appetit verderben. Aber erst, wenn wir aus dem Allergröbsten raus waren. Also lief ich unbeirrt weiter, stapfte durch den Schlamm und drehte mich nicht um – noch nicht.

Ich brannte ehrlicherweise darauf, das perverse Spektakel mit eigenen Augen zu sehen. Es lagen schon zwei Glashütten und etliche Meter zwischen uns und dem Kampfplatz, dennoch trug ich Yin weiterhin. Sie schrie nun nicht mehr, hatte eben damit aufgehört, sondern flennte wie ein Baby und zitterte. Sie war kurz ohnmächtig gewesen und würde gleich kotzen. Ich litt mit ihr, konnte sie aber jetzt noch nicht trösten, wir wurden verfolgt. Sie würgte und stöhnte jämmerlich von hinten. Also schnell – wir mussten noch mindestens eine zusätzliche Wohneinheit mehr hinter uns und damit Sicherheitsabstand zwischen uns und den Tod bringen.

Das hier war wirklich die fäkale Krönung für einen herausragenden Scheißtag ohnegleichen: Untertage gabs neben der üblichen Schinderei derben Zoff zwischen den Kumpeln, die Essensration wurde mir ab heute mal wieder strafbedingt gekürzt, Yin hatte mal wieder Ärger mit einem notgeilen Herren gehabt und jetzt noch dieser unwahrscheinliche Albtraum, der aus einer der bescheuerten Gruselgeschichten von früher abgeschrieben worden sein konnte. Meine Güte, bei Gor dem Gott der Scheiße und der Sklaven – was war das doch wieder für ein ausgewählt beschissener Tag in Gor Thaunus.

»Ahhhhh, ich werd irre … das ist der, ist der … der Angriff … der Angriff der Todesklone – jahhh … das ist er!«

»Wahhhhhhh!«

[Hinweis der Metatext-Redaktion: Entschuldigen Sie vielmals, ab hier kann das Layout des Originals aus technischen Gründen nicht wiedergegeben werden. Eine Wiedergutmachung gibts weiter untern!]

Erst ein Todesschrei, dann ein Fieeeppenn … Kotze! Dunkel, still & gnädig, vorbei … ›#›#++~~~> M

Mein Hirn schmort durch, überhitzt durch das unfassbar Grausame, was ich erlebe. Ich lasse los – nicht gut, aber besser. Ich begrüße den Irrsinn und die Ohnmacht freudig und lade beide herzlich ein, eine Runde bei mir abzuhängen:

Mein mentales Oberstübchen ist aufgeräumt, der Tisch ist fein eingedeckt, der Tee bereits trocken, das Gebäck noch flüssig aber bereits knusprig und der Kuchen schön warm und taufrisch. Blutgeruch. Herein zu mir, husch, husch, es gibt eine Party im Glaskäfig Nr. 42. Da kommt ja auch schon der weiße Rabe mit seiner rauchenden Pfeife im linken Schnabelwinkel – und boah geil, er hat viele seiner Freunde & Feinde mitgebracht. Eine ulkige rote Ente mit einer grellgrünen Taucherbrille watschelt gemütlich hinter ihm her. Sie kommen über den umgedrehten Regenbogen zu mir. Während wir uns gegenseitig Essenrationen schenken, jeder genau gleich viel, kommen die fiese Herzkönigin + der senile Kreuzbube von den Sternen herab. Sie fangen an, zu rennen, schleichen um die goldene Hüpfburg herum, klettern hinauf auf die Riesenbäume. Die Wichser sprengen einfach so die Sonne – Kadabumm, Licht aus! Muss ich halt die Discokugel anmachen, hatte ich eh vor. Ein Beat, ein Bit, ein Boson. Das war eine Spitzenidee, danke ihr Feinde des Lichts. ~Komm mal klar Kleine!} Die Nacht des Denkens ist der Tag der Lüste – ab gehts, drunter drüber, rein raus. Schon tanzt die Meute, manche Standard, die meisten aber Freistil ihren wilden Freudentanz. Der schwarze Schwan + das weiße Kaninchen jagen einander wie wilde Derwische über die Wellen und werden dabei selbst wiederum vom peitscheschwingenden Tagteam aus Grinsekatze und grölendem Gargantua angetanzt. Dauerfeuer rattert. Atréju & Pantagruel auf der einen, Kenny + Pumuckl auf der anderen, entjungfern die Gogo-Käfige neben der Tanzfläche mit einem Synchrontwist auf Beethovens 9. Kakofonie. Schrille Schmerzensschreie, drei Mal. Das tolle Fest kommt so richtig in Fahrt. Spätestens mit dem Poetry-Slam auf der Kanzel zwischen der bösen Hexe Bellnana Retsarzorro, einem aus dem nichts aufgetauchten Känguru, das wirre Fragen nach einem Piguin-Controller stellt, den keiner hier kennt, und einem Delfin namens Howard, der angeblich in Atlantis lebt, wird es wahnsinnig komisch: Von orthodoxem Marxismus wird erzählt, von außerirdischen Besuchern in tiefster Vergangenheit und naher Zukunft, die Hexe singt ihr vielstimmiges Utopos auf Gor Thaunus. Mitten im Finalbeitrag der Ente scheppert die Türklingel, wie ein Esel schreit sie. Es sind die nervigen Todesklone (brüllen bestialisch) und sie stehen weinend vor der Tür und klingeln seit Stunden Sturm: Iahhh, Iahhh, Iahhh! Wohl, weil sie auch auf die Party wollen, aber nicht dürfen. Die verfluchten Spaßbremsen sind nicht eingeladen – keine Chance! Die sollen bloß draußen bleiben und wehe, Freunde der Nacht, denen macht einer die Tür auf! Die Plüschfraktion aus Amaurotum murrt. Sie fordern ihren Tribut, plus Zinsen. Hoffentlich holt endlich mal jemand die Soma-Honig-Möhren-Bowle für König Gucky und Königin Winnie-Puh, sonst passiert noch was. Säuerlicher Kotzegestank. Iahhh! Fnords hüpfen umher, rennen kreuz & quer durch die Gästemassen und binden ihnen Problembären auf. Der Frustschutzfaktor steigt auf 30, nur die 23 Herren und die 7 Damen legen Lustblocker Plus auf, obwohl die Sonne aus ist. Der Rest der Mannschaft macht eine syndikalistisch-synkretistische Polonaise. Ich schunkel zwischen einem Kastenbrot und einem gelben Schwamm sanft dahin, aber die beiden zoffen sich andauernd zickig an: Es könne nur einen lustig-neurotischen Entertainment-Quader im Kinder-TV geben. Fremdsprachen und komische Namen überall. Ich lege beiden vorsorglich Frustblocker auf und gebe mich dem schrägen Schwachsinn willig hin, rückwärtsE und Fvorwärts, im m und rundherum geht unser wilder Ringelrein: Iahhh! … Kawumm! »Yin! … wach … sterben wir!« Die Haustür splittert und Lava flutet den Raum, die Todesklone surfen auf Roboterkörpern … die Todesklone!?

[Hinweis der Metatext-Redaktion: Entschuldigen Sie vielmals, bis hierhin konnte das Layout des Originals aus technischen Gründen nicht wiedergegeben werden. Eine Wiedergutmachung gibts weiter untern!]

Es brennt … dumpfes Rauschen … grell … Eisen … Säure … »Ahhhhhh!«

Ich schreie.

Ich brülle und schlage um mich.

Ich bin.

Ich kotze mir die Seele aus dem Leib und danke Yang innerlich dafür, dass er das wohl vorher geahnt hat und mich netterweise an den Schultern festhält. Unter mir sehe ich nur Schlamm und mein halb verdautes Essen von heute Nachmittag.

»Hey Schwesterchen – willkommen zurück. Wir müssen weiter, sonst wirds haarig!«

Ich war wieder und wurde trotz aller Schmerzen immer klarer im Kopf. Yang massierte mir den Nacken und redete mir weiterhin gut zu, drängte aber zum Aufbruch. Daneben drangen Alarm, viele Schüsse und einige Schreie dumpf zu mir durch. Ich würgte die Reste des Erbrochenen heraus und versuchte, Yang anzusprechen. Als ich dafür nach oben sah – voll im Arsch, irgendwo zwischen frisch gefoltert und gevögelt – sah ich noch ihre nervigen Lichterspiele rund um den Berg und oben auf dem protzigen Zentralturm. Hier unten starben Menschen wie Vieh und dort oben nahm alles seinen hochherrschaftlichen Lauf. Ich wünschte mich zurück in meinen absonderlichen Traum und wettete schon vorher darauf, dass er mir bei meinem Urteil über diesen Mondtag zustimmen würde, während ich meine ersten Worte herausbrachte und nicht einmal wusste, wie lange ich geschwiegen hatte:

»… verdammter Mist, was für ein verschissener Tag in Gor!

Er lächelte mich an und half mir auf die Beine.

»Danke Yang!«, sagte ich, während ich ihn kurz, aber heftig umarmte.

Frieden … – Schlamm, Kotze, und, wie ich peinlich entdeckte, Pisse und Scheiße waren mir einen kurzen Moment genauso egal wie der Horrortrip, in den wir gerade geraten waren; genauso schnuppe wie der Sklaven-Bullshit, den wir den Arschlöchern da oben auf dem Berg zu verdanken hatten. Diese feinen Herren saßen sicher und gechillt in ihren schäbigen Palästen, oben in Hohenherz, am Fuße ihres albernen Leuchteturms, hinter ihrem bescheuerten Feuerzauber und den zwei dicken Mauern. Wow, so übel wie ich heute drauf war, machte ich Yangs Herzlichkeit echte Konkurrenz – aber heute ist einfach: ein maximal bekackter Tag in Gor Thaunus!


Schwermütiger Lyrik-Alarm

Ich mag Nietzsche, stillistisch fast durchweg, inhaltlich in Teilen, aber die Verse an die Melancholie fühlen sich nicht nur unangenehm an, sondern sie klingen ebenso, holpern und schlingern in weiten Passagen. Ob das gewollte Formvollendung oder ungewollter Textunfall ist, bleibt offen für tiefere Analyse und läd ein zur Interpretation. Ich jedenfalls vertiefe nur, was mich zu fesseln vermag und das ist nicht Nietzsches Hymnus an die düstere Göttin des Schwermuts aus dem Jahr 1871.

Dieses schwerfällige Gedicht eines ansonsten herausragenden Formenschmieds stand im Zentrum eines der sehr rar gewordenen Gedankenanschläge des weiterhin unbekannten Text-Terroristen. Dieser scheint den Willen zum Widerstand entweder verloren oder in andere (noch) unsichtbare Bahnen gelenkt zu haben. Quanzland hat nunmehr derart brisante innen- wie außenpolitische Probleme zu meistern, da konnte der zuvor so präsente Rebell kaum noch mit öffentlichem Interesse für seine Subversionen rechnen, zumal seine Protest-Aktionen zuvor schon seltener und insgesamt unambitionierter geworden waren.

Ich bezweifle nachdrücklich, dass er mit dieser Textauswahl ernstzunehmende Leserzahlen oder gar überzeugte Anhänger gewinnen wird, gebe ihm in meiner Rolle als Multiplikator aber gerne die Chance dazu. Denn wer weiß schon, was im perversen Hirn eines Staatsfeindes Abstruses vorgeht, nachdem er eine pubilizistische Pleite nach der anderen zu verarbeiten hatte, hat und haben wird: Wird er zukünftig wieder neuen Mut schöpfen und wie erfolgreich wird er mit was zurückkehren? Hat er sich unterdessen radikalisiert und neigt deshalb erstmalig zu physischer Gewalt statt wie bisher nur zu psychischer Penetranz? Was soll das Ganze eigentlich bringen, sind das nicht vergebliche Mühen in einem Land wie unserem? Warum nicht mal was populäreres, was auch der kleine Mann verstehen kann?

Mit einer Reihe Fragezeichen zum Abschied winkend, Euer Satorius


An die Melancholie

 

Verarge mir es nicht, Melancholie,
Daß ich die Feder, dich zu preisen, spitze,
Und daß ich nicht, den Kopf gebeugt zum Knie,
Einsiedlerisch auf einem Baumstumpf sitze.

 

So sahst du oft mich, gestern noch zumal,
In heißer Sonne morgendlichem Strahle:
Begehrlich schrie der Geyer in das Thal,
Er träumt vom todten Aas auf todtem Pfahle.

 

Du irrtest, wüster Vogel, ob ich gleich
So mumienhaft auf meinem Klotze ruhte!
Du sahst das Auge nicht, das wonnenreich
Noch hin und her rollt, stolz und hochgemuthe.

 

Und wenn es nicht zu deinen Höhen schlich,
Erstorben für die fernsten Wolkenwellen,
So sank es um so tiefer, um in sich
Des Daseins Abgrund blitzend aufzuhellen.

 

So saß ich oft, in tiefer Wüstenei
Unschön gekrümmt, gleich opfernden Barbaren,
Und Deiner eingedenk, Melancholei,
Ein Büßer, ob in jugendlichen Jahren!

 

So sitzend freut‘ ich mich des Geyer-Flugs,
Des Donnerlaufs der rollenden Lawinen,
Du sprachst zu mir, unfähig Menschentrugs,
Wahrhaftig, doch mit schrecklich strengen Mienen.

 

Du herbe Göttin wilder Felsnatur,
Du Freundin liebst es nah mir zu erscheinen;
Du zeigst mir drohend dann des Geyers Spur
Und der Lawine Lust, mich zu verneinen.

 

Rings athmet zähnefletschend Mordgelüst:
Qualvolle Gier, sich Leben zu erzwingen!
Verführerisch auf starrem Felsgerüst
Sehnt sich die Blume dort nach Schmetterlingen.

 

Dies Alles bin ich – schaudernd fühl‘ ich’s nach –
Verführter Schmetterling, einsame Blume,
Der Geyer und der jähe Eisesbach,
Des Sturmes Stöhnen – alles dir zum Ruhme,

 

Du grimme Göttin, der ich tief gebückt,
Den Kopf am Knie, ein schaurig Loblied ächze,
Nur dir zum Ruhme, daß ich unverrückt
Nach Leben, Leben, Leben lechze!

 

Verarge mir es, böse Gottheit, nicht,
Daß ich mit Reimen zierlich dich umflechte.
Der zittert, dem du nahst, ein Schreckgesicht,
Der zuckt, dem du sie reichst, die böse Rechte.

 

Und zitternd stammle ich hier Lied auf Lied,
Und zucke auf in rhythmischem Gestalten:
Die Tinte fleußt, die spitze Feder sprüht –
Nun Göttin, Göttin laß mich – laß mich schalten!

 

Friedrich Nietzsche (1844 – 1900), Gimmelwald (Melnacholie), in: Fragmente 1869-1874 (Band 1 – Kapitel 15; 1871)

Papst besucht kranke Großmutter Europa

Solange der Papst katholisch ist, darf er den Mächtigen mächtig die Leviten lesen. Wenn dieser Papst sich auch noch einen Heiligen zum Namenspatron gewählt hat, der sogar für diesen eigenwilligen Menschenschlag noch Maßstäbe in Lebensführung und Radikalität gesetzt hatte, dann sind die Erwartungen des Agnostikers mit deistischen Einsprengseln generell recht hoch. Bekommt dieser sogar noch den Karlspreis für die Einheit Europas verliehen und darf deshalb eine Rede vor versammelter Politelite halten, dann freue ich mich auf ein rhetorisches Gewitter.

Das, was kam, war letztlich zwar kein Jahrhundertstrum, aber erwartungsgemäß ein fundamentale wie aktuelle Kritik am Gesundheitszustand der liebevoll sogenannten Großmutter Europa. Dementsprechend steinern waren während des 30-minütigen Vortrags die Mienen der Ärzte, Krankenpfleger und Gaffer, die für die Versorgung und Entsorgung der Patientin Verantwortung übernommen haben. Der anschließende, ausnahmslos stehende Beifall wirkte in Teilen bemüht und insbesondere dem Chefarzt der Intensivmedizin, Herrn Junker, war anfangs nicht sorecht nach Beifall zumute.

Sei es drum, ich verstehe den Mann auf metaphorischem Umweg: Denn wer lässt sich schon gerne während laufender Behandlung und zwischen den schweren Operationen von grau gewordenen Eminenzen mit verschwommenen Blick und zittrigen Händen sein Handwerk erklären. Wenn der Zustand der Patientin derart instabil ist, bisweilen das Koma und sogar der Exitus drohen, sind Grundsätze und Ideale der Medizin genauso funktional wie die Präferenzen und Bedürfnisse der Angehörigen nerven können. Fraglich ist dabei, ob dieses medizinische Bild auch nur im Ansatz taugt, um die Lage Europas sowie die Forderung nach neuem Behandlungsplan (Wirtschaftsmodell) mitsamt Erneuerung des Selbstverständnisses (Humanismus) angemessen zu verunglimpfen und unkenntlich zu machen?

Ich glaube doch und während ich deshalb hoffnugsfroh auf eine Genesung der alten Dame hinfiebere, verbleibe ich zugleich in tiefer Sorge um meine Lieblingsoma und wünsche ihr nur das Beste: ein gutes Ärzteteam, besonnene Angehörige und zukunftsweisende Behandlungsmethoden, gerne auch etwas unkonventionell und experimentell.

Ein Hoch auf Europas Gesundheit, Euer derzeit hinsichtlich Quanzland etwas schreibfauler Satorius


»Die gerechte Verteilung der Früchte der Erde und der menschlichen Arbeit ist keine bloße Philanthropie. Es ist eine moralische Pflicht« (Ansprache beim Welttreffen der Volksbewegungen, Santa Cruz de la Sierra, 9. Juli 2015). Wenn wir unsere Gesellschaft anders konzipieren wollen, müssen wir würdige und lukrative Arbeitsplätze schaffen, besonders für unsere jungen Menschen.

 

Das erfordert die Suche nach neuen Wirtschaftsmodellen, die in höherem Maße inklusiv und gerecht sind. Sie sollen nicht darauf ausgerichtet sein, nur einigen wenigen zu dienen, sondern vielmehr dem Wohl jedes Menschen und der Gesellschaft. Und das verlangt den Übergang von einer „verflüssigten“ Wirtschaft zu einer sozialen Wirtschaft. Ich denke zum Beispiel an die soziale Marktwirtschaft, zu der auch meine Vorgänger ermutigt haben (vgl. Johannes Paul II. Ansprache an den Botschafter der Bundesrepublik Deutschland, 8. November 1990). Es ist nötig, von einer Wirtschaft, die auf den Verdienst und den Profit auf der Basis von Spekulation und Darlehen auf Zinsen zielt, zu einer sozialen Wirtschaft überzugehen, die in die Menschen investiert, indem sie Arbeitsplätze und Qualifikation schafft.

 

Von einer „verflüssigten“ Wirtschaft, die dazu neigt, Korruption als Mittel zur Erzielung von Gewinnen zu begünstigen, müssen wir zu einer sozialen Wirtschaft gelangen, die den Zugang zum Land und zum Dach über dem Kopf garantiert. Und dies mittels der Arbeit als dem Umfeld, in dem die Menschen und die Gemeinschaften »viele Dimensionen des Lebens ins Spiel [bringen können]: die Kreativität, die Planung der Zukunft, die Entwicklung der Fähigkeiten, die Ausübung der Werte, die Kommunikation mit den anderen, eine Haltung der Anbetung. In der weltweiten sozialen Wirklichkeit von heute ist es daher über die begrenzten Interessen der Unternehmen und einer fragwürdigen wirtschaftlichen Rationalität hinaus notwendig, ‚dass als Priorität weiterhin das Ziel verfolgt wird, allen Zugang zur Arbeit zu verschaffen‘ (Benedikt XVI., Enzyklika Caritas in veritate (29. Juni 2009), 32: AAS 101 (2009), 666)« (Enzyklika Laudato si‘, 127).

 

Wenn wir eine menschenwürdige Zukunft anstreben wollen, wenn wir eine friedliche Zukunft für unsere Gesellschaft wünschen, können wir sie nur erreichen, indem wir auf die wahre Inklusion setzen: »die, welche die würdige, freie, kreative, beteiligte und solidarische Arbeit gibt« (Ansprache beim Welttreffen der Volksbewegungen, Santa Cruz de la Sierra, 9. Juli 2015). Dieser Übergang (von einer „verflüssigten“ zu einer sozialen Wirtschaft) vermittelt nicht nur neue Perspektiven und konkrete Gelegenheiten zur Integration und Inklusion, sondern eröffnet uns von neuem die Fähigkeit von jenem Humanismus zu träumen, dessen Wiege und Quelle Europa einst war.

 

Am Wiederaufblühen eines zwar müden, aber immer noch an Energien und Kapazitäten reichen Europas kann und soll die Kirche mitwirken. Ihre Aufgabe fällt mit ihrer Mission zusammen, der Verkündigung des Evangeliums. Diese zeigt sich heute mehr denn je vor allem dahin, dass wir dem Menschen mit seinen Verletzungen entgegenkommen, indem wir ihm die starke und zugleich schlichte Gegenwart Christi bringen, seine tröstende und ermutigende Barmherzigkeit. Gott möchte unter den Menschen wohnen, aber das kann er nur mit Männern und Frauen erreichen, die – wie einst die großen Glaubensboten des Kontinents – von ihm angerührt sind und das Evangelium leben, ohne nach etwas anderem zu suchen. Nur eine Kirche, die reich an Zeugen ist, vermag von neuem das reine Wasser des Evangeliums auf die Wurzeln Europas zu geben. Dabei ist der Weg der Christen auf die volle Gemeinschaft hin ein großes Zeichen der Zeit, aber auch ein dringendes Erfordernis, um dem Ruf des Herrn zu entsprechen, dass alle eins sein sollen (vgl. Joh 17,21).

 

Mit dem Verstand und mit dem Herz, mit Hoffnung und ohne leere Nostalgien, als Sohn, der in der Mutter Europa seine Lebens- und Glaubenswurzeln hat, träume ich von einem neuen europäischen Humanismus: »Es bedarf eines ständigen Weges der Humanisierung«, und dazu braucht es »Gedächtnis, Mut und eine gesunde menschliche Zukunftsvision« (Ansprache an den Europarat, Straßburg, 25. November 2014). Ich träume von einem jungen Europa, das fähig ist, noch Mutter zu sein: eine Mutter, die Leben hat, weil sie das Leben achtet und Hoffnung für das Leben bietet. Ich träume von einem Europa, das sich um das Kind kümmert, das dem Armen brüderlich beisteht und ebenso dem, der Aufnahme suchend kommt, weil er nichts mehr hat und um Hilfe bittet. Ich träume von einem Europa, das die Kranken und die alten Menschen anhört und ihnen Wertschätzung entgegenbringt, auf dass sie nicht zu unproduktiven Abfallgegenständen herabgesetzt werden. Ich träume von einem Europa, in dem das Migrantsein kein Verbrechen ist, sondern vielmehr eine Einladung zu einem größeren Einsatz mit der Würde der ganzen menschlichen Person. Ich träume von einem Europa, wo die jungen Menschen die reine Luft der Ehrlichkeit atmen, wo sie die Schönheit der Kultur und eines einfachen Lebens lieben, die nicht von den endlosen Bedürfnissen des Konsumismus beschmutzt ist; wo das Heiraten und der Kinderwunsch eine Verantwortung wie eine große Freude sind und kein Problem darstellen, weil es an einer hinreichend stabilen Arbeit fehlt. Ich träume von einem Europa der Familien mit einer echt wirksamen Politik, die mehr in die Gesichter als auf die Zahlen blickt und mehr auf die Geburt von Kindern als auf die Vermehrung der Güter achtet. Ich träume von einem Europa, das die Rechte des Einzelnen fördert und schützt, ohne die Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft außer Acht zu lassen. Ich träume von einem Europa, von dem man nicht sagen kann, dass sein Einsatz für die Menschenrechte an letzter Stelle seiner Visionen stand.

 

Jorge Mario Bergoglio/Papst Franziskus (1936 – ), Was ist mit dir los, Europa? (Ansprache des Papstes bei der Verleihung des Karlspreises, am 6. Mai 2016, im Vatikan)

Das-Auge-isst … geschmackvollen Auflauf

Gemüsebeet im Schichtbetrieb

Metadaten des Gerichts 

Kochniveau: 4/10  Dauer: ca. 70 Minuten  Art: Hauptgericht Kosten: Mittel

Rezept zum Ausdrucken: Gemüsebeet im Schichtbetrieb (PDF)

Zutatenliste

  • 1 mittlere Süßkartoffel (Ungefähr 300g)
  • 1 Kopf Romanesco
  • 1 rote Zwiebeln
  • 2 Blöcke Räuchertofu (Ungefähr 250g)
  • 50g getrocknete Tomaten
  • 50g Cocktailtomaten
  • 2*2*2cm Ingwer
  • 1 kleine Chili
  • 2 EL Olivenöl
  • 2 EL Erdnussbutter
  • 1 Dose stückige Tomaten
  • 1 TL Fleur de Sel (Oder schlichtes Salz)
  • 1 TL schwarzer Pfeffer
  • 2 Zehen Knoblauch
  • 5 EL kernige Haferflocken
  • 1 Prise Zucker
  • 100g Reibekäse (In meinem Fall Edamer, Tilsiter und Mozzarella, aber hier kann wild variiert werden)
  • 1 Hand frischer Basilikum

Praxis-Anleitung

  1. Als erstes den Kopf Romanesco waschen und in seine einzelnen Röschen filetieren. Diese daraufhin für 10 Minuten in kochendem Salzwasser vorgaren und beiseite Stellen.
  2. Währenddessen zur weiteren Vorbereitung Süßkartoffel, Zwiebel, Knoblauch und Ingwer schälen. Die Kartoffel in ca. 1cm dicke, möglichst eckige und flache Stücke schneiden. Die Zwiebel in grobe Ringe zerteilen und Knoblauch, Chili (Wer Schärfe reduzieren/vermeiden will, entfernt hierbei die Kerne teilweise oder ganz, wobei aber vor allem die Chilisorte den Schärfegrad bestimmt) sowie Ingwer fein hacken. Den Tofu in mundgerechte 1cm-Würfel zerlegen.
  3. Für den Kern des späteren Auflaufs wird nun ein Tofu-Curry zubereitet:

    • Das Olivenöl in einer beschichteten Pfanne erhitzen und die Tofuwürfel zusammen mit Ingwer, Knoblauch und Chili scharf anbraten, dabei pfannenrühren bis der Tofu Bräune entwickelt hat.
    • Dann zunächst die Erdnussbutter hinzugeben und schmelzen lassen, um anschließend mit den stückigen Tomaten abzulöschen.
    • Noch den Zucker sowie je die Hälfte von Salz und Pfeffer einrühren und daraufhin noch 5 Minuten bei niedriger Hitze köcheln lassen.
  4. Für den Auflauf nun den Backofen auf 180° vorheizen und eine große flache Auflaufform mit etwas Olivenöl einfetten. Darin als erste Schicht mit den Süßkartoffel-Stücken den Boden möglichst dicht belegen und mit Haferflocken bestreuen. Darüber wird als zweites das Tofu-Curry flächig verteilt. Die dritte Ebene besteht aus den Romanesco-Röschen, den gewaschenen Cocktailtomaten und den nur grob gehackten, getrockneten Tomaten, die gleichmäßig in das Curry gebettet werden. Zuletzt den Auflauf mit der zweiten Hälfte von Salz und Pfeffer würzen, die Zwiebelringe darüberstreuen und mit dem Reibekäse abdecken.
  5. Im Backofen anfangs 15 Minuten bei 180° garen und schließlich noch 5 Minuten auf 250° hochdrehen und dadurch kross backen. Hierbei die Eigenarten des individuellen Backofens wegen der Verbrennungsgefahr beherzigen und am besten gleich zuschauen.
  6. Vor oder beim Servieren zum Abschluss noch mit den frischen Basilikumblättern garnieren.

Testsieger im Praxistest: Das „Rheinische Grundgesetz“

Artikel 1: Et es wie et es.
(„Es ist, wie es ist.“)
Sieh den Tatsachen ins Auge, du kannst eh nichts ändern.

 

Artikel 2: Et kütt wie et kütt.
(„Es kommt, wie es kommt.“)
Füge dich in das Unabwendbare; du kannst ohnehin nichts am Lauf der Dinge ändern.

 

Artikel 3: Et hätt noch emmer joot jejange.
(„Es ist bisher noch immer gut gegangen.“)
Was gestern gut gegangen ist, wird auch morgen funktionieren.
Situationsabhängig auch: Wir wissen es ist Murks, aber es wird schon gut gehen.

 

Artikel 4: Wat fott es, es fott.
(„Was fort ist, ist fort.“)
Jammer den Dingen nicht nach und trauer nicht um längst vergessene Dinge.

 

Artikel 5: Et bliev nix wie et wor.
(„Es bleibt nichts wie es war.“)
Sei offen für Neuerungen.

 

Artikel 6: Kenne mer nit, bruche mer nit, fott domet.
(„Kennen wir nicht, brauchen wir nicht, fort damit.“)
Sei kritisch, wenn Neuerungen überhandnehmen.

 

Artikel 7: Wat wells de maache?
(„Was willst du machen?“)
Füg dich in dein Schicksal.

 

Artikel 8: Maach et joot, ävver nit zo off.
(„Mach es gut, aber nicht zu oft.“)
Qualität über Quantität.

 

Artikel 9: Wat soll dä Kwatsch/Käu?
(„Was soll das sinnlose Gerede?“)
Stell immer die Universalfrage.

 

Artikel 10: Drinks de ejne met?
(„Trinkst du einen mit?“)
Komm dem Gebot der Gastfreundschaft nach.

 

Artikel 11: Do laachs de disch kapott.
(„Da lachst du dich kaputt.“)
Bewahr dir eine gesunde Einstellung zum Humor.

 

Intelligenz des Rheinlands & Konrad Beikircher (Hrsg.), Et kütt wie et kütt – Das Rheinische Grundgesetz (2001)


 

Die Quintessenz rheinischer Lebenskunst in nur elf gröllbaren Aphorismen verpackt, und zwar so, dass sie jeder verstehen, jeder anwenden, jeder anerkennen kann. Eine Edelprodukt unter den elaborierten Lebenskünsten, aber nur eines unter vielen, unendlich, unsagbar vielen. Deshalb habe ich über ein Jahrzehnt hinweg unablässig – damit immerhin einen Bruchteil – getestet und bewerte vor diesem Hintergrund das heutige Text-Fast-Food als bodenständige Alternative aus Köln. Doch wer sind die Mitbewerber im immens-intransparenten Praxistest der Lebenskünste, mit Schwerpunkt auf den Gütekriterien: Beliebtheit, Wirksamkeit und Zugänglichkeit?

Natürlich, die Philosophen, wären Paradebeispiele sprachlich elitärer, bisweilen hermetisch daherbrabbelnder Akteure im öffentlichen Diskursraum (womit in der These zugleich ein Beleg der These geliefert werden soll – quasi: ironisch-performative Konfession). Von soviel Wirksamkeit, wie diese schlichten und schönen Sinnsprüche im Alltag zu entfalten vermögen, kann sich so manches (praktische) Philosophem eine dicke Scheibe davon abschneiden. Eine Kritik, die nur insoweit zulässig ist, wie Philosophie mehr sein soll als bloße Wissenschaft, und dieser Mehrwert zudem in einer die Wirklichkeit verändernden Art ein exklusives Kriterium haben darf. Die Wirklichkeit zu verändern, heißt explizit nicht nur: politisch zu sein, sondern anschlussfähig zu sein, verständlich, zugänglich, (be-)greifbar und genießbar gleichermaßen. In dieser Hinsicht sind die elf „Rheinischen Grundgesetze“ vorbildlich, denn schon ein Erstklässler, wenn nicht ein Kindergartenkind könnte sie lernen. Sie schaffen es sogar als Dekor auf Frühstücksbrettchen und wer hier assoziativ an die „10 Gebote“ als Referenzprodukt denkt, weit gefehlt, die rangieren recht weit hinter unserem heutigen Testkandidaten und können höchstens in punkto Merkbarkeit konkurrieren. Die Ratschläge habe jedenfalls dazu getaugt, im Alltag weit weniger Stress zu empfinden, mehr Entspannung, Freude und Ausgewogenheit zu gewinnen und nicht zuletzt eines zu werden: ein bodenständiger Lebenskünstler, der sich von diesem Fundament aus nach allen Richtungen umsehen darf und sollte. Keine dicken alten Wälzer lesen, sondern einfach bei einem Kölsch praktisch umsetzen, was sich in Kürze hat erfassen lassen.

Inhaltlich kann ich die empfehlungen kaum kürzer wiedergeben, sehe mich aber zum Versuch genötigt: Die Welt so dulden, wie sie ist, nicht wie sie gefälligst sein sollte und sie stattdessen aus der Ruhe heiterer Gelassenheit heraus Stück für Stück umzubauen, zu erhalten, aber gleichsam zu erneuern, das lehrt die Weisheit des Rheinlands. (Wer acht Jahrhunderte hindurch unermüdlich an seinem Dom baut, weiß was Erbe, Geschichte und Zukunft verbindet.) Was das Leben einem zukommen lässt, ist demütig anzunehmen; jeder (Waren-)Fetischismus (Stichwort: Anhaftungen) sollte vermieden werden und der Nächste, dein Mitmensch, der Andere ist willkommen zu heißen, gerne und unter großzügiger, aber maßvoller Aufwendung des Eigentums. (Ob da nicht eine Portion gelebtes Christentum Einfluss genommen hat?) Schließlich geht es letztlich um das konsequent gelebte, gute (positive) Leben.

Die nebensächlichen wie polemischen Spitzen aus dem thematischen Hinterhalt gegen die anspruchsvolle Lebensweisheit aus den Akademien und Kirchen seien mir vergönnt, zumal sie mich passagenweise sicher höchstselbst betriffen und damit ins eigene Fleisch schneiden – na, wer weiß noch was Subjekt hinter all der rhetorischen Spinnerei der letzten Absätze geblieben ist? So ungefähr genau das: Die Vorzüge des einfachen Volksweisheit gegenüber den nicht explizit erwähnten, wortreichen Bedeutungsungetümen, eine Gattung an Lebenskunstprodukt, wie es Philosophen, andere Geisteswissenschaftler und neuerdings allerlei Coaches hervorbringen. Das Verschwinden des Sinns hinter sprachlichen Spielereien, gleichzeitig die Absage an die Wirksamkeit des betroffenen Werks, sind nur zwei Gefahren solcher Machwerke. Nicht so bei den Sprachspielen, die zweifelsohne mehr zu beigeistern vermögen, populärer und beliebter sind. Sie kleiden das Gute und möglicherweise Wahre in das Schöne, ehren damit nicht nur Platon, sondern sind effektiv und effizienter als die meisten Mitbewerber aus den Bereichen Philosophie, Religion und Esoterik, im eigentlichen wie uneigentlichen Wortsinn. Da ich also intellektuellem Populismus entschieden zustimme, befürworte ich ebenso entscheiden, Volkweisheit, altes Wissen und Straßenschläue mit  zeitgenössischen Formen der Erzählung, zu denen der Diskurs der Wissenschaften an hervorragender Stelle gehört, kreativ zu verschmelzen. Dabei wären in philosophischer Hinsicht Neubearbeitungen skurrilster Natur möglich: MC Emmanuel Levinas feat. DJ Derrida Ethik des Anderen unplugged & deconstructed gesungen als Meisterlied oder DDFD – Die drei fröhlichen Diskursethiker als Hörspielserie mit den drei Professoren in spe Apel, Habermas und Nietzsche, Hegels Anerkennunglehre zum Einschlafen als Kinderreim zum dialektischen müdedenken, nicht zuletzt Klassiker wie Nikomachische Diäthik für Bauch, Beine und Bewusstsein oder Staat, Höhlengleichnis und Ideenlehre für Primaten oder Dummies.

Vom essayistischen Abweg zurück zum Kern des Textes, dem Test der Lebenskunstregeln aus dem Rheinland in 11 kompakten Artikeln. Dass die jecken Regeln sich gegen das Top10-Diktat verwehren und als Primzahl daherkommen, bringt weitere Pluspunkte, weißt sie zudem als das aus, was sie gerechterweise sind: natürliche, also krumm und schief gewachsene und daher in sich widersprüchliche, wilde Unkräuter des Geistes. Heilsam trotzdem und allemal unglaublich echt, aus dem Leben für das Leben, gemacht, um gemacht zu werden. Ich jedenfalls empfinde diese knappen Weisheiten seit einigen Jahren als wertvolle Begleiter, in einer Welt, wie der unseren, in einem Alltag wie dem meinen. Ihrer Befolgung erspart negative Gedanken und Erfahrungen, stiftet gleichzeitig positive Bezüge zu sich und der Welt um sich herum. Man regt sich weniger auf und freut sich stattdessen mehr. Konflikte werden an allen Fronten vermieden und das Bewusstsein durch eine Erdung am Wesentlichen beruhigt. Probiert es am besten selbst einfach mal ein paar Wochen aus und lasst Euch in passenden Situationen – und glaubt mir, die gibt es bei den hintersinnig universellen Regeln zuhauf – von der dazu passenden Regel leiten.

Kurz abschließend möchte ich jedoch nicht verhehlen, dass dem („rheinischen“) Grundgesetz allem Loblied zum Trotz etwas politisch Gefährliches anhaftet, ein fatalistischer, opportunistischer und populisitscher Beigeschmack ist nicht zu leugnen. Holt man dieses Manko jedoch reflexiv ein und überholt es damit lebenspraktisch, steht dem vollen Lebenskunstgenuss nichts im Wege. Nur so ernstgenommen, wie das eine denkbare 12. Grundregel „Artikel 12: Regeln sind Regeln, das Leben was ganz anderes“ (Für eine angemessene Übersetzung ins Kölsche, bin ich ein dankbarer Abnehmer – mein Stichwort für Euch lautet deshalb: Kommentarfunktion) begrenzen könnte, überwiegen die lebenspraktischen Vorteile und wer ist dieser Tage schon politisch, also mal ehrlich, sodass ich zu einem klaren Testurteil komme: Der Vorsprung reicht bei diesem unfair einseitigen Testzuschnitt klar für Testsieger, das rheinische Grundgesetz! Also weg mit der Theorie, der Kohärenz, der Objektivität, all der Differenziertheit und den altbackenen Idealen von Ausführlichkeit, Allgemeinheit und Argument, wie sie Religion, Philosophie und Co. so von sich und anderen fordern, und ran an den Parxis der rheinischen Lebenskunst. Einfach mal vier Wochen in den vier Wänden der eigenen Existenz ausprobieren, es lohnt sich – versprochen.

Reumütig und Besserung gelobend verabscheidet sich nach einmonatiger Abwesenheit, Euer Satorius

Terroristenversteher oder Verschwörungstheoretiker?

Leere Drohungen an der »roten Linie«

 

Die syrische Tragödie unterscheidet sich grundsätzlich von den anderen Tumulten der Arabellion. Das Wort Arabischer Frühling mag man schon gar nicht mehr hören. In Tunesien war es tatsächlich zu einer spontanen Explosion gegen das Zwangsregime Ben Alis gekommen. In Kairo konnte man allenfalls – im Hintergrund der freiheitlichen Tahrir-Revolution – die geheime Manipulation der Mukhabarat [~Nachrichtendienst; D.Q.], der Geheimdienste und vor allem der Armee vermuten. In Libyen waren die USA recht zögerlich zur Hilfestellung für die dortigen Thuwar [~Rebellen; D.Q.] angetreten. In Benghazi, wo angeblich das Volk sich erhoben hatte, um Demokratie und Meinungsfreiheit zu fordern, galt es zu verhindern, daß die wenig zimperliche Streitmacht Qadhafis in der Cyrenaika ein grausames Gemetzel veranstaltete.

 

In Syrien lagen die Dinge ganz anders. Die USA – im Verbund mit Saudi-Arabien und Israel – hatten nicht die ersten Protestdemonstrationen von Deraa gegen die Diktatur Bashar el-Assads und seiner alawitisch dominierten Baath-Partei abgewartet, um die Grundlagen des Staates zu unterwühlen. Schon lange vorher hatte eine hemmungslose Kampagne, eine systematische Hetze in den amerikanischen und europäischen Medien gegen diese Arabische Republik eingesetzt, die – bei aller Brutalität, die auch sie zu praktizieren pflegt – das einzige säkulare Staatswesen im gesamten arabischen Raum darstellt. Verglichen mit den Vorzugsverbündeten des Westens – seien es nun Saudi-Arabien, Qatar, die Vereinigten Emirate oder Kuwait –, bot die Hauptstadt Damaskus ein Bild religiöser Toleranz und eines fast westlichen Lebensstils, seit Bashar el-Assad das Erbe seines unerbittlichen Vaters Hafez el-Assad angetreten hatte.

 

Irgendwo, an geheimen Kommandostellen, in diskreten Fabriken der Desinformation, die von angelsächsischen Meinungsmanipulatoren meisterhaft bedient wurden, war die Losung ausgegangen, daß Syrien sich den amerikanischen Vorstellungen einer trügerischen Neuordnung im Nahen und Mittleren Osten zu unterwerfen habe. Bei einer Medienveranstaltung der ARD in Berlin erwähnte ich diese allumfassende propagandistische Irreführung der breiten Öffentlichkeit, der sich – in Deutschland zumal – weder die linksliberalen noch die erzkonservativen Printmedien und Fernsehsender zu entziehen wußten. Der frühere Intendant des WDR, Fritz Pleitgen, und der arabische Journalist Suliman, der sein Amt als Korrespondent der TV-Station von Qatar, El Jazeera, quittiert hatte, weil er dessen Nachrichtenverfälschung nicht mehr ertrug, stimmten mir spontan zu. Die subtile, perfide Unterwanderung und Täuschung globalen Ausmaßes, denen die Medien ausgeliefert sind, bedarf einer ebenso schonungslosen Aufdeckung wie die hemmungslose Überwachungstätigkeit der National Security Agency. Gerüchteweise hatte ich vernommen, daß sich in North Carolina eine solche Zentrale der gezielten Fälschung befände, was die Existenz ähnlicher Institute in den USA, in Großbritannien und in Israel keineswegs ausschließt.

 

Peter Scholl-Latour (1924 – 2014), Der Fluch der bösen Tat. Das Scheitern des Westens im Orient: S. 158 (2014)


In Erinnerung an einen kürzlich verstorbenen großen Förderer des interkulturellen, kritischen Verständnisses und ohne diesbezüglich, wie überhaupt pietätlos sein zu wollen, muss der Artikel so beginnen:

Jaaah er lebt noch, ja er lebt noch, wer hätt‘ das noch gedacht … – der ideologische Unruhestifter [D.Q. nennt er sich weiterhin ominös verkürzt; Anmerkung der Metatext-Redaktion] aus den frühen Tagen dieser digitalen Welt hat dieser Tage zu medialer Wirksamkeit zurückgefunden. Er war seit geraumer Zeit nicht mehr so präsent wie noch zuvor, was aber einerseits an der intellektuellen wie redaktionellen Konjunktur beim Text-Fast-Food – ziemliche Depression dieser Tage – sowie andererseits darin begründet liegt, dass ich und auch große Teile der quanzländischen Öffentlichkeit, die Metatext-Redaktion inklusive, seiner überdrüssig geworden sind. Im Effekt schenken wir ihm also kaum noch nennenswerte Aufmerksamkeit geschweige denn Öffentlichkeit, zumal die Bonus-Kampagne des Wächterates und der Regierung ein großer Erfolg war. Gehetzt von ökonomisch zusätzlich motivierten Bürgern – böse Zungen würden schlichter sagen: gierigen Denunzianten – und von den Medien totgeschwiegen fristet der Text-Terrorist ein tristes Dasein im Dunklen und traut sich nur noch gelegentlich heraus aus seiner Terrorklause.

Kürzlich war es Mal wieder soweit: Mit zwei groß angelegten Flugblatt-Aktionen [»Terroristische Anschläge« im offiziellen Sprachgebrauch, deren zwei Original-Texte, von uns für Sie methodisch sauber transkribiert, ober- und unterhalb zu finden sind – gewesen sind und gewesen sein werden, für Tempus-Fans; Anmerkung der Metatext-Redaktion] wies er auf eklatante Verwirrung in der Außenpolitik und den darüber berichtenden Medien hin. Mit vielen Worten, aber ohne eigene Stellungnahme, die über die bloße Auswahl an Zitaten und deren Montage hinausginge, hat er sich mit den zwei angezapften Quellen wieder zurück in die Debatte gebracht. Dass er auch in seinen neuerlichen Text-Bomben konsequent auf inländische Medien und Autoren verzichtet, also nur solche aus wirklichen Staaten benutzt, werte ich an sich bereits als starkes Statement gegen die mediale Vereinnahmung durch ausländische Meinungsfabrikanten und -spekulanten. Hier in den zwei thematisch verschränkten Auszügen wird dieser medienkritische Ansatz (leit-)motivisch explizit ausgesprochen, tritt aber hinter die politisch so wichtige, beinahe metaphysisch übersteigerte Frage zurück: Wer ist hier eigentlich der Terrorist – … (IS)IS, Al-Qaida, Hisbollah, Al-Nusra, da ist man sich sicher, … Kim Jong-un, Orban, Assad, die kern-arabischen Herrscherdynastien, klar oder waren das bloß Diktatoren … mittlerweile womöglich Putin oder Erdogan, große Teile Afrikas gewiss, meint man zu wissen, soweit gehen die Meisten wohl auch noch mit … wer aber bietet mehr, Xi, Obama, Merkel vielleicht? Hohe Wettquoten garantiert!

Auch mir geht es heute um die Ziehung einer Roten Linie, wenn auch mit verbale milderen Mitteln als einer ernstlichen Drohung. Wenn ich beim Herangehen an Historie und Zeitgeschichte, wie es die Textanlässe herausfordern, die Wahl habe, entweder als »Terroristenversteher« oder als »Verschwörungstheoretiker« beschimpft zu werden, – und die habe ich genau jetzt in diesem Moment, denn schweigend »Ja und Amen« zu sagen, kommt nicht in Frage – dann ist meine Antwort klar und eindeutig: Ich wähle den Weg verwerflichen Verstehenwollens gegenüber Terroristen und genauer noch terroristischen Regimen und ihren Präsidenten im Besonderen. Damit erteile ich dem epistemischen Wahnsinn der Verschwörungstheorie nach dem Gusto: Sie gegen die Wahrheit eine Absage – keine Lügenpresse, kein Komplott der Mächtigen, das Kapital, die Juden, die Illuminaten oder sonst ein monistisch-okkulter Firlefanz, der seinerseits die intellektuellen Unkräuter Allgemeinplatz und Dogma zu neuer Blüte bringt.

Terror ist real! Weltgeschehen ist plural. Ereignisse sind komplex und lassen sich nicht ein- oder zwei-, auch selten dreidimensional vereinfachen. Internationale Politk und multinationaler Konflikt sind nicht nur ein Bühnenspiel von bestenfalls einer Handvoll mächtiger Puppenspielern. Diese lenken des Weiteren die Medienwelt nicht derart durchdringend, dass konventionelle Informationsquellen per se unglaubhaft sind. Schluss damit, Kinder der Kritik! Das mit den wahren, wirklichen oder echten Verschwörungen, die im ganz großen, globalen Maßstab die Welt (v)erklären, ist ein, wenn nicht der moderne Modus mythischer Welterklärung; sogar (noch) primitiver als bei den ordentlichen (Welt-)Religionen, möchte ich fast spotten, wage mich aber nicht. All diese leider zu häufig mit allzu viel Gewissheit gesegneten Perspektiven auf unsere schöne alte Welt haben ihre Wunder, ihre Zeichen der Offenbarung, so auch hier. Die Verschwörungstheorie beruht prosaischer gesprochen auf Indizien und entbehrt sogar nicht gänzlich der kalten Logik, nur an der Dialektik mangelt es ihr gewaltig. Wie häufig am eigenen Geist erlebt, landen falsch dargestellte Nachrichten oder schlecht manipulierten Meldungen, Widersprüche und Lügen allenthalben in unserem medialen Buffet. Erst entdeckt, laden sie verführerisch grinsend zum Zweifeln ein; das zu Recht allerdings, denn Propaganda ist zeitgenössisch so real wie global. Aber, und das ist der springende Punkt, die Desinformation und Machtverteilung auf der Welt ist unendlich komplexer und viel dynamischer als jedes im Grunde ziemlich starre und widerwärtig kritikresistente Wahngebilde namens »XY-Wahrheit über Z,A,B bis n« [Satorius meint damit wohl weiterhin nur die schwersten Kaliber der Verschwörungstheorie, wie Holocaustleugner, Hohlweltler und Konsorten, glauben sie ruhig weiter an den Weihnachtsmann, Nessie, Big Foot und Co. oder an Ufo’s (tut der werte Autor übrigens unterstellter Weise); Anmerkung der Metatext-Redaktion]. Soviel plakativ und kurz zur These, die nur so aussieht, als wäre sie selbst der Glaubensgrundsatz eines totalen, kugelrund geschlossenen Weltbilds, das ähnlich immun gegenüber Kritik, nur eben auf anderer Ebene daherkommt. Überheblich buchstäblich, aber komplett ausgebreitet – keine Angst das passiert hier und jetzt nicht – erschiene es jedoch so offen und radikal, wie nur denkbar, dabei weder ein Relativismus, noch Nihilismus, noch (»Neuer«) Realismus oder gar Empirismus, schon gar nicht Spiritismus, Poly- oder Monotheimus. Ich würde ein Hohelied singen auf ein pures Zwischen, dessen Kraft zum Sprengstoff für Semantik, Syntax und Grammatik taugt. Versprochen ist versprochen – also: Schluss!

Oder ich kompensiere das Lechzen nach Gedankenranken anderweitig, umwegig auf ein scheinbar anderes Ziel hingleitend. Ja, nach so vielen anturnenden Ismen folgt jetzt unweigerlich ein Quickie wilder wie wahllos willenloser Philosophie, nur ein paar wenige Absätze, in denen ich eine Kritik eindeutiger Welterklärung vom Stapel lassen möchte. Es wird eventuell textuell passenweise hart, aber immerhin nur eine Handvoll Absätze und die nur mit gutem argumentativem Zweck, das sei vorab abermals versichert.

Es gibt seit Äonen Myriaden möglicher Einzelphänomene in unserer gemeinsamen Welt. Da draußen waren, werden sein und vor allem sind unendliche viele wahrnehmbare und kommunizierbare Sachverhalte, Dinge und Ideen. Jeder von uns bekommt davon in einer unendlich kleinen Gegenwart und den anschließenden Rückbezügen nur wenige davon wirklich selbst mit. So nimmt jeder aus seiner raumzeitlichen und subjektiver Perspektive anderes anders wahr und selten teilt somit eine größere Gruppe einen Phänomenhorizont, womit eine Menge an synchron erlebten Phänomenen gemeint sind, die streng ausgelegt in möglichst analoger, kohärenter Relation zu den beteiligten Subjekten stehen sollten.

Damit schnell weg von der Außenwelt, gehen wir endlich nach innen: Wie die vielen Individuen die wenigen gemeinsamen Erfahrungen mit den geteilten Bruchstücken der Außenwelt dann jeweils beurteilen, macht die Sache erst so richtig vertrackt, ganz zu schweigen von den unmöglichen Zumutungen der fundamentalten Sprachlichkeit ihres Austauschs, über ihre Erfahrungen, Meinungen, Urteile, sowie, wenn vorhanden, über ihren grundsätzlichen Glauben, ihr Weltbild. Ihre Bildung, ihre Biografie, eines jeden Biologie und noch einige Faktoren, die sich nicht so schön alliterieren lassen, sorgen kraftvoll dafür, dass eine kaum vergleichbarer Phänomenhorizont, wenn er Wahrnehmung und Bewusstseinsinhalt geworden, noch unvergleichlicher, schier unendlich individuell geworden ist.

Dann kommt zum Glück der Diskurs, das Gespräch aller mit allen. Innenwelt und Innenwelt kommen über die Außenwelt und auf sich selbst zu Sprechen. Durch sprachliche Darstellung formen Personen und Gruppen aus dem wirren Chaos da draußen einen schön miteinander verbundenen Bewusstseins-Text, der vielfältig teilbar ist. Dabei sind Meinung und Überzeugung möglich, auch wenn man nicht dabei war, auch wenn man nicht identisch ist mit dem oder den ersten Bedenkern des originalen Phänomenkomplexes. Soweit, so abstrakt – man nehme also einen Korb voll Einzelphänomene, einen Bund Subjektivität, einen guten Doppel-Schlag Kognition/Reflexion, garniere alles mit Glauben, Liebe, Hoffnung und vergesse zuletzt nicht eine Prise Zufall, schon hat man den Salat. Das ist unglaublich toll, macht enormen Spaß und schafft bestenfalls am Ende große Kulturgüter, aber dadurch wird dennoch nicht alles das real, was wir uns dabei so vorstellen und worüber wir sprechen wollen und können. Ich denke also bin ich, aber was ich denke, ist nicht zugleich die Welt, es bleibt meine Welt. Ontologische Differenz, nennt diesen Graben zwischen Essenz und Existenz manch ein Philosoph.

Differenzen lauern also überall. Auch lassen sich zwischen den diversen Aussagen über die Welt enorme Unterschiede hinsichtlich Qualität, Angemessenheit, Anspruch attestieren. Wie operationalisierbar eine solche Messung sein kann oder wer überhaupt wen messen darf, ist mir hierbei herzlich egal; mir geht es lediglich darum, dass neben aller fundamentalen Skepsis ein lernfähiger Maßstab des Denkens vorstellbar bleiben muss. Ohne einen solchen bleibt jedes Denken hilflos, jedoch kommt es auf die Art des Maßstabes und die Weise des Maßnehmens an. Hierin, so viel sei zusammengefasst und zugleich angedeutet, liegt der überschriftenfähige Unterschied zwischen »Verschwörungstheoretikern« (Dogmatiker, Positivisten und Mon(-othe-)isten frecherweise inklusive) und »Terroristenverstehern«: Auf der gemeinsamen Basis einer kritisch hinterfragten Außenwelt findet eine unterschiedliche Auseinandersetzung mit der Innenwelt statt.

Bei einer an unendlich grenzenden Fülle an Phänomenen, wissend, dass das Kaleidoskop des Bewusstseins in der Zeit ein verschwindendes Quantum davon herausbricht und eigenwillig neu verbindet, braucht man schon ganz schön viel Glauben, um eine Erklärung, ein Modell, eine Meinung für einzig alleine wahr zu halten. In einer technisch-modernen Welt massen- und multimedial verschränkter globaler Wissennetze wird dieser Zustand praktisch erst richtig komplex, wo er doch schon metaphysisch und epistemisch prekär ist. All die groben und feinen Unterschiede verwischen dadurch noch weiter, die Grenzen zwischen den Kategorien bröckeln, die Zäune um die Worte halten nicht mehr stand, kaum noch kann klar getrennt werden, es vermischt sich konfus zwischen Wissen, Fiktion und Information. Die Literatur und ihr Modus der erzählerischen Fiktion; der Journalismus in all seinen Schattierungen und Abarten, seinerseits zwischen Literatur und faktisch-hartem Sachtext, schwankend, grob mittig situiert und im Umgang mit Weltbezug und Erfahrungswert schon auf diese verpflichtet, insgesamt idealerweise informierend; nicht geadelt wie zuletzt die heiligen Hallen der Wissenschaft, wo drei der edleren Kinder der Wahrheit, Erkenntnis, Objektivität und Evidenz, ihr Exil auf Erden gefunden haben. Aber trotzdem, es bleibt dabei, ist das berechtigte Zweifeln keine Legitimation für generellen, überall und nirgendwo Verschwörung witternden Aber-Glauben, der letztlich an Relativismus und Nihilismus gleichermaßen grenzt, der sich schlimmer und plumper noch als die im Vergleich komplexen wie traditionsreicheren Religionen am menschlichen Bewusstsein versündigt. Positive Simplifizierung, das ist die Anklage, die ich feierlich erhebe. Mit Glück teilt ein mit (Un-)Glauben überfüllter Geist wenigstens binär, beispielsweise zwischen wahr und falsch, gut und böse, faktisch und fantastisch, aber auch Dinge wie ich und du, wir und sie, Freund und Feind; damit sind immerhin verblüffende 50% vs. 50% der Welt differenziert worden – Glückwunsch!

Ontologisch unterkomplex und -determiniert, alles in allem ungenügend bis unbefriedigend, schließe ich fremd- wie selbstkritisch urteilend den philosophischen Anfall beinahe wieder ab. Wer glaubt sich selbst, irgendetwas wirklich restlos verstanden zu haben? Ein paar Wissensgebiete, ein paar Hobbys und natürlich der Beruf, dabei kommt Ottonormalbürger unter 10% Differenzierung bzw. 90% Verständnis, wie ein freimütiger Onto-Epistemologe mathematisch-allegorisch zu überschlagen wagt. Mal ehrlich, mehr als 25%=1/4 Begriffstunterscheidungen in einem beliebigen Phänomenbereich oder an guten Tagen in lichten Momenten dort und natürlich bei Steckenpferden 12,5%=1/8 Differenzierung trau ich mir selbst nicht zu – aber etwas mehr als so manche (Welt-)Religion das in vielen Lebensbereichen tut, habe ich und haben wir damit immerhin schon mal geschafft. Bevor ich, in spiegelnder Wasseroberfläche mich verlierend, den roten Faden, an dem der Textgegenstand angebunden sein sollte, verliere: Husch, husch zurück zum Argumentationsgang.

Statischtisch betrachtet, soviel dient hier wirklich die Mathematik als Zugang, werden solche Existenzerklärungsmodelle an Genauigkeit und Fehlertoleranz nur von reinem Wahnsinn (0%=0 und 100%=1) über- oder unterboten – was jeweils perspektivisch gefällt, denn Wahnsinn hat auch so seine Potenziale. Ich jedenfalls weiß nicht, Gott bewahre, allerdings glaube ich zum Teufel noch mal, dass die Welt (noch) nicht so leicht zu kontrollieren ist, wie das die typischen Verschwörungstheorien impliziert. Nur in der Literatur funktioniert das so schön und reibungslos, das nennt sich Plot, Story oder Handlung. Solchermaßen glatt, genial und gleichförmig wie die pyramidalen Machtstrukturen der Welterklärung aufgebaut sind, die Verschwörungstheorie und Monotheismen gleichermaßen gerne für sich und ihre Anhänger konstruieren, ist die Welt nicht, geschieht der Leben nicht. Mit solchen kontrastreichen, schönen Weltbildern schützt sich der selbstverliebte und ängstliche Geist vor der Entropie dort draußen in der Wildnis der Existenz, wo sich Sein und Werden mischen. Letztlich sind alle Weltsichten die Innen- und Außenwelt, respektive die in Frage stehenden Phänomenmengen der Welt auf weniger als 33%=1/3 Begriffe hin unterscheiden und diese allseitig anerkennen, dubios. Sie sind eine einfache und bequeme epistemische Option oder lustiger formuliert, eine Wette auf die Wahrheit der eigenen Sache. Alles oder Nichts! Sinn und Bedeutung sind möglich, das muss ich abermals betonen, sonst missversteht man mich am Ende noch falsch. Wäre dem nicht so, was wollte ich sagen außer: nein, aber, nicht, kein, zu wenig? Abstrakt und philosophisch zusammenfassend ausgedrückt gilt es, ohne ungebührliche (>33%=Begriffsdifferenzierung der Phänomenmenge) Vereinfachung die Vieldimensionalität der Existenz (Sein+Werden+Bewusstsein) anzuerkennen.

Damit kehre ich ausdrücklich zurück auf den konkreten Gegenstand, den ich am Ende des roten Fadens soeben hinter dem philosophischen Bombast wiederentdeckt habe. Nun löse ich endgültig das zuvor nach der nun wohl erwiesenermaßen berechtigten  Warnung gegebene Versprechen wirklich ein und beende den notwendigen Exkurs wider die Einfältigkeit.

Ich behaupte anschaulich und gelegentlich aus dramaturgischen Gründen etwas derb: Es sind so verdammt viele unterschiedliche Akteure mit verflucht vielen unterschiedlichen Interessen im Spiel um Welt involviert, dass hier einfache Wahrheiten pures Gift für den Geist sind. Die Weltpolitik im medialen Zerrspiegel erblicken zu wollen und zu können, ohne Verschwörungstheorien zu erliegen, ist Bürgerpflicht. Auf die Masse an poltischen Wettkämpfern kommen immer mehr Bürger, die aufpassen könnten, auch wenn letztlich die großen Wettbüros allesamt gleichermaßen über den Tisch ziehen. Zudem treten sie alle in unterschiedlichsten Disziplinen auf wechselndem Spielplatz gegen- und miteinander an. Es gibt stärkere und schwächere Kontrahenten, das zwar, aber weder klare Regeln, noch genug effektive Schiedsrichter, nicht einmal der Einsatz und der Gewinn sind kalkulierbare Größen. Bei solchen nur vagen Voraussetzungen wage ich für meinen Teil keine Wette mit dem gefühlten Einsatz von Leben und Seelenheil, selbst wenn Recht, Gott und Wahrheit als Hauptpreise locken.

Schließlich schließt sich der Bogen zum Beginn und zum rahmende Text-Fast-Food mit einem langen und breiten Umweg über meine wildphilosophische Weigerung, mich als »Verschwörungstheoretiker« beschimpfen lassen zu wollen. Stattdessen habe ich den Weg des »Terroristenverstehers« gewählt. Der bisher verschwiegene und laue dritte Weg, der über die breit ausgetretenen Pfade politischer Korrektheit, bequemer Naivität und purer Ignoranz führt, stand für mich außer Frage. Er behagte mir trotz entgangener Lockungen wie kumpelhaftes Schulterklopfen, gütiges Kopfnicken und Unmengen Likes noch nie und nicht im Geringsten.

Also führt die Route auf den steinigen Rundkurs des Verstehenwollen ohne Hoffnung auf absolutes Verständnis, dabei hin und her, vom Sender zum Empfänger und wieder zurück, immer mit Rückblick auf die Strukturen der beteiligten (Mutter-)Sprachen, getragen von Respekt, Offenheit und Neugierde. Solche (Dis-)Kurse führen notgedrungen auf die Aussagen des anderen, verpflichten sich auf aktives Zuhören und eine Auseinandersetzung mit dem Gegenüber, je primärer, desto besser; je reicher an Quellen, desto besser. Unser Text-Attentäter und in ich in seinem Gefolge begnügen uns zunächst mit lediglich zwei Zugänge zur prekären Frage nach dem Terrorismus. Nun sind wir fast angelangt am zweiten Text-Fast-Food, dem angekündigten Primärmaterial.

Medienkritik spielt hier weiterhin eine wichtige Rolle, ist jedoch neben einer expliziten Stelle eher impliziter Metatext zum Interview. Geführt wurde es mit einem möglichen Terroristen, der wiederum gegen viele andere Terroristen kämpft, durch einen Vertreter aus der Rige des sog. Qualitätsjournalismus. Die Zeilen machen einen anderen Blick auf den Terror möglich, zeigen, durch die rhetorische Brechung des westlichen Journalisten hindurch, einen geschickt wie zynisch argumentierenden Diktator mit Terrortendenz. Dieser ist zuvor, oben im ersten Bezugstext medienkritisch relativiert und als Opfer manipulativer Verunglimpfung und weltpolitischer Schachzüge in Schutz genommen worden. Lesen oder hören wir nun also selbst frisches Denkmaterial für potenzielle Terroristenversteher. Es wurde lediglich übersetzt und wird nur ein bisschen zur Selbstinszenierung missbraucht.

Wie das Pamphlet gegen Verschwörer praktisch ausgelegt gebietet, dürfen Menschen und Kollektive weder als Teile eines unilateralen Puppenspiels, noch per se als die Bösen, nein Wilden, bloße Tiere oder grausame Monster betrachtet werden. Den Versuch, das zu vermeiden, wage ich immer wieder gerne. Beim Projekt, ein Verstehen von Baschar el-Assad voranzutreiben, stößt man bei gründlichem Hinhören auf zwar überspitzte, aber im Grunde überhaupt nicht so unzivilisiert und bestialisch klingende Bekundungen. Wie viel Ehrlichkeit diese Aussagen begleitet, bleibt – so ist es halt – medial-verworren und damit ungewiss, es sei denn, sie haben einen Augenzeugen oder Experten ihrer Wahl zur Hand, der zutiefst vertrauenswürdig, unbestechlich und unabhängig ist. Inwieweit diese Person existiert, hängt von der Wahl des Weltbildes bzw. des Existenzmodells ab, sie muss jedenfalls phänomenal umfassend im Bilde sein.

Neugier, Neutralität und Nachdenken – in dieser Reihenfolge versuche ich das Verstehenwollen von Terroristen und -anwärtern zu betreiben. Wenn Ereignisse nicht einfach und erst recht nicht leicht sind und also nicht elegant verklärt werden können, dann muss man, dann sollte man, dann darf man sich selbst erkundigen. Aufklärung tut Not, so viel wissen wir seit Jahrhunderten, aber ist das Motiv genug, sich wirklich selbst darum zu bemühen. Den wohlverdienten Feierabend für Recherche und Lektüre zu nutzen, anstatt es sich einfach gut gehen zu lassen, unterscheidet zwar nicht vom Verschwörungstheoretiker, macht aber noch lange keinen Terroristenversteher. Was also ist nötig und vor allem ist das irgendwie gefährlich?

Ja und viel, lauten die Antworten in Kurzform. Kurz und knapp ausgeführt ist die Langform: Gewissheiten und kostet der Schritt jeden, Zweifel gibt es dafür zuhauf, simpler Trost und manche behagliche Fantasie gehen einem verloren, bisweilen entfernen sich bei redseligen Gemütern sogar Freunde und insbesondere Verwandte sind betroffen, Kunden und Chefs mögen solcherlei Querelen auch nicht unbedingt. Aus pragmatischer Hinsicht sind also ein mental bis sozial dickes Fell und vor allem die Fähigkeiten der Diplomatie, der selektiven Heuchelei und der rhetorischen Blendung ein notwendiges Rüstzeug für die Reise in die Welt jenseits von Gut und Böse. Fantasie und Freizügigkeit, Furchtlosigkeit und Frechheit kommen beim Spielen, Spekulieren, Kritisieren und Reflektieren auf kognitiver Ebene zum Einsatz. Besonderes Merkmal dieser Haltung ist die stete Dynamik, die sie dem Verstehensaspiranten gnadenlos abfordert, denn gedanklich stillzustehen, an- und innezuhalten und sich bequem mit einer schmackhaften Erkenntnis oder einer deftigen Negation labend auszuruhen, ist verpönt. Fremd- und Selbstkritik folgen einander im raschen Wechsel. Frage, Einwand und Argument sind beherrschende Funktion der Sprache, Differenz, Wurzel und Wahrscheinlichkeit ständige Operationen. Wo Empathie und Zynismus sich noch zögerlich die Hände reichen, umarmen sich Ethik der Menschlichekit und Zerstörungswut fremden Gedankeneigentums bereits innig und Spott, Trost, Streit sowie Versöhnung kopulieren wild. Willkommen in der wunderbaren Welt abstrakt-öbszöner Idealisierungen.

Aber auch hier lockt erstrebenswerter Gewinn und sicherlich noch der ein oder andere Kollateralnutzen: Freiheit des Geistes plus Offenheit des Bewusstseins multipliziert mit mentalem Zirkeltraining minus Vorurteil, Intoleranz und Narzissmus, zuletzt geteilt durch Gewaltverzicht, Geduld und Gastfreundschaft. Terroristenversteher neigen aus augenfälligen Gründen auch dem Verständnis für Flüchtlinge, Verräter und dem x-beliebigen Sünder im Allgemeinen zu.

Nun also, auf, auf! Die Gedankenpraxis steht klar im Vordergrund aller Verständnisambitionen, deren Ausübung sollte durch mich nicht länger textend hinausgezögert werden. Leset also, wie sich der Präsident Syriens öffentlich rechtfertigt, der seit gut 5 Jahren Krieg gegen sein eigenes Volk führt oder wie er sich ausdrückt, gegen die Teile der Bevölkerung, die zu Terroristen geworden seien und deren ausländische Unterstützer. Gemeinsames Ziel dieser Allianz sei es, auf dem Weg eines instrumentellen Terrorismus wandelnd die Verfassung des Staats Syrien nicht nur zu bedrohen, sondern nach ihrem Willen umzugestalten oder zur Not zu vernichten. Was er wohl ist, der Herr Präsident: Verschwörungstheoretiker, Terroristenversteher, Terrorist oder etwas ganz anderes, wie eventuell Alawit, Zahnarzt, Vater oder Mensch?

Nacht-diskursiv ermüdet und medial ver(un)sichert, Euer Satorius


ARD: Nehmen wir einmal an, Herr Präsident, ich wäre nicht ein Terrorist vom IS und der Al-Nusra-Front, sondern ein Aufständischer der Freien Syrischen Armee: Was sollte ich tun, damit Sie mich wieder als syrischen Zivilisten akzeptieren?

 

Assad: Legen Sie einfach die Waffen nieder – ob Sie nun am politischen Prozess teilnehmen möchten oder sich für diesen gar nicht interessieren, ob Sie überhaupt keine politische Agenda verfolgen – das spielt keine Rolle. Das Wichtigste für mich ist aus rechtlicher und verfassungsrechtlicher Sicht und im Hinblick auf das Interesse des syrischen Volkes und die in jedwedem Staat geltenden Grundsätze, dass Sie als Bürger nicht das Recht haben, mit Maschinengewehren herumzulaufen und diese gegen Menschen und deren Besitz zu richten. Mehr verlangen wir nicht. Wir verlangen überhaupt nichts. Wie schon gesagt, bekommen Sie eine uneingeschränkte Amnestie, und das ist auch schon der Fall gewesen. Sie sind der syrischen Armee beigetreten, und einige von ihnen auch dem politischen Leben.

 

[…]

 

ARD: Warum kann die syrische Regierung nicht akzeptieren, dass man es mit zwei verschiedenen Gruppen zu tun hat: Auf der einen Seite mit den Terroristen vom IS und der Al-Nusra-Front und auf der anderen Seite mit den Aufständischen, die, sagen wir, ziviler sind? Warum sagen Sie immer, Sie bekämpften lediglich Terroristen?

 

Assad: Wer bewaffnet gegen Zivilisten oder gegen privates oder öffentliches Eigentum vorgeht, ist von Rechts wegen ein Terrorist. Ich glaube, das ist bei uns nicht anders als in Ihrem Land. Sie akzeptieren bei Ihnen auch nicht, was man Aufständische nennt. Sie haben zwar eine Opposition, akzeptieren jedoch nicht, dass eine sogenannte „gemäßigte Opposition“ sich bewaffnet, um ihre Ziele zu erreichen. Das wird in keinem Land geduldet. Soweit ein Aspekt ihrer Frage.

 

Nun der andere: Wir bezeichnen nicht jeden Militanten als Extremisten. Es ist die Mehrheit derer, die über das Terrain die Kontrolle übernommen haben – das sind ausschließlich diese extremistischen Gruppen. Der andere Teil, den man als gemäßigt hervorgehoben hat, ist irrelevant und ohne Bedeutung. Sie haben gar keinen Einfluss vor Ort, so dass dort die meisten sich den Extremisten anschließen müssen – nicht weil diese Extremisten sind, eher vielleicht aus Angst oder wegen des Geldes oder eines Soldes. Daher sagen wir, dass wir die Extremisten bekämpfen, da der wahre Feind, nämlich der Terrorismus, aus diesen terroristischen Gruppen besteht – vorwiegend IS und al-Nusra aber auch Ahrar al-Sham sowie Jaish al-Islam.

 

[…]

 

ARD: Ich war im Jahre 2012 hier, als die ersten Parlamentswahlen stattfanden. Wie können Sie in Zeiten des Bürgerkrieges Wahlen abhalten?

 

Assad: Zunächst einmal gibt es keinen Bürgerkrieg, da die Definition nicht stimmt. In einem Bürgerkrieg sind gewisse Linien zu erkennen, gesellschaftliche Linien je nach religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit, oder andere, vergleichbare Linien. Diese haben wir derzeit jedoch nicht, da in den durch die Regierung kontrollierten Gebieten das gesamte Spektrum der syrischen Gesellschaft in all seiner Farbenvielfalt abgebildet ist. Mit der Definition „Bürgerkrieg“ liegen Sie daher nicht richtig. Tatsächlich muss es heißen „die Terroristen gegen den Rest“.

 

Zweitens zu den Wahlen: Die sind ja zunächst einmal keine Freizeitbeschäftigung und folgen nicht aus der Auffassung des Präsidenten oder aus der Stimmung in der Regierung. Damit haben sie gar nichts zu tun, sondern sie sind Ausdruck der Verfassung. In unserem Krieg geht es um die Unabhängigkeit unseres Landes, denn man – das heißt andere Länder und vor allem der Westen, Saudi Arabien und Katar – will die Regierung und den Präsidenten absetzen.

 

Man will den Staat zerstören und aus Syrien ein nach Religionen geteiltes Land wie den Libanon und vielleicht den Irak machen. Die Verfassung ist heute ein Symbol der Einheit und der Souveränität, und das Symbol für ein unabhängiges Land. Wir müssen uns an die Verfassung halten. Verfassung ist jedoch nicht das, was auf dem Papier steht, sondern die Art, wie man damit umgeht. Dazu gehören auch die Wahlen, und diese sind kein Recht der Regierung sondern das Recht jedes einzelnen syrischen Bürgers. Die Bürger entscheiden darüber, ob sie Wahlen wollen oder nicht. Und egal, welchen Syrer Sie fragen – sie alle wünschen sich ein neues Parlament.

 

[…]

 

ARD: Die überwältigende Mehrheit der Länder und der Organisationen in aller Welt sagen, es werde womöglich keine Lösung für Syrien geben, solange Sie an der Macht sind. Sind Sie zum Rücktritt bereit?

 

Assad: Für die genannten Länder und Offiziellen? Nein, natürlich nicht, denn das geht sie gar nichts an. Deswegen habe ich darauf nie reagiert. Wir hören diese Dinge jetzt seit fünf Jahren und es ist uns egal, was von dort kommt. Das ist nur unsere Sache, die Sache Syriens. Nur die syrischen Bürger haben das Recht zu befinden, wer ihr Präsident sein soll. Als Deutscher lassen Sie sich auch nicht von mir oder von wem auch immer sagen, wer bei Ihnen Kanzler sein soll und welches politische System Sie wollen. Das akzeptieren Sie nicht und das akzeptieren auch wir nicht. Also noch einmal: Nein – was immer von denen zu hören ist – mein politisches Schicksal hat nur mit dem Willen des syrischen Volkes zu tun.
… aber wenn es das syrische Volk will

 

ARD: Aber allgemein gefragt: Wären die Bedingungen so, dass das syrische Volk Ihren Rücktritt will – wären Sie dann dazu bereit?

 

Assad: Ja natürlich, keine Frage. Wenn das syrische Volk will, dass ich diesen Platz räume, dann habe ich das sofort und ohne Zögern zu tun. Wollen Sie als Offizieller, als Präsident, als gewählter Regierungschef oder was auch immer erfolgreich sein, dann brauchen sie die Unterstützung der Öffentlichkeit. Ohne diese erreichen sie gar nichts. Was könnten sie dann überhaupt anfangen? Die Dinge sind also eng verknüpft – der Wille der Bevölkerung und ihre Aussichten, etwas zu Stande zu bringen – beziehungsweise erfolgreich zu sein.

 

[…]

 

ARD: Hätte Deutschland – allgemein gesprochen – bezüglich der gesamten Syrien-Frage eine besondere Rolle zu spielen, oder ist es lediglich ein weiteres Land wie die USA und Saudi Arabien?

 

Assad: Wir hoffen, dass jedes Land eine Rolle spielen kann, insbesondere die Länder Europas und die wichtigsten Länder in der EU wie Deutschland mit der stärksten Wirtschaft, das vermutlich in der EU nicht nur wirtschaftlich sondern auch politisch die führende Rolle spielt. Praktisch gesprochen sehen wir eine solche Rolle allerdings noch nicht, da dies den entsprechenden Willen voraussetzt und der Wille mit Unabhängigkeit zu tun hat

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Es stellt sich die Frage, wie viele europäische Politiker von der Haltung der USA unabhängig sind. Was wir bisher erkennen können, ist nicht mehr als die Kopie dessen, was amerikanische Politiker sagen – und dessen was sie tun. Das ist alles, was wir erkennen können. Ich kann also nichts zu einer möglichen Rolle sagen, wenn die Unabhängigkeit fehlt.

 

[…]

 

ARD: Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen sagt, im Jahre 2015 seien 94 Krankenhäuser mit staatlicher Hilfe bombardiert worden. Wie ist so etwas möglich? Sie können doch nicht behaupten, dass all diese, sagen wir einmal, Kriegsverbrechen lediglich durch die US-geführte Koalition verübt wurden. Einen Anteil daran hatten doch auch Russland und Syrien.

 

Assad: Tatsächlich wissen wir bei dem einen, insbesondere bei diesem besonderen Zwischenfall nicht, wer verantwortlich war. Aber wenn wir das wollten, hätten wir schon lange die Gelegenheit dazu gehabt. Wir sind doch hier und hätten das immer schon machen können. Es gab für uns keinen Grund, ein Krankenhaus anzugreifen.

 

Natürlich ist das, was Sie als Verbrechen erwähnen, ein Verbrechen, aber es kommt darauf an, von welchen Kriterien man diese Definition abhängig macht. Nach unseren Kriterien handelt es sich um ein Verbrechen. Nicht jedoch nach den Kriterien des Westens, und dies aus einem einfachen Grund: Der Westen hat bisher den Krieg gegen den Irak im Jahr 2003, während dessen mehr als eineinhalb Million Menschen umgebracht wurden, zu keinem Zeitpunkt als Kriegsverbrechen eingestuft. Ebenso wenig hat man das im Jemen getan, wo die Saudis Gräueltaten begangen haben. Und auch nicht in Syrien: Wenn die Aufständischen Tausende von Unschuldigen mit Granaten und Selbstmordattentätern umbringen, dann spricht man dort offen gesagt auch nicht von Verbrechen. Es ist also eine Frage der Kriterien. Nach unseren Kriterien ist jeder ein Verbrecher, der solche Taten verübt.

 

ARD: Zur Klarstellung – die meisten Kriegsbeobachter sagen, die syrische Armee und die russische Luftwaffe seien dafür verantwortlich – und zwar nicht als Kollateralschaden, denn das Bombardieren von Schulen und Krankenhäusern sei Teil ihrer Kriegsstrategie. Lastet da nicht ein hohes Gewicht auf Ihren Schultern?

 

Assad: Angesichts eines solchen Diskurses müssen Sie sich eine einfache Frage stellen: Was würde uns das bringen? Welches Interesse könnten wir daran haben? Aber ganz unabhängig davon und wenn wir Werte und Prinzipien einmal bei Seite lassen, so müssen wir doch erkennen, dass der Staat diese Gebäude errichtet hat und dass er sie für die Menschen und für sich selbst benötigt. Wenn er die Menschen auf seiner Seite wissen will, dann muss er ihnen ein Minimum an Infrastruktur und an Dienstleistungen bieten. So einfach ist das. Aber unabhängig davon bleibt doch die Frage, was uns das bringen würde. Wir würden nur verlieren und gar nichts gewinnen. Wir haben also keinerlei Interesse an einem derartigen Vorgehen.

 

[…]

 

ARD: Schauen wir fünf Jahre zurück in die Zeit, als die Aufstände in der arabischen Welt begannen, und zwar auch in Daraa im Süden Syriens und an der Grenze zu Jordanien. Wir haben den Eindruck, dass dort ein paar übermütige Jugendliche Graffitis an eine Mauer sprühten und dafür inhaftiert wurden. Als ihre Eltern sie zurückhaben wollten, haben die Sicherheitskräfte mit äußerster Härte zurückgeschlagen. War es klug, derartige Verrücktheiten von jungen Menschen so hart zu bekämpfen und damit den Startschuss für den Bürgerkrieg zu geben?

 

 

Assad: Zunächst einmal hat es die ganze Geschichte gar nicht gegeben. Sie ist einfach nicht passiert, sondern war reine Propaganda. Wir haben davon gehört, aber nie auch nur eines dieser Kinder gesehen, die ins Gefängnis gekommen sind. Es war eine Lügengeschichte. Angenommen, das nicht Geschehene sei geschehen – vergleichen wir es dann doch einmal mit den Ereignissen in den USA im vergangenen Jahr, wo alle über die Tötung vieler Schwarzer durch die Polizei diskutierten, die in den USA von sehr vielen Menschen verurteilt wird.

 

 

Hat da etwa irgendjemand den Leuten gesagt, sie sollten sich Maschinengewehre besorgen und andere Menschen umbringen, nur weil der Polizeibeamte einen Fehler begangen hat? Das ist natürlich keine Entschuldigung. Also – geschehen ist das Erwähnte nicht, wäre es jedoch geschehen, so wäre es kein Vorwand für irgendjemanden, sich zu bewaffnen, gegen die Regierung zu kämpfen und unschuldige Zivilisten zu töten.

 

 

Und die nächste Frage, welche Gegenmaßnahmen würden Sie ergreifen, wenn auf Ihren Straßen Menschen andere Menschen umbringen und sich an fremdem Besitz vergreifen. Sagen Sie denen: „Macht, was ihr wollt. Wir sind offen für alles. Und reagieren werden wir auch nicht“? Das wäre nicht in Ordnung. Wir haben da keine Wahl: Wir müssen ihnen Einhalt gebieten und sie am weiteren Töten hindern. Andererseits kommen sie mit Maschinengewehren, und da können wir sie nicht mit Luftballons bekämpfen. Gegen diese militanten Kräfte können wir nur mit unseren eigenen Waffen angehen. Eine Alternative hatten wir seinerzeit nicht.

 

 

Auszüge aus dem ARD-Interview von Thomas Aders mit Baschar al-Assad am 28.02.2016 in Damaskus (Direktlink zur Quelle)

Ein nietzscheanisches Geister-Zwitschern

„Werde der, der Du bist“, sagt Zarathustra. „Verwirklich Dich selbst!“, sagen Therapeuten; in den meisten Fällen haben sie keine Ahnung, was sie damit sagen. Nietzsche hat es gewusst: Du entdeckst Dich selbst als himmellosen Engel, als eine einsame Gestalt, die friedlos und immer unbefriedigt von animalischen Trieben dazu verführt wird, illusionäre Heimaten zu erschaffen.

 

Thomas Hürlimann (1950 – ), Nietzsches Regenschirm


An sich ein schöne Sache, so eine Heimat, sofern man noch eine hat. Für sich aber derezit eine gefährliche Sache, da Heimat als rares Gut begriffen und damit gründlich missverstanden wird. Daraufhin wird sie fatal folgerichtig als ständig bedrohnt erfahren, gar zu schützen versucht. Zuletzt wird sie tapfer verteidgt, mit defensiven bis offensiven, allseits geheiligten Mitteln. Munter und eifrig sind die Wächter der Heimat im Einsatz gegen die gefürchteten Fremden von draußen hinter den Grenzen. Der Gastfreundschaft zum Trotz und Hohn, steht hier, diesseits, das Volk und dort drüben, jenseits, die da, sie da, die anderen halt..

Diese Wanderer und ihre Schatten werfen ein grelles, entlarvend klares Licht. Tiefschwarze Schlagschatten zeichnen sich deutlich gegen den Hintergrund ab, scharf und kalt konturiert – Schwarz gegen Weiß. Während die Bauern mauern, teilen die Könige, Bischöfe und Ritter den Gewinn brav unter sich auf, ziehen munter ideologische Furchen quer durch Freiheit und Öffentlichkeit. Sie alle nutzen als Instrument, was einst war ein echtes Ideal: Europa. Erwacht sind wir allesamt, jäh und unwirsch, vorbei ist der Väter utopischer Traum.

Er herrscht der historisch-furchtbare Zirkel, rund herum geht es geschwind. Jede Runde immer wieder das Gleiche; und noch Mal herum, immer wieder und weiter drehrt sich das ewige Rad. Hinter seinen schnell rotierenden Speichen, fast nicht zu erkennen im Taumel der Zeit, sitzt und wirkt er, lüstern und verschlagen zugleich, ein düsterer Dämon mit unheiligem Namen: Der Wille zur Macht.

Bereit zur Geisterjagd und offen für Gäste, Euer Satorius

Die Rückkehr der Kulinarik

Knusprig-buntes Gemüsemiteinander

Metadaten des Gerichts 

Kochniveau: 3/10  Dauer: ca. 70 Minuten  Art: Hauptgericht Kosten: Mittel

Rezept zum Ausdrucken: Knusprig-buntes Gemüsemiteinander (PDF)

Zutatenliste

  • 1 große Süßkartoffel (Ungefähr 400g)
  • 1 Hokkaido-Kürbis (Ca. 1kg)
  • 2 mittlere rote Zwiebeln
  • 1/2 Stange Lauch
  • 100g getrocknete Tomaten (In Öl eingelegt, das aufgefangen und auch verwendet wird)
  • 3 EL Tomaten-Öl (s.o.)
  • 50g Kürbiskerne
  • 50g Schwarzkümmel(-samen)
  • 1 TL Cumin (Gemahlener Kreuzkümmel)
  • 1 TL Chilipulver
  • 1 EL Salz
  • 1 EL schwarzer Pfeffer
  • 1 EL Bärlauch (Getrocknet oder frisch)
  • 1 TL Knoblauchgranulat (Alternativ 1 Zehe Knoblauch fein gehackt)
  • 200g Feta (Immer besser den „Echten“, der nicht aus Kuhmilch, sondern aus Schafs- oder gar Ziegenmilch hergestellt wird)
  • 100g Mozzarella (Hier muss es nicht unbedingt die exquisite Büffelmilchvariante sein, schaden würde es aber auch nicht, außer vielleicht dem Budget)

Praxis-Anleitung

  1. Zu Beginn die Süßkartoffel und den Hokkaido schälen und daraufhin in mundgerechte Würfel von ein bis zwei Zentimetern schneiden, damit später die Garzeit dem Käse wegen gering gehalten werden kann.
  2. Danach den Backofen auf 200 C° vorheizen lassen. 
  3. Sodann die Zwiebeln geschält in grobe Halbringe schneiden, den Lauch waschen und ebenfalls halbiert in Ringe schneiden sowie die getrockneten Tomaten fein hacken. Sollten frischer Bärlauch oder Knoblauch verwendet werden, auch diese nun vorbereiten.
  4. Eine ausreichend große Auflaufform mit einem Teil des aufgefangenen Tomaten-Öls einstreichen und die folgenden Zutaten hineingeben und miteinander vermengen: Kürbis, Süßkartoffel, Zwiebel, Tomaten, eine Hälfte vom Schwarzkümmel, den Kürbiskerne und dem Bärlauch sowie die übrigen Gewürze. Anschließend allessamt mit dem restlichen Öl beträufeln.
  5. Die Gemüseschicht zum Abschluss mit zerbröseltem Feta und gezupftem Mozzarella bedecken und zuletzt mit der zweiten Hälfte Kürbiskerne, Schwarzkümmel und Bärlauch garnieren.
  6. Nun ca. 25 Minuten auf mittlerer Schiene im Ofen garen und überbacken. Der Bräunungsgrad des Käses wird hierbei zum zweiten Kriterium für das Ende der Backzeit: Knusprig goldbraun sollte er schon sein.

Wahr oder unwahr – das ist hier die Interpretation

Entbirgt Sprache Seiendes, bezeichnen Worte Bedeutungen, ja einen fundamentalen Sinn, der hinter ihrer Lautgestalt und den zur Konservierung verwendeten Buchstaben zu Grunde liegt, fern allen arbiträren Zufällen? Ja, sagt Gadamer und ist damit der gleichen Ansicht wie die meisten unter uns; Nein, sagen hingegen auf ihre je ganz eigene Weise sowohl Derrida als auch Nietzsche, uvm.

Ich bin da höchst ambivalent, wandle mich, wende mich von der Mehrheit ab und tendiere zunehmend zur Fraktion der Skeptiker. Ich hoffe noch auf die monistische Kraft der Sprache, sei sie gesprochen oder geschrieben, befürchte jedoch, dass sich ihre „absolute Wahrheit“ letztlich performativ-paradox verflüchtigen wird. Um es positiv zu wenden: Ich glaube pragmatisch an die kommunikative Funktion, wie ich moralisch von der Möglichkeit und Notwendigkeit einer vernünftigen Verständigung überzeugt sein möchte; halte zudem eine von totalitären Zwängen befreite Sprache für wünschenswert, weil sie frei wäre für Neuheit, Zukunft und Fortschritt, aber auch für ein bloßes Spielen im Garten der rhetorischen Künste, insbesondere im Sandkasten poetischer und literarischer Leichtigkeiten.

Mit einer Zitatmontage gesprochen: Ist eine Rose eine Rose und wird immer eine Rose bleiben oder könnte dereinst eine Rose etwas anderes sein, vielleicht gar eine Rose?

Es mag Bereiche geben, in denen zu Recht auf Exaktheit und Stabilität von sprachlichen Zeichen gepocht wird: Recht, Mathematik, naturwissenschaftlich-technische Disziplinen, analytische Philosophie und dergleichen mehr, dennoch sollten wir zusammen mit den Sprachkritikern anerkennen, dass ein lebendiger Austausch zwischen Subjekten sich weder auf objektive, noch gar auf totale Gewissheiten reduzieren lässt. Im Zweifelsfall muss man darüber reden, nachhaken, fragen, dabei stotternd, erklärend und um Verständigung ringend, immer der Möglichkeit gewahr, dass die eigene Interpretation fehlgehen könnte, daneben liegen können muss. Je mehr Zurückhaltung ist dabei angeraten, desto fremder der Mensch, desto indirekter und technischer das Medium des Gesprächs, desto größer die eigenen Erwartungen, das eigene Ego.

Also kurz und gut: Nehmt mich, meine und die Sprache überhaupt nicht sonderlich ernst; habt allem voran Freude im spielerischen Umgang mit Sender, Empfänger und eurem Medium, vertraut auf die gelingende Praxis und lasst die Theoretiker in ihren kargen Kämmerlein einsam, trost-, furcht- und fruchtlos vor sich hingrübeln!

Im wilden Wechsel von dunklem Sinn und lichtem Unsinn, Euer Satorius


Natürlich hat Gadamer auf seine Weise recht. Wer redet, will verstanden werden. Nur, wie Derrida sogleich bemerkt hat, der Wille ist ein äußerst fragwürdiger Garant dafür, dass das Verstandenwerden auch realisiert wird. Wieso sollte der Wille des einen den anderen verpflichten? Und außerdem: Wieso sollte man eigens etwas wollen, zu dem soweiso alle verpflichtet sind. Die Garantie auf Verständigung, die der Wille geben soll, muß den weiten Umweg über die Installation als transzendentalpragmatische Norm nehmen, um den Leser überhaupt zu erreichen. Und selbst dann hängt alles davon ab, ob er auch bereit ist, sich der Norm zu fügen. Das aber ist zunehmend unwahrscheinlich. Es genügt jemand wie Nietzsche, der kurzerhand erklärt:

„Man will nicht nur verstanden werden, wenn man schreibt, sondern ebenso gewiss auch nicht verstanden werden.“ (Nietzsche: KSA 3, S. 633)

Den Preis den Gadamers Hermeneutik entrichtet, um der Möglichkeit der Alternative von Verstehen und Missverstehen zu entgehen, besteht letztlich in der Streichung des Lesers als Adressaten der Interpretation, und zwar zugunsten von Sedimenten des Seins, die sich an seinen Entscheidungsspielräumen vorbei in ihm ablagern.

„Die eine träumt davon, eine Wahrheit und einen Ursprung zu entziffern, die dem Spiel und der Ordnung des Zeichens entzogen sind, und erlebt die Notwendigkeit der Interpretation gleich einem Exil. Die andere, die dem Ursprung nicht länger zugewandt bleibt, bejaht das Spiel und will über den Menschen und den Humanismus hinausgelangen, weil Mensch der Name des Wesens ist, das die Geschichte der Metaphysik und der Onto-theologie hindurch, das heißt im Ganzen seiner Geschichte, die volle Präsenz, den versichernden Grund, den Ursprung und das Ende des Spiels geträumt hat.“ (Derrida: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen. In: Die Schrift und die Differenz, S. 441)

Matthias Schöning, Gesten der Interpretation, Gadamer und Derrida, S. 6f.